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Staats- und Verfassungskrise 1933 () || Der Ruf nach autoritären Strukturen: Wirtschaft und...

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125 Dieter Stiefel Der Ruf nach autoritären Strukturen: Wirtschaft und Ständestaat Es mag auf den ersten Blick erstaunlich sein, dass selbst Vertreter der heute weltweit berühmten wirtschaftsliberalen „Austrian Economics“ in der Zwischenkriegszeit autoritäre politische Strukuren nicht un- bedingt ablehnten. So stellte ihr prominentester Exponent, Ludwig von Mises, 1931 fest, dass der moderne Staat vor den Gewerkschaften kapituliert habe: Kollektivvertrag, Arbeitslosenunterstützung, Streik- recht wären nicht die Lösung der gegenwärtigen Krise, sondern das eigentliche Problem. Der Staat müsse daher raus aus der Wirtschaft. 1 Und 1934 schrieb der damalige Leiter des Instituts für Konjunktur- forschung, Oskar Morgenstern, dass eine autoritäre Regierung der liberalen Wirtschaftspolitik nicht widerspreche, sondern ihr im Ge- genteil größere Möglichkeiten einräume. Denn in der Wirtschaft komme es weniger darauf an, positive Maßnahmen zu setzen, als diese zu unterlassen. Wirtschaftspolitik sei immer darauf gerichtet, jemandem einen größeren Happen am Nationalprodukt zu sichern, auch um den Preis, dass der ganze Kuchen kleiner werde. Der au- toritäre Staat könne demgegenüber „Nein“ sagen. „Er kann auch, was ganz besonders wichtig ist, Wirtschaftspolitik wie alle Politik, auf lange Sicht betreiben, wogegen eine parlamentarische Regierung die Früchte ihres Tuns während ihrer Funktionsdauer reifen sehen möchte. In diesem Sinne ist die Staatsform von ganz entscheiden- dem Einfluß auf den allgemeinen Trend in der Wirtschaftspoltik.“ 2 Hat die autoritäre Wirtschaftspolitik des Ständestaats diesen in sie 1 Ludwig von Mises, Die Ursachen der Wirtschaftskrise, Wien 1931, 20. 2 Oskar Morgenstern, Die Grenzen der Wirtschaftspolitik, Wien 1934, 130. Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/3/14 4:57 PM
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Dieter Stiefel

Der Ruf nach autoritären Strukturen: Wirtschaft und Ständestaat

Es mag auf den ersten Blick erstaunlich sein, dass selbst Vertreter der heute weltweit berühmten wirtschaftsliberalen „Austrian Economics“ in der Zwischenkriegszeit autoritäre politische Strukuren nicht un-bedingt ablehnten. So stellte ihr prominentester Exponent, Ludwig von Mises, 1931 fest, dass der moderne Staat vor den Gewerkschaften kapituliert habe: Kollektivvertrag, Arbeitslosenunterstützung, Streik-recht wären nicht die Lösung der gegenwärtigen Krise, sondern das eigentliche Problem. Der Staat müsse daher raus aus der Wirtschaft.1 Und 1934 schrieb der damalige Leiter des Instituts für Konjunktur-forschung, Oskar Morgenstern, dass eine autoritäre Regierung der liberalen Wirtschaftspolitik nicht widerspreche, sondern ihr im Ge-genteil größere Möglichkeiten einräume. Denn in der Wirtschaft komme es weniger darauf an, positive Maßnahmen zu setzen, als diese zu unterlassen. Wirtschaftspolitik sei immer darauf gerichtet, jemandem einen größeren Happen am Nationalprodukt zu sichern, auch um den Preis, dass der ganze Kuchen kleiner werde. Der au-toritäre Staat könne demgegenüber „Nein“ sagen. „Er kann auch, was ganz besonders wichtig ist, Wirtschaftspolitik wie alle Politik, auf lange Sicht betreiben, wogegen eine parlamentarische Regierung die Früchte ihres Tuns während ihrer Funktionsdauer reifen sehen möchte. In diesem Sinne ist die Staatsform von ganz entscheiden-dem Einfluß auf den allgemeinen Trend in der Wirtschaftspoltik.“2 Hat die autoritäre Wirtschaftspolitik des Ständestaats diesen in sie

1 Ludwig von Mises, Die Ursachen der Wirtschaftskrise, Wien 1931, 20.2 Oskar Morgenstern, Die Grenzen der Wirtschaftspolitik, Wien 1934, 130.

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gesetzten Erwartungen entsprochen?3 Die Ausgangslage war an sich nicht so schlecht. Der Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise lag im Jahr 1933, die Diktatur in Österreich fiel daher in eine Zeit, in der es wirtschaftlich bereits wieder leicht aufwärts ging.

Ein dritter Weg?

Die ständestaatliche Utopie stellte kein logisch geschlossenes Sys-tem dar. Eine gewisse Widersprüchlichkeit war systemimmanent, musste aber in der politischen Praxis nicht als Mangel empfunden werden, da die Übernahme dieser Ideologie aufgrund von Gefühlen und moralischen Wertvorstellungen erfolgte. Auch die Wirtschafts-politik war daher nicht allein der Logik verpflichtet, sondern konnte Gegensätzliches in sich vereinen. So stellte der österreichische Phi-losoph Aurel Kolnai im Jänner 1934 die Widersprüchlichkeit der vor der Tür stehenden neuen Staatsideologie fest: „Die ständischen Ideologien leiden an einer scheinbar unbehebbaren Unklarheit. Es haftet ihnen scheinbar etwas Nebuloses, Vieldeutiges, Qualliges an. Sie stehen weit mehr zu Stimmungswerten in Bezug, als zu einsich-tigen, fassbaren Gedankengängen. [...] Die Unklarheit ist somit kein

