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Eine einseitig aufgehängte Fußgängerbrücke in Gelsenkirchen
Sebastian Linden, schlaich bergermann und partner – sbp GmbH, Stuttgart
Zusammenfassung:
Im Gelsenkirchener Norden, gleich hinter der ZOOM-Erlebniswelt, überquert seit Juni 2009 eine
filigrane, kreisförmig gekrümmte Hängebrücke den Rhein Herne Kanal. Mit einem kühnen
Schwung und einer Spannweite von 141m verbindet sie die Rad- und Wanderwege der südlichen
Erzbahntrasse mit dem nördlichen Emscher Park Radweg.
Die Brücke vereint durch ihre Leichtigkeit und ihre reduzierte, integrale Konstruktion ästhetische
mit ingenieurmäßig sinnvollen Eigenschaften. Durch ungestützte Tragseilverankerungen und eine
komplexe, 3-dimensionale Werkstattform werden innovative Akzente gesetzt.
Der vorliegende Bericht erläutert den Entwurf, die Planung und Ausführung sowie die komplexe
Montage unter Schifffahrt dieser einseitig aufgehängten Konstruktion.
Summary:
North of Gelsenkirchen, right behind ZOOM-Erlebniswelt, a delicate, horizontally curved
suspension bridge crosses the Rhine Herne Canal since June 2009. With a bold sweep and a span of
141m it connects the bike and walking trails of the southern Erzbahntrasse with the northern
Emscher Park bike trail.
The bridge combines architectural aesthetic and discerning engineering attributes through its
lightness and its minimal, integral construction. Using unsupported main cable anchorages and a
complex, 3-dimensional workshop geometry, innovative accents were created.
The following report illustrates the design, planning and construction as well as the complex
erection sequence of this single ended supported structure.
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1 EINBINDUNG IN DAS WEGENETZ
1.1 Geschichtlicher Hintergrund
Die historische Erzbahntrasse vom Hafen Grimberg in Gelsenkirchen zu den Hüttenwerken in
Bochum wurde im Laufe der letzten Jahre kontinuierlich zu einem Rad- und Wanderweg umgebaut.
Von der Jahrhunderthalle in Bochum führt die Erzbahntrasse über zahlreiche restaurierte historische
Brücken ca. 9km durch Herne und Gelsenkirchen zum Hafen Grimberg.
Um einen schon lange geplanten Zusammenschluss der Freizeitwege südlich des Rhein-Herne-
Kanals mit dem nördlichen Emscher-Park-Radweg zu realisieren, war am Hafen Grimberg der
Brückenschlag über den Rhein-Herne-Kanal notwendig (Abb. 1).
Abbildung 1: historische Erzbahntrasse
Neben der Verbindung der beiden Radwegenetze sollte die neue Brücke insbesondere ein
signifikanter Endpunkt der Erzbahntrasse und damit angemessenes Gegenstück zum Anfangspunkt
sein, der mit der Bochumer „Erzbahnschwinge“ an der Jahrhunderthalle markiert wird.
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Zur Entwurfsfindung wurde im Juli 2006 vom Regionalverband Ruhr ein Realisierungswettbewerb
ausgelobt. Hierzu wurden insgesamt 10 Teams aus Ingenieuren und Architekten eingeladen.
Maßgebliche Anforderungen an die Kanalquerung waren, neben der funktionalen Anbindung an das
Wegenetz, ein sensibler Umgang mit der Landschaft sowie eine möglichst geringe Beeinträchtigung
des angrenzenden Tierparks.
Die Wettbewerbsjury sah die genannten Kriterien mit der im folgenden beschriebenen, kreisförmig
gekrümmten Hängebrücke am besten erfüllt, kürte sie mit dem 1. Preis und empfahl sie zur
Ausführung (Abb. 2).
Abbildung 2: Wettbewerbsmodell
1.2 Städtebauliche Anforderungen
Die neue Brücke sollte die Richtungen der beiden Hauptwege konsequent aufnehmen und in einem
Schwung verbinden: Die von Süd-Osten ankommende Erzbahntrasse sollte tangential in den nach
Osten weiterführenden nördlichen Uferweg übergeleitet werden (Abb. 3).
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Abbildung 3: Wettbewerbsanimation
Die Linienführung war so zu wählen, dass zunächst das erforderliche Lichtraumprofil des Rhein-
Herne-Kanals eingehalten wird.
