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Staats- und Verfassungskrise 1933 () || Der europäische Kontext: Von der Krise der...

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171 Peter L. Lindseth 1 Der europäische Kontext: Von der Krise der Zwischenkriegszeit zur Verfassungsregelung nach dem Krieg und darüber hinaus Die politischen Umwälzungen der Zwischenkriegszeit sind untrenn- bar mit den Folgen des Krieges und der wirtschaftlichen sowie sozi- alen Krise verbunden. Die Opfer, die im Ersten Weltkrieg erbracht wurden, wären nach Alan Milward gar nicht möglich gewesen „ohne die Ausweitung der Verpflichtungen des Staates gegenüber [seinen BürgerInnen] und ohne die dadurch hervorgerufenen Veränderun- gen des politischen Systems“. Da nur „wenige europäische Staaten in der Lage waren […] eine neue Form des Regierens zu entwickeln, die diesen massiv ausgeweiteten Verpflichtungen tatsächlich entsprach“ 2 , führte dies zu der politischen Instabilität, von der die Zwischen- kriegszeit gekennzeichnet war. „Neue Form des Regierens“ Welche Rolle den Volksvertretungen, und insbesondere den Parla- menten, nach dieser „neuen Form des Regierens“ zukommen würde, war die zentrale verfassungsrechtliche Frage der Zwischenkriegszeit. Viele Beobachter erkannten, dass eine Machtverschiebung von den Parlamenten hin zur staatlichen Exekutive notwendig sein würde. 1 Dieser Beitrag stützt sich insbesondere auf Lindseth (2010), 2. Kapitel, und Lindseth (2004). Für die umfassende Recherchearbeit zu den deut- schen Originalquellen geht mein Dank an Dr. Christoph Konrath. Die Übersetzung meines Beitrags ins Deutsche übernahm Mag. a Petra Rösler mit Unterstützung von MMag. a Angelina Reif. 2 Milward (2000 [1992]), 4. Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/6/14 12:06 AM
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Peter L. Lindseth1

Der europäische Kontext: Von der Krise der Zwischenkriegszeit zur Verfassungsregelung nach dem Krieg und darüber hinaus

Die politischen Umwälzungen der Zwischenkriegszeit sind untrenn-bar mit den Folgen des Krieges und der wirtschaftlichen sowie sozi-alen Krise verbunden. Die Opfer, die im Ersten Weltkrieg erbracht wurden, wären nach Alan Milward gar nicht möglich gewesen „ohne die Ausweitung der Verpflichtungen des Staates gegenüber [seinen BürgerInnen] und ohne die dadurch hervorgerufenen Veränderun-gen des politischen Systems“. Da nur „wenige europäische Staaten in der Lage waren […] eine neue Form des Regierens zu entwickeln, die diesen massiv ausgeweiteten Verpflichtungen tatsächlich entsprach“2, führte dies zu der politischen Instabilität, von der die Zwischen-kriegszeit gekennzeichnet war.

„Neue Form des Regierens“

Welche Rolle den Volksvertretungen, und insbesondere den Parla-menten, nach dieser „neuen Form des Regierens“ zukommen würde, war die zentrale verfassungsrechtliche Frage der Zwischenkriegszeit. Viele Beobachter erkannten, dass eine Machtverschiebung von den Parlamenten hin zur staatlichen Exekutive notwendig sein würde.

1 Dieser Beitrag stützt sich insbesondere auf Lindseth (2010), 2. Kapitel, und Lindseth (2004). Für die umfassende Recherchearbeit zu den deut-schen Originalquellen geht mein Dank an Dr. Christoph Konrath. Die Übersetzung meines Beitrags ins Deutsche übernahm Mag.a Petra Rösler mit Unterstützung von MMag.a Angelina Reif.

2 Milward (2000 [1992]), 4.

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Die Ironie bestand freilich darin, „dass mit der Pariser Friedensre-gelung [unter anderem] die parlamentarische Demokratie in wei-ten Teilen Europas etabliert wurde“, und zwar errichtet auf „einem überwiegenden Misstrauen gegenüber der Exekutive“, die als das Bollwerk jener autokratischen Regime galt, die soeben zusammen-gebrochen waren.3 Dennoch sahen sich, wie Carl Schmitt später bemerkte, „fast alle Staaten“ mehr und mehr dazu gezwungen, „po-litische, wirtschaftliche und finanzielle Anforderungen und Maßnah-men in ‚vereinfachten Verfahren‘ zu treffen“, um eine „schnelle An-passung an die besonderen Schwierigkeiten der wechselnden Lage“4 zu ermöglichen. Die Verschiebung umfangreicher gesetzgeberischer Kompetenzen hin zur Exekutive war nach Schmitts Einschätzung das Hauptinstrument dieser „Vereinfachung“5.

Stärkung der Exekutivgewalt mittels Ermächtigung („Delegation“)

Die ständig zunehmende Konzentration von gesetzgebenden und richterlichen Befugnissen bei der Exekutive war aber gemäß Schmitt nicht nur in der Weimarer Republik zu beobachten, sondern auch bei den Siegermächten wie Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Tatsächlich diente die im ersten Weltkrieg ver-abschiedete Notstandsgesetzgebung als verfassungsrechtliche Vorlage. In Anlehnung an diese Vorlage wurden mit jedem nachfolgenden Ermächtigungsgesetz (enabling act, loi d’habilitation) der Exekutive in mehr oder weniger großem Umfang die nötigen Befugnisse zur Bekämpfung der aktuell wahrgenommenen Krise (Inflation, Wäh-rungsstabilisierung, Wirtschaftskrise) übertragen. In Deutschland

3 Mazower (2000 [1998]), 4, 8.4 Schmitt (1936), 252.5 Schmitt (1936), 252. Siehe auch Mazower (2000 [1998]), 20. Er beschreibt

dort „Verfassungsänderungen zur Stärkung der Exekutive“ mithilfe zuläs-siger Delegationen in Polen 1926, Österreich 1929, Spanien 1931, Estland 1933 und 1937 und Litauen 1935.