3 Siehe dazu: Gerhard Senft, Im Vorfeld der Katastrophe. Die Wirtschafts-politik des Ständestaates. Österreich 1934–1938. Vergleichende Gesell-schaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit. Band 15, Wien 2002; Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschis-mus. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938, Wien 1984; Dieter Stiefel, Wirtschaftspolitik im Ständestaat und ihre Reflexion in der Österreich in Bild und Ton, in: Michael Achenbach/Karin Moser (Hg.), Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschisti-schen Ständestaats, Filmarchiv Austria, Wien 2002; Dieter Stiefel, Uto-pie und Realität: Die Wirtschaftspolitik des Ständestaates, in: Thomas Albrich/Klaus Eisterer/Rolf Steininger (Hg.), Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen und Rahmenbedingungen 1918–1938, Innsbruck 1988; Dieter Stiefel, Aber Krise ist auch nicht so schlecht. Zur Interdependenz sozio-ökonomischer Prozesse und der Genese des autori-tären Regimes in Österreich, in: 1934: Erfahrungen + Lehren (=Schriften des Dr. Karl Kummer Instituts, hg. Herwig Hösele), Graz 1984.

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bloßes zufälliges Gebrechen, sondern sie hat eine eigene Bedingtheit und Funktion. Sie ist die Unklarheit gegenrevolutionärer Ideologien überhaupt. [...] Die Unklarheit vermehrt sich freilich dadurch, dass es sich hier um kein rein gegenrevolutionäres Streben, sondern ein solches in Verbindung mit spezifischen faschistischen Elementen, darüber hinaus aber mit einem zweifellos ernst gemeinten sozialen Ordnungs- und Befriedungswillen handelt. Das katholisch-konser-vative Ständeideal geht vorerst von feudalen Reminiszenzen und vom antimarxistischen Affekt aus. Aber dabei bleibt es nicht, sondern es kommt noch der moderne faschistische Gedanke einer Reform und Rettung des Kapitalismus durch Einzwängung der Klassen in eine die Vorherrschaft der Besitzerklasse verbürgenden korporativen Ord-nung unter der Gewalt des starken Staates hinzu.“4

Diese Widersprüchlichkeit war in der christlichsozialen Politik der Zwischenkriegszeit angelegt, in ihrer Reaktion auf die poli tischen Er-eignisse nach dem Ersten Weltkrieg und im Zusammenge hen der an sich antikapitalistischen Partei mit Wirtschafts- und Finanzkreisen im Sinne eines gegenrevolutionären Blocks. Die Uto pie des Stände-staates kann daher als Versuch angesehen werden, eine in der Praxis bereits vollzogene politische Konstellation ideologisch zu verarbeiten und das christlichsoziale Denken mit wirtschaftslibe ralen Prinzipien in Einklang zu bringen: Christlichsozial und Libe ralismus, die Ver-einbarkeit des Unvereinbaren unter autoritärer Klammer!

Die Theoretiker des Ständestaats nahmen für sich in Anspruch, den Dritten Weg zwischen Sozialismus und Faschismus gefunden zu haben, die Wiederherstellung einer „wahren Ordnung“ in der Wirtschaft. Das Primat der Wirtschaft sollte gebrochen, der Staat aus den Verstrickungen mit privatwirtschaftlichen Interessen befreit und die Wirtschaft entstaatlicht werden. Durch die berufsständi-sche Ordnung sollten die wesenseigenen Antriebskräfte der Wirt-schaft wieder frei gemacht werden. Damit ging es dem Ständestaat

4 Aurel Kolnai, Die Ideologie des Ständestaates, in: Der Kampf. Sozialde-mokratische Monatsschrift, 27/1 (1934), 13–23, 13.

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zwar um Modifizierung, grundsätzlich aber um die Erhaltung der bestehenden sozio-ökonomischen Verhältnisse: „In den Grundla-gen gründet sich unsere Wirt schaftsordnung auf dieselben Voraus-setzungen wie die liberalisti sche, nämlich auf Privateigentum und private Initiative“, erklärte Handelsminister Guido Jakoncig in ei-nem Vortrag. „Der Grundsatz, dass unsere Wirtschaftsordnung auf Anerkennung des Privateigentums fußt, ist zu selbstverständlich, als daß er eine besondere Hervorhe bung benötigen würde.“5 Und auch der Grazer Ökonom Josef Dobretsberger stellte fest: „Ziel ist die Wiedererstarkung des echten Unternehmergeistes, der unter dem Druck des Monopolismus verdrängt wird oder entartet.“ Um der privaten Initiative den Weg freizugeben, müssten diese Hemmnisse beseitigt werden.6

Der Ständestaat war daher seiner Ideologie nach ein Staat des Pri-vateigentums, der Selbständigen und der Unterneh mer. Das begrün-dete nicht nur die Wirtschaftsauffassung, sondern wurde auch durch das Autoritätsprinzip bestärkt: „Die Schaffung des Autoritätsstaates auf ständischer Grundlage, der Grund satz der Förderung der Per-sönlichkeit führt notwendigerweise zur Förderung des selbständigen Unternehmers, gleichgültig, ob es sich um einen kleinen Gewerbe-treibenden oder um einen Großindustriellen handelt. In jedem Staa-te sind die Kreise der selbständigen Erwerbstätigen diejenigen, die wie der Bauer auf seiner Scholle in ihren eigenen Betriebsstätten nach freier Entschließung und unter eigener Verantwortung tätig sind, die wertvollsten Stützen des Staates und der Wirtschaft.“7

5 Guido Jakoncig, Grundsätzliche Gedanken zur Wirtschaftskrise und de-ren Bekämpfung, Vortrag gehalten am 27. November 1934 im Österreichi-schen Ingenieur- und Architekten Verein, Wien 1934.