Weiterhin musste am südlichen Ufer sichergestellt werden, dass weder das östlich der
Erzbahntrasse gelegene Retentionsbecken des nahen Hüller-Baches, der in einem Düker den Rhein-
Herne-Kanal kreuzt, noch der bereits fertiggestellte Überlauf zur ZOOM Erlebniswelt verbaut wird.
Um Anpralllasten aus fehlgeleiteten Schiffen oder daraus resultierende schwere Leiteinrichtungen
zu vermeiden war des weiteren die Stellung von Stützen oder Widerlagerbauteilen im 5m-Bereich
ab der Streichlinie des Wassers nicht zulässig.
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2 ENTWURFSBESCHREIBUNG
2.1 Die Entwurfsidee
Ausgehend von den oben geschilderten Randbedingungen überquert die neue Hängebrücke den
Rhein-Herne-Kanal in einem weiten Schwung. Ihre kreisförmige Linienführung reagiert damit
konsequent auf das Wegenetz und das Umfeld und schafft so die Voraussetzung für eine
asymmetrische Hängekonstruktion, die elegant und prägnant den Endpunkt der Erzbahntrasse
markiert.
Abbildung 4: Lageplan
Die Rampen entwickeln sich aus dem Wegenetz, berücksichtigen die notwendigen Lichtraumprofile
der Betriebswege und des in Ost-West-Richtung verlaufenden Kanals und laufen in den Kreisbogen
der Hauptbrücke ein (Abb. 4). Die südliche Rampe wird als geböschtes Erdbauwerk ausgeführt. Die
nördliche Rampe nimmt den Brückenquerschnitt auf und führt ihn als Stahlbetonbauwerk bis zum
Antritt der Brücke fort.
Um die Krümmung der Brücke nicht nur für die einseitige Aufhängung und das einem einseitig
gestützten Kreisringträger ähnliche Tragverhalten auszunutzen, wird der Anschluss an die
Widerlager monolithisch ausgeführt.
Die aus Temperatureinfluss entstehenden Bauwerksbewegungen werden nahezu zwängungsfrei
über ein horizontales „Atmen“ des Überbaus abgetragen. Mit der integralen Ausführung wird durch
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Verzicht auf wartungsintensive Lager und Fugen eine sehr robuste und nahezu wartungsfreie
Konstruktion erreicht.
Der ca. 141m freispannende geschwungene Stahl-Überbau wird auf seiner Außenseite durch ein
Seiltragwerk gestützt und von einem am nördlichen Ufer stehenden ca. 45m hohen Mast abgehängt.
Die Tragseile laufen räumlich tangential in den Überbau ein und werden ca. 24m vor den
Widerlagern unterstützungsfrei verankert. Die 30 Edelstahl-Hängerseile im Abstand von 3m sind an
den zwei Haupttragseilen über gefräste Seilklemmen angeschlossen. Zur Begrenzung der mittleren
Hängerlängen werden die beiden Tragseile über ein girlandenförmiges sekundäres Tragseil
kurzgeschlossen.
Der Mast ist rückwärtig geneigt, durch zwei gespreizte Abspann–seile abgespannt und über
Spannglieder und Daueranker im Boden verankert. Die Stahlbeton-Widerlager und das Mast-
fundament sind über z.T. geneigte Bohrpfähle bis zu 23m tief im anstehenden Tonmergel
gegründet.
Der Querschnitt des Überbaus wird als polygonaler Hohlkasten ausgebildet, um die planmäßige
Biege- und Torsionsbeanspruchung aus unsymmetrischen Laststellungen sowie dem Einfluss der
freitragenden Bereiche zwischen Widerlager und Tragseilverankerung aufzunehmen (Abb. 5).
Abbildung 5: Querschnitt des Überbaus
2.2 Formfindung
Die Formfindung der Seilgeometrie und damit auch die optimale Position des Mastes nehmen auf
die Linienführung und Gradiente des Überbaus Rücksicht. Die scheinbar simple und schlüssige
Anordnung der Tragseile, der Hängerseile, des Girlandenseiles und der Abspannseile wird jedoch
durch zahlreiche funktionale und statische Anforderungen beeinflusst, z.B.