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wurde dieser Prozess zudem durch den Rückgriff auf das Notver-ordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung verstärkt. Obwohl Art. 48 ursprünglich nur für die Übertragung von Befugnissen an den Reichspräsidenten im Fall von inneren Unruhen gedacht war, entwickelte sich daraus ein Vorwand für die Exekutive, weitreichende gesetzgebende Gewalt auszuüben.6

Bereits in den 1920er Jahren begann ein kleiner Kreis deutscher Verfassungsrechtler, insbesondere Heinrich Triepel und Fritz Poetzsch, sowohl den außergewöhnlichen Umfang als auch die materiell-recht-liche Unbestimmtheit dieser normativen Kompetenzübertragung an die Exekutive zu kritisieren – lange vor der Machtergreifung der Na-tionalsozialisten 1933.7 Allerdings fand diese kritische Sicht der Praxis umfassender Übertragung gesetzgeberischer Kompetenzen nur wenig Widerhall. Vielmehr sah man in der Ermächtigung bzw. der Kom-petenzübertragung („Delegation“) einen Grundpfeiler des Regierens im modernen Verwaltungsstaat.8 Dennoch gelang es der Weimarer Republik trotz dieser Machtverschiebung nicht, ausreichend politi-sche Stabilität zu erzielen. Es ist daher wenig überraschend, dass den Notverordnungsrechten des Reichspräsidenten nach Art. 48 im Laufe der 1920er-Jahre eine immer größere Bedeutung zukam.9 Anfang der 1930er-Jahre wurde Art. 48 der Reichsverfassung (durch maßgebliche

6 Lindseth (2004), 1360.7 Siehe z. B. Poetzsch (1921). In den Berichten von Triepel und Poetzsch am

Deutschen Juristentag 1922 stand die Frage der Tagesordnung im Mit-telpunkt: „Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über die Grenzen zwischen Gesetz und Rechtsverordnung aufzunehmen?“ Siehe Triepel (1922) und Poetzsch (1922). Siehe auch Mößle (1990), 25, der die Beiträge von Triepel und Poetzsch behandelt.

8 Im Einzelnen siehe Lindseth (2004), 1361-81 zu den Entwicklungen in Deutschland und Frankreich, sowie Lindseth (2005), 663–76 zu Großbri-tannien.

9 Siehe dazu etwa die Steuerverordnung des Reichspräsidenten vom 07.12.1993 (RGBl. I S. 1177). Dazu auch Scheuner (1967), 257–66. Eine Auflistung der Notverordnungen des Reichspräsidenten in der frühen Weimarer Republik bei Poetzsch (1925), 141–47.

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Unterstützung von Carl Schmitts Theorien) zur angeblichen verfas-sungsrechtlichen Grundlage für außerparlamentarische und schließ-lich für reine antiparlamentarische Präsidialkabinette in Deutschland.

Die Regierung Brüning (1930–32) war aufgrund der politischen Umstände – sie hatte im Reichstag keine kohärente Mehrheit – dazu gezwungen, mit Notverordnungen nach Art. 48 zu regieren. Aber an-ders als die unmittelbar nachfolgenden diktatorischen Regierungen (unter von Papen, von Schleicher und dann katastrophalerweise unter Hitler) achtete das „semiparlamentarische“ Kabinett Brüning sorg-fältig darauf, seine Verordnungen dem Reichstag zur, von der Verfas-sung geforderten, nachträglichen Kontrolle vorzulegen. Daher konnte Brüning sich darauf berufen, zumindest über die „Tolerierung“, ja sogar über die stillschweigende Unterstützung einer negativen parla-mentarischen Mehrheit zu verfügen. Diese Mehrheit schloss auch die Sozialdemokraten ein, die es wiederholt ablehnten, die vorgelegten Verordnungen aufzuheben.10 In späteren Jahren behauptete Brüning, „dass sein Rückgriff auf die Regierung durch Notverordnung die par-lamentarische Kontrolle nicht etwa aufgehoben, sondern lediglich deren Form verändert habe“.11 Diese Auffassung ist weniger weit her-geholt, als es zunächst den Anschein hat. Denn diese Vorgehensweise gleicht Ansätzen, die damals zeitgleich auch in anderen Ländern er-probt wurden,12 und nimmt Formen der nachträglichen parlamen-tarischen Kontrolle vorweg, die sich nach 1945 in ganz Westeuropa entwickelt haben (etwa parlamentarische Veto-Rechte oder das parla-mentarische Übersichts- oder Kontrollverfahren zu Verordnungen)13.

10 Siehe Patch (1998), 72–117.11 Patch (1998), 115.12 In Frankreich etwa wurde mit Art. 1 des Gesetzes vom 3. August 1926

(Journal Officiel de la République Française [J.O.], Lois et Décrets, 4. August 1926, 8786, der Regierung bis zum Jahresende das Recht übertra-gen, Verordnungen betreffend die Verwaltungsreform zur Stützung der Staatsfinanzen zu erlassen. Diese Verordnungen waren drei Monate nach Erlass dem Parlament vorzulegen.

13 Siehe Lindseth (2010), 80-81.

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Man mag Brüning vorhalten, dass er von der Praxis des „normalen“ Parlamentarismus abgewichen ist,14 aber diese Kritik übersieht, dass der „normale“ Parlamentarismus im gesamten Zwischenkriegseuropa schwersten Belastungen ausgesetzt war. Angesichts dieser Umstände ist selbst eine eindeutige Aussage darüber, was damals als „normaler“ Parlamentarismus gelten konnte, problematisch.

Léon Blum und Gordon Hewart – zwei kritische Stimmen

In der verfassungsrechtlichen Debatte der Zwischenkriegszeit wurde gegen eine Verschiebung der Machtbalance hin zur Regierung unter anderem das Argument vorgebracht, dass diese dem traditionellen, auf John Locke zurückgehenden Begriff von parlamentarischer De-mokratie widerspreche15. Der französische Sozialist Léon Blum ver-trat 1926 die Auffassung, dass die aufkommende Praxis von „Voll-machten“ (pleins pouvoirs) und „Rechtsverordnungen“ (décrets-lois) „nicht nur gegen die Verfassung verstößt, sondern auch gegen die nationale Souveränität, deren Vertreter, aber nicht deren Herren Sie [die Abgeordneten] sind und deren Rechte sich nicht auf ande-re übertragen lassen, sondern nur durch Sie selbst ausgeübt werden können.“16 Unter dem provozierenden Titel „The New Despotism“ erschien 1929 ein weithin beachtetes Buch von Lord Gordon Hewart, damals Lord Chief Justice von England und Wales. Aus einer Po-sition am entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums stam-mend, argumentierte er, dass die Übertragung von Kompetenzen zur Gesetzgebung und Rechtsprechung an die Exekutive in einem modernen Verwaltungsstaats die „beiden wichtigsten Elemente“ der britischen Verfassung bedrohe: „die Souveränität des Parlaments und die Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law)“.17

14 Siehe etwa Gusy (1994), 274.15 Siehe Lindseth (2010), 20.16 J.O, Chambre des députés, débats, 07.07.1926, 2773. 17 Hewart of Bury (1929), 17.