6 Josef Dobretsberger, Die wirtschaftlichen Aufgaben des neuen Staates, Wien 1937, 17.

7 Jakoncig, Gedanken, 7.

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Löhne und Preise

Wirtschaftspolitik im ständischen Denken war demnach „Wettbe-werbsfreiheit im Rahmen einer Gemeinwohlordnung“. Damit war die christliche Soziallehre mit dem Wirtschaftsliberalismus versöhnt: „Die naturgemäße Verfassung der auf das Privateigentum begründe-ten arbeitsteiligen Volkswirtschaft ist der Wettbewerb“8, nur habe er eine Ordnung zu erfahren, um die wirtschaftliche Dynamik zu beru-higen, die Preise zu stabilisieren und zu einer erhöhten Sicherheit der Wirtschaftsführung zu gelangen. Dabei stand auch der Leistungs-gedanke im Mittelpunkt, verstanden als Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft: „Nur sie begründet ein Recht auf Einkommen.“9 Die politische Lohngestaltung der zwanziger Jahre sei dagegen ein Ausfluss des Klassenkamp fes und eine wirtschaftliche Fehlentwick-lung gewesen, da trotz sinkenden Volksvermögens steigende Löhne gezahlt worden waren. „Auch in der Lohnfrage besteht in der berufs-ständischen Ordnung keine an dere Aufgabe, als den volkswirtschaft-lich richtigen Lohn zu Geltung zu brin gen. [...] Deshalb muß auch der Lohn den Preisgesetzen folgen.“10 Demnach war der „gerechte“ Lohn nichts anderes als der volkswirtschaftlich richtige Lohn.

Zur Lohnentwicklung muss man einen Blick auf die volkswirt-schaftliche Gesamtrechnung werfen. 1933 war auch in Österreich der Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise erreicht, das Bruttonationalpro-dukt (BNP) stieg wieder an. Das Pro-Kopf-Einkommen je Arbeit-nehmerin/Arbeitnehmer ging aber von 1933 bis 1937 weiter zurück. Das lässt darauf schließen, dass die Arbeitnehmerinnen/Arbeitneh-mer von der wirtschaftlichen Erholung nicht profitierten. Die Lohn-entwicklung muss allerdings im Gesamtkontext der Zwischenkriegs-zeit gesehen werden. Nimmt man das Jahr 1928 als Normaljahr – das BNP erreichte das erste Mal wieder das Vorkriegsniveau von 1913 – so

8 Johannes Messner, Die berufständische Ordnung, Wien 1938, 102.9 Messner, Ordnung, 101.10 Messner, Ordnung 177.

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zeigten sich vorerst deutlich Verschiebungen zugunsten der unselbst-ständigen Einkommen.

Anteil am Volkseinkommen 1913 1924Löhne und Gehälter 51,0 % 57,2 %Besitz und Unternehmung 47,7 % 39,8 %

Diese Verschiebungen waren bis 1924 bereits vollzogen und ergaben sich somit aus der Kriegs- und Inflationszeit. Kriegswirtschaft und Spekulation mögen den Selbstständigen zeitweise große Gewinn-chancen gebracht haben, aber als alles vorüber war, standen die un-selbstständigen Einkommen weitaus besser da als die Einkommen aus Besitz und Unternehmung. Diese Entwicklung war nicht allein auf wirtschaftliche Ursachen zu rückzuführen, sondern vor allem auf die politische Erstarkung der Arbeitnehmervertretungen nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere auf das Kollektivvertragsrecht. Die Unternehmerseite hatte sich mit dieser Entwicklung nie wirklich abgefun den. Das war der Hintergrund für die ständige Diskussion über „zu hohe Löhne und soziale Lasten“ in der Zwischenkriegszeit. Überhöhte Löhne würden die Gestehungskosten steigern, wodurch sich die Absatzchancen, vor allem im Export, verringerten und da-durch käme es zu schlechtem Geschäftsgang und hoher Arbeits-losigkeit. Bei einem freien Arbeitsmarkt wäre der Lohn auf das den wirtschaftlichen Verhältnissen angemessene - um nicht zu sagen na-türliche - Niveau gesunken, wodurch sich die österreichischen Wirt-schaftsprobleme von selbst gelöst hätten und die Arbeitslosigkeit aufgesaugt worden wäre.11

Der bis 1924 gewonnene relative Einkommensvorsprung der Ar-beitnehmerseite konnte in der parlamentarischen Zeit nicht mehr aufgeholt werden. Bis 1929 verlief die Entwicklung der selbststän-digen und unselbstständigen Einkommen ziemlich parallel. Wäh-rend der Weltwirtschaftskrise kam es zu einem typischen Verlauf

11 Mises, 1931, 21.

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der beiden Einkommenskurven. Die Löhne und Gehälter erwiesen sich am Beginn als weit weniger flexibel nach unten als die Gewin-ne. Das Ansteigen des relativen Anteils der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen nach 1929 war daher ein typisches Krisenzeichen. 1931 hatte diese Entwicklung den Höhepunkt erreicht, ab dann fiel der Anteil der unselbstständigen und stieg jener der selbstständigen Einkommen. Soweit kann diese Entwicklung mit wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten erklärt werden, mit voraneilenden und nachhin-kenden Indikatoren, wie sie der Konjunkturforschung bereits in der Zwischenkriegszeit bekannt waren. Aber die massivsten Veränderun-gen erfolgten erst nach der Weltwirtschaftskrise, in der Zeit des Stän-destaats. Die Verschiebung der Einkommen verstärkte sich bis 1937, was den Eindruck der Einkommensumverteilung als wirtschaftspoli-tischem Ziel des Ständestaats nahelegt.