- die Gewährleistung einer Mindestlänge für die kurzen Hänger nahe der Tragseilverankerung sowie die Begrenzung der Hängerkräfte,
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- die Gewährleistung einer Mindestlänge für die mittleren Hänger sowie die Begrenzung der Kraft im Girlandenseil,
- die Begrenzung der Seilkräfte, um wirtschaftliche Abmessungen und damit ästhetische und für Fußgängerbrücken maßstäbliche Details zu erhalten,
- die Begrenzung der Seilkräfte und damit der Seildurchmesser der Tragseile, um die richtigen Proportionen der Hängerklemmen zum Anschluss der Hänger an die Tragseile zu erhalten,
- die Vermeidung von Kollisionen des Tragseiles mit den Geländerpfosten: die Tragseile führen von der Tragseilverankerung zunächst leicht zum Überbau hin um sich erst danach
tangential zum Mastkopf wegzubewegen, minimaler Abstand der Tragseile zu den
Geländerpfosten nur ca. 5cm!,
- die Gewährleistung einer gleichmäßigen Beanspruchung der Tragseile und Abspannseile, - die Begrenzung des Abstandes der exzentrischen Tragseilverankerungen zum Überbau, - die Begrenzung der Masthöhe, um die Bauteile der Brücke visuell als Einheit zu bewahren.
Wichtigste Parameter zur Formfindung sind dabei die Höhe und Position des Mastes, die Länge der
freien Tragseile, die Position des Anschlusses zwischen Tragseilen und Girlandenseil sowie der
Abstand der außenliegenden Tragseilverankerung zum Überbau (Abb. 6).
Abbildung 6: Seiltragwerk
Als Konsequenz dieser Anforderungen wird die Mastebene um ca. 2° aus der Winkelhalbierenden
des mittleren Kreissegmentes verdreht und die Hängeranordnung asymmetrisch aufgeteilt:
Tragseil 1: 11 Hänger – Girlandenseil: 9 Hänger – Tragseil 2: 10 Hänger.
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Abbildung 7: Direktanschluss und Zugstäbe
Zudem werden die jeweils ersten Hänger H01 und H30 hinter der Tragseilverankerung als
Direktanschluss an den Überbau ausgeführt und die jeweils zweiten (nahe TSV 1 auch der dritte)
Hänger H02, H03 und H29 als Zugstäbe, die wie alle anderen Hänger auch keine
Nachstellmöglichkeit haben (Abb. 7).
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3 STATISCHES KONZEPT
3.1 Einseitig gestützter Kreisringträger
Die kreisförmig gekrümmte Grundrissform des Überbaus ermöglicht eine einseitige Aufhängung
der Brücke. Im Gegensatz zum kontinuierlich gelagerten Kreisringträger treten jedoch, bedingt
durch die freitragenden, z.T. ebenfalls gekrümmten Bereiche zwischen Tragseilverankerung und
Widerlager bzw. durch die fehlende Einspannung des Überbaus an den Tragseilverankerungen,
zusätzliche Torsions- und Biegemomente auf.
3.2 Tragverhalten
Dem Konzept einer rückverankerten Hängebrücke entsprechend müssen die Kräfte der Tragseile
aus ständigen und veränderlichen Lasten durch den Überbau in die Widerlager eingeleitet und dort
verankert werden.
Dies stellt insbesondere am südlichen Widerlager eine Herausforderung dar, da die Normalkräfte
über den vorhandenen Radius des freitragenden Bereiches umgelenkt werden müssen. Aufgrund der
bereits erwähnten geometrischen Randbedingungen werden dementsprechend hohe unumgängliche
Querbiegebeanspruchungen am Widerlager erzeugt (Abb. 8).
Durch die integrale Konstruktion spielt die
Steifigkeit der Gründung in Verbindung mit der
Steifigkeit des Bodens eine maßgebliche Rolle für
die Größe der Auflager- und Überbau-
schnittgrößen: je größer die Widerlagersteifigkeit,
desto größer die Einspannschnittgrößen. Für den
Nachweis der Gesamtkonstruktion werden daher
ausgehend von den gegebenen
Bodeneigenschaften Variationen der
Bettungsparameter untersucht, um realistische
Grenzwerte für die Beanspruchungen des
Überbaus abzudecken.
Abbildung 8: Querbiegung aus Umlenkung der Normalkräfte am Widerlager Süd
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3.3 Werkstattform
Zur Kompensation der Verformungen aus Eigengewicht und Vorspannung erhält der Überbau eine
komplexe dreidimensionale Werkstattform (Abb. 9).