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Allerdings relativierten sowohl Blum als auch Hewart angesichts der funktionalen Realitäten schließlich ihren Standpunkt. Blum selbst forderte für seine Volksfrontregierung im Juni 1937 und im April 1938 Notverordnungsrechte. In der Debatte darüber räumte er 1937 ein, dass sich die Verfassungspraxis weiterentwickelt habe: „Die Frage nach pleins pouvoirs ist eigentlich eine Verfassungsfrage. Aber sie ist, wie Sie alle sehr genau wissen, vor allem eine Frage des Ver-trauens“ in die Exekutive.18 Hewarts Position hingegen wurde angeb-lich abgeklärter, nachdem das Committee on Ministers‘ Powers 1932 einen Bericht zu dieser Frage veröffentlicht hatte.19 Dieser Ausschuss war 1929 als direkte Reaktion auf Hewarts Kritik eingesetzt worden und war einer der renommierteren in der geschichtlichen Entwick-lung des englischen Verwaltungsrechts.

Durchsetzung des Funktionalismus

In seinem Bericht kam das Committee on Ministers’ Powers zu der umfassenden Schlussfolgerung, „dass das System delegierter Gesetz-gebung sowohl legitim als auch aufgrund bestimmter Sachzwänge verfassungsrechtlich wünschenswert“ sei. Zur Begründung führte der Ausschuss an: den Zeitdruck, unter dem das Parlament steht, fachliche Fragen der zu regelnden Angelegenheiten, den Bedarf nach Flexibilität angesichts unvorhergesehener Notfälle und nicht zuletzt die Notwendigkeit, Erfahrungen mit neuen Verfahren der Rechtset-zung zu sammeln.20 Der Ausschuss wies daher die Pauschalkritik in „The New Despotism“ zurück und stellte sich auf den Standpunkt, dass diese Kritik die Argumente, die für die delegierte Gesetzgebung sprachen, keinesfalls entkräfte. Vielmehr mache sie lediglich deut-lich, „dass diese Praxis Gefahren in sich birgt, dass sie missbrauchs-

18 J.O., Chambre des députés, débats, 15.06.1937, 1979.19 Committee on Ministers’ Powers (1932). Ich danke David Dyzenhaus für

den Hinweis auf die geänderte Haltung Hewarts nach der Veröffentli-chung des Berichts.

20 Committee on Minsters’‘ Powers (1932), 51–52.

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anfällig ist und dass daher Sicherheitsvorkehrungen erforderlich sind“.21 Ermächtigungen im Bereich Gesetzgebung und Rechtspre-chung könnten, so der Ausschuss, auch in Zukunft rechtlich und politisch legitimiert werden. Das sei aber nur dann möglich, wenn eine direkte Kontrolle der Verwaltung durch den Gesetzgeber, Mi-nisterverantwortung und die korporative Mitwirkung an behördli-cher Beschlussfassung zusammenkämen und das Regierungs- und Verwaltungshandeln, soweit es auf delegierten Kompetenzen basiert, der Nachprüfung durch Gerichte unterliege.

Angesichts des zunehmenden Unbehagens im Parlament über an-gebliche Exzesse von „Bürokratie“ 22 umfasste der Ausschuss Vertreter aller Parlamentsparteien um dem Bericht Glaubwürdigkeit zu ver-leihen. Unter den Ausschussmitgliedern befand sich Harold Laski, Professor für Politikwissenschaft an der London School of Economics und damals einer der führenden Vertreter einer „funktionalistischen“ Sicht des entstehenden Verwaltungsstaates. Der Funktionalismus ent-wickelte sich in der Zwischenkriegszeit, insbesondere im englischspra-chigen Raum, zur „idée-force“ einer Gruppe von Wissenschaftern.23 Für diese war die Verteilung der Macht im modernen Staat angesichts funktionaler Anforderungen „weder eine Frage des Rechts noch der formalen Logik, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit“.24 Zu die-sen Vordenkern zählten Briten wie Laski, Ivor Jennings und William Robson und Amerikaner wie James Landis und Felix Frankfurter, was diese Gruppe zu einer transatlantischen Forschungsbewegung mach-te. Ihr funktionalistischer Ansatz war zutiefst pragmatisch geprägt und basierte auf der Prämisse, dass überkommene verfassungsrecht-liche Kategorien, wie etwa die „Gewaltenteilung“, neu definiert wer-den müssten, wenn sie weiterhin den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen sollten. Der Einfluss dieses funktionalistischen Denkens

21 Committee on Minsters’ Powers (1932), 54.22 Beispiele dafür etwa in Willis (1933), 39.23 Siehe Willis (1935), 75.24 Umfassender dazu Loughlin (2005).

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zeigte sich auch im Bericht des Committee on Ministers’ Powers selbst, der feststellte: „Tatsache ist: Wenn das Parlament nicht bereit wäre, Gesetzgebungskompetenzen zu delegieren, dann könnte es die Anzahl und Arten der Regelungen überhaupt nicht mehr bewältigen, die sich die Öffentlichkeit heute erwartet“.25

Ähnlichem Druck sahen sich alle Parlamente der Zwischenkriegs-zeit ausgesetzt. Vor allem wurde intensiv versucht, die Zahl der „Vetospieler“ (um es modern auszudrücken),26 zu begrenzen, weil damit das Formulieren einer wirksamen Politik überhaupt untergra-ben worden wäre. In Frankreich vertrat der Konservative Raymond Poincaré 1924 in einer der zahlreichen Finanzkrisen nach dem Ersten Weltkrieg die Auffassung, dass Delegation nötig sei, um jene Inte-ressengruppen auszuhebeln, die sonst unvermeidlich die Entschei-dungsfindung des Parlaments blockieren würden: „Sprechen wir es doch offen aus – jede Vereinfachung der Gesetzgebung wäre für ge-wisse Interessengruppen eine Bedrohung“.27 Diese Gruppierungen wurden umgehend aktiv, wenn es darum ging, für sie nachteilige Maßnahmen im Parlament zu unterbinden. Wenn also die Krise nur dadurch zu lösen sei, „dass wir eine groß angelegte Gesetzgebungs-debatte führen, dann werden wir keinen Erfolg haben. Ich will aber Erfolg haben“.28 Daher seine Forderung nach Delegation. Nur wenig mehr als ein Jahrzehnt später strich der Amerikaner James Landis, ein überzeugter „New Dealer“ und späterer Dekan der Harvard Law School, einen anderen Aspekt funktionalistischen Denkens heraus: den pragmatischen Impuls zur Problemlösung. „Eine Regierung nach dem einfachen Schema der dreigliedrigen Gewaltenteilung wird den Aufgaben unserer Zeit nicht mehr gerecht“,29 begründete Landis in einer bekannten Formulierung die Notwendigkeit, die Struktur des Regierens neu zu bestellen.

25 Committee on Ministers’ Powers (1932), 33. 26 Siehe Tsebelis (2002).27 J.O., Chambre des députés, débats, 06.02.1924, 511. 28 J.O., Chambre des députés, débats, 26.01.1924, 287.29 Landis (1938), 1.

