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Schweizer Monat, Sonderthema 22, Juli 2015

Date post: 22-Jul-2016
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Wirtschaftliche Wege zu einem tragfähigen Sozialwesen. Unternehmergeist im Sozialstaat Mit Beiträgen und Interventionen von: Bruno Bertschy Lynn Blattmann Monika Bütler Daniela Merz Christoph A. Schaltegger u.a. In Kooperation mit dem Liberalen Forum St. Gallen
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Page 1: Schweizer Monat, Sonderthema 22, Juli 2015

Wirtschaftliche Wege zu einem tragfähigen Sozialwesen.

Unternehmergeist im Sozialstaat

Mit Beiträgen und Interventionen von:Bruno BertschyLynn BlattmannMonika BütlerDaniela MerzChristoph A. Schalteggeru.a.

In Kooperation mit dem Liberalen Forum St. Gallen

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«Wir leben immer noch in einer Arbeitsgesellschaft; Arbeit zu haben ist ein wichtiger Wert. Dies nicht nur einfach aus blossem ökonomi-schem Nutzen für das Individuum und die Gesellschaft. Arbeit ist sinnstiftend und trägt zur persön lichen und sozialen Identität des Menschen bei. Wer nicht arbeiten kann, ist in vielerlei Hinsicht vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen.»Hans Jörg Schmid für den Vorstand des Liberalen Forums St. Gallen

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Vermutlich gönnen Sie sich eine Mussestunde, wenn Sie dieses Heft

zur Hand nehmen. Vielleicht sind Sie froh, sich für eine kurze

Weile in eine andere Welt vertiefen zu können und Ihre

Arbeit hinter sich zu lassen. Den Alltag verlassen kann freilich

nur, wer einen hat; das Nichtstun bezieht seinen Wert aus

einem scharfen Kontrast. Den meisten von uns ist Arbeit Fluch

und Segen zugleich – wir plagen uns klagend mit ihr ab und ziehen unermesslichen

Gewinn aus ihr. Doch so paradox die Arbeit ihrem Wesen nach ist, so ist eines

klar: Hätten wir keine, fehlte uns Entscheidendes.

Zweifellos sind die sozialen Probleme der Schweiz im internationalen Vergleich

gering. Tatsache ist aber, dass die Sockelarbeitslosigkeit auch hierzulande stetig steigt

und damit der Anteil jener Leute, die dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen

sind und kaum mehr Aussicht haben, je wieder eine Stelle zu finden. Die Sozialhilfe,

ein Mittel zur Linderung von Notsituationen, entwickelt sich zusehends zur

Dauerlösung – die Zeiten der Vollbeschäftigung sind auch in der Schweiz vorbei.

Auf den Wandel der Wirtschaft hat das Sozialwesen bislang nicht wirklich reagiert.

Bewegung war lange Zeit wenig zu registrieren und wenn, dann nur in eine Richtung:

Parallel zu den Problemen steigen die Summen, die in den Sozialstaat gepumpt

werden. Inzwischen machen die Sozialausgaben über 30 Prozent des Staatshaushalts

aus. Eine Diskussion darüber, wie sich die Sozialpolitik strukturieren soll, um

den grundlegenden Veränderungen im Arbeitsmarkt zu begegnen, findet dagegen

nicht statt.

Wird im Zusammenhang mit dem Sozialwesen öffentlich über Geld geredet,

geschieht das selten auf konstruktive Weise – die Rede über porschefahrende

Sozialhilfebetrüger hier und sparresistente Kuschelbeamte dort trägt wenig dazu bei,

die fundamentalen Probleme zu lösen, die sich heute stellen. Auf den folgenden

Seiten unternehmen wir den Versuch, die nötige Debatte auf eine andere Ebene

zu heben. Wir fragen danach, wie das sozialstaatliche Angebot gestaltet werden muss,

um effizient zu werden und zu wirken, das heisst für das ganze Gemeinwesen

finanzierbar zu sein und dem einzelnen Betroffenen den grössten Nutzen zu bringen.

Gerade für letzteres, so zeigen unsere Autoren, sind nicht mehr staatliche Mittel,

sondern mehr unternehmerischer Mut gefragt.

Wir wünschen anregende Lektüre.

Die Redaktion

Unternehmergeist im SozialstaatWirtschaftliche Wege zu einem tragfähigen Sozialwesen.

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Schweizer Monat SonDertheMa JuLi 2015

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Inhalt Christoph A. Schaltegger und Patrick Leisibach

06 beschreiben und ergründen das Wachstum des helvetischen Sozialstaates.

Monika Bütler

12 denkt darüber nach, wie staatliche Leistungen bei den Richtigen landen.

Lynn Blattmann

16 analysiert die «Sozialindustrie» und stellt ein wirtschaftliches Modell der Arbeitsintegration vor.

Daniela Merz

22 spricht über Motive, Möglichkeiten und Ziele des sozialen Unternehmertums.

Bruno Bertschy und Thomas Studer

28 erklären, wie die katholische Nächstenliebe wettbewerbsfähig wurde.

Online Thomas Vašek schreibt, weshalb Arbeit mehr als Geld wert ist.

Daniela Merz und Daniel Schaufelberger debattieren über Sozialfirmen.

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12Höhere Leistungen

bedeuten nicht automatisch mehr

Gerechtigkeit.Monika Bütler

Man soll nicht arbeiten müssen, ohne dafür Geld zu erhalten.Daniela Merz

28 Wie die meisten «Sozialen» operiert die Caritas längst und viel auf Märkten, auf denen das wirtschaftlich günstigste Angebot den Zuschlag erhält.Bruno Bertschy

06Der sowohl absolut als auch relativ stark gewachsene Sozialstaat stellt die Politik und die Gesellschaft als Ganzes vor grosse Herausforderungen.

Christoph A. Schaltegger und Patrick Leisibach

16Die Arbeitsintegration war noch nie so überreguliert und starr wie heute und kann den Bedürfnissen der Zielgruppe immer weniger gerecht werden.Lynn Blattmann

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1 Mutter Staat zwischen Fürsorge und Verantwortung

Er ist ein wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft und eine grosse Last auf den Schultern des öffentlichen Haushalts: ein Überblick über die Dimensionen unseres Sozialstaates.

von Christoph A. Schaltegger und Patrick Leisibach

Am 6. Mai 1795, in Zeiten grosser Not, betraten die Friedens-richter im südenglischen Speenhamland bei Newbury

sozialpolitisches Neuland.1 Sie beschlossen, dass der armen Landbevölkerung unabhängig ihrer Einkünfte ein Minimalein-kommen garantiert werden sollte. Diese an den Brotpreis gekop-pelte Armenhilfe wurde – obwohl nie gesetzlich festgelegt – in mehreren Grafschaften übernommen und als Speenhamland-Gesetz bekannt. Das «Recht auf Lebensunterhalt» sollte schon bald Wirkung zeigen, allerdings kaum wie beabsichtigt. Die Ar-menhilfe wurde zu einer indirekten Subvention der Grundbesit-zer. Diese konnten zu niedrigsten Löhnen Arbeiter einstellen, welche wiederum kein Interesse daran hatten, ihre Arbeitgeber zufriedenzustellen. Während Löhne und Produktivität immer tiefer sanken, fanden sich weite Teile der Landbevölkerung in der Abhängigkeit wieder. Die Ursachen und Folgen des Speen-hamland-Systems entfachten kontroverse Debatten um öffentli-che Hilfeleistungen und beeinflussten das Denken der klassi-schen Nationalökonomen nachhaltig.

Kaum jemand würde die geschaffenen Sozialwerke in der Schweiz als wichtige Pfeiler unserer Gesellschaft heute noch in Frage stellen. Dennoch geht bereits aus dieser historischen Anekdote hervor, dass öffentliche Hilfeleistungen auch Schat-tenseiten aufweisen können. Individuen reagieren systema-tisch auf Anreize, wie sie unter anderem durch soziale Siche-rungssysteme gesetzt werden – mit den entsprechenden Fol-gen für die Gesellschaft.

Die ökonomische Theorie unterscheidet zwei Sozialstaats-typen, die nach ihren Gründervätern als Beveridge- und Bis-marck-Systeme bekannt wurden. Erstere, durch Steuern fi-nanzierte Modelle, sehen in der sozialen Sicherheit eine Staatsaufgabe. Alle Bürger sollen unabhängig ihrer Stellung und im selben Ausmass vor den sozialen Risiken geschützt werden. Im Gegensatz dazu stützen sich Bismarck-Systeme bei der Finanzierung primär auf Sozialabgaben, wobei das Versi-cherungsprinzip eine Verbindung zwischen Beitrag und Leis-tungsanspruch schafft. Historische Gegebenheiten führten dazu, dass in den nordeuropäischen Ländern mehrheitlich das Beveridge-System, in den mitteleuropäischen Ländern vor-

nehmlich das Bismarck-System anzutreffen ist.2 In absoluter Reinform ist allerdings keines der beiden Systeme in einem Land vorzufinden.

Der schweizerische Sozialstaat beruht auf keinem be-stimmten Konzept, sondern kann als historisch gewachsenes Resultat von politischen Auseinandersetzungen betrachtet werden.3 Jedem Einwohner soll in jeder Lebenslage, unabhän-gig von sozialer Stellung, Alter oder Tätigkeit, der Lebensun-terhalt angemessen gewährleistet werden. Die schweizeri-schen Sozialwerke bestehen einerseits aus beitragsfinanzier-ten staatlichen (Pflicht-)Versicherungen, welche soziale Risi-ken wie Alter, Invalidität oder Krankheit absichern. Anderer-seits existieren aber auch soziale Ausgleichsinstrumente wie die Sozialhilfe oder die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV. Diese Transfers werden durch allgemeine Steuermittel finan-ziert und sollen den Existenzbedarf sichern.

Anhaltend steigende SozialausgabenDie Gesamtrechnung der sozialen Sicherheit zeigt ein kla-

res Bild (Abbildung 1): Seit Einführung der AHV 1948 sind die Ausgaben für die soziale Sicherheit in der Schweiz markant angestiegen und erreichten im Jahr 2012 knapp 163 Milliarden Franken. Mit dem historisch gewachsenen Ausbau des Sozial-staates ist auch die Sozialausgabenquote (Verhältnis von So-zialausgaben und Bruttoinlandsprodukt) von 7,6% (1950) auf 27,5% (2012) angestiegen. Die Einnahmen liegen in der Regel deutlich über den Ausgaben, was allerdings nicht zu falschen Schlüssen verleiten sollte. Der Grund für die Überschüsse liegt hauptsächlich in den angesparten Geldern der beruflichen

Christoph A. Schalteggerist Professor für politische Ökonomie an der universität Luzern und Dozent für Volkswirtschaftslehre an der universität St. Gallen.

Patrick Leisibach,B.a., studiert Volkswirtschaftslehre an der universität Bern und ist Mitautor eines kürzlich erschienenen Gutachtens zu den Problematiken im System der ergänzungsleistungen.

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che Transfers (AHV, Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV etc.) garantieren in jeder Lebenslage ein gewisses Mindesteinkommen und bieten einen wirksamen Schutz vor Armut. Vom Sozialstaat gehen andererseits aber auch Vertei-lungswirkungen aus. Insbesondere die AHV weist einen star-ken Umverteilungseffekt zugunsten der unteren Einkom-mensschichten aus. Eine entsprechende Wirkung haben auch sämtliche bedarfsabhängigen Sozialleistungen, die durch den allgemeinen Staatshaushalt finanziert werden.

Bei der Vermögensverteilung ist die Ausgangslage – zu-mindest auf den ersten Blick – eine andere. Inzwischen ist al-lerdings längst klar, dass die äusserst ungleiche Verteilung der Vermögen hauptsächlich auf statistische Gründe zurückge-führt werden kann. Wesentliche Teile des Vermögens (BVG, Immobilien und zukünftige AHV-Renten) werden durch die entsprechenden Steuerstatistiken nämlich nicht oder unvoll-ständig erfasst. Die leistungsstarken Sozialversicherungen er-setzen geradezu die private Ersparnisbildung für die Vorsorge. Anders ausgedrückt: gerade weil es aufgrund der ausgeprägten sozialen Solidarität im Schweizer Sozialstaat nicht nötig ist, vorsorgend Geld auf die Seite zu legen, sind die Vermögen wei-ter Bevölkerungskreise so gering.

VerdrängungseffekteDer sowohl absolut als auch relativ stark gewachsene So-

zialstaat stellt die Politik und die Gesellschaft als Ganzes vor grosse Herausforderungen. Finanzielle Engpässe zeichnen sich aufgrund der demographischen Entwicklung insbeson-dere in der Altersvorsorge ab. Die Lebenserwartung der Rent-nerinnen und Rentner bei Eintritt in die AHV stieg seit 1948 bei den Frauen von 13,7 auf 22,1 Jahre, bei den Männern von 12,1 auf 19,1 Jahre. Erhöht wurde das gesetzliche Rentenalter der Männer trotzdem nie, jenes der Frauen sogar gesenkt. Finan-zieren heute noch rund 3,5 Erwerbstätige einen Rentner, werden es 2050 weniger als zwei sein.7 Vorbote dieser Ent-wicklung sind die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboom-Generation, die seit knapp einem Jahrzehnt in Wellen das Ren-tenalter erreichen. Eine damit einhergehende Zunahme der Pflegebedürftigen führt zusätzlich zu steigenden Kosten im Gesundheits- und Pflegebereich.

Die Ausgabendynamik führt unweigerlich zu einem Druck auf der Einnahmenseite. Wie zuvor bereits angesprochen, schlägt sich dies auch in der Entwicklung der Sozialversiche-rungsbeiträge nieder. Allerdings üben höhere staatliche Zwangsabgaben in einer zunehmend kompetitiven, globali-sierten Wirtschaft negative Effekte auf die Standortattraktivi-tät und Beschäftigung aus. Gerade in Zeiten der Frankenstärke fällt tiefen Lohnnebenkosten eine wichtige Bedeutung zu. Zur Herausforderung wird das Ausgabenwachstum jedoch auch für die öffentliche Hand. Im Jahr 1990 wendeten Bund, Kan-tone und Gemeinden total rund 41% der Ausgaben für die Be-

Vorsorge. Mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahr-gänge dürfte die Divergenz abschmelzen.

Von den Ausgaben für die Sozialleistungen (rund 147 Milli-arden Franken)4 entfallen drei Viertel auf beitrags- oder prä-mienfinanzierte Sozialversicherungen, 7,6% gehen auf das Konto von bedarfsabhängigen Sozialleistungen. Trotz der Do-minanz des Versicherungsprinzips nehmen die bedarfsabhän-gigen Leistungen in der Schweiz einen immer höheren Stellen-wert ein. Weitere 7,1% respektive 9,6% der Ausgaben entfal-len auf übrige Versicherungen/Lohnfortzahlungen und staat-liche Subventionen.

