+ All Categories
Home > Documents > REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

Date post: 04-Apr-2016
Category:
Upload: schauspiel-frankfurt
View: 217 times
Download: 1 times
Share this document with a friend
Description:
Mit Beginn der Spielzeit 2013/14 ist am Schauspiel Frankfurt ein in der deutschsprachigen Theaterlandschaft einmaliges Projekt gestartet, das jungen Nachwuchsregisseuren die Chance bietet, sich kontinuierlich und ohne den zeitlichen und finanziellen Druck des »freien Marktes« zu entwickeln und an der eigenen künstlerischen Handschrift zu arbeiten. In der Spielzeit 2014/15 haben Mizgin Bilmen, Laura Linnenbaum und Hans Block die Chance, sich im Rahmen des REGIEstudio weiterzuentwickeln.
40
Hallo Frankfurt! REGIEstudio 2014/15 Mizgin Bilmen / Laura Linnenbaum / Hans Block
Transcript
Page 1: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

s e i t e 0 1 spielzeit 2014/15

Hallo Frankfurt!

REGIEstudio 2014/15Mizgin Bilmen / Laura Linnenbaum / Hans Block

Page 2: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 0 2

Page 3: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

s e i t e 0 3 spielzeit 2014/15

Auch diese Spielzeit nehmen drei junge Theaterschaffende die kleinste Spielstätte des Schauspiel Frankfurt unter ihre Fittiche. Wir, Mizgin Bilmen, Laura Linnenbaum und Hans Block, wollen Sie zur REGIEstudio-Spielzeit 2014/15 herzlich einladen und uns mit diesem Magazin vorstellen. In den kommenden Monaten erwarten Sie eine Reihe von Inszenierungen in, um und/oder ganz außerhalb der Box und am Ende der Spielzeit wird es im Rahmen des REGIEstudio-Festivals je eine Aufführung in den Kammerspielen zu sehen geben. Die Box ist für uns ein Möglichkeitsraum, in dem wir kontinuierlich an unserer substanziellen, künstleri-schen Sprache arbeiten können. Wir haben die Chance, in diesem Rahmen unsere frei gewählten Stof-fe auf die Bühne zu bringen und nach einem Theater fernab der sonst herrschenden Produktionsbedin-gungen zu suchen, in der Hoffnung, dass diese dauerhafte und schrittweise Auseinandersetzung mit Theater über das hinauswächst, was gemeinhin als solide Regieleistung betrachtet wird. Wir wollen etwas riskieren, gemeinsam in der Box. Die Bühne ist vielleicht der einzige soziale Ort, wo es richtig sein kann, das Falsche zu tun. Das Theater ist nicht nur dort stark, wo etwas gelingt, sondern vor allem dort, wo es etwas riskiert. Wenn das Theater mehr will als einen gut funktionierenden Spielplan, muss es wieder anfangen solche Räume zur Verfügung zu stellen. An einer solchen Möglichkeit teilzuhaben, freut uns ungemein. Auch wenn wir drei uns noch nicht ausreichend kennen, um eine Gemeinschaft zu behaupten, die an einem inhaltlichen Strang zieht, verbindet uns dennoch die Frage, wie man Theater als ein kritisches Werkzeug begreifen kann, ohne dabei den hohen künstlerischen Anspruch zu verlieren. Wie kritisch ist kritisch eigentlich in einer Institution wie dieser? Wir werden es herausfinden und freuen uns auf die gemeinsame Spielzeit in Frankfurt***

Mizgin Bilmen / Laura Linnenbaum / Hans Block

Hallo Frankfurt!

Das REGIEstudio

wird ermöglicht

durch

Page 4: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 0 4

Premierenübersicht

Mysteriennach Knut Hamsun

Johan Nilsen Nagel, ein Fremder, ein Genie, ein Wahnsinniger, ein »Ausländer des Daseins«, ein unbe-rechenbarer Unruhestifter, kommt in eine norwegische Küstenstadt, weckt dort die Neugierde der Be-wohner und verblüfft, irritiert und brüskiert sie mit seinen seltsamen Einfällen und seinen phantastischen Erzählungen. Hans Block widmet sich in seiner ersten Inszenierung einem Mann, der der normalen Welt die Maske des Bösen entgegenhält, um sie das Fürchten vor der eigenen Norm zu lehren. Ihn interes-siert an Johan Nagel die Unberechenbarkeit, mit der er alles riskiert. Block geht der Frage nach, inwie-weit die eigene Autonomie durch unberechenbares Verhalten innerhalb einer determinierenden Gesell-schaftsordnung behauptet werden kann.Regie / Bühne Hans Block Kostüme Raphaela Rose Dramaturgie Rebecca Lang Mit Paula Skorupa, Carina Zichner; Elias Eilinghoff, Moritz Kienemann Premiere am 23. September 2014 in der Box