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Landis war der Ansicht, dass bei allen funktionalen Verände-rungen „jene Elemente der Verantwortung und Bedingungen des Gleichgewichts erhalten werden müssen, die die angloamerikanische Regierungsform auszeichnen“.30 Aber nicht alle, die nach einer funk-tionalen Neuordnung des Staates riefen, teilten diese Auffassung. Ganz im Gegenteil: Der portugiesische Diktator Antonio Salazar, vormals Professor für Wirtschaftswissenschaften, beschrieb die Welt 1934 als „ein großes Forschungslabor“, in dem „die politischen Sys-teme des 19. Jahrhunderts“ weitgehend zusammenbrachen. Auslöser dafür war die Notwendigkeit, „die Institutionen an die Anforderun-gen der neuen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen“ anzu-passen.31 Salazar war angesichts dieses funktionalen Drucks davon überzeugt: „[...] wenn es nicht zu irgendeiner Rückwärtsbewegung in der politischen Entwicklung kommt, wird es in 20 Jahren in Europa keine gesetzgebenden Versammlungen mehr geben“32.

Aber selbst in den diktatorischen Regimen, die in den 1920er und 1930er-Jahren entstanden – faschistisch in Italien, autoritär in Österreich oder Portugal und nationalsozialistisch in Deutschland – kämpften gesetzgebende Versammlungen ums Überleben, wenn nicht um Macht. Aber unter den Bedingungen der Diktatur existier-ten sie lediglich als leere Hüllen weiter, ohne irgendeine reale Aufga-be und gewiss nicht als Instrument der Legitimation (diese Funktion war letztlich dem nationalen Führer übertragen worden). Überall, wo sich in der Zwischenkriegszeit Diktaturen etabliert hatten, bestanden gesetzgebende Versammlungen somit nur als Staffage weiter, oder, um es in den Worten eines zeitgenössischen amerikanischen Histori-kers zu sagen, „als Anerkennung, die das Laster der Tugend aus reiner Gewohnheit zollt“.33

30 Landis (1938), 1.31 Nach Mazower (2000 [1998]), 28.32 Mazower (2000 [1998]), 28.33 Becker (1943 [1940]), 203.

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Carl Schmitt: Plädoyer für eine Regierungsgesetzgebung

Der wortgewaltigste Vertreter jener extremen Rechten, die der Legis-lative jede Bedeutung absprachen, war sicherlich Carl Schmitt selbst. Für ihn konnte es, wie oben ausgeführt, keinen Zweifel daran ge-ben, was der funktionale Druck für die Regierungen der Zwischen-kriegszeit in ganz Europa innenpolitisch bedeutete. Gleichgültig, ob es sich nach herkömmlichem Verständnis um parlamentarische Demokratien oder um Diktaturen handelte, sie alle waren bestrebt, „politische, wirtschaftliche und finanzielle Anordnungen und Maß-nahmen in ‚vereinfachten‘ Verfahren zu treffen, die eine schnelle An-passung an die besonderen Schwierigkeiten der wechselnden Lagen ermöglichen“,34 so Schmitt 1936 in einem Beitrag über die „neueste Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen Ermächtigung (le-gislative Delegationen)“.35 Im Kern argumentierte er, dass die Ent-wicklungen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und in den Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg alle auf einen ähn-lichen Prozess der Auflösung der verfassungsrechtlichen Trennung zwischen legislativer und exekutiver Gewalt zurückzuführen seien. Dabei hätten sich die Gewichte offensichtlich zugunsten letzterer verschoben. Allerdings war nur in Deutschland in letzter Konsequenz jeder Anschein einer „Gewaltenteilung“ ausgemerzt und stattdessen ein System echter „Regierungsgesetzgebung“ geschaffen worden.36

Anscheinend war Schmitt bewusst, dass sich ohne beschönigende Formulierungen kein akzeptables Bild vom Naziregime zeichnen las-sen würde. Er vermeinte das „irreführende Schlagwort“ Diktatur sei nicht geeignet, um das neue Regime zu beschreiben. Dieses System habe vielmehr Vorstellungen von Aristoteles und Thomas von Aquin bestätigt, wonach die Gesetzgebung dem Wesen nach in die Hand des Fürsten (also der Exekutive) gehöre. Mit solchen überlegenen

34 Schmitt (1936), 252; siehe Lindseth (2010), 63.35 So der Titel seines Artikels, Schmitt (1936).36 Schmitt (1936), 257.

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aristotelischen und thomistischen Vorstellungen sei „die spezifische Problematik des gewaltenteilenden Verfassungs- und Gesetzesbegriffs […] überwunden.“37 Damit legte Schmitt nahe, dass eine solche Rückkehr zu angeblich traditionellen Formen des Regierens in Eu-ropa in sämtlichen Industriestaaten unvermeidlich sei. Nach seiner Vorstellung gab es einen „unüberbrückbare[n] Gegensatz zwischen dem Gesetzesbegriff eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates und der durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte notwendig gewordenen […] Regierungsgesetzgebung“. Diese erfordere nicht Beratungen der Legislative über allgemeine Normen, sondern ent-schiedenes Handeln der Regierung angesichts konkreter Tatsachen.38

Erst die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs konnte einen so rückwärts gewandten Denker wie Schmitt zu der Einsicht bewegen, dass es zwingend notwendig ist, die parlamentarische Demokratie mit den modernen Anforderungen an die Regierung zu versöhnen. Gegen Ende des Jahres 1944 verfasste Schmitt einen weiteren Arti-kel über „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“,39 der in gewisser Hinsicht als Gegenstück zu seinem Beitrag aus 1936 über Delegationen zu sehen ist. Was im späteren Beitrag allerdings fehlte, war die Selbstgefälligkeit, mit der er 1936 darauf vertraut hatte, dass in Deutschland dieses Problem gelöst sei. Nachvollziehbar mag das eventuell in Anbetracht des Unheils sein, das Deutschland aufgrund der 1933 getroffenen Entscheidungen über sich und viele Millionen Menschen in Europa und weit darüber hinaus gebracht hatte. Als auch Schmitt 1944 die Beweise für die von Deutschland verursach-te Katastrophe nicht mehr übersehen konnte, zitierte er – diesmal zustimmend – Heinrich Triepel, der bereits Anfang der 1920er Jah-re nachdrücklich auf die Risiken uneingeschränkter Delegationen hingewiesen hatte.40 Er zitierte auch Lord Hewarts „Warnung“ aus

37 Schmitt (1936), 268. 38 Schmitt (1936), 257. 39 Schmitt (1973 [1944]).40 Schmitt (1973 [1944]), 404; zu Triepels Argumentation Anfang der 1920er

Jahre siehe Lindseth (2010), 64.