Die Einnahmen (rund 189 Milliarden Franken) stammen zu 65% aus Sozialversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Diese stiegen von 4% des Bruttolohnes (1948) auf zwischenzeitlich 13,1% und liegen heute bei 12,5% (Abbildung 2). Darüber hinaus dienten fast alle Erhöhungen der Mehr-wertsteuer der letzten Jahre zur Finanzierung der Sozialversi-cherungen. 24,4% der gesamten Einnahmen stammen von der öffentlichen Hand, rund 10% entfallen auf Vermögenserträge.

Abbildung 3 zeigt die einzelnen Anteile der Sozialversi-cherungszweige an den Ausgaben aller Sozialversicherungen 2012 (total 142 Milliarden Franken). Über die Zeit zeigt sich, dass zum grossen Wachstum bei den Sozialleistungen insbe-sondere die Leistungen im Alter und die Gesundheitskosten beigetragen haben (Abbildung 4).

Das AHV-Umlageergebnis rutschte 2014 in die roten Zah-len, und gemäss den Prognosen des Bundesamts für Sozialver-sicherungen wird sich dieser Trend noch verstärken. Die fi-nanzielle Lage der IV hat sich dank diverser Revisionen stabili-siert, saniert ist sie allerdings nicht. Bei der beruflichen Vor-sorge ist der Umwandlungssatz von den ökonomischen Reali-täten weit entfernt. Auch in anderen Zweigen wie den Gesundheitskosten, Prämienverbilligungen oder Ergänzungs-leistungen werden im Jahresrhythmus neue Rekordwerte ge-messen. Fest steht: die Ausgaben für die soziale Sicherheit steigen ungebremst und konnten in den vergangenen Jahren nur dank allgemeiner Wohlstandssteigerung (Wirtschafts-wachstum) und höheren Lohnbeiträgen und Steuern finan-ziert werden.

Die Leistung des SozialstaatesTrotz der angespannten Finanzlage sollte nicht vergessen

gehen, dass der Ausbau des Sozialstaates massgebend dazu beigetragen hat, die Lebensverhältnisse grosser Teile der Be-völkerung zu verbessern. Die Konzeption eines umfassenden Sozialversicherungsschutzes spielte dabei eine zentrale Rolle in der weitgehenden Lösung der «sozialen Frage».5 Die be-kannten Indizes zeigen denn auch immer wieder, wie gleich-mässig (und bemerkenswert stabil) die Schweizer Einkommen im internationalen Vergleich verteilt sind.6 Der Sozialstaat er-füllt einerseits eine einkommenssichernde Funktion. Staatli-

SchWeIzer MOnat SOnDertheMa JuLI 2015

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Abbildung 1 Entwicklung der sozialen Sicherheit (1950–2012)*

33.3% BV

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Geldleistungen an Hinterlassene (AHV, BV, UV)

Geldleistungen bei Invalidität (IV, BV, EL, UV)

Gesundheit (KV, UV, IV, AHV)

Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit (ALV)

Geldleistungen an Familien inkl. MSE (FZ, EO)

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Geldleistungen an Hinterlassene (AHV, BV, UV)

Geldleistungen bei Invalidität (IV, BV, EL, UV)

Gesundheit (KV, UV, IV, AHV)

Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit (ALV)

Geldleistungen an Familien inkl. MSE (FZ, EO)

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27.2% AHV

FZ 3.8%

ALV 4.1% EO 1.1%

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Geldleistungen an Familien inkl. MSE (FZ, EO)

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Quelle: BFS (*ab 1990 teilweise revidierte Werte)

Abbildung 2 Entwicklung der Sozialversicherungsbeiträge (1948–2014)

Quelle: BSV

33.3% BV

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% des BIPMio. Franken

Ausgaben (linke Skala)

Einnahmen (linke Skala)

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Geldleistungen im Alter (AHV, BV, EL)

Geldleistungen an Hinterlassene (AHV, BV, UV)

Geldleistungen bei Invalidität (IV, BV, EL, UV)

Gesundheit (KV, UV, IV, AHV)

Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit (ALV)

Geldleistungen an Familien inkl. MSE (FZ, EO)

Mio. Franken

1.8% EL zur AHV

27.2% AHV

FZ 3.8%

ALV 4.1% EO 1.1%

UV 4.3%

KV 16.5%

Abbildung 3 Anteile der Sozialversicherungszweige an den Ausgaben 2012

Quelle: BSV

Abbildung 4 Sozialleistungen nach Funktionen (1987–2012)

Quelle: BSV

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reiche Gesundheitswesen und Soziale Sicherheit auf. Im Jahr 2012 waren es bereits rund 46%.8 Die OECD schätzt, dass bei gleichbleibenden Ansprüchen bis ins Jahr 2050 zusätzliche 10% des BIP für Altersvorsorge, Pflege und Gesundheitswesen benötigt würden.9 Das überproportionale Wachstum dieser Bereiche führt zu problematischen Verdrängungseffekten zu-lasten anderer öffentlicher Aufgaben. Gerade aus wachstums-politischer Sicht ist es gefährlich, wenn Bereiche wie die Infra-struktur oder Bildung mehr und mehr verdrängt werden.10 Zu-sätzlich wird die Effektivität der bestehenden Schuldenbremse geschwächt, wenn immer grössere Teile des Budgets zweckge-bunden benötigt werden. Sozialausgaben, die nicht durch Ein-nahmen gedeckt sind, führen im Regime der Schuldenbremse zwangsläufig zu Kürzungen in anderen Ausgabenbereichen. Umso wichtiger wäre es, Sozialversicherungssysteme institu-tionell so auszugestalten, dass eine nachhaltige Finanzierung erreicht und damit auch nachhaltige Staatsfinanzen ermög-licht werden.

Sozialpolitik in der VerflechtungsfalleWährend der Bund grundsätzlich für die Sozialversiche-

rungen zuständig ist (Art. 111 ff. BV), liegen die Bedarfsleis-tungen in der Kompetenz der Kantone und Gemeinden. Eine effiziente Aufgabenzuordnung hat sich dabei an den Grund-prinzipien der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz zu orientieren. Wer eine öffentliche Leistung erbringt und diese finanziert, muss auch über die nötigen Kompetenzen zur Steuerung verfügen. Gemischte Zuständigkeiten kranken an fehlenden Anreizmechanismen und führen regelmässig zu ineffizienten und teuren Lösungen, anhaltendem Reformstau und intransparenten Lastenverschiebungen. Nicht zuletzt Sozialwerke stecken aber mitunter in einer solchen institutio-nellen Verflechtungsfalle. Erwähnt sei das Beispiel der Ergän-zungsleistungen zur AHV und IV (EL), die als komplexe Ver-bundaufgabe von Bund und Kantonen getragen werden. Ob-wohl die Kantone den Grossteil der EL-Kosten stemmen, ver-fügen sie aufgrund der klaren Bundesgesetzgebung über prak-tisch keine Steuerungsmöglichkeiten. Während die Kosten Jahr für Jahr steigen, verhindert das Geflecht an Zuständig-keiten und Finanzierungsmechanismen längst nötige Refor-men. Und sollte man sich nach zähem Ringen doch noch auf Massnahmen zur Kostensenkung einigen, heisst das noch lange nicht, dass die Einsparungen dann auch tatsächlich der-jenigen Staatsebene zugute kommen, die für den entspre-chenden Aufgabenbereich verantwortlich ist und die Finan-zierung trägt.

Neben der Verflechtungsproblematik ist in den vergange-nen Jahren auch eine schleichende Zentralisierung in der So-zialpolitik (und anderen Bereichen) festzustellen.11 So wird oft argumentiert, zentralistische Lösungen seien nötig, um der Zunahme an Komplexität, Koordinationsbedarf und Ungleich-

behandlung im föderalen Sozialstaat entgegenwirken zu kön-nen. Insbesondere bei Bedarfsleistungen wird vermehrt der Weg über Bundes(rahmen)gesetze beschritten. Die Liste an entsprechenden Harmonisierungsvorstössen ist lang. Gefor-dert werden unter anderem ein Bundesgesetz für die Sozial-hilfe, die Harmonisierung der Alimentenbevorschussung, eine bundesgesetzliche Definition des Existenzminimums oder die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien auf Bun-desebene. Der Föderalismus wird damit untergraben, Finanz-disziplin und Spielraum für Politikexperimente bleiben auf der Strecke.

Sozialhilfe als letztes NetzAls letztes Netz im System der sozialen Sicherheit kommt

die Sozialhilfe zum Tragen. Die Verantwortlichkeit liegt bei den Kantonen, die sich bei der Gesetzgebung an den Richtli-nien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) orientieren und den Vollzug in den meisten Fällen an die Ge-meinden delegiert haben. 2012 beliefen sich die schweizweit ausbezahlten Sozialhilfeleistungen auf 4,1 Milliarden Fran-ken.12 Davon gehen rund 2,4 Milliarden Franken zulasten der eigentlichen Sozialhilfe («wirtschaftliche Sozialhilfe»). Wei-tere Positionen betreffen hauptsächlich die Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlingswesen (600 Millionen Franken), die Al-ters- und Pflegebeihilfen (400 Millionen Franken) sowie die Ausbildungsbeihilfen (300 Millionen Franken). Wirtschaftli-che Sozialhilfeleistungen wurden dabei an rund 250 000 Per-sonen ausbezahlt. Die Sozialhilfequote liegt damit bei rund 3,1% und veränderte sich in den letzten Jahren nur geringfü-gig. Schweizweit bestehen allerdings grosse Unterschiede. So gibt der Kanton Nidwalden pro Einwohner 47 Franken für die Sozialhilfe aus, Basel-Stadt hingegen 664 Franken. Die höhe-ren Lasten werden dabei unter anderem durch den soziodemo-graphischen Lastenausgleich des Bundes kompensiert.

Innerhalb von 10 Jahren haben sich die Ausgaben für die wirtschaftliche Sozialhilfe verdoppelt (2003: 1,2 Milliarden Franken), alleine 2012 betrug die nominale Zunahme 14,4%. Erste Zahlen für 2013 und 2014 bestätigen diese Dynamik. Die Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu betrachten. Vergessen wird gelegentlich, dass die Kostenentwicklung bei der Sozial-hilfe massgeblich durch Gesetzesrevisionen bei den Sozialver-sicherungen (insbesondere IV und EL) sowie durch kantonale Regelungen beeinflusst wird. So wurde beispielsweise im Rah-men des NFA 2008 die bis dato bestehende Begrenzung des EL-Betrages aufgehoben, was den EL rund 350 Millionen Fran-ken Mehrkosten pro Jahr bescherte, in ähnlichem Ausmass aber die Sozialhilfe entlastete.13 Demgegenüber belasteten mehrere IV-Revisionen das Konto der Sozialhilfe. Aber auch unter Berücksichtigung der diversen Kostenverlagerungen zeigt die Entwicklung grossen Handlungsbedarf. Ein kurzer Blick auf die Zahlen offenbart: Die Gründe für den Anstieg in

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den letzten Jahren sind vielfältig. Höhere Sozialhilfeleistun-gen pro Kopf, Kostenverlagerungen aus Sozialversicherungen sowie eine starke Zunahme von älteren Personen und Fällen mit langer Bezugsdauer, die vergleichsweise hohe Leistungen beziehen.

Die zu Beginn erwähnten Erfahrungen mit dem Speen-hamland-System können zwar nicht mit der Armutsbekämp-fung im Schweizer Sozialstaat verglichen werden, dennoch sind gerade die Bedarfsleistungen mit negativen, systemim-manenten Anreizeffekten behaftet. Eine staatliche Mindestsi-cherung in jedem Lebensabschnitt setzt klare Abhalteeffekte für den Eintritt in den Arbeitsmarkt, mindert die Anreize, für die private Vorsorge zu sparen, und kann zu sozialstaatlicher Abhängigkeit führen. Verschiedene Studien zeigen gerade für die Sozialhilfe, dass dem System problematische Schwellenef-fekte innewohnen und eine höhere Erwerbstätigkeit nicht sel-

ten sogar bestraft wird.14 Auch das System der Ergänzungsleis-tungen ist mit einer Vielzahl von falschen Anreizen behaftet.15 Insbesondere die EL zur IV reduzieren den Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen. Einem alleinstehenden Rentner garantieren die EL ein (steuerfreies) Einkommen von bis zu 40 000 Franken im Jahr. Eine vierköpfige Familie erreicht sogar ein jährliches Ein-kommen von über 75 000 Franken. Während die nackten Zah-len bereits Anreizeffekte erahnen lassen, stellt sich zudem eine Gerechtigkeitsfrage, wenn Personen dank Leistungen des Sozialstaates bessergestellt werden als Personen, die sich in den Arbeitsprozess integrieren.

Fiskalische Äquivalenz und SchuldenbremseDer historisch gewachsene Schweizer Sozialstaat lastet

stark auf den Schultern der öffentlichen Haushalte, der Wirt-schaft und der Beitragszahlenden. Gesellschaftlicher Wandel,

«Die leistungsstarken Sozial­versicherungen ersetzen geradezu die private ersparnis­bildung für die Vorsorge. anders ausgedrückt: gerade weil es aufgrund der ausgeprägten Solidarität im Schweizer Sozialstaat nicht nötig ist, vorsorgend Geld auf die Seite zu legen, sind die Vermögen weiter Bevölkerungskreise so gering.»Christoph A. Schaltegger und Patrick Leisibach

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demographische Entwicklung und die Situation auf den Kapi-talmärkten verstärken den Finanzierungsdruck in den kom-menden Jahren weiter und können von der Politik nur wenig beeinflusst werden. Umso wichtiger ist deshalb, dass die Poli-tik die Weichen für einen langfristig nachhaltig finanzierba-ren Sozialstaat rechtzeitig stellt, indem einerseits die Verant-wortlichkeiten (fiskalische Äquivalenz) gestärkt und anderer-seits institutionelle Steuerungsmechanismen zur Stärkung der Zeitkonsistenz geschaffen werden.

Die Bedarfsleistungen (Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe etc.) leiden unter dem bestehenden institutionellen Geflecht. Gemischte Zuständigkeiten, Verbundfinanzierungen und feh-lende Steuerungsmöglichkeiten führen dazu, dass Anreizme-chanismen zum sorgsamen Umgang mit den knappen öffentli-chen Mitteln fehlen, Verantwortlichkeiten hin- und herge-schoben und Lasten auf Dritte abgewälzt werden können. Wichtig wäre eine klare Zuordnung gemäss dem Prinzip der fiskalischen Äquivalenz. Die Bedarfsleistungen sollten dabei möglichst subsidiär und vollständig in die dezentrale Verant-wortung der Kantone (und Gemeinden) übergeben werden. Im Sinne des Wettbewerbsföderalismus könnten in solchen kan-tonalen und kommunalen Versuchslabors effiziente Lösungen gefunden werden. Eine kohärente Trennung der Bedarfsleis-tungen von den Sozialversicherungen (Bund) würde es den Kantonen zudem erlauben, eine ganzheitliche, koordinierte und bedürfnisgerechte Sozialpolitik zu verfolgen.