Silent NoiseEin Projekt über Sylvia Plath von Laura Linnenbaum

Eine junge Frau, Mutter und Schriftstellerin, beschließt zu sterben und wirft damit jede Menge Fragen auf: Reicht privater und beruflicher Erfolg nicht aus, um die eigene Existenz aufrecht zu erhalten? Kann der Freitod ein letzter Akt der Selbstbestimmung sein? Fest steht: In einem von Depressionen ausge-höhlten Körper vermögen Ruhm und Anerkennung nicht über die sich immer weiter ausbreitende Leere hinwegzutäuschen. Laura Linnenbaum beschäftigt sich in ihrer ersten Inszenierung mit den (Tabu)the-men Depression und Suizid. »Silent Noise« ist ein Abend über das Verstehen-Wollen einer Todessehn-sucht, erzählt aus den Perspektiven von Weggefährten, Hinterbliebenen, Liebenden und einer Frau, die eine Entscheidung für sich getroffen hat.Regie Laura Linnenbaum Bühne David Gonter Kostüme Michaela Kratzer Dramaturgie Henrieke Beuthner Mit Constanze Becker; Timo Fakhravar, Vincent Glander u.a. Uraufführung am 23. November 2014 in der Box

Helden Ewald Palmetshofer

Die Geschwister Judith und David sind Helden, selbsternannte. Das Leben in der Wohnung ihrer Eltern ist ebenso eng wie der Gedankenhorizont ihrer Mitmenschen. Für Judith und David ist dieses Kleinbür-geridyll, die Distanzierung von den Problemen in der Welt, nicht länger hinzunehmen: Die Welt muss entflammt werden! Also verwandeln sich die beiden nachts in die Superhelden Spiderman und Catwo-man und bahnen sich ihren Weg durch eine zerrüttete Welt, eine Spur der Verwüstung hinter sich las-send. Mit ihrer ersten Inszenierung für die Box in Frankfurt widmet sich Mizgin Bilmen dem Konflikt einer ganzen Generation (Y?), die sich inmitten einer Gesellschaft wiederfindet, deren Explosionspotenzial dicht an dicht mit dem Bestreben von Ordnung und Ruhe steht. Welche Möglichkeit hat diese Genera-tion, aus der vermeintlichen Ordnung auszubrechen und ihre wütenden Fragen in die Welt zu schreien? Regie Mizgin Bilmen Kostüme Laura Krack Dramaturgie Henrieke Beuthner Mit Paula Skorupa, Carina Zichner; Lukas Rüppel Premiere am 21. Dezember 2014 in der Box

Page 5: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

s e i t e 0 5 spielzeit 2014/15

Das große FressenMarco Ferreri

Vier Freunde verabschieden sich aus ihrem bürgerlichen Leben. Der Pilot Marcello, der Koch Ugo, der Fernsehredakteur Michel und der Richter Philippe treffen sich an einem Wochenende, um durch eine Überdosis Sex und Essen ihre eigene Selbstzerstörung zu zelebrieren und kollektiven Suizid zu bege-hen. Bald schon steigert sich die endlose Zubereitung kulinarischer Köstlichkeiten zum widerwärtigen großen Fressen. Hans Block interessiert an Ferreris Skandalfilm die Archaik des Fressens, Scheißens, Sterbens und der eigene Ekel der Existenz und fragt: Ist dieser Film vielleicht eine der schönsten Dar-stellungen einer merkwürdigen Todessehnsucht? Oder ist er einfach eine in seiner Metaphorik über-deutlich gekennzeichnete Kapitalismuskritik? Regie Hans Block Premiere im Februar 2015 in der Box

LULU – A Distorted Cameranach Frank Wedekind

Lulu ist Geliebte, Umworbene, Ehefrau, Kindfrau – eine völlig romantische Figur, ein Clown. Sie spielt jedem Mann genau die Art Frau vor, die er haben will. Oder sind es vielmehr die Blicke der Männer, die identitätsbildend auf Lulu einwirken? Mizgin Bilmen interessiert sich für eben diesen Konflikt der Blicke, der gegenseitigen Formung, die auf den Menschen identitätsbildend wirken und fragt danach, ob und inwieweit sich dieser Konflikt beilegen lässt. Lulu gehorcht so triumphal, wie es nur eine Herrscherin gehorcht, der es Freude bereitet, jeden Gehorsam zu parodieren. Sie kennt das Geheimnis des ewigen Spiels und das verzeiht man ihr nicht.Regie Mizgin Bilmen Premiere im April 2015 in der Box

PocahontasEin Projekt von Laura Linnenbaum mit dem AUTORENstudio

Die Geschichte der Indianertochter Pocahontas hat wirklich alles, was einen gelungenen Disney-Film ausmacht: eine schöne Frau, die mit ihrer Heimat verbunden ist, ein schöner Mann, der weit gereist ist. Sie ist mutig, er ist stark. Beide dürfen sich nicht haben, bekommen sich aber doch. Schnitt. Ohne den Trickfilmschleier offenbart sich hingegen der historische Vorgang der Gründung Amerikas, eine mitun-ter brutale Eroberung des Landes der Ureinwohner, ohne Rücksicht auf den Verlust von Besitz, Leben, Würde. In ihrer Neubearbeitung des Pocahontas-Stoffes setzt Laura Linnenbaum auf den Aspekt da-maliger und heutiger Eroberungspolitik, über den Respekt vor Landes- und Völkergrenzen und dem fortwährenden Streben nach territorialer Machterweiterung. Regie Laura Linnenbaum Uraufführung im Mai 2015 in der Box

Page 6: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio mizgin bilmens e i t e 0 6

Wie bist du zum Theatermachen gekommen?