Die Werkstattform in Verbindung mit der integralen Konstruktion der Brücke ermöglicht darüber
hinaus eine Einflussnahme auf die Beanspruchungen des Überbaus:
Da insbesondere das Querbiegemoment am Anschluss an das Widerlager Süd durch die oben
beschriebene geometrische Umlenkung der Tragseilkräfte eine eindeutige Richtung hat, wird die
maximale Beanspruchung durch einen kontrolliert gezwängten Einbau des Überbaus zwischen den
Widerlagern reduziert und somit die schlanke Ausführung des Überbaus begünstigt.
Abbildung 9: Werkstattform 20-fach überhöht
Die spannungslose Werkstattgeometrie ragt daher bei bereits erfolgtem Anschluss an das
Widerlager Süd um ca. 50cm über das Widerlager Nord hinaus und wird anschließend mit Pressen
in die Sollgeometrie gezwängt. Diese Zwangsverformung verringert das maßgebliche
Querbiegemoment am Widerlager Süd beträchtlich, während die erforderlichen Pressenkräfte durch
die relativ geringe Steifigkeit des Überbaus über die Länge von 141m klein bleiben.
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3.4 Dynamisches Verhalten
Das dynamische Verhalten der Brücke wird insbesondere durch die filigrane Konstruktion des
Überbaus (Bauhöhe nur 80cm bei einer Spannweite von 141m, entspricht L/175) sowie die
tragflächenartige Form des Querschnittes bestimmt.
Die rechnerischen Untersuchungen zu fußgängerinduzierten Schwingungen zeigen, dass theoretisch
schwingungstilgende Maßnahmen zur Begrenzung der horizontalen und vertikalen
Beschleunigungen erforderlich sind (Abb. 10, 11). Durch Erfahrungswerte aus ähnlichen Projekten
ist jedoch bekannt, dass die tatsächliche Dämpfung der Gesamtkonstruktion unter Berücksichtigung
aller Einflussfaktoren wie z.B. Laufplatte oder Geländer nur unzureichend beschrieben werden
kann. Daher werden im Überbau planmäßig lediglich Tilgerkammern zur möglichen Aufnahme von
Schwingungstilgern vorgesehen.
Abbildung 10: 3. Eigenform vertikal 0,86Hz Abbildung 11: 4. Eigenform horizontal 1,14Hz
Die eigentliche Notwendigkeit weiterer schwingungsbegrenzender Untersuchungen bzw.
Maßnahmen werden nach Fertigstellung der Brücke im Beisein des Bauherrn durch Versuche zur
kontrollierten Anregung der Brücke ausgeschlossen: wie erwartet verhält sich die Brücke trotz ihrer
Schlankheit sehr gutmütig. Leichte diffuse Schwingungen unterstreichen ihren filigranen Charakter,
während die für den Nutzer unangenehmen eindeutigen Schwingungsbilder nicht auftreten.
Im Gegensatz zu den unkritischen fußgängerinduzierten Schwingungen werden zur Vermeidung
von windinduzierten Schwingungen zusätzliche konstruktive Maßnahmen ergriffen.
Die Untersuchungen des Überbaus an einem starren Sektionsmodell im Windkanal zeigen, dass der
Brückenquerschnitt ohne Zusatzmaßnahmen zu Galloping-Instabilitäten neigt. Daher wird auf der
äußeren Westseite des Querschnittes ein Leitblech angeordnet, dessen Neigung und Größe aus den
Versuchen eindeutig abgeleitet werden.
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Das Leitblech wird im Bereich der Seilkonstruktion mit sichelförmiger Kontur unterhalb der
Seitbleche angeordnet und lässt sich somit schlüssig in den Überbau integrieren, ohne als additiver
Fremdkörper wahrgenommen zu werden (Abb. 12).
Abbildung 12: Aeroblech
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4 KONSTRUKTION UND BERECHNUNG
4.1 Konstruktion
Ein torsionssteifer 3m breiter Stahlhohlkasten bildet das Rückgrat des Brückendecks und trägt die
12cm dicke schwimmend gelagerte Betonplatte, die als robuster Gehbelag dient und mit ihrem
Gewicht und ihrer Dämpfung das dynamische Verhalten der Brücke begünstigt (Abb. 13).
Abbildung 13: Überbau und Seiltragwerk
Der polygonale Hohlkasten wird aus fünf Blechen zusammengesetzt, deren Dicken entsprechend
der Beanspruchungen zwischen 15mm und 45mm abgestuft in S355 bzw. S460 ausgeführt werden.