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„The New Despotism“ (wenn er auch behauptete, diese sei selbst in Großbritannien ohne Beachtung geblieben) und schrieb über die Notwendigkeit eines „Sinn[es] für Logik und Folgerichtigkeit der Begriffe und Institutionen [und] für das Minimum eines geordneten Verfahrens, einen due process of law, ohne den es kein Recht gibt.“ Schmitt beteuerte sogar, wie notwendig die „auf gegenseitiger Ach-tung beruhende Anerkennung der Person“ sei.41

Streben nach „Gleichgewicht“ und „Verantwortlichkeit“ nach 1945

Europa stand 1945 in der Tat vor der Herausforderung, Lehren aus der Zwischenkriegszeit zu ziehen, wenngleich die Skepsis gegenüber Schmitts angeblicher Kehrtwende von 1944 berechtigt ist angesichts der großen Hoffnungen, die er in den 1930er Jahren in die verfas-sungsrechtlichen Prinzipien des Dritten Reichs gesetzt hatte. Die Herausforderung lag darin, Wege zu finden, wie Delegationen im Kontext liberal-demokratischer Institutionen funktionieren könnten, um zu überbrücken, was Schmitt 1936 als „unüberbrückbar“ bezeich-net hatte. Die Machtkonzentration von Gesetzgebung und Recht-sprechung im Bereich von Regierung und Verwaltung stellte auch noch nach 1945 ein definierendes Merkmal des Regierens in ganz Europa sowie in den Vereinigten Staaten dar. Allerdings waren die verfassungsrechtlichen Regelungen in der Nachkriegszeit nicht mehr ausschließlich durch funktionale Anforderungen bestimmt. Viel-mehr wurde versucht zu einem gewissen Maß an „Gleichgewicht“ und „Verantwortlichkeit“ zu kommen, 42 zwei Elemente, die Landis schon 1938 gefordert hatte und die in Schmitts Entwürfen aus den 1930er Jahren bedauerlicherweise gefehlt hatten.

Eine verfassungsrechtliche Neuregelung des verwaltungsrechtli-chen Regierens in der Nachkriegszeit erforderte in erster Linie erheb-

41 Schmitt (1973 [1944]), 406, 423.42 Siehe Lindseth (2010), 69.

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liche Änderungen der verfassungsmäßigen Kompetenzen der Legisla-tive um normative Macht zu delegieren, wie dies etwa in Art. 80 (1) des deutschen Grundgesetzes zum Ausdruck kam.43 Gewählte Kör-perschaften verloren in der Nachkriegszeit ihre Vorrangstellung als Institutionen der Normensetzung, während die Exekutive ihre Rolle auf der Basis von „Rahmengesetzen“ (framework laws, lois-cadres) und anderen Formen der gesetzgeberischen Ermächtigung durch die Legislative bedeutend erweitern konnte. Kontrolle durch das Parla-ment wurde zwar nicht unwichtig, zunehmend aber zu einer zweit-rangigen Quelle der demokratischen Legitimation. An die erste Stelle trat die führende Rolle der Regierungschefs – ein Vorgang, der in Westdeutschland nach dem Krieg so treffend als „Kanzlerdemokratie“ bezeichnet wurde. Die neuen Aufgaben der Parlamente wurden eher instrumental – sie bestanden jetzt vor allem darin, einer stabilen Re-gierung Platz zu machen und diese mit allen zum Regieren notwen-digen Mitteln auszustatten – und erst danach, sozusagen in zweiter Linie, das Regierungs- und Verwaltungshandeln zu überwachen.

In Westdeutschland war die wichtigste Neuerung in dieser Hin-sicht das sogenannte „konstruktive Misstrauensvotum“ nach Art. 67 Grundgesetz. Demnach kann der Bundestag einen Kanzler oder eine Kanzlerin nur dadurch stürzen, dass er mit absoluter Stimmenmehr-heit eine neue Regierung wählt. Einzelne MinisterInnen können nicht gestürzt werden. In Frankreich wurden erst nach 1958, also mit dem Beginn der semipräsidentiellen Fünften Republik, entsprechen-de Bestimmungen in die Verfassung aufgenommen und damit die Befugnisse der Exekutive gegenüber dem von Fraktionsdenken ge-prägten Parlament gestärkt.44 Wie sich die verfassungsmäßige Rolle der Legislative gegenüber der Exekutive verändern sollte, war jedoch schon 1958 in den Verhandlungen über die neue französische Ver-fassung deutlich geworden: „Im gegenwärtigen politischen Umfeld gehört zu den Aufgaben der Regierung zwingend auch die Befugnis,

43 Ausführlich dazu Mößle (1990).44 Lindseth (2004), 1407–08.

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Bestimmungen von allgemeiner Bedeutung“ – d. h. gesetzgeberische Bestimmungen – „zu erlassen“. Dagegen sei es die „wahre Aufga-be des Parlaments, die Politik der Regierung zu überwachen“. Seine Aufgabe war es also nicht, wie sich daraus implizit ergibt, diese Po-litik im Einzelnen selbst festzulegen.45 Mit der Verfassung von 1958 erfolgte die „De-jure-Anerkennung der gesetzgeberischen Rolle der Regierung“.46

Politik, Expertentum und Rechtsprechung

Dieser Verschiebung der gesetzgeberischen Befugnisse von der Le-gislative hin zur Exekutive lag ein untergeordneter, aber dennoch wichtiger Wandel der politischen Kultur zugrunde. Das Verständnis davon, was zum Kernbereich von Politik gehört, begann sich zu ver-ändern: Politik wurde im Bereich des repräsentativen Gesetzgebers gesehen, während ein vermeintlich „unpolitisches“ Expertentum (in den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft, Finanzen und Organisati-on) einer gesonderten technokratischen Sphäre zugerechnet wurde, die der Aufsicht oder Kontrolle der Exekutive unterlag. Den Parla-menten kam selbstverständlich weiterhin eine wichtige Rolle in der demokratischen Legitimation zu, da das Oberhaupt einer Regierung ohne funktionierende parlamentarische Mehrheit nicht regieren konnte. In diesem Sinne trugen Parlament und Regierungschef im Nachkriegseuropa zunehmend gemeinsam die Verantwortung für die demokratische Legitimation der Regierungsmacht im modernen Wohlfahrtsstaat: Das Parlament war zuständig für Regierungsbil-dung und Gesetzgebung, das Regierungsoberhaupt und das Kabinett für die Oberaufsicht über die administrativ-technokratische Sphäre.

In der verfassungsrechtlichen Neuregelung der Nachkriegszeit

45 Jérôme Solal-Céligny, „Projet d‘exposé des motifs de l’avant-projet de Constitution sournis au Comité consultative constitutionnel le 29 juin 1958”, in: “Documents pour server à l’histoire de l’élaboration de la cons-la cons-titution du 4 octobre 1958 ” (1987) 1: 524.