Bruttoentgelte für unselbstständige Arbeit in Prozent des Volkseinkommens nominell12

1930 59,41931 61,61932 60,61933 58,71934 57,01935 57,01936 56,3 1937 54,6

Josef Dobretsberger, selbst Regierungsmitglied im Kabinett Kurt Schuschnigg I, und daher dem damaligen Regime gegenüber grund-sätzlich positiv eingestellt, schrieb 1937: „In einigen Ländern hat

12 Felix Butschek, Statistische Reihen zur österreichischen Wirtschaftsge-schichte: die österreichische Wirtschaft seit der industriellen Revolution, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Wien Juni 1996, Ta-belle 5.1.

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man die Preise, Löhne, Lebenshaltungskosten und Zinssätze auf gesetzlichem Wege gesenkt. In Österreich hat sich dieses Be streben vorwiegend in den Lohnkosten ausgewirkt. Nach Auflösung der freien Gewerkschaften erschien die Festung der starren Lohnsät-ze einnehm bar. Während die übrigen Kostensätze z. T. gebunden blieben, hat sich der Druck des zu hohen Kostenniveaus besonders nach der offenen Stelle der Löhne hin konzentriert. Noch heute ist die Lohntendenz fallend, obgleich nach dem Stand der Konjunk-tur und nach den Beispielen anderer Länder der Tiefpunkt längst überwunden sein müsste. Kollektivverträge werden auf gelöst, neue nur zu wesentlich schlechteren Bedingungen abgeschlossen, vielfach wird der individuelle Arbeitsvertrag bevorzugt, werden Urlaubs- und Überstundenansprüche nicht honoriert und mehrmals bestehende Arbeits vertragsverhältnisse gesetzlich aufgelöst. Die konjunkturbe-dingten Lohnbe wegungen werden durch die Vormachtstellung der Unternehmerverbände und durch die geschwächte Stellung des neu gegründeten Gewerkschaftsbundes zurückgedrängt. Die veränderten Machtverhältnisse sind durch den Grundsatz gekennzeich net, den in den Tagesblättern zu veröffentlichen sich der Industriellenbund im Vorjahre nicht scheute: zuerst müssen wieder ausreichende Divi-denden ausgeschüttet werden, bevor man an Lohnerhöhungen den-ken könne.“13 Die Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer standen dieser Politik fast machtlos gegenüber. Die neue Arbeitnehmervertretung ab 1934 war praktisch ohne jede Kompetenz. Der Arbeitskampf war verboten, der Gewerkschaftsbund hatte weder ein Streikrecht noch ein Rechtsmittel, um seine Ansprüche durchzusetzen, während den Unternehmerinnen/Unternehmern zahlreiche Druckmittel zur Ver-fügung standen. Josef Dobretsberger fand es daher erstaunlich, wie lange sich die Bünde der Einsicht verschlossen hatten, dass eine Re-gelung der Arbeitsstreitigkeiten notwendig sei. „Sehr häufig wird von Unternehmern, bevor der Urlaubsanspruch anfällt, das Arbeits- oder

13 Josef Dobretsberger, Die wirtschaftlichen Aufgaben des neuen Staates, Wien 1937, 48.

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Angestelltenverhältnis gekündigt und nach drei Tagen wieder erneu-ert. Auch die Staatsverwaltung hat sich gegenüber ihren Vertragsan-gestellten mehrfach dieser Praxis angeschlossen“, und er stellte offen fest, dies sei „eine Unehrlichkeit.“14

Man kann davon ausgehen, dass diese Einkommensverschiebun-gen eine Konsequenz der Machtverschiebungen nach 1934 und Teil der Wirtschaftspolitik des Ständestaates waren. Die politische Lohnbewe-gung nach dem Ersten Weltkrieg sollte nun ebenfalls mit politischen Mitteln revidiert werden. Die Möglichkeit, am Arbeitsmarkt wieder „ordentliche“ Verhältnisse zu schaffen – mit gesetzlichen wie auch nur tolerierten Mitteln – mag dem autoritären Regime die Zustimmung der Selbstständigen gesichert haben. Diese keineswegs auf Harmonie oder Ausgleich, son dern auf Verschärfung der Gegensätze ausgerich-tete Politik war, trotz ihres Widerspruchs zur ständischen oder gar christlich sozialen Ideologie, konstitutiv für den Ständestaat und mach-te einen wesentlichen Teil seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik aus.

Interessensausgleich?