Bei den klassischen Sozialversicherungen gilt es von ge-machten positiven Erfahrungen im Ausland und der Schulden-bremse im Bundeshaushalt zu lernen und entsprechend ange-passte Fiskalregeln für die Sozialversicherungen zu prüfen. Eine solche Schuldenbremse für die Sozialversicherungen könnte dabei entweder als «Autopilot» oder als «Navigations-hilfe» ausgestaltet werden.16 Beim Übertreten einer kritischen Schwelle würden je nach Ausgestaltung automatisch Sanie-rungsmassnahmen eingeleitet oder die Politik dazu angehal-ten, entsprechende Korrekturen im üblichen politischen Pro-zess einzuleiten. Um die «Opfersymmetrie» zu wahren, müss-ten entsprechende Korrekturen sowohl die Einnahmenseite (Beitragserhöhung) als auch die Ausgabenseite (Leistungskür-zung) umfassen. Für die AHV, die Sozialversicherung mit dem langfristig grössten Handlungsbedarf, würde das wie folgt aussehen: Man definiert einen Schwellenwert im AHV-Fonds, bei dessen Unterschreiten automatisch Rentenalter, Renten-höhe und Beitragssatz angepasst werden (erstbeste Lösung) oder der Gesetzgeber angehalten wird, mit zu definierenden Massnahmen die AHV-Finanzen wieder ins Lot zu bringen (zweitbeste Lösung).

Zusammen mit einer Korrektur der systemimmanenten Fehlanreize sichern beide Stossrichtungen die nachhaltige Fi-nanzierung der Sozialwerke und versprechen eine wesentliche Dämpfung des Kostenanstiegs bei den Bedarfsleistungen.�

1 Vgl. Polanyi, Karl (1977): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien: Europaverlag. (Englische Originalausgabe 1944) 2 Galasso und Profeta argumentieren, dass die Wahl zwischen Beveridge und Bismarck auf die Familienstruktur (Erbschaftssystem) im entsprechenden Land zurückzuführen sei. Schwache familiäre Bindungen zwischen den Eltern und ihren Kindern führten dabei zu einem Rentensystem im Sinne eines sozialen Auffangnetzes mit vergleichsweise hoher Umverteilung. Vgl. Galasso, Vincenzo und Paola Profeta (2011): «When the State Mirrors the Family: The Design of Pension Systems», CEPR Discussion Papers No. 8723. 3 Vgl. Sommer, Jürg H. (1978): Das Ringen um die soziale Sicherheit in der Schweiz, Diessenhofen: Rüegger. 4 Die Gesamtrechnung der sozialen Sicherheit enthält auf der Ausgabenseite überdies administrative Kosten (9 Milliarden Franken) sowie übrige Ausgaben (6 Milliarden Franken; vorwiegend Nettozahlungen der BV an andere Versicherungen). 5 Vgl. Schaltegger, Christoph A. (2014): «Die soziale Frage», in: Schweizer Monat, September 2014. 6 Vgl. Avenir Suisse (2013): Verteilung – Avenir Spezial. 7 Vgl. BFS (2010): Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 2010–2060, Neuchâtel: Bundesamt für Statistik. 8 Allerdings sind diese Zahlen stark von der Art der Erhebung abhängig. Eine Reform der Finanzstatistik führte zu einem markanten Strukturbruch zwischen den Jahren 2007 und 2008. Konsolidiert gab die öffentliche Hand 2007 fast 50% für die Bereiche Soziale Sicherheit und Gesundheit aus, 2008 waren es «nur» noch knapp 42%. Dies, weil Spitäler und weitere Institutionen des Gesundheitswesens seit 2008 nicht mehr in der Finanzstatistik erfasst werden. 9 Vgl. OECD (2009): OECD Economic Outlook, March, Interim Report, Paris. 10 Kirchgässner zeigt in einer Analyse der langfristigen Ausgabenentwicklung, dass die Struktur der öffentlichen Haushalte über die Zeit an Wachstums-freundlichkeit verlor. Vgl. Kirchgässner, Gebhard (2004): «Die langfristige Entwicklung der Bundesfinanzen, 1960–2002». Hintergrundpapier zu Teil 3 des Jahresberichts 2004 der Kommission für Konjunkturfragen. 11 Vgl. Schaltegger, Christoph A. und Marc Winistörfer (2014): «Zur Begren-zung der schleichenden Zentralisierung im Schweizerischen Bundesstaat», in: Ordo – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 65, S. 183–228. 12 Die Ausgaben für die Sozialhilfe liegen damit in ähnlichem Rahmen wie die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (4,4 Milliarden Franken) und die Prämienverbilligungen (4,2 Milliarden Franken). Vgl. BSV (2014): Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2014, Bern. 13 Vgl. Bundesrat (2013): Ergänzungsleistungen zur AHV/IV: Kostenentwick-lung und Reformbedarf. Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Postulate Humbel, Kuprecht und der FDP-Liberalen-Fraktion. 14 Vgl. Ehrler et al. (2012): Schwelleneffekte und negative Erwerbsanreize, Beiträge zur Sozialen Sicherheit 14/12, BSV. 15 Vgl. Schaltegger, Christoph A. und Patrick Leisibach (2015): Analyse der Kostentreiber in den Ergänzungsleistungen: Fakten, Probleme, Lösungsmög-lichkeiten. Gutachten im Auftrag des Schweizerischen Arbeitgeberverban-des, verfügbar unter www.arbeitgeber.ch. 16 Vgl. Feld, Lars P. und Christoph A. Schaltegger (2012): Soziale Sicherheit sichern. Plädoyer für eine Schuldenbremse, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. Avenir Suisse.

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Die Zahlen1 zeigen eindrücklich: der schweizerische Sozial-staat wird immer umfassender – und vor allem teurer. Die

Öffentlichkeit reagiert erstaunlich gelassen. Viel mehr als die steigenden Kosten interessieren Einzelschicksale: Eine Ge-meindepräsidentin bezieht trotz hohem Einkommen eine volle IV-Rente, ein Sozialhilfeempfänger fährt einen Porsche, Politi-ker wohnen in viel zu günstigen städtischen Wohnungen. An-dererseits leben alte Menschen unter dem Existenzminimum, die IV verweigert offensichtlich Kranken die Rente, einer mit-telständischen Familie bleibt angesichts hoher Mietkosten und Krankenkassenprämien kaum mehr genug zum Leben.

Die auseinanderklaffenden Wahrnehmungen des Sozial-staates haben einen gemeinsamen Nenner: die Zielgenauigkeit staatlicher Sozialleistungen. Auf ihr basiert nicht nur die Fi-nanzierbarkeit des Sozialstaates, sondern auch dessen gesell-schaftliche und politische Akzeptanz. Die staatlichen Leistun-gen sollen also bei den Richtigen landen. Doch wer sind die Richtigen? Der folgende Artikel spricht vier fundamentale Spannungsfelder an, auf denen sich die Sozialpolitik in dieser Frage bewegt.

1. Sozialer Ausgleich und AnreizeEs ist unbestritten, dass ein weitreichender Ausgleich der

Einkommen hohe Effizienzkosten verursacht. Die Individuen reagieren mit Verhaltensanpassungen auf die von der Sozial-politik gesetzten Anreize. Diesen Zielkonflikt dokumentiert eine sehr umfassende Literatur.2 Darüber hinaus interagieren in einem komplexen System aber auch die Verhaltensanreize, die von den verschiedenen Pfeilern der sozialen Absicherung ausgehen. So bilden die Ergänzungsleistungen einerseits eine wichtige Komponente in der Absicherung eines Mindestein-kommens im Alter, welches durch die AHV alleine nicht er-reicht werden kann. Sie reduzieren aber andererseits auch den Anreiz, selbst zu sparen oder durch Erwerbseinkommen die (vorzeitige) Pensionierung aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Beunruhigend ist dabei aber vor allem, dass die Ergänzungs-leistungen auch Individuen beeinflussen, für die sie eigentlich gar nicht gedacht sind. Sie bilden nämlich einen Anreiz, ange-

sparte Gelder aus der Pensionskasse als Kapital zu beziehen und die Existenzsicherung im hohen Alter nicht mit einer Rente aus der beruflichen Vorsorge, sondern über die Ergän-zungsleistungen zu «versichern».3

Die berufliche Vorsorge (BV) zeigt auch, dass Umvertei-lungen in unerwartete Richtungen gehen können. Für einmal sei hier nicht die – völlig zu Recht – angeprangerte Umvertei-lung zu Lasten der jungen Beitragszahler angesprochen. Am schlechtesten sind in der BV mit den alleinstehenden Männern ausgerechnet Versicherte gestellt, die ohnehin verwundbar sind und ein vergleichsweise tiefes Vorruhestandseinkommen aufweisen. Sie erhalten pro einbezahlten Franken rund 25% weniger als die anderen Versicherten. Auf der anderen Seite ist die vermeintliche Solidarität mit weiblichen Versicherten keine; die Kosten einer längeren Lebenserwartung der Frauen sind nämlich sogar leicht tiefer als die durch die männlichen Versicherten ausgelösten Witwenrenten. Profiteure in der BV sind gut verdienende Männer (die oft spät noch[mals] heiraten und im Rentenalter für ihre noch minderjährigen Kinder Zu-satzrenten erhalten). Noch sind die Umverteilungen zuguns-ten der Bessergestellten nicht dramatisch. Bedenklicher ist, dass die Akzeptanz eines effizienten und volkswirtschaftlich sinnvollen Pfeilers der Alterssicherung unterminiert wird. Fal-sche Solidaritäten stärken den Eindruck, dass die BV nicht für die kleine Frau und den kleinen Mann gemacht ist.

2. Fehler lassen sich nicht vermeidenEin wichtiger Grund für die hohe Akzeptanz und Populari-

tät der AHV sind die glasklaren Bedingungen für den Leis-tungsbezug. «Scheinalte» gibt es nicht. Das Alter kann zwei-

Monika Bütlerist Professorin für Volkswirtschaftslehre und geschäftsführende Direktorin des Schweizerischen Instituts für empirische Wirtschafts­forschung an der universität St. Gallen. Ihre Forschung befasst sich schwerpunktmässig mit Fragen der Sozialversicherungen, des arbeitsmarkts und der politischen Ökonomie.

2 Wie sozial ist Sozialpolitik?Die staatlichen Leistungen sollen den Richtigen zugute kommen. Doch wie treffsicher sind diese in einem komplexen System zu erreichen? Überlegungen zur Zielgenauigkeit der Sozialpolitik.

von Monika Bütler

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3. Beanspruchung von LeistungenDie ersten beiden Spannungsfelder betreffen vor allem

Leistungen des Sozialstaats, die an den Eintritt eines bestimm-ten Ereignisses geknüpft sind (Alter, Invalidität, Arbeitslosig-keit). Bei Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen sowie Prämienver-billigungen hingegen hängt der Zugang zu den Leistungen von der finanziellen Situation der Individuen ab. Eine umfassende und für die Betroffenen aufwendige Überprüfung der wirt-schaftlichen Situation als Grundlage der Berechtigung ist da-her zwingend. Studien im In- und Ausland zeigen nun, dass viele der auf dem Papier berechtigten Personen Leistungen nicht beanspruchen.

Nichtbeanspruchung ist problematisch, wenn eigentlich Bedürftige ihnen zustehende Leistungen nicht erhalten, weil sie diese nicht kennen, das Prozedere zu kompliziert ist oder sie durch Scham abgehalten werden. Hingegen hängt die Fi-nanzierbarkeit der Bedarfsleistungen entscheidend davon ab, ob jene Menschen auf Leistungen verzichten, die über Einnah-mequellen verfügen, sie den Behörden aber verbergen. Wie sich die Bezugsquote der Bedarfsleistungen in der Zukunft entwickelt, bleibt daher eine grosse und bedrohliche Unbe-kannte bei der Finanzierbarkeit des Sozialstaates.

felsfrei und mit geringen Kosten festgestellt werden. Hingegen ist es in der IV nicht immer möglich, eigentlich Arbeitsfähige von wirklich krankheitsbedingt Erwerbsunfähigen zu trennen. Asymmetrische Informationen führen zu zwei Arten von Feh-lern: Eigentlich Gesunde werden als krank eingestuft (Fehler I, erinnert sei an die in den Medien heftig geführte Debatte um «Scheininvalide»). Andererseits werden Kranke irrtümlich als gesund angesehen (Fehler II). Tatsächlich finden die meisten Studien relativ hohe Fehlerquoten beim Zugang in die IV. So zeigen Low und Pistaferri4, dass rund 26% der wirklich Behin-derten in den USA ungerechtfertigt Leistungen vorenthalten werden (Fehler II), aber 10 – 14% der als invalid anerkannten Personen eigentlich erwerbsfähig wären (Fehler I).

Die wissenschaftliche Literatur zeigt auch: Je höher die Leistungen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass Unbe-rechtigte Renten beantragen und erhalten (Fehler I). Kontrolle ist erwiesenermassen ein stumpfes Instrument gegen solchen Missbrauch; zudem verwehrt sie einem Teil der wirklich Kran-ken die Unterstützung zu Unrecht (Fehler II). Niedrige Sozial-leistungen bewirken zwar weniger Fehler – allerdings um den Preis einer schlechten Absicherung. Im Umgang mit Fehlern gibt es daher keine eindeutig richtige Lösung.

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«Die auseinanderklaffenden Wahrnehmungen des Sozialstaates haben einen gemeinsamen nenner: die zielgenauigkeit staatlicher Sozialleistungen. auf ihr basiert nicht nur die Finanzierbarkeit des Sozialstaates, sondern auch dessen gesellschaftliche und politische akzeptanz.»Monika Bütler

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4. Rationierung von LeistungenNicht jeder, der die notwendigen Kriterien zum Bezug der

sozialpolitischen Leistungen erfüllt, erhält diese auch. Die Nachfrage nach staatlichen Leistungen ist grösser als das Ange-bot, so beispielsweise bei verbilligtem Wohnraum und Betreu-ungsplätzen. Bedenklich ist, dass es kaum verbindliche Krite-rien gibt, die definieren, an wen die Leistungen im Rationie-rungsfall gehen sollen. Dies verletzt nicht nur die Rechtsgleich-heit, sondern macht auch die Frage, ob wirklich die Richtigen die faktisch rationierten Leistungen erhalten, umso dringender.

Die Datenlage zu rationierten Leistungen ist unklar. Bishe-rige Studien lassen immerhin vermuten, dass die Rationierung der subventionierten Plätze in der Kinderbetreuung auf Kos-ten weniger gut ausgebildeter Eltern geht. So ist die Wahr-scheinlichkeit, dass Akademikereltern Krippenplätze bean-spruchen, rund dreimal höher, als dies bei den übrigen Fami-lien der Fall ist. Ähnliches zeigte sich auch nach der Einfüh-rung der Betreuungsgutscheine in der Stadt Luzern: die Anzahl subventionierter Plätze stieg stark an – die neuen Betreuungs-plätze gingen fast ausschliesslich an weniger gut verdienende Eltern, die vorher wohl leer ausgingen.5

Schwierige Messung der wirtschaftlichen LeistungsfähigkeitDie vier Spannungsfelder der Sozialpolitik haben gemein-

same Nenner: Erstens, je grosszügiger das System ist, desto stärker akzentuieren sich die jeweiligen Zielkonflikte. Höhere Leistungen bedeuten nicht automatisch mehr Gerechtigkeit. Manchmal sogar weniger, wenn höhere Fehlerquoten oder ra-tionierte Leistungen die Bedürftigsten am meisten treffen.