46 Chapus (1953) 1003.

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sollte jedoch auch die Rechtsprechung eine zentrale Rolle spielen. Da der Wohlfahrtsstaat immer mehr regulatorische und administ-rative Kompetenzen an sich zog, erlangten die Verwaltungsstellen infolge der zunehmenden organisatorischen Komplexität ein er-hebliches Maß an tatsächlicher (wenn nicht auch formalrechtlicher) Unabhängigkeit von der politischen Kontrolle.47 Daher wurde die gerichtliche Kontrolle immer wichtiger. Dem lag eine „Rational-Choice“-Logik zugrunde, weil die zunehmende Autonomie von Verwaltung(seinrichtungen) die Möglichkeiten für eine politische Oberaufsicht aushöhlte. Damit wurde aber eine alternative Form von „Verpflichtungsmechanismus“ (Kontrolle) notwendig, wenn die Anforderungen des Gesetzgebers und der Verfassung weiterhin eingehalten werden sollten.48 Diesem Zweck diente die gerichtliche Kontrolle, ganz im Einklang mit dem Verfassungsethos der Nach-kriegszeit, auch wenn die Aufgabe von Gerichten meist mit dem Schutz der Gewaltenteilung und der Individualrechte begründet wurde.

Allerdings überschnitt sich die Frage der Gewaltenteilung in der Nachkriegszeit auf interessante Weise mit jener der Individualrechte. Das deutsche Bundesverfassungsgericht entwickelte in diesem Zu-sammenhang die sogenannte „Wesentlichkeitstheorie“, um die nach seiner Auffassung „wesentlichen“ Funktionen des Parlaments zu schützen: Nur das Parlament kann demnach Rechtsnormen setzen, die die verfassungsmäßig verbrieften Rechte oder andere grundlegen-de Aspekte der staatlichen Ordnung berühren. Ab den späten 1950er Jahren stellte das Gericht in einer Reihe von Erkenntnissen klar, dass das Grundgesetz, anstatt Rechtsetzung in diesen Bereichen an die Ex-ekutive zu delegieren, dem Gesetzgeber in seiner Funktion als oberste Volksvertretung vorschreibt, Kontrollregeln in den Durchführungs-vorschriften zu formulieren („Vorbehalt des Gesetzes“).49 Dahinter

47 Ausführlich dazu Braibant (1993).48 Siehe Lindseth (2005), 683–85.49 Die richtungsweisende Entscheidung hierzu BVerfGE 7 282 (302, 304),

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stand das Ziel, jenen Bereich der normativen Verantwortlichkeit klar zu definieren, den der Gesetzgeber nicht an die Exekutive übertra-gen kann. Damit sollte die Stellung der Legislative im System der Gewaltenteilung, wie es nach dem Krieg entstanden war, gewährleis-tet werden. Auch in der italienischen Nachkriegsverfassung wurden verschiedene Bestimmungen (insbesondere jene mit Bezug auf das Strafrecht) auf ähnliche Weise ausgelegt und damit eine sogenannte riserva di legge geschaffen50. Und der französische Conseil d’Etat, das oberste Verwaltungsgericht des Landes, entschied 1953 – fünf Jahre, bevor mit dem Conseil Constitutionnel ein Verfassungsgericht ge-schaffen wurde – „dass bestimmte Themen ausschließlich dem Ge-setzgeber vorbehalten sind“. Das betraf insbesondere die Grund- und Freiheitsrechte, die in der Präambel der Verfassung von 1946 formu-liert worden waren und auf die sich die neue Verfassung ausdrücklich bezog.51 Dieser Rechtsgrundsatz galt auch nach der Errichtung der Fünften Republik, also nach 1958, weiter52.

Gestärkter Schutz der Menschenrechte

Es wird kaum überraschen, dass sowohl im deutschen, im französi-schen als auch im italienischen öffentlichen Recht die Erhaltung des

ausführlicher dazu Currie (1993) 219; siehe auch Lindseth (2004) 1395–96.50 Siehe dazu u. a. C. Cost., sent. n. 26/1966. Einige Bereiche, wie etwa das

Strafrecht, unterlagen einer „absoluten” riserva di legge, andere Bereiche dagegen einer „relativen” Einschränkung. Diese ähnelt der amerikani-schen nondelegation doctrine, in der lediglich vorgegeben wird, dass ein Bundesgesetz „mit hinreichender Genauigkeit Voraussetzungen, Bedeu-tung, Inhalt und Grenzen“ von Befugnissen bezeichnen muss, wenn die Legislative damit Kompetenzen delegiert, ebda. Eingehender dazu Pittaro (1980) 479.

51 Commission de la fonction publique, avis no. 60.497, 6 février 1953, in: Les grands avis du Conseil d’Etat (1997), 64. Vgl. dazu auch Lindseth (2004), 1402.

52 Die Art. 34 und 37 der Verfassung von 1958 sind ausführlich behandelt in Lindseth (2004), 1405–06.

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demokratischen Systems und der Schutz der Individualrechte eng verknüpft waren: Jedes dieser Länder hatte vor 1945 Erfahrungen mit Diktatur und daraus resultierenden Menschenrechtsverletzungen un-geahnten Ausmaßes gemacht.53 Dabei weist die deutsche Verfassung – auch das ist wenig überraschend – die präzisesten und anspruchs-vollsten Bestimmungen auf: Die in Art. 79 Abs. 3 enthaltene soge-nannte „Ewigkeitsklausel“ stellt ganz ausdrücklich eine Verbindung zwischen dem Schutz der „Würde des Menschen“ und der demokra-tischen Gewaltenteilung her. Dieser Artikel verbietet jede Änderung der Art. 1 und 20 des Grundgesetzes. Art. 1 erklärt die „Würde des Menschen“ für unantastbar und stipuliert die Durchsetzbarkeit von aufgelisteten Grundrechten als positives Recht für alle Bereiche der Regierung. Art. 20 bestimmt, dass Westdeutschland und nunmehr auch das vereinigte Deutschland ein „demokratischer und sozialer Bundestaat“ ist, in dem „alle Staatsgewalt vom Volk [ausgeht]“, die es durch Wahlen ausübt. Außerdem wird in diesem Artikel das Prin-zip der Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt und Rechtsprechung festgelegt.54 Darüber hinaus regelt das Grundgesetz die Errichtung eines Bundesverfassungsgerichts, das als oberste Instanz diese demokratischen Strukturen und Individual-rechte garantiert.

Aber auch in Großbritannien, dem hier eine Sonderrolle zu-kommt, übernahmen es zunehmend die Gerichte, die Rechte des Einzelnen, insbesondere im Bereich des Verwaltungsrechts, zu schüt-zen. Darin zeigt sich, wie dieser verfassungsrechtliche Ethos sich in den Jahrzehnten nach dem Krieg in ganz Westeuropa durchsetzte.55 Diese Kontrollfunktion zielte nicht nur auf Rechte, sondern diente auch der Legitimierung und ebnete den Weg für die dramatische Zu-nahme der staatlichen Eingriffe in die Gesellschaft. Funktionalisten

53 Vgl. Moravcsik (2000).54 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 73(3). Ausführlicher

dazu Lindseth (2004) 1388.55 Lindseth (2005), 683-84, Lindseth (2004), 1350 u. 1410-11.