Wenn sich nun schon die Gegensätze zwischen Arbeitgeberinnen/Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern verschärft hatten, war dann die Wirtschaftspolitik des Ständestaats wenigstens darauf ausgerichtet, die Interessen zwischen den einzelnen Wirt-schaftsbereichen auszugleichen? Dies im Sinne eines Strebens nach „Gemeinschaft“ und „Gesamtverantwortung“, welches in der stän-dischen Ideologie so hervorgehoben wurde: „Sie gebietet den Berufs-ständen, ihr Sonderwohl dem Gemeinwohl unterzu ordnen, genauso wie der Einzelne seine Interessen dem Ganzen unterstellen muss. Dies ist eines der wichtigsten Lebensgesetze der ganzen berufsständi schen Ordnung.“15

14 Dobretsberger, Aufgaben, 57.15 Dobretsberger, Aufgaben, 57.

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Tatsächlich wurden ab 1934 zahllose autoritäre Verordnungen und Gesetze auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik erlassen, die schein bar jedem Berufsstand seine Förderungsmaßnahmen zukommen lie ßen. Ganz abgesehen vom Bankwesen, wo man ab 1934 geradezu routi-nemäßig mit öffentlichen Mitteln sanierte, bekam der Fremdenverkehr Krediterleichterungen, das Bauwesen eine Siedlungsaktion, das Gewer-be erhielt endlich die lang geforderten Beschränkungsmaßnahmen, der Handel die Einschränkung von Konsumläden, Filialgeschäften und des Hausierer-Wesens, die Industrie ihre Schutzzölle, der Agrarsektor seine Marktordnung und so weiter und so fort. Die meisten Maßnahmen waren aber ad-hoc Reaktionen ohne wirkliches Sy stem. Die restriktiven Regelungen, wie etwa die Gewerbesperre, wurden sogar im Stände-staat nur als Notmaßnahmen betrachtet, of fiziell immer wieder kri-tisiert und schließlich auch gemildert. Die Außenhandelspolitik war über weite Strecken eine Reaktion auf Maßnahmen anderer Länder, und selbst eine der typischsten wirtschaftspolitischen Aktivitäten der 1930er-Jahre, die Arbeitsbeschaffung, war trotz aller Propaganda durch ihre Finan zierung eng begrenzt. Sie wurde auf einen geschwäch ten Ka-pitalmarkt verwiesen. Bei den sogenannten „Arbeitsanleihen“ kam nur etwa die Hälfte tatsächlich der Arbeitsbeschaffung zugute.

Es gab nur zwei Bereiche, denen sowohl von der Systematik als auch vom Umfang her eine Bedeutung in der Wirtschaftspolitik des Ständestaats zukam: dem Finanzbereich und dem Agrarsektor. Die Dominanz des Finanzbereichs war bei der allgemeinen Wirtschafts-politik deutlich sichtbar. Ihm wurden alle anderen Wirtschaftsberei-che nachgeordnet, und seinem Vorrang war es zuzuschreiben, dass sich Österreich von der Weltwirtschaftskrise nicht mehr wirklich erholte. In Österreich wurden weit mehr Mittel für die Sanierung der Banken aufgebracht, als für die Sanierung des Arbeitsmarktes. Dabei war es dem Finanzbereich auch noch gelungen, sich trotz aller öffentlichen Unterstützung von politischem Einfluss weitgehend frei zu halten.16 Das Finanzwesen ragte daher „wie ein erratischer Block

16 Dazu: Dieter Stiefel, Finanzdiplomatie und Weltwirtschaftskrise. Die Kri-

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rein liberalistischer Wirtschaftsauffassung“ in die ständische Zeit hi-nein.17 Der zweite Wirtschaftsbereich, der es verstand, ebenso mit der Demokratie wie mit der Diktatur zu leben, war der Agrarsektor. Mit einem Anteil von mehr als einem Drittel der erwerbstätigen Be-völkerung war er nicht nur ein bedeutender wirtschaftlicher Faktor, sondern auch die verlässlichste politische Basis des Konservativismus in Österreich. Angesicht der größten Agrarkrise des 20. Jahrhunderts ging die österreichische Landwirtschaft zu weitreichenden Marktre-gulierungen über und koppelte sich vom Weltmarkt praktisch ab. Die Maßnahmen wirkten sich vor allem zugunsten der Getreide-, Milch- und Zuckerrübenproduktion aus, während Holz- und Vieh-wirtschaft – also die alpinen Wirtschaftsfor men – in der Krise blie-ben. Diese Agrarpolitik verstieß gegen einen der wichtigsten Grund-sätze der ständischen Ideologie: Sie erfolgte nicht im Interesse des Gemeinwohls, sondern zugunsten eines Berufsstands. Die Agrarpoli-tik war nichts anderes als ein Abschieben der Krisenfolgen auf andere Wirtschaftsbereiche mit Hilfe von Mengen- und Preisregulierungen. Der Index der landwirtschaftlichen Kaufkraft (Verhältnis Agrargü-terpreise/Industriegüterpreise) verlief daher bis 1936 – entgegen dem Weltmarkttrend – stets zugunsten der heimi schen Landwirtschaft. Und während in der Weltwirtschaftskrise bei allen Budgetposten drastische Kürzungen erfolgten, wurden für den Getreidebau 1930/31 an die 96 Millionen Schilling zur Verfügung gestellt und bei Agrar-exporten umfangreiche staatli che Stützungen gewährt. Während der Lebensmittelumsatz von 1929 bis 1936 um etwa ein Viertel zurück-ging, konnten die Agrarpreise auf einem Niveau gehalten werden, das zum Teil das Doppelte des Weltmarkts ausmachte.

Die Industriellenvereinigung beschwerte sich schon seit An-fang der 1930er-Jahre über den „rein agrarischen Kurs der Wirt-

se der Credit-Ansalt für Handel und Gewerbe 1931 (= Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung e.V., Band 12), Frankfurt 1989.