Weil ich an das Hier und Jetzt glaube. Das einzige, was das Theater besitzt – keine andere Kunstform, außer die Per-formance meinetwegen, das ist das Jetzt. Es ist auch das einzige, was ich wirklich habe. Ich besitze nur das Jetzt und da hab ich etwas mit dem Theater gemein. Meine Zeit als Hospitantin bei Roberto Ciulli am Theater a. d. Ruhr hat mich überzeugt, dass dem Theater jene Schönheit der Be-ziehung zwischen Kunst und Leben innewohnt, in Form von »Leerstellen«, die im Betrachter einen Denkprozess anre-gen. Nach dieser Faszination habe ich Blut geleckt und mein Studium begonnen auf der Suche nach Wegen, einen Moment – und sei es auch nur der Bruchteil einer Sekunde – zu schaffen, in der eine echte geistige/mentale Interakti-on mit dem Publikum stattfindet. Das ist heute immer noch mein Motiv Theater zu machen.

Wie sieht dein ideales Theater aus? Naja... ideal ist ja immer so eine Sache... Künstlerisch wäre es der Versuch, dieses JETZT zu potenzieren, es zu deh-nen, zu einem Jetzt, das wie eine Ewigkeit hält – das wäre geil... Strukturell hieße das für mich, vielleicht eine »liquide« Theaterstruktur zu entwickeln, deren Beschaffenheit sich entsprechend flexibel verhält und sich immer neu nach den Erfordernissen der Kunst ausrichtet und somit nicht selbst zum bestimmenden Element wird. Eine hohe Kontinuität des Schauspielensembles ist dabei unabdinglich für inten-sive und essenzielle Diskurse über Kunst und Leben. Doch leider reduzieren sich heute solche Diskussionen oft nur auf die Frage nach der Finanzierbarkeit von Theater. Zu-schauer- und Einnahmestatistiken sind die Argumente, die den Blick auf das Wesentliche verstellen, sie bilden letzt-lich die Beziehung zwischen Gesellschaft und Kultur ab, sind Ausdruck einer Kultur der Ökonomie.

Wie würdest du deine eigene Arbeit beschreiben?

Ich weiß es nicht, ich hab ja keine allumfassende Methode, die ich verfolge oder so... Einer meiner Schauspieler sagte das mal so: »Mizgin setzt sich auf inhaltlicher Ebene stark mit ihrem Ensemble auseinander, Texte vorab zu bespre-chen und zu durchdenken, bis man an seine mentalen Grenzen kommt, ist bereits die Hälfte der Arbeit. Es ist also immer ein Grenzspiel zwischen theoretischen Auseinan-dersetzungen und den dadurch möglichen produktiven und körperlichen Auseinandersetzungen auf der Bühne.«

Hast du Vorbilder?

Nein. Selbstverständlich gibt es viele Menschen, die ich bewundere und die mich inspirieren, aber ihre Fußstapfen sind nicht die meinen. Neue Generationen können die Ge-sellschaft nur prägen, wenn sie die alten ablösen – und genau das ist ein Problem... Jeder Neuling will so sein wie XY, dabei deuten Vorbilder oder Beispiele letztlich nur auf den Mangel der eigenen Urteilskraft hin, gekoppelt mit dem Mangel an Kenntnissen, die daran hindern, seinen Weg selbst zu erforschen.

Was hast du dir für deine Zeit in Frankfurt vorgenommen?

Ich habe mein Interessensfeld bzw. meine Auseinanderset-zung mit der Welt und ihrer bipolaren Phänomenologie auf das Motiv Opfer/Täter(Attentäter)-Gefälle gerichtet und bin dabei auf zwei zentrale Fragen gestoßen:a) Ab welchem Punkt bzw. was muss passieren, bis der Einzelne sich selbst aus der gesellschaftlichen Ohn-machtshaltung gegenüber der Welt befreien kann, um selbstbestimmt zu denken und zu handeln?b) Warum liegt dieser Akt der Selbstbefreiung meist immer entweder in dem Einsatz potenzierter Gewalt oder poten-zierter Sexualität bzw. gibt es Waffen der Kunst, die jen-seits der Kunst gesellschaftliche Wirksamkeit enthalten?