Zweitens, das steuerbare Einkommen als Zugangsticket für sozialpolitische Leistungen ist ein schlechtes Mass der wirt-schaftlichen Leistungsfähigkeit. Sachdienstleistungen, Transfers zwischen Familienmitgliedern und nicht deklarierte Einkünfte verzerren die Messung. Doch selbst ein perfekt gemessenes mo-mentanes Einkommen sagt wenig über den Wohlstand eines Haushalts aus. Die Konsummöglichkeiten hängen von vielen wei-teren Faktoren ab: vom Vermögen im weiteren Sinn (also auch von Anwartschaften), dem Grad der Absicherung gegen verschie-dene Risiken, der verfügbaren Zeit.

Die Entwicklung des Einkommens über den Lebenszyklus wird bei der Identifikation der von der Sozialpolitik als unter-

stützungswürdig angesehenen Haushalte ebenfalls nicht be-rücksichtigt. Und zu guter Letzt hängt das verfügbare Einkom-men stark von den eigenen Entscheidungen ab – und diese wiederum von den Anreizen, welche die Sozialpolitik vorgibt. Dass viele in guten Zeiten nicht für kargere Perioden sparen, ist durchaus rational. Die Eigenvorsorge wird nämlich durch unser System bestraft. Selbst angespartes Vermögen und in-tensivere Berufstätigkeit erschweren den Zugang zu staatli-chen Leistungen von den Ergänzungsleistungen über Stipen-dien bis zur – privat angebotenen – Genossenschaftswohnung.

Die Pluralität der Lebensformen erhöht die Komplexität der sozialen Absicherung weiter. Mehr Wahlmöglichkeiten für den einzelnen heisst immer auch höhere Kosten für den So-zialstaat. Gerade weil eine höhere Komplexität des Systems nicht immer zu mehr Gerechtigkeit führt, wäre eine systemati-sche Erfassung der Zielgenauigkeit sozialstaatlicher Leistun-gen wünschenswert. Damit die Diskussion nicht nur an Einzel-fällen stattfindet. �

1 Vgl. die Grafiken auf S. 8. 2 Als Einstieg sei verwiesen auf: Jonathan Gruber und David Wise, 1999–2015: «Social Security and Retirement around the World.» 3 Monika Bütler, Kim Peijnenburg und Stefan Staubli, 2013. «How Much Do Means-Tested Benefits Reduce the Demand for Annuities?», NRN working papers 2013-11. 4 Hamish Low und Luigi Pistaferri, 2015: «Disability Insurance and the Dynamics of the Incentive-Insurance Tradeoff», American Economic Review (im Druck). 5 Alma Ramsden, 2014: Betreuungsgutscheine in den Gemeinden Luzern, Emmen und Kriens. Kurzbericht SEW-HSG, http://www.batz.ch/2014/11/ gutscheine-statt-rationierte-krippenplaetze-in-der-kinderbetreuung/

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Die Photos auf diesen und den

folgenden Seiten zeigen Innen­ und

aussenansichten des Standorts

St. Gallen der Dock­Gruppe aG.

180 langzeitarbeitslose Personen

gehen hier verschiedenen

industriellen arbeiten nach,

9 weitere Standorte mit insgesamt

rund 1400 Beschäftigten befinden

sich in den Kantonen Basel,

Graubünden, Luzern, thurgau

und zürich.

Bilder: caspar Frei

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3 Unternehmerische Perspektiven im Sozialwesen

Wird im Sozialwesen gespart, ziehen die Betroffenen den Kürzeren. Es ginge aber auch anders. Anstatt Organisationen und Programme mit Geldern zu versorgen, könnte man den Individuen echte Arbeitsperspektiven bieten. Das setzt ein unternehmerisches Umdenken voraus. Ein Plädoyer.

von Lynn Blattmann

Die Schweiz ist ein Land mit vergleichsweise geringen so-zialen Problemen. Die Arbeitslosigkeit ist tief, die Quote

beträgt aktuell 3,1 %, die Sozialhilfequote ist leicht ansteigend und liegt aktuell bei rund 3,2 %1, die IV-Quote bei knapp 6,1 %2. Zusammengerechnet sind in der Schweiz rund 12 % al-ler Menschen im erwerbsfähigen Alter auf die zusätzliche Un-terstützung einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe an-gewiesen. Ein Vergleich über die letzten Jahre hinweg zeigt, dass der Anstieg der Quoten weitaus langsamer verläuft, als dies die Medienberichte vermuten lassen. Grundsätzlich funktioniert das schweizerische Wirtschaftsmodell immer noch sehr gut, der Arbeitsmarkt ist flexibel und vermag immer wieder auch Menschen aufzunehmen, die nicht zu den Top-Performern gehören.

Eigentlich wäre dies ein Grund, sich zu freuen, denn sol-che sozialen Probleme scheinen tatsächlich bewältigbar zu sein. Von Freude oder von innovativen Ideen, die der heutigen Situation gerecht werden können, ist jedoch in der aktuellen sozialpolitischen Debatte wenig zu spüren. Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Sozialpolitik mit Anliegen der Chancen-gleichheit und der Armutsbekämpfung eine Domäne der Lin-ken. Vor etwa zehn Jahren hat die SVP das Feld der Sozialpoli-tik für sich entdeckt. Heute herrscht ein polemischer, entwer-tender Ton in der Diskussion, wobei sich eine gewisse sozial-politische Ratlosigkeit breitmacht, denn es fehlen Antworten auf die anstehenden sozialpolitischen Probleme.

Abbau der Leistungen für die Versicherten…Die Sozialversicherungen müssen sparen, das ist unbe-

stritten. Die Frage ist nur, wie. Wenn man die letzten IV-Revi-sionen oder die letzte Revision der Arbeitslosenversicherung genauer anschaut, stellt man fest, dass die Sparanstrengungen immer in erster Linie den Versicherten im Blick hatten. Die Revisionen zielten darauf ab, dass in Zukunft weniger Men-schen eine IV-Rente bekommen sollten und diejenigen mit den geringsten Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr von der Arbeitslosenversicherung profitieren sollten. Ein Ergebnis dieser Revisionen liegt darin, dass mehr Menschen in die So-

zialhilfe gedrängt werden. Wer das Sozialwesen in der Schweiz etwas kennt, weiss, dass dies für die Betroffenen ungleich här-ter ist. Wer eine Versicherungsleistung erhält, hat quasi einen Rechtsanspruch auf Versicherungsgelder, wer wirtschaftliche Sozialhilfe erhält, fällt der Allgemeinheit der Steuerzahler sei-ner Wohngemeinde zur Last. Das ist mehr als nur ein formaler Unterschied. Schwierig für die Betroffenen ist der Umstand, dass die wirtschaftliche Sozialhilfe oft markant tiefer ausfällt als die Leistungen in Verbindung mit anderen Sozialversiche-rungen, und belastend ist die Notwendigkeit, als Sozialhilfe-beziehender seiner Wohngemeinde gegenüber die eigene Mit-tellosigkeit bekennen und belegen zu müssen. Dies erklärt auch, warum viele Leute mit massiven gesundheitlichen Pro-blemen und wenig Aussicht auf eine Stelle lieber eine IV-Rente hätten als wirtschaftliche Sozialhilfe.

Leider lässt die sozialpolitische Diskussion die Sicht und die Anliegen der Betroffenen völlig ausser Acht. Dies ist des-halb stossend, weil die Sozialversicherungen ja für die Versi-cherten und von Armut Betroffenen oder Bedrohten geschaf-fen worden sind – und weil andere Sparmöglichkeiten durch-aus denkbar wären. Heute fliessen rund 57 %3 der IV-Leistun-gen in die Renten, rund 20 % fliessen in Massnahmen berufli-cher Art und in Beiträge an Institutionen und Organisationen. Die Beiträge an Institutionen und Massnahmen haben im IV-Bereich seit 1990 massiv zugenommen. Damals flossen unter 400 Millionen der IV in Werkstätten, Wohnheime und Tages-stätten, 2006 waren es 1,3 Milliarden Schweizer Franken.4 Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich bei der Arbeitslosenversiche-rung, auch dort stiegen die Ausgaben für Arbeitsintegrations-programme massiv an. 1990 betrugen die Ausgaben des Bun-des dafür rund 50 Millionen, heute fliessen laut Seco über 450 Millionen Schweizer Franken in solche arbeitsmarktlichen Massnahmen. Unzählige neue Projekte, Initiativen und Werk-stätten sind in den letzten 20 Jahren entstanden, ja man kann

Lynn Blattmannist promovierte historikerin und cOO der Dock­Gruppe aG.

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bereich gerade aus diesen Gründen wenig Kosten- und Wir-kungsbewusstsein. Ein Benchmarkingsystem, das die volks-wirtschaftlichen und die betriebswirtschaftlichen Kosten für Arbeitsintegration oder für Qualifikationsmassnahmen pro Stunde der zugewiesenen Arbeitskräfte ausweist, könnte hier mehr Transparenz und einen gesunden Wettbewerb im Sinne der Wirkung und des Klienten bringen. Der Fachverband un-ternehmerisch geführter Sozialfirmen (FUGS) hat ein solches System entwickelt, das jedoch in der Fachwelt auf wenig Inter-esse gestossen ist. Der Glaube an die Wirkung von Coaching und Weiterbildungsprogrammen ist dort immer noch unge-brochen, dies ungeachtet der Tatsache, dass auch sehr teure Bildungs- und Coachingprogramme eher geringen Erfolg im Sinn einer Integrationsquote vorweisen können. Es ist an der Zeit, dass wir die Vorstellung hinterfragen, dass jeder weiter-bildungsfähig sei und jede, die sich wirklich anstrengt, auch eine Stelle finden werde.

Wer will, findet auch eine Stelle, oder?Die Schweiz ist ein Land des Wohlstands, immer weniger

Menschen erinnern sich noch an die Vorkriegs- und Kriegs-jahre, sondern nur daran, dass es immer (wieder) aufwärts ging. Schweiz reimt sich für viele noch mit Vollbeschäftigung; für sie gilt noch, was in den sechziger und siebziger Jahren Re-alität war: Wer eine Arbeit wollte, konnte eine Stelle finden. Wer flexibel war, hatte damals tatsächlich viele berufliche Chancen. Für gesunde, ausgebildete, flexible junge Menschen gilt dies sicher auch heute noch zu einem grossen Teil. Für äl-tere, nicht mehr ganz gesunde Menschen und für Leute ohne Ausbildung gilt dies heute nicht mehr. Und zwar nicht, weil sich diese Menschen zu wenig um Arbeit bemühten, sondern weil sich der Arbeitsmarkt deutlich verändert hat. Die pas-sende Arbeit für ungelerntes Personal ist längst ins Ausland abgewandert, die Menschen, die man noch in den siebziger Jahren für diese Arbeit in die Schweiz geholt hat, sind geblie-ben. Auch in allen anderen Bereichen sind die Anforderungen an die Arbeitskräfte deutlich angestiegen, die Arbeitslosigkeit ist damit zu einem strukturellen Problem geworden, dem mit persönlichen Fördermassnahmen allein nicht beizukommen ist. Interessant ist, dass diese Einsicht in der Fachwelt wenig verbreitet ist – obwohl sich diese Entwicklung längst auch in deutlichen Zahlen niederschlägt.

Je geringer die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind, desto eher droht den Langzeitarbeitslosen eine Verrentung. Im bes-ten Fall für den Betroffenen geschieht diese durch die Suva oder die Invalidenversicherung. Ganz still und politisch wenig kommentiert geschieht die Verrentung schleichend auch in der Sozialhilfe. Angesichts der hohen Sozialhilfezahlen ziehen sich viele Sozialämter auf die Rolle der Zahl- und Kontrollstel-len zurück. Arbeitsintegrationsprogramme werden seit der letzten Revision der Arbeitslosenversicherung, die vor zwei

von der Entstehung einer eigentlichen Sozialindustrie im Be-reich der Arbeitsintegration sprechen.

…und Ausbau der SozialindustrieEin Beispiel mag die Dimensionen dieser Industrie veran-

schaulichen. Im Kanton Zürich gab es lange ein jährlich neu aufgelegtes, mehrere hundert Seiten dickes Adressverzeichnis mit dem Titel «Soziale Hilfe von A – Z», heute ist diese Zusam-menstellung nur noch online erhältlich und umfasst aktuell über 3300 Angebote. Zum Problembereich «Arbeit und Ar-beitsintegration» werden allein für den Kanton Zürich 295 Einrichtungen aufgelistet. Für fast jede Problemlage findet sich eine Beratungsstelle oder ein Integrationsangebot. Beim Lesen der Auflistungen stellt sich die Frage, wer dies denn al-les finanziert und wie viel dies alles kostet. Dazu gibt es leider keine verlässlichen statistischen Angaben, denn die Finanzie-rungskanäle im Arbeitsintegrationsbereich sind sehr verwor-ren, uneinheitlich und kompliziert. Viele Angebote werden von mehreren Seiten alimentiert, es kommen kantonale, kom-munale und Bundesbeiträge zusammen, dazu oft auch Bei-träge von Sozialversicherungen und von Drittmittelgebern, also von Spendern. Einige wenige Arbeitsintegrationsange-bote erwirtschaften auch noch Gelder durch die Arbeit mit Er-werbsbeeinträchtigten. In den meisten Fällen bleibt für Aus-senstehende unklar, wie viel es kostet, dass beispielsweise je-mand in einem Arbeitsintegrationsprojekt arbeiten darf.

Da im Sozialhilfebereich meist die Kommune für die Ar-beitsintegrationskosten aufkommen muss, wird bei Angebo-ten in diesem Segment an einigen Stellen angegeben, wie viel die öffentliche Hand bezahlen muss, damit jemand einen Mo-nat lang in einem bestimmten Projekt arbeiten darf. Ein Bei-spiel: in einem Beschäftigungs- und Qualifikationsprogramm in Dietikon kostet die Teilnahme pro Monat 2400 Franken, in einem reinen Beschäftigungsprogramm in Aathal rund die Hälfte. Für die Gemeinde kommen dazu noch die Kosten für die wirtschaftliche Sozialhilfe, die Reisekosten und die Inte-grationszulage. Zusammengerechnet kann dies für eine einzige Person pro Monat leicht rund 4000 bis 5000 Franken kosten.