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wie Harold Laski hatten in der Zwischenkriegszeit die britischen Ge-richte massiv dafür kritisiert, dass diese sich hinter Formalbegriffen des englischen Rechtssystems, des Common Law, versteckten und damit die Privilegien des Privateigentums schützten. Sie kritisierten auch, dass die Gerichte nur unzureichend den Zielsetzungen einer interventionistischen, dem Allgemeinwohl verpflichteten Gesetzge-bung folgten. Laski hatte eine Auslegungsmethode gefordert, „die weniger analytisch und stärker funktional ausgerichtet ist. Sie sollte erheben, wie der Grundgedanke hinter unserer Gesetzgebung in der Praxis umgesetzt wird, damit die sozialen Werte, denen dieses Prin-zip verpflichtet ist, voll und ganz zum Tragen kommen.“56 In den Jahrzehnten nach dem Krieg wurde im britischen Verwaltungsrecht schließlich anerkannt, dass ein Ausgleich notwendig ist zwischen „dem Recht des Einzelnen und dem Allgemeinwohl“, aber auch zwi-schen „einer fairen Behandlung des Einzelnen und einer gut funkti-onierenden Verwaltung“. So formulierte 1957 ein parlamentarischer Ausschuss57 und zeigte sich damit in weitgehender Übereinstimmung mit früheren funktionalistischen Forderungen.

Kontinuitäten zwischen den Nachkriegsperioden

Der Prozess, in dem sich zwischen den 1920er- und den 1950er-Jah-ren eine verfassungsrechtliche Neuregelung für den Verwaltungsstaat entwickelte, verlief weitgehend parallel mit der allgemeinen sozio-ökonomischen und sozialpolitischen Stabilisierung, die in dieser Zeit in ganz Westeuropa stattfand. Der amerikanische Historiker Charles Maier hat dies in seinem grundlegenden Aufsatz „The Two Postwar Eras and the Conditions for Stability in Twentieth-Century Western Europe“58 beschrieben. In diesem zu Recht berühmten Artikel stellt Maier fest, dass „beide Nachkriegsperioden Teil von anhaltenden Sta-

56 Committee on Ministers’ Powers (1932), Annex V, 137.57 Committee on Administrative Tribunals and Enquiries (1957), 2.58 Maier (1987).

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bilisierungsbemühungen waren, eines Bestrebens das so intensiv und nachhaltig war (und schließlich durch hinlänglichen Erfolg bestätigt wurde), dass es zu einem zentralen Thema der Geschichte Westeuro-pas im zwanzigsten Jahrhundert wurde“.59

Die Nachkriegsregelungen sahen vor, dass alle drei verfassungs-mäßigen Gewalten – das Parlament, die Regierung und die Gerichte – gemeinsam die Verantwortung für die demokratische Legitimation der vollziehenden Gewalt in Westeuropa übernahmen. Die West-europäer rangen um eine neue Form des Regierens („a new form of governance“, in den Worten Alan Milwards), die den Anforde-rungen des modernen Wohlfahrtsstaates gerecht werden konnte.60 Aus den vorangegangenen Jahrzehnten hatten sie in Hinsicht auf Recht und Verfassung zwei Lehren gezogen: zum einen, dass der Wohlfahrtsstaat nur erfolgreich sein kann, wenn er in Politik und Verwaltung über entsprechende Durchsetzungsmacht verfügt, und zweitens, dass dieser Macht eine Kontrolle durch Parlamente und Gerichte gegenüberstehen muss. Die drei Gewalten der traditionel-len Verfassungslehre – Legislative, Exekutive und Judikative – blie-ben als gesonderte „Legitimationsmechanismen“ bestehen, wodurch es dem Nachkriegsstaat gelang zu überbrücken, was Carl Schmitt in der Zwischenkriegszeit als „unüberbrückbar“ bezeichnet hatte. Da-durch wiederum konnte die Ausweitung und Fragmentierung der normativen Befugnisse im Verwaltungsstaat der Nachkriegszeit eine demokratische und verfassungsrechtliche Legitimierung für sich be-anspruchen, die in einem historischen und kulturellen Sinn wieder-erkennbar war. Gerade als die Rechtssetzungsbefugnisse ausgeweitet und fragmentiert wurden, wurden jene Bereiche der Regierung, die eine tradierte verfassungsrechtliche Legitimierung genossen – sei es als demokratische (d. h. ausführende und gesetzgebende) oder als rechtsprechende Gewalt – zu Verbindungsstellen durch die diese Macht legitimiert wurde. Auf Grundlage dieser vermittelten Legi-

59 Maier (1987), 161.60 Siehe FN 2 und Text dort.

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timierung war es dann möglich, die historische Auffassung von re-präsentativer Regierung (nach der die gewählte gesetzgebende Ver-sammlung weiterhin als Eckpfeiler der Selbstregierung galt) mit der exekutiven, technokratischen Realität im Verwaltungsstaat nach 1945 in Einklang zu bringen.

Verfassungsrechtliche Neuregelung und Europäische Integration

Die Organisatoren dieser Konferenz haben mich gebeten, mit eini-gen kurzen Überlegungen darüber zu schließen, was die verfassungs-rechtliche Neuregelung der Nachkriegszeit für den Prozess der eu-ropäischen Integration bedeutet. Das ist das zentrale Thema meines Buches „Power and Legitimacy: Reconciling Europe and the Nation-State“ (2010). Meine These darin lautet: Wenn man die grundle-gende „Grammatik“ des europäischen öffentlichen Rechts genauer betrachtet, dann zeigt sich, dass sich europäisches Regieren in den vergangenen fünfzig Jahren an zwei  zusammenhängende  Erschei-nungen angepasst hat: An die Strukturen der Legitimation und an die normativen Prinzipien der verfassungsrechtlichen Neuregelung des verwaltungsrechtlichen Regierens, wie ich sie soeben beschrieben habe. Dieser Prozess fand allerdings unter Berücksichtigung der In-tegrationsanforderungen statt.

Diese Konvergenz zeigt sich in der Abhängigkeit der Integration von Überwachungsmechanismen, welche von national „konstituier-ten“ Institutionen ausgeübt werden, insbesondere von Regierungen der Mitgliedstaaten, aber auch von deren Höchstgerichten und Par-lamenten. Zusammen bilden sie den umfassenden legitimierenden Rahmen, innerhalb dessen sich die komplexen Formen des „europä-isierten“ technokratischen Regierens frei bewegen können. Diese le-gitimierenden Strukturen wiederum reflektieren, dass die Integration auf dem normativ-rechtlichen Grundprinzip der in der Nachkriegs-zeit entstandenen Verfassungsregelungen aufbaut, nämlich der „De-legation“ (in der Terminologie der europäischen Verträge „begrenzte

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Einzelermächtigung“).61 Die europäische Rechtsordnung entspricht damit den normativen Anforderungen der Delegation, insbesondere der „vermittelten Legitimierung“, und versucht so, wie unvollkom-men auch immer, die funktionalen Realitäten der Integration in Ein-klang zu bringen mit der Rolle des Nationalstaats, der die primäre Quelle für die demokratische und verfassungsmäßige Legitimation im europäischen System ist.