5 Fragen an Mizgin Bilmen

Page 7: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

s e i t e 0 7 spielzeit 2014/15

Page 8: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 0 8

Page 9: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

s e i t e 0 9 spielzeit 2014/15

und ich bin am 18. Oktober 1983 in Duisburg-Hochfeld geboren und das siebte von sieben Kindern.1972 ist mein Vater als Gastarbeiter nach Deutschland ge-kommen, um als Stahlarbeiter an den Hochöfen der Firma Mannesmann zu arbeiten, bis er dann 1977 auch meine Mutter und meine ältesten drei Geschwister nach Deutsch-land mitnahm.Schon in der Grundschule hatte ich einen Hang, Dinge nicht ohne Widerstand zu akzeptieren. Zwar handelte mir das auch oft Ärger ein, aber ich konnte ja nicht aus meiner Haut und fand bald sogar Gefallen daran, Autoritäten aus der Reserve zu locken und mich mit ihnen zu messen. Als mir mit zwölf Jahren klar wurde, dass ich die Welt als Gan-zes nie allein ändern bzw. dass das heute überhaupt keiner mehr kann, dachte ich mir, dass Veränderungen, welcher Art sie auch sein mögen, immer beim Individuum beginnen müssen. Mit 18 Jahren trat ich einen Mini-Job am Theater Duisburg an – der Anfang meiner Theaterzeit. Ich wurde schnell zur leidenschaftlichen Theatergängerin. Als ich zum ersten Mal eine Inszenierung von Jürgen Gosch sah, war ich derart

beeindruckt, dass mir nie in den Sinn gekommen wäre, ich selbst könnte einmal Regie führen.Ich begann eine Hospitanz am Theater an der Ruhr bei Ro-berto Ciulli in Mülheim und diese Zeit hat mich deutlich in-spiriert. Roberto hat mich begreifen lassen, dass Theater da am sinnvollsten ist, wo es die alltägliche Sichtweise der Menschen irritiert und durcheinander bringt. Der Wunsch, Theater zu machen, wurde zum Willen und ich bewarb mich an der Folkwang Universität der Künste für den Studien-gang »Schauspiel-Regie«, den mir die Fakultät zusprach. Finanzielle Probleme gab es nach dem Grundstudium nicht mehr, denn im Juni 2012 wurde ich glücklicherweise Sti-pendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes.Im Rahmen des Studiums habe ich insgesamt neun Arbei-ten realisiert. Im Fokus meiner Inszenierungen liegt immer die analytische Auseinandersetzung des Verhältnisses des Einzelnen zur Gesellschaft und umgekehrt. Die Frage nach gesellschaftlichen Mechanismen, die das Verhalten des Einzelnen verändern und die Frage nach der Zeit, die wir [er-]leben, bilden für mich ein interessantes zeitloses Span-nungsfeld.

Mein Name ist Mizgin Bilmen

mizgin bilmen

Page 10: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 1 0

Page 11: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 11

Ich bin eine Andere unter den Anderen. Was bedeutet das? Ich, wer ist das? Ich ist ein Anderer, ist viele. Mit dem Horizont vergingen meine Erinnerungen an die Vielfalt der Realitäten.

Ich bin kein Opfer meiner eigenen Biografie – niemand ist das, denn jeder trägt eine hohe Verantwortung, zwischen Selbstverlorenheit und Identitätssuche. Wie ÜberLebe ich in einer Welt der Männer, des Geldes und der Macht, des Siegens, Leistens und Blendens? Wie entkomme ich einem Leben voller Lange-weile, Routine und banaler Frustration, umgeben von Menschen, die strohdoof, selbstsüchtig, verlogen und hirnverbrannt sind?

Ich hasse mich selber für meine Ohnmacht und meine Spagat-Gänge. Wie kann ich meine glühende Wut wie einen Strom des Mitgefühls über meine Umwelt ergießen, die einer Generation angehört, die sich an ihre Krisen gewöhnt hat, die es akzeptiert, nicht wirklich zu wissen, weil sie sich damit begnügt zu existieren? Mit »THIS IS WATER« dreht David Foster Wallace den Absolventen des Kenyon College den Spiegel entgegen, damit sie erkennen, was sie schon wissen: Ich bin ein Anderer unter Anderen. Dabei unterwarf er die Form der Abschlussrede, de-ren »verlogene Konventionen«, »naheliegende Pointen« und »Plattitüden«, seinen eigenen Bedingungen.Mit seiner Rede zeigte Wallace einen Freiraum mitten im Alltagsstress auf, in der Schlange an einer Supermarktkasse, am Rande der alltäglichen Erschöpfung – »Das hier ist Wasser. Hier habe ich Zeit nachzudenken.«

Im Denken allein liegt die wahre Freiheit, genauer gesagt, in der Bewusstheit und Entscheidung über die eigenen Gedanken.

Daraus resultiert natürlich die Notwendigkeit einer Disziplinierung, die in den kla-ren Momenten einer Depression genauso zum letzten Strohhalm werden kann wie im Zustand einer Freiheit, die nicht genutzt, oder einer Unzufriedenheit, die nicht eingeordnet werden kann. Ich rede hier von sehr schmalen Graden, denn dünn ist die Haut zwischen Ich und Nicht-mehr-Ich. Ich ist eine Fahne. Ein bluti-ger Fetzen ausgehängt. Ich. Vielleicht studiere ich Geschichte, vielleicht bin ich eine Performancekünstlerin, vielleicht jobbe ich im SEX INN, vielleicht bin ich arbeitslos, vielleicht bin ich eine Aktivistin, vielleicht bin ich krankgeschrieben, vielleicht bin ich pädophil und völlig auf Speed, vielleicht habe ich einen Doktor in Quantenphysik und Philosophie – aber was für eine scheiß Rolle spielt das hier, mitten im Zentrum der Europäischen Zentralbank? …