Angesichts der hohen Kosten solcher Programme und des grossen Angebots erstaunt es, dass es kaum Vergleiche zwi-schen den Arbeitsintegrationsangeboten gibt. Die Kosten, die Methoden und die Qualität der Programme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unterscheiden sich oft beträchtlich, und man verliert leicht die Übersicht. Die unterschiedlichen Finan-zierungskanäle und Organisationsformen erschweren die Ver-gleichbarkeit weiter. Dies ist besonders deshalb ärgerlich, weil man nicht davon ausgehen kann, dass das teuerste Programm auch die höchste Wirkung bei den Betroffenen erzielt.

In sozialen Einrichtungen wird sehr ungern über Geld ge-sprochen. Dieses vornehme Schweigen wirkt seit Jahren als massiver Kostentreiber, denn es gibt im Arbeitsintegrations-

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Jahren in Kraft getreten ist, seltener verfügt. Die Kosten sind für viele Gemeinden zu hoch geworden. Wenn die Sozialämter ihren Steuerzahlern nicht mehr in Aussicht stellen können, dass die Sozialhilfebeziehenden nach einem Jahr wieder eine neue Rahmenfrist der Arbeitslosenversicherung erlangen können und die Sozialhilfe danach wenigstens für die Zeit der Taggelder wieder entlastet wird, erhalten sie oft kein Budget mehr für Arbeitsintegration. Den Sozialarbeitern bleibt daher oft nur die Aufgabe, die wirtschaftliche Sozialhilfe korrekt auszuzahlen und zu kontrollieren, ob der Klient wirklich alles tut, um wieder eine Stelle zu finden.

Paradigmenwechsel ist nötigSozialpolitisch interessant ist die Frage, was Menschen

brauchen, deren wirtschaftliches Existenzminimum durch So-zialhilfe gesichert ist. Um die Antwort zu hören, muss ich nicht mal vor meine Bürotür treten: «Arbeit, ich brauche Arbeit. Im-mer zu Hause sein, ist nicht gut!» So oder ähnlich lautet die Antwort vieler Menschen in der Sozialhilfe. Sie wollen Arbeit, richtige Arbeit, hinter der ein Kunde steht, und einen sicheren, unbefristeten Arbeitsplatz, an dem sie gebraucht werden und zeigen können, was in ihnen steckt. Sie brauchen einen Ort, an dem sie Menschen treffen, sich austauschen, miteinander la-chen und sich auch einmal über den Chef ärgern können. Sie möchten eine Arbeit haben, eine, bei der sie auch etwas ver-dienen können und eine berufliche Perspektive haben. Sich aus eigener Kraft aus der Sozialhilfe herauszuarbeiten, wäre für viele ein Traum. Nur: solche Arbeitsplätze sind nicht nur im ersten, regulären Arbeitsmarkt sehr rar geworden. Auch im zweiten, dem staatlich geförderten Arbeitsmarkt gibt es sie kaum. Der subventionierte Arbeitsmarkt ist noch so organi-siert, als ob alle willigen Menschen mit gezielten individuellen Fördermassnahmen in Halbjahresfrist wieder eine neue Stelle finden könnten.

Die Realität sieht anders aus: Die Sozialämter melden ihre Klienten immer seltener für Programme oder Sozialfirmen an. Wer Sozialhilfe bezieht, ist immer öfters dazu verdammt, un-tätig zu Hause zu sitzen. Die Zahl der Sockelarbeitslosen steigt seit Jahren langsam an. Es fehlen tausende Arbeitsplätze für all diejenigen Menschen, die auch mit voller Anstrengung den gestiegenen Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht mehr gerecht werden können. Dieser Zustand ist ungerecht, wich-tige Werte wie Chancengleichheit gehen dadurch verloren, und es bildet sich eine Schicht von Menschen, die ohne jede berufliche Perspektive vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen blei-ben. Dieser Umstand ist nicht gottgegeben, aber es braucht Fachleute, die die Ärmel zurückrollen und die Herausforde-rung annehmen, solche Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu braucht es engagierte Sozialunternehmerinnen und Sozialun-ternehmer, die sich als Arbeitgeber verstehen, passende Ar-beit akquirieren und diese so organisieren, dass die Zielgruppe

Grau, nass, trüb, an einem Schweizer Morgen

wie diesem erscheint manchem das Bett

als freundlichster Ort. Dianne hat es schon

vor Stunden verlassen, als ich sie gegen

10 Uhr treffe. Wie immer ist die 61-Jährige

um 5 Uhr aufgestanden, um sich mit heissem Tee und

einer Zigarette in aller Ruhe auf den Tag einzustimmen.

Arbeitsbeginn ist zwar erst um viertel vor acht, doch Dianne

ist meist bereits kurz nach 7 im Sittertal – um mit den

Leuten zu schwatzen und zu gucken, wer da ist und wie sich

die Arbeit einteilen lässt.

Die Schweizafrikanerin – aufgewachsen in Sambia,

ist sie als Teenager nach Deutschland und vor 16 Jahren dann

ins Heimatland ihres Vaters gekommen – ist Linienleiterin

in der Geräteabteilung und zuständig dafür, dass pünktlich

und sorgfältig erledigt wird, was hier an Aufträgen

reinkommt. Heute sind das Popcornmaschinen und Reis kocher.

Aber auch Entsafter, Bügeleisen und Stabmixer stehen in

Schachteln bereit und wollen bearbeitet sein: Im Auftrag eines

Importeurs für Elektrogeräte werden in der Dock St. Gallen

Küchengeräte «schweiztauglich» gemacht. In sieben Arbeits-

schritten entfernen die Angestellten europäische Stecker,

ersetzen sie durch Schweizer Anschlüsse und sorgen so dafür,

dass die Maschinen hier zulande zum Laufen kommen.

Rund tausend Geräte werden täglich umgebaut, wobei das

Geschäft auch saisonale Schwankungen kennt: Dem Verneh-

men nach steigt in der Vorweihnachtszeit insbesondere

die Glätteisenquote merklich an, da offenbar zahlreiche

Ehemänner den Jahresverlauf mit einem originellen Geschenk

ausbügeln wollen.

Aber egal wie gross der Ansturm ist, Dianne behält

die Kontrolle: «Wir bringen immer alles termingerecht raus

und sind meist sogar ein bisschen zu früh», berichtet sie

und räumt ein, dass das nicht immer selbstverständlich

sei – weil die Leute in ihren Linien manchmal zu spät oder

auch gar nicht kommen. Sie selber ist dem Betrieb zu

100 Prozent verpflichtet, seit sie vor neun Jahren hergekommen

ist. Als Krankenpflegerin Anfang 50 arbeitslos geworden,

hat sie ihre Beraterin beim Sozialamt gebeten, irgendetwas tun

zu dürfen: «Wenn ich nur zu Hause sitze, drehe ich durch.»

Natürlich sei das, was sie jetzt tue, nicht das gleiche

wie früher. In ihrem Alter nochmals eine Pflegestelle zu

finden sei aber unmöglich, und das Wichtigste, sagt Dianne,

habe sie in der Dock genauso gefunden wie früher im

Altersheim: eine Familie. (CM)

Sambia im Sittertal

Augenschein bei Dianne Hoti-Dürr

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Bildlegende.

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möglichst optimal von dieser Arbeit profitieren kann. Men-schen, die mit unternehmerischen Mitteln soziale Probleme angehen wollen, sind jedoch im Sozialwesen sehr selten.

Man könnte meinen, dass solche Ansätze hierzulande weit verbreitet sein müssten, schliesslich hat die Schweiz ein Sozialwesen, das auch im Bereich der Arbeitsintegration stark durch private Initiative geprägt ist. Der Grossteil aller Beratungsstellen, Projekte und Programme sind in Form von Vereinen oder GmbHs privat organisiert. Daraus zu schlies-sen, dass dieser Sektor sich auch durch Flexibilität und un-ternehmerische Lebendigkeit auszeichnet, ist jedoch falsch. Viele Initiativen sind längst zu parastaatlichen, verwaltungs-ähnlichen und hochregulierten Organisationen geworden, die sich kaum von ähnlichen Einrichtungen der öffentlichen Hand unterscheiden.

Daran sind jedoch nicht die Organisationen alleine schuld, die Entwicklung lässt sich vielmehr erklären aus dem Verhält-nis dieser Organisationen zu ihren Geldgebern. In den letzten Jahrzehnten ist bei den Sozialversicherungen, den Kommu-nen, den Kantonen und beim Bund eine eigentliche Regulie-

rungswut zu verzeichnen. Nach dem Motto «Wer viel bezahlen muss, soll auch viel zu sagen haben» sind komplizierte, unein-heitliche, oft sogar widersprüchliche Vorgaben geschaffen worden, die die Verwaltungstätigkeiten und die Bürokratie in solchen Organisationen unnötig aufblasen. Mehr Transpa-renz, Effektivität und Flexibilität zu schaffen ist damit auch nicht gelungen. Im Gegenteil: die Arbeitsintegration war noch nie so überreguliert und starr wie heute und kann den Bedürf-nissen der Zielgruppe immer weniger gerecht werden. Insge-samt lässt sich deshalb sagen: Die Mittel, die in den Bereich der Arbeitsintegration fliessen, sind mehr als grosszügig bemes-sen. Geld allein reicht zur Bewältigung der aktuellen Probleme aber nicht aus. Es braucht nicht mehr Mittel, um die anstehen-den Arbeitsintegrationsprobleme wirklich in den Griff zu be-kommen, sondern einen Paradigmenwechsel.

Das St. Galler Modell der Dock-Gruppe AGWie der aussehen könnte, zeigt die Dock-Gruppe AG, eine

Sozialfirma für Personen aus der Sozialhilfe, die heute an 10 Standorten insgesamt rund 1400 Personen beschäftigt. Dem

«es ist an der zeit, dass wir die Vorstellung hinterfragen, dass jeder weiterbildungsfähig sei und jede, die sich wirklich anstrengt, auch eine Stelle finden werde.»Lynn Blattmann

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Modell der Dock-Gruppe liegt die Annahme zugrunde, dass nicht alle Menschen, die arbeiten wollen, während der Ar-beitszeit Betreuung brauchen. Was für Behinderte Sinn macht, kränkt und lähmt oft die Eigeninitiative derjenigen, die bloss Arbeit wollen und einen gut organisierten Betrieb, der ihnen auch berufliche Perspektiven bietet. Das Ziel des Modells be-stand deshalb von Anfang an darin, genügend unbefristete und geeignete Arbeitsplätze zu schaffen für Menschen aus der Sozialhilfe, die arbeiten wollen.

Solche Arbeitsplätze, das war den Entwicklerinnen des St. Galler Modells von Beginn weg klar, dürfen den Staat nicht viel kosten. Seit die Sozialhilfequote in der Schweiz nach der Jahrtausendwende deutlich angestiegen ist, spielt die Kosten-frage eine wichtige Rolle in der Arbeitsintegration: Ist die Ar-beitsintegration zu teuer, verliert sie die politische Akzeptanz und läuft Gefahr, gestrichen zu werden. Die Herausforderung lag deshalb darin, ein volkswirtschaftlich möglichst günstiges oder gar kostenneutrales Arbeitsintegrationsangebot zu schaf-fen, das die staatlichen Stellen nicht stark belastet und gleich-zeitig ermöglicht, das Hauptbedürfnis vieler Langzeitarbeits-loser zu decken, das heisst ihnen unbefristete Arbeitsverhält-nisse zu bieten.

Will man ein Arbeitsintegrationsangebot im zweiten Ar-beitsmarkt volkswirtschaftlich günstig machen, dann braucht es gute und stabile Kundenaufträge und möglichst tiefe Be-triebskosten. Da sie als staatlich subventionierter Betrieb un-ter einem Konkurrenzverbot steht, darf die Dock-Gruppe keine Arbeiten übernehmen, die ein regulärer Betrieb kosten-deckend ausführen könnte, das heisst, Aufträge mit einer Wertschöpfung von über 20.00 Franken pro Stunde sind tabu. Anstatt die hiesige Industrie zu konkurrenzieren, kooperiert die Dock mit ihr: Sie übernimmt Aufträge, die sonst zum Bei-spiel in Bosnien erfüllt würden, und bearbeitet sie zu dortigen Konditionen, also für etwa fünf bis sieben Franken pro Stunde. Damit wurde die Dock-Gruppe AG quasi zum «Low Cost Coun-try» innerhalb der Schweiz und entwickelte sich als «verlän-gerte Werkbank» zu einem respektierten und ergänzenden Partner der Schweizer Industrie.

Natürlich können über die Erträge aus dieser Arbeit keine vernünftigen Löhne generiert werden. Deshalb werden die Löhne der vormals Langzeitarbeitslosen politisch festgelegt und vom Staat über die Sozialhilfe «refinanziert». Das heisst: Wer in einem Betrieb der Dock-Gruppe arbeitet, erhält anfäng-lich 12 Franken pro Stunde, später und bei entsprechender Leistung steigt der Betrag stufenweise bis auf maximal 2560 Franken pro Monat für eine 80-%-Stelle an. Dieser Lohn wird direkt von der Sozialfirma ausbezahlt, aber von den Kommu-nen über die Sozialhilfe finanziert – in Deutschland wird die-ses Prinzip als Passiv-aktiv-Transfer bezeichnet, weil dabei durch die Arbeit ein Teil der Sozialhilfe von einer passiven Leistung in einen aktiven Lohn umgewandelt wird.

In der dritten Stufe übersteigt der Lohn die reine wirt-schaftliche Sozialhilfe um rund 400 Franken. Dies sind aber die einzigen Zusatzkosten, die – nebst einer Anmeldegebühr und den Kosten für die Sozialversicherung der Löhne – für die Gemeinden anfallen. Teure Programm- oder Betreuungspau-schalen, wie sie in den herkömmlichen Integrationsangeboten üblich sind, fallen weg. Zwischen Sozialamt und Sozialfirma besteht dabei eine klare Aufgabenteilung: Die Betreuung und Begleitung der Arbeitnehmer obliegt dem Sozialamt, die Vor-gesetzten der Dock-Gruppe übernehmen ihre Verantwortung als Vorgesetzte mit massgeschneiderten Instrumenten der modernen Personalentwicklung. Ein Arbeitsplatz in der Dock-Gruppe wird dadurch klar vergleichbar mit einer normalen Stelle. Auch in der Dock gibt es einen Chef und Kundenauf-träge, ein Qualitätsmanagementsystem und oft knappe Ferti-gungstermine. Während die Gemeinden mit dem Dock-Modell eine verhältnismässig günstige Arbeitsintegrationslösung ha-ben, bietet der Ansatz den Betroffenen also eine stabile Ar-beitsmöglichkeit in einem Umfeld, das nah am Arbeitsmarkt operiert und entsprechend nicht befristete «Beschäftigungs-plätze», sondern echte «Stellen» offeriert.