17 Odo Neustädter-Stürmer, Die berufständische Gesetzgebung in Öster-reich, Wien 1936, 22.

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schaftspolitik“18 und mit den Kammern kam es 1932, beim zehnten Handelskammertag, zu einer offenen Auseinandersetzung. „Der rücksichtslose Agrarkurs“, sagte der Hauptreferent in Anwesenheit von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, „und die zahlreichen direk-ten und indirekten Eingriffe in den Wirtschaftsmechanismus zum Zwecke einer einseitigen Begünstigung irgendeiner landwirtschaft-lichen Produktion“ sei mit dem Fortschreiten planwirtschaftlicher Gedanken nicht vereinbar. Agrarische Ziele würden auf Kosten der Wirtschaftsbereiche angestrebt, und der Referent schloss: „Handel, Gewerbe und Industrie rufen ein lautes ‚Bis-hierher-und-nicht-Weiter‘ und müssen die Verantwortung für alle wirtschaftlichen und politischen Folgen, die ein Andauern des unerträglich gewordenen Agrarkurses auslösen müsste, jenen überlassen, die da zu meinen scheinen, dass Österreich wirklich ein Agrarstaat ist.“19 So war gerade das eingetreten, was der Rechtswissenschafter Johannes Messner am meisten befürchtet hatte, „daß an die Stelle der Interessengegensät-ze der Klassen, die sich im offenen Kampf nicht mehr auswirken können, die Interessengegensätze der Berufs stände treten, deren of-fener oder schleichender Machtkampf nicht nur die gesellschaftliche Ordnungsfunktion der berufsständischen Ordnung beein trächtigen, sondern unmittelbar das Gemeinwesen und sein Gedeihen schä digen muß.“20 Dieser Misserfolg des ständischen Interessenausgleichs sollte nicht verwundern: Denn die Bünde, also die Organisationen, die den neuen Staat aufbauen sollten, waren über wiegend mit Vertretern des „alten“ Staats besetzt. Die politischen Systeme gingen, die Funk-tionäre blieben. Zwar gab es ab 1934 eine Strukturbereinigung im österreichischen Verbandswesen – vor allem zahlreiche privatrecht-lich organisierte Interessenvertretungen auf Vereinsbasis, von denen es eine bunte Vielfalt gegeben hatte, wurden aufgelöst und in die

18 Franz Geißler, Österreichs Handelskammerorganisation in der Zwischen-kriegszeit. Eine Idee am Prüfstand, Wien 1977, Band 2, 255.

19 Geißler, Handelskammerorganisation, 236.20 Messner, Ordnung, 57.

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Verbände überführt – die leitenden Funktionäre blieben aber vielfach dieselben. Das konnte so weit gehen, dass man den Eindruck hatte, es sei überhaupt nichts geschehen. Bei der Wie ner Kaufmannschaft, der mächtigsten Interessenvertretung des österreichischen Handels in der Zwischenkriegszeit, wurden nicht nur die Spitzenfunktionäre übernommen, sondern auch das Gebäude am Schwarzenbergplatz, so dass mit der Errichtung des Handelsbundes dieselben Leute in dieselben Büros gingen und dort unter neuem Namen wohl auch dasselbe taten wie zuvor.21 Über die Beharrungskraft des alten poli-tischen Systems beklagte sich Odo Neustädter-Stürmer noch 1936: „Daneben kämpften die unentwegten und unbelehrbaren Anhänger des Parlamentarismus um ihre letzten Positionen, die ihnen im ge-eigneten Moment als Stützpunkt für eine Restauration des parlamen-tarisch-demokratischen Systems dienen sollen. Die Handhabung der Bestimmungen zur Wahrung der Ausschließlichkeit der Bünde beschränkt sich in der Praxis oft nur auf die Wahrung der äußeren Form, sodass die Bemühungen privater Vereinigungen, Agenden der öffentlich-rechtlichen Berufsverbände an sich zu ziehen, fort dauern. [...] Dabei darf nicht übersehen werden, dass zu Funktionären der Bünde größtenteils solche Personen bestellt wurden, die führende Stellungen in den früheren Richtungsgewerkschaften und Parteiver-bänden innehatten. Wenn sich nun solche Funktionäre in einzelnen Fällen stärker zu ihrer früheren Parteiorganisation als zur neuen be-rufsständischen Organisation hingezogen fühlen, werden die inneren Hemmungen verständlich, die sich bei der berufsständischen Arbeit mancherorts gezeigt haben.“22

21 Dieter Stiefel, Im Interesse des Handels: Gremien, Verbände und Ver-eine der österreichischen Kaufmannschaft in der Zwischenkriegszeit, in: Geschichte der Handelskammerorganisation. Spitzenkörperschaften der gewerblichen Wirtschaft vor ihrer Eingliederung in die Handelskammer-organisation (= Schriftenreihe der Bundeskammer der gewerblichen Wirt-schaft 37), Wien 1978, 55.

22 Neustädter-Stürmer, Gesetzgebung, 23.

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Und auch Josef Dobretsberger kritisierte, dass sich unter neuem Namen die alte Interessenpolitik wieder breit gemacht hätte, ein neu-er „Stellungskrieg, nicht mehr der Parteien, sondern der Stände und Interessenvertretungen [...] Endlich finden wir auch verschiedene Auffassungen der Interessenverbände über Wesen und Aufgabe der Berufsstände, die dort und da ähnlich wie die Interessenverbände und Kartelle einen Berufsegoismus entwickeln, der umso gefährli-cher ist, als er sich den Mantel öffentlich-rechtlicher Aufgaben um-hängt.“ Diese Machtfülle der Interessenverbände wäre dazu geeignet, die staatliche Wirtschaftspolitik zu durchkreuzen. „In den Stände-organisationen ist ein zusätzlicher Verwaltungsapparat entstanden, der die Aufgabe hätte, den Staat von einem Teil der Wirtschaftsver-waltung zu entlasten. Bis jetzt kann man jedoch nur das Gegenteil beobachten. Die Agenden der Hoheitsverwaltung haben sich durch die Stände einrichtungen eher vermehrt; anstatt die zahllosen Inter-ventionen von den Zentralämtern abzulenken, haben sich die neuen Organisationen den Inter venienten hinzugesellt.“23