Ich Auswurf eines Mannes, Ich Auswurf einer Frau, Ich Traumhölle, Ich meine Seefahrt, Ich mein Tod. Die Toten sagt man, stehen auf dem Grund Aufrechte Schwimmer bis die Knochen ruhen – Wie die Glücklose Strandung der toten Neger-FrontEx Security-OPERATION »HERA II« Unser Hafen ist ein totes KinoAuf der Leinwand verfaulen die Stars in KonkurrenzDO YOU REMEMBER DO YOU I DON’TDas Theater meines TodesIN DEN RÜCKEN DAS SCHWEINDer Rest ist Lyrik Wer hat bessere ZähneDas Blut oder der Stein (Heiner Müller)

Ich-Konglomerat/ Ich-Copy-Paste/ Ich TraumhölleIch bin schön, wie die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Näh-maschine auf dem Seziertisch. (Lautréamont) Geliebter Adam, meiner 27 Sinne – ich liebe dir! Suche dir! Wehe dir! Liebe klebt wie Kälte – klebt wie Himbeereis – hinter meinen Ohren. Wir beide eine Sehnsucht – eine Suche, ein Warten – ein nicht enden wollender Traum in den Gruben deiner Hochöfen – Alles was wir vergessen, schreit im Traum um Hilfe…(Federico García Lorca) – im Rauschen meines Meeres – im Schoß meiner blauen Lust – meine Sinne in weiße Falten zersägt – grün werde ich dich finden.Preisfrage: Welche Farbe trägt meine deine unsere Zeit?

ich.mizgin bilmen

Mizgin Bilmen

Page 12: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 1 2

Was steckt hinter dem? Vielleicht der Tod? Oder ein Morgen… Wir müssen uns an MORGEN ERINNERN, an – etwas, das noch lebt, an das wir uns halten können, bevor ich schlafen kann. … (Federico García Lorca) – Muster unserer Gegenwart und Vergangenheit auch hier bei dir und mir. Wir beiden… Wir zwei… Wir leben in einer Fatzer-Welt, allerdings mit dem Super-Gau: MEHR GELD FÜR ALLE! Mein Geld materialisiert sich in Dingen, und diese Dinge decken meinen Hori-zont; danach breitet sich das Geld um mich herum aus, in Form von Zahnbürste und Bett, Zucker und Deodorant, den Gläsern im Schrank, dem Parkettboden, dem hässlichen Wandschrank mit den weißen Türen. Das Sofa ist mein Geld. Der Computer. Die Bettdecke. Alles. Die 19 Grad Celsius in meiner Wohnung sind mein Geld. Das Licht ist mein Geld. Das Klo ist mein Geld. Die Bücher, die Blät-ter, die Spiele. Die Pornos. Die Ohrstäbchen. Die Teppiche. Der Abfall ist mein Geld. Ich bringe den Abfall raus, also mein Geld, also meine Zeit, also mein Le-ben, und schmeiße es in den Container. Ich bezahle fürs Wegwerfen. Ich bezahle dafür, nicht zu haben. Ich bezahle dafür, nicht zu besitzen. Ich bezahle für Abwe-senheit. (Matias Faldbakken)

Und so denke und quatsche ich fröhlich vor mich hin, wo ich doch selbst ein Kind der libertären Bewegung der Moderne bin, ohne mich je bewusst dazu entschie-den zu haben und ich weiß doch, dass auch ich immer noch an unaufgelösten inneren Wiedersprüchen kranke.

Terrorweisheit I: Deep in the ocean, dead and cast away / Where innocence is burned in flames / A million miles from home, I’m walking ahead / I’m frozen to the bones, I am... (Woodkid)

Wir preisen Individualismus und Freiheit, die radikalen Strömungen verdammen die gesellschaftliche Ordnung als repressiv. Andererseits wird vom Staat erwar-tet, dass dieser für die materielle Wohlfahrt Aller Sorge trage, was sich wiederum nur durch eine Erweiterung staatlicher Macht und einer Aufblähung des bürokra-tischen Apparats realisieren lässt. Solche Liberalität brandmarkt mithin den Staat als tyrannischen Vater, verlangt aber von ihm, dass er sich wie eine sorgende Mutter betrage. Der Feminismus, zum Beispiel, hat diese Widersprüche geerbt.

Hört auf, Opfer zu sein!

Wie alle freiheitlichen Bewegungen der letzten beiden Jahrhunderte ist auch der Feminismus in diesem Punkt Erbe von Rousseau. Er hat es sich zu einfach ge-macht mit seiner Behauptung, die archetypischen Vorstellungen seien politisch motivierte Lügen des Mannes.