Damit hat die Dock-Gruppe den Beweis angetreten, dass Arbeitsintegration ganz anders und volkswirtschaftlich viel günstiger als bisher möglich ist. Der Erfolg gibt dem Modell recht: Während rundum herkömmliche Angebote aus Kos-tengründen abgebaut wurden, konnte die Dock-Gruppe in sechs Kantonen der Schweiz Betriebe eröffnen. Das St. Galler Modell ist jedoch nur ein Weg in einem Bereich, in dem es noch viele neue und andere Ansätze braucht, um die aktuel-len Herausforderungen meistern zu können. Arbeitsintegra-tionsangebote müssen unternehmerischer, flexibler und transparenter werden und ihre Arbeit stärker auf die wirkli-chen Bedürfnisse und Realitäten der Erwerbslosen und nicht auf die Ideale einer permanenten Weiterbildungsgesellschaft für alle ausrichten. Wir haben in der Schweiz die nötigen Ressourcen für eine erfolgreiche Arbeitsintegration, wir ha-ben es in der Hand, die anstehenden Probleme so anzugehen, dass wir zu einem integrativen Miteinander zurückfinden, zu einer Gesellschaft mit Durchlässigkeiten, Chancen und Ar-beit für alle, die arbeiten wollen. Dafür braucht es aber eine Arbeitsintegration, die sich wirklich mit allen Mitteln für die Bedürfnisse der Erwerbsbeeinträchtigten stark macht und Chancen und Perspektiven schafft für alle, die arbeiten wol-len, und das sind sehr viele! �

1 Schweizerische Sozialhilfestatistik 2010, Ausgewählte Ergebnisse, Hrsg.: Bundesamt für Statistik, Bern 2012. 2 IV-Statistik 2014, Hrsg.: Bundesamt für Sozialversicherungen 2015. 3 BSV, IV-Statistik 2007, zitiert nach: Bütler/Gentinetta, IV, eine Krankenge-schichte, Zürich 2007, S. 167. 4 Ebenda, S. 177.

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4 Arbeitsintegration durch ArbeitIhre Grundidee ist bestechend einfach: Ob Firmenmanager oder Sozialhilfebezüger, den meisten Menschen geht es besser, wenn sie etwas Sinnvolles zu tun haben. Daniela Merz erläutert, was hinter ihrer Sozialfirma steht – und was alle Beteiligten zu gewinnen haben.

Frau Merz, Sie sind seit 12 Jahren CEO einer Sozialfirma.

Was ist das, eine Sozialunternehmerin?

In meinem Verständnis ist das jemand, der oder die sich zwei Zielen verpflichtet: betriebswirtschaftlichen auf der einen und sozialen auf der anderen Seite. Natürlich verfolgt grund-sätzlich jeder Unternehmer auch soziale Ziele, die Mitarbei-terzufriedenheit ist sicher allen wichtig, die Arbeitsplätze schaffen. Ein Sozialunternehmer arbeitet darüber hinaus aber mit einem Mitarbeitersegment, das spezielle soziale An-forderungen stellt – und deshalb hat er auch soziale Ziele, die über jene eines «normalen» Unternehmers herausgehen.Und dieses zusätzliche Ziel bestünde darin, die Mitarbeiter

in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren – sie also zu verlieren.

Das klingt erst einmal ziemlich paradox.

Allem voran geht es in der Arbeitsintegration in einem ersten Schritt um eine soziale Integration, mithin darum, dem ein-zelnen Menschen einen Arbeitsplatz zu geben, der ihm hilft, an seinen eigenen Selbstwert heranzukommen, sich wieder zu erkennen und seine Fähigkeiten auszubauen. Erst wenn sich jemand seinen Selbstwert wieder zu eigen gemacht hat und in der Lage ist, seine eigenen Ressourcen wieder gut zu nutzen, kann die berufliche Integration erfolgen. Sie ist ge-wissermassen die logische Konsequenz der vorangehenden sozialen Integration. Allerdings hat sich heute die Situation verändert. Auch wer gut integriert ist, hat heute Probleme, wieder eine Stelle zu bekommen, wenn er oder sie über fünf-zig Jahre alt ist und nicht zu den gut ausgebildeten Top-Per-formern gehört. Selbstwerterkennung und Ressourcenaufbau sind nicht ganz

dasselbe wie Kostenkalkulationen oder Businessstrategien:

Sind Sie nun eher Sozialarbeiterin oder eher Unternehmerin?

Ich war zwar früher Sozialvorsteherin von Herisau und kenne das Sozialwesen deshalb von der Pike auf. Sozialarbeiterin bin ich aber keine. Eine Sozialarbeiterin führt einen individu-ellen Case, betreut also eine Einzelperson. Bei uns geht es da-gegen darum, die Leute gemeinsam zu führen, dabei stehen gruppendynamische Prozesse im Vordergrund. Am besten lernt ein Arbeitnehmer von einem anderen Arbeitnehmer.

Unsere Aufgabe ist es, diese Lernprozesse zu ermöglichen. Das heisst: eine Struktur zu schaffen, in denen die Leute die Erfahrung von anderen nutzen können, sich an internen Vor-bildern – aber eben nicht an mir! – orientieren und sich lang-sam weiterentwickeln und auch aufsteigen können. Das ist etwas ganz anderes als der Betreuungsprozess, den ein Sozial-arbeiter leistet.Was hat Sie dazu getrieben, diesen Weg zu beschreiten?

Am Anfang: eine gewisse Ohnmacht. Ich bin ursprünglich Primarlehrerin und habe bei verschiedenen Vertretungen auf Oberstufenniveau miterlebt, wie schwierig sich die Lehrstel-lensuche für Menschen mit schlechtem Schulabschluss gestaltet. Das hat mich sehr beschäftigt, und gleichzeitig habe ich gemerkt, dass ich aus meiner Lehrerinnenfunktion heraus nicht viel tun konnte. So habe ich noch einen BWL-Abschluss gemacht, mit dem Ziel, die beiden Seiten – das ziel-orientierte Führen und das unternehmerische Denken – irgendwann einmal zusammenzubringen.Das Resultat dieser «Fusion» ist die Dock-Gruppe AG, die

dezidiert als Unternehmen und nicht als Beschäftigungsprogramm

auftritt. Eine Firma hat immer eine Geschäftsidee: Welches ist,

in knappen Worten, das Businessmodell der Dock-Gruppe?

In knappsten Worten: Integration durch sichere und unbefris-tete Arbeitsplätze für alle, die arbeiten wollen, bis sie eine Stelle gefunden haben.Und in etwas ausführlicheren Worten?

All die unterschiedlichen Leute, die bei uns sind, haben eines gemeinsam: Sie haben keine Arbeit. Und unsere Idee besteht ganz einfach darin, diesen Menschen in einem Arbeitsumfeld ein Stück Normalität zu geben. Dabei gehen wir davon aus, dass den Langzeitarbeitslosen ganz ähnliche Dinge wichtig sind wie uns: Wir brauchen Bestätigung und Feedback, und wir sind dann motiviert, wenn wir wissen, dass wir etwas Sinnvolles tun. Deshalb bieten wir unseren Leuten echte

Daniela Merzist ceO der Dock­Gruppe aG.

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dann gäbe es auch keine Refinanzierung. Wir wollen diesen Transfer aber machen, erstens, weil wir an den Lohn als Ver-gütung für eine individuelle Leistung glauben, und zweitens, weil wir an die Sozialversicherungen glauben – denn die Löhne, die wir bezahlen, sind sozialversichert. Für mich geht es dabei um eine Haltung: Ich finde, man soll nicht arbeiten müssen, ohne dafür Geld zu erhalten. Sind Sie denn, umgekehrt, auch dafür, dass man für Geld

eine Leistung erbringen soll, sprich dass der Staat im Sinne

eines «Workfare»-Ansatzes eine Gegenleistung fordern

soll für die Sozialhilfe, die er den Menschen gewährt?

In meinen Augen geht es nicht darum, etwas zu fordern, son-dern etwas zu ermöglichen. Ich weiss, dass es einzelne Leute gibt, die nicht arbeiten möchten. Die allermeisten, das habe ich in den letzten Jahren erlebt, verbinden Arbeit aber nicht mit müssen, sondern mit dürfen. Dabei geht es nicht nur um den Inhalt der Arbeit, sondern um das ganze Umfeld, die All-tagsstruktur, die damit zusammenhängt. Wer sich gezwun-gen sieht, all seine Wochentage selbständig zu strukturieren, und es dabei nicht einmal vermag, draussen einen Kaffee zu trinken, steht unter gewaltigem Stress. Arbeitslosigkeit ist wahrscheinlich einer der grössten Stressfaktoren, die es gibt. Deshalb würde ich sagen: Das Gegenleistungsprinzip ist eher eine Chance als eine Forderung. Im ganzen Sozialbereich ist «Entmündigung» ein grosses Thema;

die Menschen werden den verschiedenen Programmen vom

Sozialamt «zugewiesen», die Wahlmöglichkeiten der Betroffenen

sind beschränkt. Wie gehen Sie damit um?

Auch das ist letztlich eine Haltungsfrage. Man kann sich in vielen Situationen entmündigt fühlen, das hat aber immer mit uns selber zu tun. Wenn ich die Steuerrechnung erhalte, finde ich das auch nicht wahnsinnig toll. Aber ich bin Teil ei-nes Ganzen, und in diesem Sinne muss ich, wie wir alle, einen gewissen Beitrag leisten. Den können wir als Entmündigung empfinden oder als Zwang oder einfach als gesellschaftliche Verpflichtung. Im Zusammenhang mit unseren Arbeitneh-mern ist aber extrem wichtig, bei der Einstellung sorgfältig zu sein. Die Leute werden nicht in unsere Betriebe reingestopft, sondern nach einem würdigen Anstellungsgespräch mit ei-nem Vertrag eingestellt – wenn unsere Arbeit denn für sie passt. Nicht für alle Langzeitarbeitslosen ist die Dock der richtige Ort.Wie verläuft denn, ganz grundsätzlich, die Zusammenarbeit

zwischen Ihnen und dem Staat – welchen spezifischen Regulationen

ist Ihr Unternehmen unterworfen oder anders gefragt: Wie und

wo begrenzt der Staat Ihre unternehmerische Freiheit?

Wir haben nur eine beschränkte unternehmerische Freiheit. Weil wir für die Löhne der Zugewiesenen Staatsgelder erhal-ten, unterstehen wir dem Konkurrenzverbot. Das ist richtig und gut so. Die Staatsnähe macht unser Unternehmertum auch grundsätzlich ein bisschen einfacher, denn sie gibt uns

Arbeit, also Aufträge, die wir in der Wirtschaft akquirieren und termingerecht erfüllen müssen. Auf unserer Seite bedeu-tet das, dass wir die Arbeit so organisieren und einteilen müs-sen, dass unsere Leute sie mit ihren vielfach beeinträchtigten Möglichkeiten und Leistungsfähigkeiten erledigen können.Wenn man eine Firma aufbaut, braucht man zunächst einmal

Kapital. Typischerweise verschuldet sich ein Unternehmer,

bevor er loslegt. Woher kommt das Kapital Ihrer Firma?

Die Dock-Gruppe AG gehört zu 100 Prozent der Stiftung für Arbeit, die allerdings kein Stiftungskapital hat. Pro Standort haben wir eine Anschubfinanzierung von 400 000 bis 600 000 Franken von jenen Seiten erhalten, die die Gründung wünschten: das konnten Kantone, Gemeindeverbünde oder Städte sein. Mit diesen Geldern deckten wir die Infrastruk-turkosten, die beim Aufbau eines Betriebs für rund 100 Ar-beitsplätze anfielen, und auch das Defizit, das in den ersten zwei Jahren zu erwarten war. Nach zwei Jahren musste der Laden dann aber überall von sich aus laufen – also eine schwarze Null schreiben.Laufen tun Ihre Betriebe auf dem zweiten, dem staatlich

subventionierten Arbeitsmarkt, das bedeutet in Ihrem Fall

konkret: die Löhne, die Sie den Langzeitarbeitslosen bezahlen,

werden von den einzelnen Gemeinden über die Sozialhilfe

refinanziert, sprich bezahlt. Ist es Ihnen als liberal gesinnter

Unternehmerin kein Dorn im Auge, in diesem halbstaatlichen

Umfeld zu operieren?

Gegen das Wort «halbstaatlich» verwahre ich mich! Wir er-halten – abgesehen von einer einmaligen Anmeldegebühr von 800 Franken pro Kopf – keinerlei Subventionen. Der Um-stand, dass ein Lohn refinanziert wird, hat noch nichts mit Parastaatlichkeit zu tun. Das Geld kommt vom Amt zu uns, fliesst aber gewissermassen durch uns hindurch und landet dann als Lohn beim Bezüger. Diese Lohnumlagerung ist volkswirtschaftlich fast neutral. Wir haben uns dafür ent-schieden, weil wir als lohnsubventionierte Firma dem Kon-kurrenzverbot unterstehen. Dies bedeutet, dass wir für die Arbeit ähnlich tiefe Preise erhalten wie in Osteuropa; damit kann man bei uns nicht einmal Teillöhne bezahlen. Wichtig ist uns aber, dass wir diese Arbeiten wieder in die Schweiz zu-rückbringen können oder sie hierbehalten können, wo sie denjenigen nützen, die keine Arbeit haben. Das heisst aber: Ihren Betrieb würde es nicht geben,

wenn der Staat die Löhne Ihrer Arbeitnehmer nicht bezahlte.

Ich würde das umkehren und sagen: Wenn es unseren Betrieb nicht gäbe, gäbe es keinen Lohn für die Leute. Es gibt ja ganz viele Arbeitsintegrationsprogramme, in denen die Sozialhil-febezüger keinen Lohn kriegen. Sie erhalten weiterhin ihre Sozialhilfe vom Amt, das abgesehen davon noch eine Pau-schale dafür bezahlt, dass der Bezüger das fragliche Pro-gramm besuchen darf. Wir könnten wie die meisten anderen darauf verzichten, die Sozialhilfe als Lohn auszubezahlen –

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Seriosität und Sicherheit. Und wenn ich nicht immer wieder auf innovative und kooperative Leute in der Verwaltung ge-stossen wäre, hätte ich unser Modell gar nie umsetzen können. Insofern läuft die Zusammenarbeit sehr gut. Und weil wir keine Subventionen beziehen, die in unsere Betriebskosten fliessen, sind wir dem Staat auch keine Rechenschaft schul-dig und geniessen im Rahmen des Konkurrenzverbots maxi-male unternehmerische Freiheit. Ich bin nicht Dienerin zweier Herren: Reportingpflichtig bin ich einzig gegenüber unseren Kunden aus der Wirtschaft, und zwar mit der Quali-tät der Arbeit, die wir liefern.Und wie gestaltet sich diese Kooperation mit der Wirtschaft?