Um Plattenbeulen zu verhindern, werden Obergurt, Untergurt und Steg in jeweils ca. 11
verschiedenen Abschnitten entsprechend der Beanspruchungen durch innenliegende Beulsteifen
verstärkt.
Durch die vorhandene Steigung in Verbindung mit Grundrisskrümmung resultieren für die Bleche
des Hohlkastens verwundene Flächen. Um diese aufwändige Herstellung zu vermeiden werden die
einzelnen Überbausegmente aus ebenen Blechen hergestellt und an den Querschotten im Abstand
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von 3m verdreht. Die veränderliche Verdrehung wird über den planmäßigen Überstand der
Querschotte aufgenommen. Im Bereich des Seiltragwerkes entwickeln sich die Querschotte aus dem
äußeren Rand zu Anschlüssen für die Edelstahl-Hängerseile.
Der Anschluss der Hänger mit Durchmesser 24mm an die vollverschlossenen Tragseile mit
Durchmesser 95mm bzw. an das Girlandenseil mit Durchmesser 50mm erfolgt über gefräste
Seilklemmen (Abb. 14).
Abbildung 14: gefräste Seilklemmen
Die Tragseile sind jeweils ca. 24m vor den Widerlagern über auskragende Schwerter in
zylindrischen Vergusshülsen an den Überbau angeschlossen und mit Gabelseilhülsen an der
Mastspitze verankert. Der am Nordufer stehende, an den Enden konisch zulaufende Mast mit einem
Durchmesser von 1,10m und einer Wandstärke von 40mm wird mit zwei Abspannseilen rückwärtig
abgespannt (Abb. 15).
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Abbildung 15: Tragseilverankerung
Der Mast ist über ein Kugelgelenk gelagert und trägt seine Lasten über vier geneigte 12m lange
Bohrpfähle mit Durchmesser 90cm ab.
Die beiden vollverschlossenen Abspannseile, ebenfalls mit einem Durchmesser von 95mm, werden
an Bügelböcke angeschlossen und über je 10 hochfeste vorgespannte Spannglieder mit
Durchmesser 36mm aus S950/1050 in den Abspannfundamenten verankert. Die Verankerung der
Abspannfundamente im Boden erfolgt über je 18 vorgespannte Daueranker mit je 3 Litzen 0,6´´.
Die Vorspannung der Spannglieder und Daueranker ist so gewählt, dass unter Gebrauchslasten
keine klaffende Fuge auftreten kann. Die Daueranker reichen bis zu 35m tief in die tragfähigen
Schichten des anstehenden Tonmergels.
Der monolithische Anschluss des Überbaus an die Widerlager erfolgt über großformatige Stahl-
Einbauteile: Über Kopfbolzendübelgruppen und Kontaktplatten werden die Auflagerschnittgrößen
in Kraftkomponenten zerlegt und bis zu 3,5m tief in den Widerlagern verankert.
Die Gründung der Widerlager erfolgt über 8 (Widerlager Süd) bzw. 6 (Widerlager Nord) teilweise
geneigte Bohrpfähle mit Durchmesser 90cm in bis zu 23m Tiefe.
Die an das nördliche Widerlager anschließende ca. 37m lange Rampe ist als Stahlbeton-Trog mit
seitlich auskragender Laufplatte ausgeführt, die den Querschnitt der Brücke optisch bis zum Antritt
weiterführt. Die Rampe ist ebenfalls monolithisch an das Widerlager angeschlossen und ohne
Dehnungsfuge ausgeführt, die Gründung wird als Flachgründung ausgeführt.
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Die Geländerpfosten des filigranen Seilnetzgeländers sind im Abstand von 3m immer zwischen den
Schotten angeordnet, um die Hängeranschlusspunkte auf der Außenseite nicht zu beeinflussen. Das
Seilnetzgeländer aus Edelstahl mit einer Maschenweite von 60mm ist mit einer Länge von ca. 190m
über Edelstahl-Randseile mit Durchmesser 16mm durchgehend vom Widerlager Süd bis zum
Antritt der Rampe Nord gespannt (Abb. 16).
Abbildung 16: Seilnetzgeländer
4.2 Berechnung
Die Berechnung des Gesamtsystems erfolgt als räumliches Stabwerk nach der Methode der Finiten
Elemente geometrisch nichtlinear (Theorie III. Ordnung) mit den Programmen der SOFiSTiK AG .