Unsere Gesellschaft ist ein System ererbter Formen, die unsere demütigende Ohnmacht gegenüber der Natur abmildern. Unsere Chance 3000*** Wir können diese Formen ändern! Aber keine gesell-schaftliche Veränderung wird die Natur ändern. (Camille Paglia)

Mein Heimathafen ist ein Biotop von Gemeinschaften und Gemeinschaften sind ja bekanntlich nichts anderes als der Zusammenschluss verschiedener Minder-heiten. Die Weltgeschichte wird von Minderheiten geschaffen, wenn nämlich eine zahlenmäßige Minderheit nach Willens- und Einflusskraft eine Mehrheit verkör-pert. (Matias Faldbakken)

Die Welt wird also von der Mehrheit der Minderheiten, den Schwachen, den Ängstlichen, den Opfern regiert! Oder ist die Gemeinschaft letztlich der Einzelne, ein Opfer gegen wenige, die die Mehrheit bilden, bestehend aus einem Gemisch von Identitäten, welcher an der Sehnsucht, Teil einer Gemeinschaft zu sein, eines Kollektivs, einer Einheit, einer Ganzheit, scheitert? Eines soll und darf man nicht vergessen. Die Mehrheit kann den Einzelnen nicht ersetzen. Nicht nur stellt diese Mehrheit die Dummheit dar, sondern auch die Feigheit. (Matias Faldbakken)

Page 13: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 1 3mizgin bilmen

Und ebenso wenig, wie hundert leere Hirne zu einem klugen Kopf werden kön-nen, können hundert Feiglinge einen heldenmäßigen Entschluss fassen. (Georg Büchner)

Meine quälende Aufgabe besteht darin, die Dinge so lang zu befragen und zu hinterfragen, bis ich aus der Beschreibung von Begriffen in die Analyse der Dinge trete, um dadurch aus dem Ohnmachtsgefühl in ein selbstbestimmtes Denken und Handeln zu kommen… Es geht nicht darum, an ein Ziel zu kommen oder Er-gebnisse zu sammeln, es geht um die Entfesselung des Denkens als einen leben-digen und spielerischen Prozess voller Identitätsfragen und Identitätskonflikte, die ihrerseits das Lust-Moment, sowohl am Leben als auch im Besonderen am Theater-Machen freisetzen. Dann frage ich mich, ob wir alle vielleicht erst im An-gesicht des Todes zurück zu einer eigenen Identität im Leben finden können, die der eigenen Geschichte jenseits öffentlicher Rollen einen unbezweifelbaren Sinn verleiht… Und manchmal, da hab ich das Gefühl, ich scheiß mir damit selbst ins Hirn – Konspiration in meinem Kopf –, dann packt mich plötzlich die Sehnsucht, mir die Schädeldecke aufzubrechen…

Terrorweisheit II: A soldier on my own, I don’t know the way / I’m riding up the heights of shame / I’m waiting for the call, the hand on the chest / I’m ready for the fight, and fate (Woodkid)

You know the only way to kill the demon is LOVE. Liebe. Ein schönes Wort. Liebe ist etwas, was man ohnehin hat, wie die Haut, manchmal richtet sie sich auf et-was… Nein… Nein… Liebe ist wie der Himmel. Verändert sich, aber ist immer gleich. Und manchmal, sobald sie sich dann auf etwas oder jemanden richtet und einem das seltene Glück widerfährt, packt uns die Leidenschaft. Wie damals, als dieser junge Mensch zu mir kam, er war hübsch und sprach oft tolles Zeug, ich wusste nicht recht, was er wollte, aber ich musste lachen. Er sah den Schmerz und die Sehnsucht in meinen Augen und sagte zu mir: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Endlich sahen wir nicht ein, warum wir nicht ebenso gut zwi-schen zwei Betttüchern beieinander liegen, als auf zwei Stühlen nebeneinander sitzen durften. Ich fand dabei mehr Vergnügen, als bei seiner Unterhaltung und sah nicht ab, warum man mir das Geringste gewähren und das Größere entziehen wollte. So taten wir es heimlich. Aber ich wurde wie ein Meer, was alles ver-schlang und sich tiefer und tiefer wühlte. Es war für mich nur ein Gegensatz da, alle Männer verschmolzen in einem Leib. Mein Naturell war einmal so, wer kann darüber hinaus? Er bekam es mit der Angst, er umarmte mich und krallte sich so fest in meinen Rücken, dass er brach. Das Herz meines gebrochenen Körpers bäumte sich ein letztes Mal auf und meine versiegenden Lebensgeister formten sich zu einer Schlange. Diese Schlange häutete sich und verließ ihre irdische Hülle und übergab sich der lodernden Flut, ich versank in den Wellen der Abend-röte. Er hatte sich ersäuft. Doch kein Feuer, kein glühendes Gestein, konnte mei-nem Körper etwas anhaben, denn die Strahlen des ursprünglichen Lichts um-mantelten mich in unwirtlich blau-weißer Farbenpracht und so verschwand ich ins Innere der Zeit. Das war der Tag an dem Licht und Schatten ihre Wesen tausch-ten. Ich musste weinen. Das war der einzige Bruch in meinem Wesen. Ich kenne keinen Absatz, keine Veränderung. Ich bin immer nur Eins. Ein ununterbrochenes Sehnen und Fassen, eine Glut, ein Strom – denn das hier ist Wasser. Ich sehe auch, wie die Leute mit den Fingern auf mich zeigen. Das ist dumm. Wenn das, was im Paradies zerstört worden ist, zerstörbar war, so war es nicht wesentlich. War es aber unzerstörbar, so leben wir in einem falschen Glauben. Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen, es ist das nämliche Gefühl, wer am meisten genießt, betet am meisten. (Georg Büchner / Vladimir Sorokin / Franz Kafka)