Diese grundlegende „Grammatik“ des europäischen öffentlichen Rechts stellt eine Meinung in Frage, die unter vielen Rechtswissen-schafterInnen, die sich mit Integration beschäftigen, verbreitetet ist: Nach deren Vorstellung basiert die europäische Rechtsetzung auf „Institutionen, die verfassungsrechtlich losgelöst sind von nati-onalstaatlichen Legitimationsprozessen“.62 Die nationalstaatlichen Kontrollmechanismen wurden aber, wie in „Power and Legitimacy“ untersucht wurde, gerade dazu entwickelt, um zwei Bereiche zusam-menzubringen, die für die europäische Integration zentral sind: auf der einen Seite die an sich autonome Befugnis zu supranationaler Rechtsetzung, auf der anderen Seite die nationalstaatliche Quelle der demokratischen und verfassungsrechtlichen Legitimation die-ser Befugnis. Es kann natürlich kaum ein Zweifel daran bestehen, dass sich das „europäisierte“, technokratische Regieren heute weitaus verschachtelter und komplexer darstellt als man sich das in den ers-ten Jahrzehnten der Integration hätte vorstellen können. In der EU (und in der Eurozone) werden heute Vorschriften und Richtlinien in einem Verfahren erlassen, das de facto einen Grad an Autonomie genießt, der mit ziemlicher Sicherheit sogar höher ist als die De-jure-Autonomie nach den ursprünglichen Vorstellungen der europäischen Verträge. (Die heutige Autonomie auf europäischer Ebene geht sogar über jenen Freiraum hinaus, den Regierungen und Verwaltungen auf nationalstaatlicher und subnationaler Ebene im Verwaltungsstaat der Nachkriegszeit entwickelten.)

61 Artikel 5 EUV und Artikel 7 AEUV.62 Mennon and Weatherill (2002), 118.

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Und darin liegt die wahre Herausforderung, der die Legitimation in der EU heute gegenübersteht: Obwohl umfangreiche autonome Regelungsbefugnisse auf die supranationale Ebene übertragen wur-den, bleibt diese Autonomie im Grunde funktional und daher durch die Verwaltung geprägt. Ihr fehlt aber die demokratische und ver-fassungsrechtliche Selbstlegitimation, zu der die repräsentative Re-gierung im Nationalstaat in der Lage ist. Unabhängig davon, mit welchem Etikett man den Integrationsprozess versieht – man muss verstehen, dass die europäischen Befugnisse zur Rechtsetzung histo-risch grundlegend von der vorhergehenden Entwicklung abhängt, nämlich von der Legitimation der verfassungsrechtlichen Neurege-lung des verwaltungsrechtlichen Regierens auf nationalstaatlicher Ebene. Es ist daher kein Zufall, dass die europäische Integration als Projekt genau zu dem Zeitpunkt der westlichen Geschichte (in den 1950er-Jahren) realisierbar erschien, als auch auf nationalstaatlicher Ebene die Grundlagen des verwaltungsrechtlichen Regierens gesi-chert und diese hinlänglich mit den überkommenen Anforderungen einer repräsentativen Regierung versöhnt waren.

Zukünftig wird die Herausforderung darin bestehen, diese funk-tionale Realität in Einklang zu bringen mit der politisch-kulturellen Bindung an den Nationalstaat als dem Ort der demokratischen und verfassungsmäßigen Legitimation in Europa. Dabei wird es zweifellos zu Formen stärkerer Verantwortung überstaatlicher Organe gegen-über demokratischen Institutionen auf der nationalstaatlichen Ebene kommen (siehe etwa das sogenannte „subsidiäre Frühwarnsystem“). Im Extremfall könnte es aber auch dazu kommen, dass Befugnis-se zur Rechtsetzung, die verfassungsrechtlich an die supranationa-le Ebene delegiert werden dürfen, erheblich begrenzt werden. Das würde dann im Bereich der Integration der italienischen riserva di legge oder dem deutschen Gesetzesvorbehalt63 entsprechen. Der ita-lienische Politologe Stefano Bartolini hat 2005 auf die Gefahr hin-gewiesen, dass „wir den Umfang, in dem die europäischen Institu-

63 Siehe oben, FN 50–51 und Text dort.

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tionen und ihre Entscheidungen von echter Legitimation getragen werden, falsch einschätzen“. Das könne dann dazu führen, „ dass die Fähigkeit der EU, gravierende Wirtschafts- und Sicherheitskrisen zu bewältigen, überschätzt wird“.64 Oder anders gesagt: Das Ungleich-gewicht zwischen Rechtssetzungsbefugnis und Legitimität des Re-gierens führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Druck auf die Kompetenzbereiche, welche in weiterer Folge von den Europäischen Institutionen nicht mehr glaubhaft ausgeübt werden können – gera-de weil man die Demokratie auf nationalstaatlicher Ebene in einem historisch wiedererkennbaren Sinne erhalten will.

Die sich widersprechenden Forderungen nach „mehr“ und zu-gleich „weniger“ Europa sind in der aktuellen Krise der Eurozone deutlich spürbar. Die Krise wird, unabhängig vom endgültigen Er-gebnis, die EU dazu zwingen, zwei zentrale, aber gegenläufige Ten-denzen der Integration in Einklang zu bringen, wie sie das schon immer getan hat: Zum einen setzt sich die im Nationalstaat begrün-dete demokratische und verfassungsrechtliche Legitimierung von Regierungskompetenzen und Entscheidungsstrukturen auch auf europäischer Ebene fort. Zum anderen verlangt die Integration aus funktionalen und politischen Gründen nach mehr denationalisierten regulatorischen Kompetenzen. Wie „Power and Legitimacy“ darlegt, hat das Spannungsverhältnis dieser beiden Elemente das Integrati-onsprojekt seit seinen Anfängen geprägt, ein Umstand, der sich aus der verfassungsrechtlichen Neuordnung nach dem Krieg ableitet. Das wird die EU wohl nicht zerreißen – ich jedenfalls rechne nicht damit – aber irgendeine Art von Veränderung scheint zusehends un-vermeidbar. Ich gehe davon aus, dass das hier beschriebene Span-nungsverhältnis das europäische System des Regierens auch weiterhin prägen wird, während die europäische Integration einer ungewissen Zukunft entgegensteuert.

64 Siehe Bartolini (2005), 175.

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