Die Pfahlgründung wird mit den Bettungsparameter implementiert. Die Zwangsbeanspruchungen
aus der Werkstattform werden über Knotenverschiebungen und -verdrehungen berücksichtigt.
Die Geometrie und Vorspannkräfte des Seiltragwerkes werden wie eingangs beschrieben separat
ermittelt und in das Gesamtmodell implementiert.
In den statischen Nachweisen werden die folgenden Belastungen berücksichtigt:
- Eigengewicht und Ausbaulasten, - gleichmäßige sowie ungleichmäßige Verkehrslasten nach DIN Fachbericht 101, - Einzellasten aus Dienstfahrzeugen mit 4,5to, - Windlasten nach DIN 1055 Teil 4 in Verbindung mit DIN Fachbericht 101 bzw.
Windgutachten,
- Temperaturschwankungen des Gesamtsystems von +41K / -36K, - Temperaturschwankungen der Seile von + / - 15K, - Auflagersetzungen von 2cm.
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Die Ergebnisse des Gesamtsystems dienen der Dimensionierung des Überbaus in Regelbereichen,
der Seilkonstruktion, des Mastes und der Abspannungen sowie der Gründungsbauteile.
Einzelne Anschlussdetails werden genaueren FE-Berechnungen unterzogen, insbesondere die
Widerlager incl. Einbauteilen, die Tragseilverankerungen sowie die Bügelböcke an den Abspann-
fundamenten.
4.3 Nachweis der Widerlager
Der Nachweis der Widerlager bzgl. der Geometrie des Hohlkastens und der Einbauteile, der
Lasteinleitung in den Beton, der komplexen Bewehrungsführung sowie der Einleitung der Kräfte in
die Bohrpfähle wird über separate Modelle geführt.
Zum Nachweis der Einbauteile und des Überbaus im Bereich der Widerlager werden die Segmente
S01 bis S03 (Widerlager Süd) bzw. S49 bis S51 (Widerlager Nord) mit allen Steifen,
Verstärkungen, Rüttelöffnungen etc. als lokale FE-Flächenmodelle abgebildet (Abb. 17).
In den Achsen der Kopfbolzendübel werden feste Auflager entsprechend der jeweiligen
Wirkungsrichtung definiert. Horizontalkräfte werden über geneigte Kontaktplatten in den Beton
eingeleitet. Betonberührte Flächen der vertikalen Schotte sowie Kontaktplatten erhalten eine
Querbettung.
Abbildung 17: FE-Modell Einbauteil Widerlager Nord
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Die Auflagerschnittgrößen des Gesamtsystems werden am Überbau in den Achsen R04 bzw. R49
aufgebracht. Die Spannungsauswertung erfolgt für den Hohlkasten und die Einbauteile, die
Verbundmittel und Kontaktplatten werden mit den entsprechenden Auflagerkräften bzw.
Bettungsspannungen des Ersatzsystems nachgewiesen.
Der Nachweis der Betonwiderlager und Pfahlkopfplatten erfolgt als Stabwerksmodell. Bei der FE-
Modellierung werden Bewehrungsstränge durch Fachwerkstäbe und Druckdiagonalen durch
Rissfedern, die keine Zugkräfte aufnehmen können, definiert (Abb. 18). Die Lagerung erfolgt am
Anschluss an die Pfähle. Die Überbauschnittgrößen des Gesamtsystems werden am Kopf der
Widerlager aufgebracht.
Abbildung 18: FE-Stabwerksmodell Widerlager Nord
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Somit kann der Kraftfluss in den massiven Widerlagern (Abb. 19) nachvollzogen und die
Bewehrungsführung entsprechend angepasst werden. Der Nachweis der Stabwerksknoten erfolgt
analog [1].
Abbildung 19: Widerlager Nord
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5 HERSTELLUNG UND BAUAUSFÜHRUNG
5.1 Gründung und Betonbau
Nach Herstellung der Bohrpfähle für die Widerlager und das Mastfundament werden die z.T.
hochbewehrten Pfahlkopfplatten und Widerlager geschalt, bewehrt und betoniert. Dabei muss der
Beton für die aufgehenden Widerlager durch in den Überbau eingebaute Betonierrohre eingefüllt
werden. Um die ordentliche Verdichtung des Betons bei den durch den hohen Bewehrungsgrad
beengten Platzverhältnissen zu begünstigen, wird für die aufgehenden Widerlagerscheiben
leichtverdichtender Beton eingesetzt (Abb. 19).