So, what is to be done? Or: who is to be done? Tja, der einzige Gegner, den ich ausmachen kann, das bin ich ja selbst. Ein selbstverliebter suizidgefährdeter Killer. Was sollte ich sonst sein? Heute ist es aber die Imagination, sie frisst mich und dich von innen heraus. Heute besteht folglich die Herausforderung darin – zum ersten Mal in der Geschichte –, gegen die eigene Generation zu sein! DEATHBOX – Du hast Erfolg, wenn deine Konkur-

Page 14: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 1 4

renten am Boden liegen. Wer sind deine Konkurrenten? Alle. Das Volk ohne Liebe hat mit Erfolg alles nutzlose Beiwerk aufgegeben – womit ich die »grundlegen-den« Werte meine, wie Familie, kooperative Solidarität, Glaube, Liebe, Hoffnung und so fort –, und das aus gutem Grund: Sie waren in ihrer Lage hinderlich fürs Überleben. Sie haben aus einer Welt voller Leben eine leblose Welt gemacht, eine kalte, leidenschaftslose Welt, in der nichts hässlich ist, weil es nichts Schö-nes in ihr gibt, die ohne Hass ist, weil es keine Liebe in ihr gibt, und in der man nicht einmal weiß, was Wahrheit ist, weil diese Welt sich damit begnügt, zu exis-tieren. Diese Völker ohne Liebe sind das Symbol für die Menschlichkeit, die sich gegen sich selbst wendet, wenn der Druck zu groß ist. Ich bin: 22 – 25 – 27 – 30 – 31 Jahre alt, mit Zigarette, ohne Unterhose, mit einem vollkommen gewöhnli-chen Äußeren, ohne Lust, den Tag grauen zu sehen! (Matias Faldbakken)

Lebensweisheit III The sound of iron shots is stuck in my head / The thunder of the drums dictates / The rhythm of the falls, the number of dead’s / The rising of the horns, ahead (Woodkid)

Aufruf zum: GEWALTINTELLEKTUALISMUS Interessenskonflikte unter den Menschen werden ja prinzipiell durch die Anwen-dung von Gewalt entschieden. Für den Menschen kommen allerdings noch Mei-nungskonflikte hinzu, die bis zu den höchsten Höhen der Abstraktion reichen und eine andere Technik der Entscheidung zu fordern scheinen. Und wenn das Abs-traktionsniveau ausreichend hoch ist, erreicht man einen kritischen Punkt, und der Gebrauch von Gewalt wird wieder aktuell. Das nennt man Gewaltintellektua-lismus. (Sigmund Freud / Matias Faldbakken)

Verlass den alten Posten. Es herrscht Krieg im Innern, Krieg zwischen gesell-schaftlichen Verpflichtungen und individueller Selbstrealisierung, zwischen Ge-nuss und Verantwortung, zwischen Sexualität und Solidarität – aus einem Sys-tem, in dem ich zu leben pflege und zu fliehen nur mehr träume. Wir warten, warten auf das neue System und sind es doch längst schon!

Es gibt ein kollektives Bewusstsein. Wenn wir das Bewusstsein als eine Neubil-dung betrachten, die sich erst gerade Mal vor ca. 3000 Jahren gebildet hat, dann stellen sich doch mindestens zwei Fragen: Warum ist es entstanden? Und wie? Kunst hat ihren Ursprung doch in der Sehnsucht uns wieder an jene vergangenen Götterstimmen zu erinnern, die nicht unser Wollen bestimmen, nein, die genau-genommen unser Wollen waren. Es ist kein Wunder, dass der neue Popstarheld Odysseus genau dieses subjektive Protobewusstsein verkörpert, denn er be-scheißt in der »Odyssee« die Götter, und hat einen Willen, der dem der Götter entgegenstehen kann. (Julien Jaynes)

Terrorweisheit IVFrom the dawn of time to the end of days / I will have to run, away / I want to feel the pain and the bitter taste / Of the blood on my lips, again (Woodkid)

EROBERT EUER GRAB!

Die Gefahr ist da! Die Gefahr ist der Kompromiss. Die Gefahr besteht nämlich darin, dass du dir von der Kompromiss-Gesellschaft dein Einverständnis abringen lässt! Die Gefahr besteht darin, dass die Heuchelei dich zum Entgegenkommen überredet, dazu, sich auf halbem Wege zu treffen und im Namen feiger Konfliktlösungen einen Vertrag zu unterzeichnen. Hinzu kommt eine dreifache Allianz, bestehend aus Wirtschaft, Unterdrückung und Markenpropaganda, auch genannt Weltbank, Internationaler Währungsfond und Internationale Handelsorganisation, welche unsere Erde und unser Leben kolo-nialisiert hat. Diese Dreifachallianz besteht aus Personen ohne jede Fähigkeit zu kühler Überlegung und Abwägung, was doch aber eine Voraussetzung für außen-politisches oder globales Wollen und Handeln wäre. (Matias Faldbakken)