Anfänglich war es für uns schwieriger: Wir hatten grosse Mühe, in der Privatwirtschaft Anerkennung zu bekommen. Überall hat man uns leicht mitleidig als Sozialprojekt belä-chelt. Das hat sich über die Jahre aber stark geändert – dank der Leistung, die unsere Arbeitnehmer bringen. Inzwischen haben viele Betriebe begriffen, dass wir nicht irgendein schräges Projekt sind, sondern dass die Leute bei uns Quali-tätsarbeit für die Schweizer Wirtschaft erbringen. Dafür er-halten wir inzwischen auch sehr viel Lob. Und entsprechend hat sich auch unsere Arbeitspalette verbreitert, so dass wir heute für Branchen arbeiten, von denen wir früher nichts wussten. Wir haben viel über Druckguss und Recycling ge-lernt, uns auf immer neue Prozesse eingelassen und immer wieder erlebt, dass sich unsere Kunden aus der Industrie ex-trem viel Mühe dabei geben, ihr Know-how an unsere Leute weiterzugeben.Von dem Know-how-Transfer profitieren freilich auch die Firmen:

Dank Lohnrefinanzierung und tiefen Stundenansätzen sind

die Arbeiten, die Sie verrichten, günstig zu haben.

Ja, gleich günstig wie im Ausland. Ganz freiwillig lagern die Industriebetriebe jedoch nicht aus, und gerne tun sie das auch nicht, aber der Kostendruck ist enorm. Firmen, die mit uns zusammenarbeiten, suchen uns nicht aus, um uns auszu-nützen und Lohndumping zu betreiben.Was motiviert denn die Unternehmen zur Zusammenarbeit

mit Ihnen – ist es etwas wie ein erweitertes soziales Gewissen,

das sie Aufträge an die Dock-Gruppe erteilen lässt?

Viele Unternehmer würden gern mehr in der Schweiz fertigen lassen, aus Kostengründen ist dies jedoch völlig unmöglich. Im Moment ist der Druck so gross, dass auch hochqualifi-zierte Industriearbeitsplätze bedroht sind. Hier liegen die Chancen für uns und für die Kunden, einen Anbieter zu ha-ben, der in der Schweiz zu osteuropäischen Preisen arbeiten kann. Das hilft den Produktionsbetrieben, ihre Abläufe zu op-timieren und unsinnige Transporte zu verhindern. So können beide Seiten profitieren, und so soll es sein.Profit ist ein gutes Stichwort: Ist der Gewinn Ihrer Firma

reglementiert oder begrenzt?

Offiziell begrenzt ist er nicht, aber wenn er plötzlich durch

Eigentlich hätte Felix heute freimachen wollen,

um die Nachwehen des gestrigen Tages wegzuschla-

fen. «50 plus 10» ist er geworden – und hat das

Ereignis mit Tapas und Co. in einem spanischen Club

gefeiert. Zu meinem Glück hat er sich aber anders

entschieden. «Ich habe mir gesagt: Da beisst du dich jetzt

durch, ausschlafen kannst du ja morgen.»

Morgen ist Mittwoch und damit Felixʼ offizieller Freitag.

Angestellt in einem 80-Prozent-Pensum verbringt er die übrigen

Tage in der Druckgussabteilung, und zwar mit dem Innenleben

eines Gegenstands, den wohl erkennen müsste, wer von einer

Schneiderin abstammt. Während ich in den vor uns aufgereihten

Alu-Rohformen aber nur zweizackige Blöcke zu sehen vermag,

betrachtet Felix sie voller Hingabe: «Gleich als ich hier

angefangen habe, bin ich in die Nähmaschinen reingelaufen.

Sie waren meine erste Aufgabe, und bei ihnen bin ich geblieben.

Jede ist individuell, keine wie die andere; nie wird mir

langweilig mit ihnen.»

Felixʼ Arbeit besteht darin, die Gehäuse der späteren

Nähmaschinen auf Fehler zu kontrollieren. Hat eine irgendwo

Risse, fehlt ihr eine Ecke, ist etwas abgeschlagen oder einge-

drückt? Eine Liste mit über 60 verschiedenen möglichen Fehlern

haben die Auftraggeber der Dock überlassen, und Felix prüft

und dokumentiert akribisch, welche seiner vielen «Lieben»

solche Mängel aufweisen. Präzision ist dabei nicht nur

Ehrensache, sondern Pflicht: die Fehlertoleranz der Firmen,

die ihre Ware in St. Gallen prüfen lassen, ist tief – auf eine Million

Stück darf sich der Betrieb einen Patzer erlauben.

Genau musste Felix auch früher sein. Lange Zeit hat der

Kreuzlinger auf dem Bau gearbeitet und Lage um Lage Eisen

und Stahlbeton in entstehende Gebäude gelegt. Häufig ist

er dabei in den Wintermonaten in die Bredouille geraten,

und sobald das Alter als Faktor hinzukam, fand er auch im

Sommer keine Arbeit mehr. Als dann die Fürsorge anklopfte

und sagte, es sei Zeit, wieder etwas zu machen, und sie

habe ihm da etwas im Sittertal, sei er noch so froh gewesen:

«Was sollte ich zu Hause auch die ganze Zeit tun? Aufgeräumt

ist ja irgendwann mal alles!» Das war vor sieben Jahren,

und inzwischen ist auch sonst wieder Ordnung. Mit dem

Sozialamt hat Felix nichts mehr zu tun, und von der Dock

erhält er seinen Lohn, mit dem er sich selbst und manchmal

auch noch andere versorgt: «Zu meinem Geburtstag habe

ich in der ganzen Bude Cake verteilt. Einige haben zwar

gar nicht verstanden, worum es ging, aber zusammen gegessen

haben wir alle gern.» (CM)

Keine ist wie die andere

Augenschein bei Felix Wirz

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die Decke ginge, würde ganz schnell jemand eingreifen. Wir haben ganz bewusst eine öffentliche Revisionsstelle – die Fi-nanzkontrolle der Stadt St. Gallen –, und alle Zuweiser haben die Möglichkeit, einen Revisionsauftrag zu erteilen. De facto ist aber ausgeschlossen, dass wir plötzlich grosse Gewinne schreiben: Um die Betriebe des ersten Arbeitsmarkts nicht zu konkurrenzieren, nehmen wir nur Aufträge an, die eine Wert-schöpfung von maximal 20 Franken pro Stunde generieren; tatsächlich sind wir bei 7 Franken pro Stunde. Wie man dar-aus grossen Profit machen sollte, das müsste mir erst mal noch einer zeigen.Im Prinzip ist es aber so, dass die Erträge, die Sie über

Recycling-, Druckguss- oder andere Aufträge am Markt

erwirtschaften, vollumfänglich in die Firma, das heisst in Ihre

Löhne und die Infrastruktur fliessen?

Ja. Wir finanzieren uns aus der Wertschöpfung, und das ist eben auch eine unternehmerische Grundhaltung: Wir sind im Risiko, die Arbeitnehmer sind es nicht – deren Löhne sind ja staatlich gesichert. Das heisst: Wenn wir die 7 Franken nicht mehr erwirtschaften und nur noch 6.50 pro Stunde schaffen, dann müssen wir handeln. Aber eben nicht, indem wir Ar-beitnehmer entlassen, sondern indem wir an unseren Löhnen und Strukturkosten schrauben. Wenn wir Mist bauen, müs-sen wir, und ganz konkret unser Führungsteam, in die Hosen. Dann gibt’s Überstunden für die Chefs. Und so soll es auch sein, denn das ist mein Verständnis von Unternehmertum. Klassischerweise spielt im Unternehmertum eine Symmetrie

zwischen Verlustrisiken und Gewinnchancen: Während ein

eigeninvestierter Unternehmer auf der einen Seite Gefahr läuft,

alles zu verlieren, winkt ihm auf der anderen Seite die Möglichkeit,

schier unbeschränkt viel zu gewinnen. Als Sozialunternehmerin

scheinen Sie demgegenüber doppelt beschnitten zu sein:

Grosse Gewinne sind nicht drin, verlieren könnten Sie

schlimmstenfalls aber auch «nur» Ihren Job.

Das ist aber eben längst viel mehr als ein Job! Ich bin in den letzten Jahren für diesen Weg und diese Haltung eingestan-den, habe mich, immer zusammen mit meiner Mitstreiterin Lynn Blattmann, exponiert und mich auch Kritik und Anfein-dungen ausgesetzt. Verlieren kann ich also eine ganze Über-zeugung und insofern viel mehr, als ich je gewinnen kann. Denn nicht nur die tiefe Wertschöpfung setzt hier Grenzen, sondern auch der Umstand, dass wir steuerbefreit sind und folglich nie Boni oder Dividenden werden bezahlen können. Man muss aber auch sagen, dass wir dafür auf einer anderen Ebene sehr viel gewinnen können. Das klingt nach Gutmenschentum. Was motiviert Sie im Kern?

Keine Angst, ich leide nicht unter einem Helfer- oder Verzichts-syndrom, und wir bezahlen uns auch anständige Löhne aus. Die «andere Ebene» besteht einerseits darin, dass ich das Gefühl habe, einen Job machen zu können, der mir entspricht und mir die Möglichkeit gibt, Lösungen für ein wichtiges Pro-

blem zu suchen und Ideen umzusetzen. Und dann – ich würde jetzt nicht sagen wollen: «Ach, der grosse Gewinn, das sind die netten Menschen.» Aber doch ist der Umgang mit unseren Arbeitnehmern ungemein bereichernd und lehrreich.Inwiefern?

Zum Beispiel sind unsere Leute absolut direkt, «fadegrad». Wenn man einen Führungsfehler gemacht hat, bekommt man den innert 24 Stunden vorgehalten; wenn jemand befördert wird, der das nicht verdient hat, wird niemand ein Blatt vor den Mund nehmen; sind sie unzufrieden, sagen die Arbeit-nehmer mir das ins Gesicht. Diese Offenheit gibt mir die Chance, die Dinge wirklich besser zu machen und Fehler aus-zubügeln. Das kann aber auch in die andere Richtung gehen: In welchem anderen Betrieb würde ein Arbeitnehmer freude-strahlend auf mich zurennen und mir einen Kuss geben, ein-fach weil er sich freut, mich zu sehen? Solche Momente geben mir sehr viel zurück, und ich habe grössten Respekt davor, wie diese herzensfeinen Menschen, die vielfach in sehr schwierigen Lebensumständen stehen, ihr Leben meistern. Dass sie es schaffen, ihre Probleme vor der Türe zu lassen und bei uns konzentriert zu arbeiten, dafür bewundere ich sie enorm. Sie lehren mich immer wieder, demütig zu sein.Das ist die sozial positive Seite. Wie sieht die Bilanz auf

betrieblicher Seite aus – vor welche Herausforderungen stellt

Sie das tendenziell eher unstete Personal, wenn es um die

Einhaltung geschäftlicher Ziele geht?

Ich glaube nicht, dass ich mit grösseren Herausforderungen zu kämpfen habe als andere Unternehmer – nur mit anderen. Und die machen das «Social Entrepreneurship» gerade aus: Man muss Arbeitssicherheit, Qualitätsmanagement und Planung eben so organisieren, dass sie auf die Zielgruppe passen. Wenn alle Teilzeit arbeiten, können Schwankungen mit Mehrarbeit aufgefangen werden, ohne dass jemand wirklich unmenschli-che Überzeit arbeiten muss. Unsere Betriebe umfassen nicht zuletzt deshalb mehr als 100 Personen, weil diese Grösse das Auffangen von Ausfällen einfacher macht. Dabei sind Alter, Kulturen, Sprachen und Kenntnisse bei uns so vielfältig, dass wir uns einfach alle zusammenraufen müssen, um etwas zu er-reichen. Wir richten alle den Blick auf das, was wir gemeinsam erreichen können. Und sehen, dass das gewaltig viel ist, wenn wir uns selber ein bisschen zurücknehmen. �

Interview: Redaktion

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Herr Bertschy, Herr Studer, die Caritas hilft Menschen in Not.

2014 ist die Caritas St. Gallen-Appenzell selber in Not geraten.

Was ist geschehen?

Bruno Bertschy: Vor einigen Jahren hatte die Caritas St. Gallen-Appenzell eine Vorwärtsstrategie beschlossen und in Personal und Infrastruktur investiert, um verschiedene Angebote in der beruflichen und sozialen Integration auf- und auszubauen. Im Kern besteht diese «qualifizierende Arbeitsintegration» darin, die Leute auf ihrem möglichen Weg zurück in den ersten Ar-beitsmarkt umfassend zu begleiten. Nach einem recht guten Start konnten diese Arbeits- und Betreuungsplätze dann aber zusehends weniger ausgelastet werden.Über den Besuch solcher Programme befinden die lokalen

Sozialämter. Haben die Gemeinden also weniger Kandidaten

als kalkuliert zu Ihnen geschickt?

Thomas Studer: Richtiggehend eingebrochen sind die Zuwei-sungen von den Gemeinden, und zwar innert kürzester Zeit: Im Januar 2014 hatten wir volles Haus mit gut 50 belegten Jah-resplätzen. Im Herbst waren es noch 18. Sie können sich vor-stellen, was das für einen Betrieb bedeutet.Einen massiven Ertragseinbruch, denn bekanntlich verdienen

die Anbieter mit den Betreuungsprogrammplätzen ihr Geld.

Wie viel bezahlte die Gemeinde für einen Platz in der Caritas?

Bertschy: Je nach Programm bis zu 1800 Franken pro Monat. Das ist aber nur die eine Seite: Natürlich erreicht man die Bud-getierung nicht, wenn weniger Leute kommen als geplant. Auf der anderen Seite kann man mit weniger Leuten aber auch we-niger Aufträge annehmen – unsere Leute verrichten einfache gewerbliche Arbeiten – und verzeichnet also auch auf der pro-duktiven Seite tiefere Einnahmen. Dieser doppelte Rückgangs-prozess lief über mehrere Jahre; man hat von den Reserven ge-zehrt, mit Geld gearbeitet, das für spätere Perioden vorgesehen war, und das hat letztlich in einer grossen Schuld geendet.Es war von einem Defizit von 1,2 Millionen zu lesen. Insofern

ist erstaunlich, dass es die St. Galler Caritas überhaupt noch gibt.

Bertschy: Tatsächlich standen wir an einem Punkt, an dem es fast keinen Ausweg mehr gab. Nur dank einem Schulden-schnitt, den der katholische Konfessionsteil der Caritas St. Gal-

len-Appenzell gewährte, konnten wir weitermachen. Da war dann aber allen klar, dass der Weg geändert werden musste: dass jetzt wirklich etwas passieren musste, damit man nicht wieder in die gleichen Probleme reinschlittert.Schauen wir, bevor wir über den neuen Weg reden, auf das Umfeld

zurück, durch das er führte. Rekapitulieren wir zuerst, was war:

Sie sagten, dass Sie 50 Plätze à 1800 Franken im Angebot hatten.

Was wurde für diesen Betrag geboten?