Zeitgleich werden die je 18 Daueranker der Abspannfundamente eingebaut sowie die
Fundamentplatten und Sockel geschalt, bewehrt und betoniert. Mit Einbau der Bewehrung müssen
die je 10 Stück ca. 7m langen, hochfesten Spannglieder passgenau eingesetzt und bis zur
Fertigstellung der Sockel temporär gehalten werden.
Nach Herstellung der Abspannfundamente werden im ersten Spannschritt jeweils 6 Daueranker
planmäßig vorgespannt und festgesetzt. Der Spannvorgang der Daueranker erfolgt über den
Bauverlauf in 3 Spannschritten, um die zulässigen Bodenpressungen nicht zu überschreiten.
5.2 Stahlbau-Fertigung
In der Werkstatt werden die 51 Segmente des Überbaus aus ebenen Blechen zusammengebaut
(Abb. 20) und zur Gewährleistung der komplexen Werkstattform in Lehren verschweißt.
Abbildung 20: Stahlbau-Fertigung der Segmente
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Um die Einzelteile transportfähig zu erhalten, wird der Überbau in 6 Schüsse und 2 Widerlager-
Einbauteile aufgeteilt und zur Baustelle transportiert.
Die Einbauteile werden in die Widerlagerscheiben einbetoniert während die 6 Schüsse an den Ufern
vormontiert werden: Schuss 1 wird auf Hilfsstützen aufgelegt und voll mit dem südlichen
Widerlager verschweißt, die Schüsse 2 bis 4 werden am Ufer liegend zu einem ca. 90m langen
Schuss zusammengeschweißt, Schüsse 5 und 6 werden am nördlichen Ufer verschweißt und auf
Hilfsstützen nahe der Solllage aufgelegt.
Der Mast wird in zwei Teilen vorgefertigt und auf der Baustelle zusammengeschweißt (Abb. 21).
Abbildung 21: Zusammenbau des Mastes auf der Baustelle
Die Herstellung der Seile musste sehr passgenau erfolgen (zulässige Längenabweichung 0,1/1000),
da keine Spannschlösser vorgesehen sind.
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5.3 Montage Stahlbau
Für die Montage des mittleren Brückenteils mit ca. 90m Länge und 110to Gewicht ist die
Vollsperrung des Rhein-Herne-Kanals zum Einsatz eines 300to-Schwimmkranes erforderlich.
Wegen einer möglichst geringen Beeinträchtigung der Schifffahrt muss die gesamte Montage des
Mittelteils bis zum Erreichen des nächsten Zwischenzustandes innerhalb von 48 Stunden erfolgen.
Im Montageverlauf wird zunächst der Mast gestellt und in Vorlage mit zwei Hilfsabspannungen
gesichert, die Abspannseile werden schlaff eingebaut.
Anschließend wird der mittlere Brückenteil vom Schwimmkran aufgenommen, eingeschwommen
und im Kran hängend an den vormontierten Schuss 1 angeschweißt (Abb. 22). Daraufhin werden
die vormontierten Schüsse 5 und 6 verschoben, um den Anschluss an Schuss 4 herzustellen.
Abbildung 22: Einschwimmen des Mittelteils
Schließlich wird der gesamte Überbau zur Einprägung der planmäßigen Zwangsbeanspruchung
über Pressen vor das Widerlager Nord verschoben und dort voll angeschweißt.
Nach Einbau einer einzigen Hilfsabspannung vom Überbau in Brückenmitte zum Mastkopf kann
der Schwimmkran abschlagen. Der Stahlüberbau liegt somit gesichert auf 3 Hilfsstützen und der
Hilfsabspannung zum Einbau des Seiltragwerkes bereit.
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Die Berechnung der Montagezustände erfolgte schrittweise am Gesamtsystem (Abb. 23).
Abbildung 23: FE-Modell der Montagezustände
5.4 Montage Seilbau
Die Länge der Hilfsabspannung, die Vorlage des Mastkopfes und die Position der Bügelböcke an
den Abspannseilen ermöglichen ein nahezu kraftfreies Einbauen des Seiltragwerkes:
Die Hängerseile werden bereits vor dem Einschwimmen des Mittelteils auf dem Überbau ausgelegt.
Die je ca. 82m langen Tragseile werden von den Transportspindeln abgerollt und über den Überbau
zum Mastkopf hochgezogen. Beim Verlassen des Überbaus werden die Seilklemmen, die
Hängerseile und das Girlandenseil an den vormarkierten Positionen montiert.