Das Scheitern des Ständestaates

Den starken, über allen wirtschaftlichen Interessen stehenden Staat im Sinne der liberalen Wirtschaftstheoretiker gab es in Österreich nie, auch nicht nach 1934. Die autoritären Regierungen beruhten noch nicht einmal auf einer Massenbasis irgendeiner Bewegung, sondern waren machtpolitisch wesentlich in bestimmten wirtschaftli-chen Interessen verankert, die ihre krisengefährdete Stellung auf Kos-ten anderer Wirtschafts bereiche absicherten. Es mag daher nicht ver-wundern, dass der Widerstand gegen den „neuen Staat“ schließlich aus dem System der Interessenvertretungen selbst gekommen war und der Ständestaat in der Zeit des autoritären Regimes eigentlich bereits überwunden wurde. Dabei ging dieser Überwindungsprozess vom alten Schema des „Klassenkampfs“ aus. Nachdem im Februar

23 Dobretsberger, Aufgaben, 15.

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1934 die alten Freien Gewerkschaften aufgelöst worden waren, sah sich die Regierung be reits im März genötigt, selbst einen Gewerk-schaftsbund zu errichten, „um im Geist des Christentums, der so-zialen Gerechtigkeit und der Liebe zum Vaterlande den Arbeitern und Angestellten eine wirksa me Interessenvertretung zu sichern.“24 Zwar wurde eingeschränkt, dass es sich hier nicht um eine ständi-sche Organisation, sondern nur um eine zur Vorbereitung des stän-dischen Aufbaus handelte, aber so ganz wohl war den Architekten des Ständestaates dabei auch nicht: „Es wäre systematisch zweifellos richtiger gewesen, die Arbeitnehmer von Anfang an in fünf verschie-dene Bünde einzureihen. [...] Die Praxis verbot diesen Weg. Denn die bestehenden staatstreuen Richtungsgewerkschaften, die den Kern der neuen Organisation bilden sollten, waren nicht nach den in der neuen Verfassung vorgesehenen Berufsständen abgegrenzt.“25

Damit bekamen aber auch die Interessenvertretungen der Arbeit-geberInnen wieder Aufwind, wie die Handelskammern, denen im neuen Staat ja das Schicksal der Auflösung zugedacht war. „Mit dem letzten Hindernis zur Beseitigung der parlamentarischen Demokra-tie und damit zur Schaffung des berufsständischen Staates waren auch die letzten Schranken gegen eine Aufspaltung und Zerstörung der Handelskammern weggefallen. Mit Ablauf ihrer letzten Wahl-Amtsperiode Ende 1935 hätten sie automatisch zu bestehen aufge-hört. Die Gründung des Gewerkschaftsbundes als eines Instrumentes zur Erfassung der Arbeitnehmerschaft nahm jedoch der Beseitigung der Kammern als einer Gesamtvertretung der Unternehmer der ge-werblichen Wirtschaft am Ende die Rechtfertigung und hätte diese Maßnahme zu einer Verletzung des auch für das autoritäre Regime gültigen Gleichheitsprinzipes gemacht, zumindest für die Dauer der Trennung zwischen Arbeitern und Unternehmern.“26

24 Verordnung der Bundesregierung vom 2. März 1934 über die Errichtung des Gwerkschaftsbundes der österreichischen Arbeiter und Angestellten, BGBl. Nr. 132/1934.

25 Neustädter-Stürmer, Gesetzgebung, 13.26 Geißler, Handelskammerorganisation, 13.

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Nach anfänglichen schweren Rückschlägen konnten sich die be-reits seit vielen Jahrzehnten bestehenden Kammern gegen den Traum vom ständischen Staat durchsetzen. 1936/37 gingen diese mit einem neuen Handelskammergesetz – das mit der Bundeskammer auch zum ersten Mal eine Dachorganisation vorsah – gestärkt aus die-sem Kampf hervor. Franz Geißler stellte wohl zu Recht fest, dass das Handelskammergesetz 1937 das Scheitern des ständischen Staats bedeutete.27 Und die Pressestimmen, wie etwa die des „Österreichi-schen Volkswirt“, klatschten dazu Beifall: „Der Kampf um die Han-delskammern hat nach fast zweijähriger Dauer dahin geführt, dass nicht nur ihre Erhaltung, sondern ihre Festigung zur Tagesordnung steht. Längst hat die öffentliche Meinung gegen jene entschieden, die diesen Kampf angezettelt haben. Eher noch ist man bereit, auf alle Neukonstruktionen zu verzichten, als die altbewährte Einrichtung der Kammern preiszugeben.“28 Die Kammern hatten es zwar nicht mehr vermocht, die spezifische Wirtschaftspolitik des Ständestaats in ihrem Sinne zu modifizieren, sie konnten sich aber doch in der Realität einer kapitalistischen Ge sellschaft gegen die Utopie des Stän-destaats durchsetzen.

Resümee

Die Wirtschaftspolitik des Ständestaats kann nicht für sich in An-spruch nehmen, in irgendeinem Bereich ihren ideologischen Forde-rungen entsprochen zu haben. In der Wirtschaftspolitik drückten sich diese Auseinandersetzungen in folgenden Bereichen aus:1. In einer Dominanz der Finanzpolitik, d. h. einer Fortsetzung

der liberalen Wirtschaftspolitik der 1920er-Jahre mit autoritären Mitteln und unter Bedingungen, in denen sie in den meisten anderen Ländern bereits aufgegeben worden war.