Studer: Es geht hier, wie gesagt, ausschliesslich um den Teil der qualifizierenden Arbeitsintegration. Die richtete sich an Men-schen, darunter viele Flüchtlinge, die uns vom Sozialdienst zu-gewiesen wurden – das Amt bezahlte die Programmpauschale von 1800 Franken, und dafür erhielten die Leute bei uns Ar-beit, Deutschunterricht und professionelles Coaching. Das heisst: an drei Tagen arbeiteten die Leute in einem gewerbli-chen Betrieb, einen Tag lang lernten sie Deutsch und an einem Tag erhielten sie Begleitung und Unterstützung in Berufs- und Bewerbungsfragen.Damit wir das richtig verstehen: Diese Programmpauschale

bezahlt die Gemeinde zusätzlich zur wirtschaftlichen Sozialhilfe,

die die bei Ihnen arbeitende und lernende Person erhält?

Studer: Die Sozialhilfe hat damit direkt nichts zu tun, die läuft unabhängig davon. Über lange Jahre hinweg war es üblich, dass die Gemeinden in der ganzen Schweiz diesen Zusatz für die Programme einkauften. Natürlich war das Geschäft immer vo-latil, gewisse Schwankungen gab es auch früher mal. Heute aber ist die Volatilität derart hoch, dass es keine Planungssi-cherheit mehr gibt – die Gemeinden sind einfach immer weni-ger bereit, die einst quasi fraglos finanzierten Programmpau-schalen zu bezahlen.

Bruno Bertschyist Leiter des Bereichs Inland der caritas Schweiz und Vorstandsmitglied der caritas St. Gallen­appenzell.

Thomas Studersteht der abteilung Soziale aufgaben der caritas Schweiz vor und hat 2014 die umstrukturierung der caritas St. Gallen­appenzell geleitet.

5 Im spannenden SpagatVor kurzem noch hatte die St. Galler Caritas volles Haus. Letztes Jahr aber hätte sie fast ihre Türen schliessen müssen – weil ihr Angebot zum Luxus geworden ist, den sich kaum eine Gemeinde mehr leisten kann. Ein Gespräch über die Wettbewerbsfähigkeit der Nächstenliebe.

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Mühe, unsere Arbeitswelt nur schon zu verstehen. Hier sind die Bemühungen eher darauf ausgerichtet, an einfachen Din-gen wie Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit zu arbeiten. Das heisst: die Leute nur schon dazu zu bringen, am Morgen regel-mässig bei uns zu erscheinen. Wollen die denn das überhaupt?

Bertschy: Diese Frage rührt an ein Kernproblem unserer Ar-mutsthematik. Je stärker man von Armut betroffen ist, desto tiefer sinken Wahlfreiheit und Selbstbestimmungsgrad. Ab ei-nem gewissen Punkt sagt man nicht mehr selber, was man will und nicht will, sondern bekommt gesagt, was man machen soll. In Einzelfällen kommt es vor, dass einer von sich aus kommt und sagt: Ich würde gerne hier arbeiten und in das Programm einsteigen. In der Regel geschieht das aber nicht freiwillig. Vielmehr weist der jeweilige Sozialarbeiter seinen Klienten an, sich bei uns zu melden – um seinen Beitrag zur Integration zu leisten. Wie gehen Sie dabei mit Konflikten um, wenn jemand nicht

mitmachen will?

Bertschy: Es gibt Spielregeln, und die werden auch kommuni-ziert. Wenn man beispielsweise dreimal unentschuldigt fehlt, ist auch unsere Geduld vorbei. Gleichzeitig sind unsere Sankti-onsmöglichkeiten eingeschränkt. Nur in Extremsituationen, etwa bei Tätlichkeiten, kann gekündigt werden. Werden die Spielregeln nicht eingehalten, arbeiten wir zusammen an Ver-besserungen. Auch das ist ein Element, um die Arbeitsmarktfä-higkeit zu steigern. Reissen alle Stricke, entscheidet die zuwei-sende Stelle über das weitere Vorgehen.Studer: Es ist das Sozialhilfegesetz, das die Dinge so festgelegt. Man kann von diesem Zwang halten, was man will, aber er ist die Realität, in der wir uns befinden. Spielregeln gelten immer für zwei Seiten.Bertschy: Wobei die Schweiz 26 verschiedene kantonale Sozial-hilfegesetze und entsprechend auch recht unterschiedliche Haltungen hat. Während man an einem Ort erst einen Monat im Wald arbeiten muss, um zu beweisen, dass man Sozialhilfe «verdient», ist am anderen Ort das Zwangselement eher weni-ger ausgeprägt. Amtlicher Zwang und karitative Nächstenliebe – eine nicht

sehr wohlklingende Kombination.

Bertschy: Wir können nicht verhehlen, dass wir einen Grat be-gehen. Wir werden deswegen auch gehörig kritisiert. Es gibt Organisationen, die uns vorwerfen, Sklavenarbeit zu fördern. Ja – aber man darf die Rahmenbedingungen nicht vergessen, in denen wir uns bewegen. Man muss versuchen, innerhalb von dem, was man hat, das Beste zu machen. Studer: Wir sind der Überzeugung, dass unser Angebot den Leuten sehr viel bringt. Man erlebt das immer wieder: Es sind schöne Erfolgserlebnisse, wenn man z.B. sieht, wie jemand aufblüht, bei uns eine Tagesstruktur findet oder sich mit einem Arbeitsvertrag in der Hand verabschiedet.

Bertschy: In der Regel läuft es heute so: Man macht der Ge-meinde ein Angebot. Wenn es nachgefragt wird, ist das gut, und wenn es nicht nachgefragt wird, ist das weniger gut. Ent-weder kann man als Anbieter dank flexibler Strukturen darauf reagieren, oder man kann das nicht, und entsprechend hat man entweder gar kein oder aber ein ziemlich grosses Problem. Es ist bekannt, dass die Gemeinden unter Spardruck stehen.

Gleichzeitig floriert aber die sogenannte «Sozialindustrie» –

Anbieter von «Programmen» scheint es zuhauf zu geben.

Sind die knausrigen Gemeinden für Ihre Misere verantwortlich

oder hat Ihnen die Konkurrenz die Kundschaft abgejagt?

Bertschy: Die Konstellation vor Ort, die Mitbewerber und die Qualität der Angebote sind die entscheidenden Faktoren. Wel-che Organisation agiert in welcher Stellung schon wie lange auf dem Markt? Solche Fragen sind zentral und bestimmen die Nachfrage. Anders gesagt: die bestehenden Anbieter kämpfen um einen kleiner werdenden Kuchen, weil die öffentliche Hand auch in diesem Bereich einen Sparbeitrag leisten muss. Wie viele Programmanbieter gibt es denn beispielsweise auf

dem Platz St. Gallen?

Studer: Ungefähr 10. Oft mussten wir feststellen, dass wir als Caritas St. Gallen-Appenzell einfach zu spät kamen, weil ver-schiedene Organisationen schon spezielle Abkommen mit den Gemeinden hatten. Im ersten Halbjahr 2014 sind wir von Ge-meinde zu Gemeinde getingelt und haben versucht, mit fixen Zusagen die Finanzierung zu sichern. Vergebens. Anstelle von Zusagen bekamen wir immer wieder eine Aussage zu hören: Die Programme, die ihr habt, die sind schön und gut, nice to have – aber wir können sie uns nicht mehr leisten. Das Angebot ist gewissermassen zu einem Luxus geworden.Bertschy: Und das wird es auch bleiben, man darf sich nichts vormachen. Vor 10 Jahren waren die Rahmenbedingungen an-dere, in der Zwischenzeit hat sich die Lage verändert: Die Zah-len von Betroffenen sind stark gestiegen, Geld aber ist weniger da als zuvor und Mitbewerber gibt es zusätzliche. Insofern ist klar, dass der Spardruck weitergehen wird. Weiterhin werden die zuweisenden Stellen sicher auch sagen, dass die Integrati-onsprogramme eine richtige und wichtige Sache seien. Aber wer soll sie bezahlen?Gibt es denn auch empirische Belege für die «gute Sache»? Welche

Erfolgsbilanz weisen diese zuweilen doch recht kostspieligen

Programme auf oder anders gefragt: Wie viele Personen konnte

die Caritas St. Gallen im Schnitt wieder in den Arbeitsmarkt

integrieren?

Studer: Der Durchschnittswert der letzten paar Jahre lag bei rund einem Drittel. Das ist eine ziemlich gute Zahl – wobei nicht alle einen festen Job fanden. Wir sprechen auch von «An-schlusslösungen». Das sind Praktikums- oder Ausbildungs-plätze, nicht richtige Stellen. Viele der Menschen, die zu uns kommen, haben verschiedenste Schwierigkeiten: Sie sind ver-schuldet, haben Alkoholprobleme oder – etwa als Flüchtlinge –

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Bertschy: Die Herausforderung besteht darin, den Menschen die passende Unterstützung zukommen zu lassen – denn nicht alle brauchen die gleiche Art von Arbeit und Betreuung. Das heisst: eigentlich gibt es weder falsche noch richtige Zuwei-sungen, und auch weder richtige noch falsche Anbieter. So ver-schieden, wie die Menschen sind, so individuell müsste eigent-lich auch die Begleitung sein. Nur kann oder will das niemand mehr bezahlen.Eben: de facto geht die Reise gerade bei der Caritas St. Gallen in

die entgegengesetzte Richtung. Nach den finanziellen Turbulenzen

haben Sie eine enge Kooperation mit der Dock-Gruppe beschlossen

und nun grossmehrheitlich Plätze im Angebot, die nur noch

Arbeit und kein Coaching mehr beinhalten. Haben Sie damit einen

eigentlichen Paradigmenwechsel vollzogen und sich vom

Sozialprogramm zur Sozialfirma gewandelt?

Studer: Das Dock-Modell ist ein schlankes und günstiges Ange-bot und wird deshalb von den Gemeinden stärker nachgefragt, das ist unbestritten. Natürlich sind mit der Übernahme dieses Konzepts unsere Möglichkeiten nicht mehr dieselben, auf die Belastungen und Probleme der Leute einzugehen.Bertschy: Dass wir einen Wandel vollziehen, ist richtig und nö-tig. Nur kleine Anpassungen am Angebot hätten das Hauptpro-blem «Auslastung – Kostendeckung» nicht gelöst. Es ist jedoch

nicht so, dass wir mit dem Dock-Modell keine sogenannte «Be-treuung» mehr haben. Sie ist aber gezielter auf die Nachfrage ausgerichtet und wird dort geleistet, wo sie benötigt wird. Dies betrifft den Hauptteil unseres Angebots. Für eine gewisse Ziel-gruppe besteht jedoch nach wie vor ein Bedarf nach individuel-lem Coaching. Deshalb haben wir das bisherige Angebot nicht einfach liquidiert, sondern bieten eine reduzierte Anzahl sol-cher Einsatzplätze weiterhin an; besetzt sind zurzeit 17.Überspitzt gesagt, haben Sie das kleinere Übel gewählt:

Anstatt das Geschäft zu schliessen, haben Sie es lieber am Markt

ausgerichtet.

Studer: Nein, vom kleineren Übel würde ich überhaupt nicht reden! Wir haben 2014 verschiedene Szenarien geprüft, und letztlich waren es positive Gründe, die uns zum Dock-Modell geführt haben. Wir sind uns von der inhaltlichen Ausrichtung her sehr nah; beide haben wir gewerbliche Dienstleistungen – einfache handwerkliche Aufgaben etwa im Bau oder in der Rei-nigung – angeboten. Wir waren gewissermassen im gleichen Segment, aber mit anderen Kunden tätig, und da schien es uns sinnvoll, die Bestände zusammenzulegen und zu schauen, wie weit wir gemeinsam kommen. Weiterhin können wir mit dieser Form von Arbeitsintegration Perspektiven bieten, denn gerade im gewerblichen Bereich besteht eine gewisse Durchlässigkeit.

«So verschieden, wie die Menschen sind, so individuell müsste eigentlich auch die Begleitung sein. nur kann oder will das niemand mehr bezahlen.»Bruno Bertschy

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Die Leute sind draussen, arbeiten in Gärten oder auf Baustellen – zwar in einer Art Schonraum, der Schwächen toleriert, aber doch nahe am ersten Arbeitsmarkt ist. Dennoch ist nicht eben selbstverständlich, dass die Hilfs -

organi sation der katholischen Kirche auf ein unternehmerisches

Modell setzt. Wie wirkt sich dieser Entscheid auf Identität

und Image der Caritas St. Gallen aus?

Studer: Wenn wir nun nur noch als Sozialfirma bestünden, müsste man sich sicher fragen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Gerade deshalb haben wir ja aber alles darangesetzt, auch den betreuten Programmteil zu behalten – wenn auch in redu-ziertem Umfang.Bertschy: Das Einfachste wäre gewesen, wir hätten diesen risi-kobehafteten Teil gekappt. Gerade wegen unseren Werten ha-ben wir das nicht getan. Wir wollen weiterhin einen Beitrag zur Integration leisten und versuchen das jetzt auf diese Weise. Zu Ihrer Frage zum Image – nun, es beweist ziemlich viel Unkennt-nis, wer meint, dass soziale Organisationen nicht unternehme-risch unterwegs seien. Sehen Sie sich die Caritas an: Wenn hier neue Tochtergesellschaften gegründet werden, sind das Ak-tiengesellschaften. Ohne Wenn und Aber. Unsere Betriebe ar-beiten mit Vollkostenrechnungen und sind, ökonomisch durchorganisiert, darauf ausgerichtet, Gewinn abzuwerfen, um wiederum in soziale Anliegen investieren zu können. Wenn Sie unsere neue Fünfjahresstrategie lesen, finden Sie darin wiederholt und deutlich Begriffe wie «Marketing» und «Wett-bewerbsfähigkeit». Kurz: wie die meisten «Sozialen» operiert die Caritas längst und viel auf Märkten, auf denen das wirt-schaftlich günstigste Angebot den Zuschlag erhält.Das ist aus Sicht der öffentlichen Hand durchaus zu begrüssen –

solange das günstigste auch ein qualitativ überzeugendes Angebot

ist. Im St. Galler Labor versuchen Sie doch, ebendiese

Dinge zu mischen: Ist das eine spannende Herausforderung

oder ein zerreissender Spagat?

Bertschy: Ich würde sagen: ein spannender Spagat. Studer: Ganz grundsätzlich gilt: Wenn man die Leistungen überall abbaut, löst man damit vielleicht ein finanzielles Pro-blem, nicht aber die Frage, was mit den betroffenen Leuten passiert. Die sind ja nach wie vor da – in steigender Zahl – und können nicht weggespart werden. Bertschy: Wenn wir die Langzeitarbeitslosigkeit beobachten, sehen wir, dass diese unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung stetig zunimmt. Das ist ein wachsendes Problem, welches auch bei uns in der Schweiz mehr und mehr an die Oberfläche tritt. Wir kennen das aus anderen europäischen Ländern, in denen soziale Unruhen zunehmen. Wenn sich eine Gesellschaft dazu entschliesst, die Schwächeren weniger zu stützen, werden wir irgendwann einen Preis an dieser Stelle zu bezahlen haben. �

Interview: Redaktion

Impressum «Schweizer Monat», Sonderthema 22

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Weshalb der Franken-Mindestkurs gekippt ist, erkennt man erst im richtigen Zusammenhang.

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