Das Einbolzen der Tragseile am Mastkopf erfolgt mit kleinen Restkräften von ca. 10to.
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5.5 Spannvorgang
Zur Berechnung des Spannvorganges wird, ausgehend von der Endgeometrie unter ständigen
Lasten, jeder Spannschritt mit zugehörigen Kräften und Spannwegen ausgewertet. Während des
Spannvorganges wird die Brücke langsam aus den Hilfsstützen gehoben und die Belastung
sukzessive an das Seiltragwerk übergeben.
Im Ausgangszustand steht der Mast um ca. 750mm nach vorne geneigt. Die Bügelböcke liegen ca.
600mm über Endposition und der Überbau in Brückenmitte hängt ca. 400mm über Gradiente.
Im Weiteren werden in 5 Spannschritten abwechselnd
- die Bügelböcke herunter gepresst, - die Hilfsabspannung zum Überbau abgelassen, - der Mastkopf über eine verbleibende Hilfsabspannung in der Winkelhalbierenden der
Abspannseile geführt.
Erwartungsgemäß springen nacheinander zunächst die kurzen, anschließend die langen Hängerseile
an und übernehmen die Last von der Hilfskonstruktion.
Nach Beendigung des Spannvorganges liegen die Bügelböcke jetzt auf Sollposition (Mörtelfuge ca.
100mm). Der Überbau ist aus den Hilfsstützen gehoben und liegt ca. 300mm über Gradiente.
Da nunmehr das Stahl-Eigengewicht die überdrückte Bodenfuge entlastet, werden weitere sechs
Daueranker planmäßig vorgespannt und festgesetzt.
5.6 Ausbau und Fertigstellung
Nach Rückbau der Hilfsstützen und Hilfsabspannungen wird
die Beton-Laufplatte betoniert, wodurch sich der Überbau in
Solllage senkt (ca. 300mm) und das Seiltragwerk seine end–
gültige Vorspannung erhält und auch die letzten Hängerseile
unter Spannung gesetzt werden.
Im letzten Gründungs-Spannschritt werden die verbleibenden
je sechs Daueranker planmäßig vorgespannt und festgesetzt.
Die Mörtelfuge unter den Bügelböcken wird vergossen, die
Spannglieder werden unter Vorspannung gesetzt (Abb. 24).
Mit dem Aufbringen des Dünnschichtbelages auf der Lauf–
platte und dem Einbau des Edelstahl-Seilnetzgeländers
erfolgt anschließend die Fertigstellung der Brücke.
Abbildung 24: Bügelbock und Spannglieder
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6 AUSBLICK
Im Gelsenkirchener Norden verbindet jetzt eine anspruchsvolle, filigrane Hängebrücke die
Radwegenetze der Erzbahntrasse und den Emscher-Park-Radweg. Scheinbar schwerelos überbrückt
sie den Rhein-Herne-Kanal (Bild 25). Ihre reduzierte Form, ihre elegante Linienführung und
innovative Detaillösungen machen die Überquerung zum Erlebnis und wecken beim interessierten
Betrachter Neugierde zum Verständnis des Tragverhaltens und der Konstruktion.
Abbildung 25: Ansicht vom Südufer
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7 BETEILIGTE
Bauherr: RVR Ruhr Grün
Christoph Haep
Gesamtplanung: Schlaich Bergermann und Partner, Stuttgart
Sandra Hagenmayer, Andreas Keil, Roman Kemmler, Sebastian
Linden, Mathias Widmayer
Projektsteuerung: PSP Professor Sedlacek und Partner, Aachen
Prüfingenieur: Prof. Dieter Ungermann, Dortmund
Bauüberwachung: Warns - Löschmann + Partner, Dortmund
Windgutachten: Wacker Ingenieure, Birkenfeld
Bauausführung: ARGE IHT, Bochum / Stahlbau Raulf, Duisburg
Seilbau: Pfeifer Seil- und Hebetechnik, Memmingen
8 LITERATUR
[1] J. Schlaich und K. Schäfer; Konstruieren im Stahlbetonbau. Betonkalender 2001
9 BILDMATERIAL
Bilder 6, 7, 12, 13, 14, 15, 16, 19, 24, 25
(c) schlaich bergermann und partner / Michael Zimmermann
Bild 22
(c) Guido Frebel