27 Geißler, Handelskammerorganisation, 203.28 Der Ruf nach den Handelskammern, in: Der Österreichische Volkswirt,

Wien, 08.05.1937.

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2. In einer nur machtpolitisch zu begründenden Durchsetzung agrarischer Monopolisierungstendenzen auf Kosten der anderen Wirt schaftsbereiche und des Massenkonsums.

3. In einer Einkommensumverteilung, einer Revision der Lohn-politik nach dem Ersten Weltkrieg und einer Einschränkung bzw. offenen Tolerierung der Missachtung sozialpolitischer Er-rungenschaften sowie schließlich einer Verlagerung der Einkom-mensströme von den Unselbstständigen zu den Selbstständigen und von den Konsumentinnen/Konsumenten zu den Produzen-tinnen/Produzenten: der Ständestaat als Staat im Interesse der Selbstständigen

Das vorrangige Ziel dieser Wirtschaftspolitik war nicht der Wieder-aufschwung nach der Weltwirtschaftskrise, sondern die Stabilisierung des politischen Status quo angesichts der politischen Bedrohung von rechts und links. In diesem Zusammenhang wurde die Unterstüt-zung aus dem Ausland – Kapitalinteressen und Finanzkomitee des Völkerbunds – und die materielle Stabilisierung der politischen Kerngruppen des Regimes angestrebt. Die Verbindung des „christ-lichen“ Ständestaats mit dem Liberalismus war daher systemimma-nent. Der ständische Aufbau scheiterte nicht, weil er sich gegen libe-ralistische Kräfte nicht durchsetzen konnte, sondern er scheiterte an den gesellschaftlichen Realitäten eines industriell fortgeschrittenen Landes, in dem es nicht gelingen konnte, die vorhandenen Inter-essengegensätze durch eine autoritär erzwungene Gemeinschaft zu überdecken. Bei allen Vorteilen, die der Ständestaat den Selbststän-digen kurzfristig gebracht hatte, kam daher dessen Überwindung von diesen selbst bzw. von deren Interessenorganisationen, die sich gerade in dieser Phase ihrer existentiellen Krise neu strukturierten. Damit erzwang der autoritäre Staat eine Strukturbereinigung des Systems der Interessenvertretungen mit der Errichtung der Zentralorganisa-tionen Gewerkschaftsbund und Bundeswirtschaftskammer, die nach 1945 eine der Grundlagen der Sozialpartnerschaft wurden.

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Literatur

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Dobretsberger, Josef, Die wirtschaftlichen Aufgaben des neuen Staates, Wien 1937.

Geißler, Franz, Österreichs Handelskammerorganisation in der Zwischen-kriegszeit. Eine Idee am Prüfstand, Wien 1977, Band 2.

Jakoncig, Guido, Grundsätzliche Gedanken zur Wirtschaftskrise und de-ren Bekämpfung, Vortrag gehalten am 27. November 1934 im Öster-reichischen Ingenieur- und Architekten Verein, Wien 1934.

Kolnai, Aurel, Die Ideologie des Ständestaates, in: Der Kampf. Sozialde-mokratische Monatsschrift, 27/1 (1934), 13–23.

Messner, Johannes, Die berufständische Ordnung, Wien 1938. Mises, Ludwig von, Die Ursachen der Wirtschaftskrise, Wien 1931.Morgenstern, Oskar, Die Grenzen der Wirtschaftspolitik, Wien 1934.Neustädter-Stürmer, Odo, Die berufständische Gesetzgebung in Öster-

reich, Wien 1936.Senft, Gerhard, Im Vorfeld der Katastrophe. Die Wirtschaftspolitik des Stän-

destaates. Österreich 1934–1938. Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit. Band 15, Wien 2002.

Stiefel, Dieter, Aber Krise ist auch nicht so schlecht. Zur Interdependenz sozio-ökonomischer Prozesse und der Genese des autoritären Regimes in Österreich, in: 1934: Erfahrungen + Lehren (=Schriften des Dr. Karl Kummer Instituts, hg. Herwig Hösele), Graz 1984.

Stiefel, Dieter, Finanzdiplomatie und Weltwirtschaftskrise. Die Krise der Credit-Ansalt für Handel und Gewerbe 1931 (= Schriftenreihe des In-stituts für bankhistorische Forschung e.V., Band 12), Frankfurt 1989.

Stiefel, Dieter, Im Interesse des Handels: Gremien, Verbände und Vereine der österreichischen Kaufmannschaft in der Zwischenkriegszeit, in: Geschichte der Handelskammerorganisation. Spitzenkörperschaften der gewerblichen Wirtschaft vor ihrer Eingliederung in die Handels-kammerorganisation (= Schriftenreihe der Bundeskammer der ge-werblichen Wirtschaft 37), Wien 1978.

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Stiefel, Dieter, Utopie und Realität: Die Wirtschaftspolitik des Ständestaa-tes, in: Thomas Albrich/Klaus Eisterer/Rolf Steininger (Hg.), Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen und Rahmenbe-dingungen 1918–1938, Innsbruck 1988.

Stiefel, Dieter, Wirtschaftspolitik im Ständestaat und ihre Reflexion in der Österreich in Bild und Ton, in: Michael Achenbach/Karin Moser (Hg.), Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austro-faschistischen Ständestaats, Filmarchiv Austria, Wien 2002.

Tálos, Emmerich/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938, Wien 1984.

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