I WANT MY ENEMY! Vom Opfer zum Täter, zum Attentäter! Der Attentäter verrät sich selbst, verrät sich nicht auch der Künstler auf der Bühne, denn er tut doch

Page 15: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 1 5

eigentlich etwas, das man da unten nicht tut, erst einmal jedenfalls? Mensch-Sein ist Dialektik – Komik ist Tragik in Spiegelschrift –, kein in sich abge-schlossenes Ding, sondern ein sich entwickelndes, lebendiges und organisches Wesen, das wächst und sich verändert, also sich im ständigen »Werden« befin-det. Ist das nicht eine notwendige Prämisse, um eine sinnvolle Auseinanderset-zung mit der Welt zu schaffen? Wir können dann vielleicht anfangen, die Men-schen zu fürchten oder sie zu töten, aber wir können sie im Grunde doch nie hassen, weil wir letzten Endes doch nur die gleiche Sehnsucht auch in unseren Herzen wieder finden. Und diese Sehnsucht ist eine unendliche Suche, eine Identitätssuche, sie ist ein Denk-Prozess, in dem wir ständig versuchen, uns auf offenem Meer ein Floß zu bauen, oder wie der Zustand von Durst… Dieser Durst ist immer da, immer anwesend und uns treibend, wie Liebe oder Haut, nur richtet er sich ständig auf etwas Neues, sobald er gestillt ist…

Terrorweisheit VThis deadly burst of snow is burning my hands / I’m frozen to the bones, I am / A million mile from home, I’m walking away / I can’t remind your eyes, your face (Woodkid)

Vielleicht ist es sogar unmöglich, eine Identität zu führen, ohne das zu werden, was man vorgibt zu sein. Ich glaube, es ist unmöglich, jemanden wirklich zu verstehen, zu wissen, was er will, was er glaubt, und ihn nicht so zu lieben wie sich selber. Und dann, in eben jenem Augenblick, da ich ihn liebe, besiege ich ihn und wir befinden uns in einer Situation, in der sich eine Utopie in eine Dystopie verwandelt, in der der Traum zum Alptraum wird. Der 11. September war solch ein Moment… DO YOU REMEMBER? DO YOU?Wenn der Einschlag des Flugzeugs in den ersten Turm des World Trade Centers für den »Einbruch der Realität« steht, dann steht der 18 Minuten später von einem weiteren Flugzeug getroffene zweite Turm für den »Ausbruch der Kunst«.

Und dann müsste uns folgendes auffallen: Es gibt keine Moral, nur die Meinung von anderen Leuten. Wenn diese Leute Waffen tragen, oder eine Armee sind, dann ist das Pech, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass Moral nichts wei-ter ist als eine Erfindung unterprivilegierter armer »Sklaven«, sie ist ein Weg, mit dem eigenen Ekel gegen die erfolgreichen »Herren« umzugehen. Und so sehr wir auch versuchen würden, zu »Kindern von Herren« zu werden, wir würden immer schon aus der Macht der Gewohnheit, die »Kinder von Sklaven« bleiben.

So, what is to be done FINAL GIRL? Was getan werden muss, ist etwas, an das ich bisher noch nicht gedacht habe. Ich kann mir nicht vorstellen, was getan werden muss, also muss es halt einfach getan werden. Who is to be done? Was jetzt geschehen kann, wird geschehen, nachdem wir die Sprache verlieren werden. Ich habe nur noch Augen, ich bin ein Objektiv, nur noch ein Blick, ein herumschweifender Blick, eine Art Gewissen mit Augen.

My mind is going. I can feel it. I can feel it. Ich beschließe, reinen Tisch zu machen, ohne Sprache; aus rechts ist links geworden, ich will nicht, dass die Menschen, die mich umgeben, mich noch länger umgeben. Aus meinen Ideen werden Fakten. So ist es, wenn das Böse sich einnistet, wie sie im Splattergenre sagen.

mizgin bilmen

Wie können wir Kunst wirksam werden lassen, ohne in Terror und Verbrechen zu landen? Sind Waffen der Kunst denkbar, die durch ihren Kunstcharakter nicht bloß-gestellt werden und sich trotzdem nicht in Ideologie oder Propaganda auf-lösen, die jenseits von Gewalt und Kalkül Wirksamkeit enthalten und die Souveränität des Künstlers nicht beschränken?

(Christoph Schlingensief)

Stop. Situation hopeless.

Stop. Can no longer write.

Stop. Had to stop. Stop. Yes, stop! Stop.

Jetzt wird’s. (Matias Faldbakken)

Page 16: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 0 1 6

Page 17: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 17

5 Fragen an Laura Linnenbaum

Wie bist du zum Theatermachen gekommen?

Ich hab als Kind einmal gelesen, das Theater wäre der ein-zige Ort, an dem man die Zeit anhalten könnte.

Wie sieht dein ideales Theater aus?

Gemeinschaftlich

Wie würdest du deine eigene Arbeit beschreiben?

Hast du Vorbilder?

Ja. Und sie alle haben gemein, dass ihnen das Kunst ma-chen / das Tun / das Gehen / das Sprechen / das Schwei-gen eine Notwendigkeit und kein Etwas ist.

Was hast du dir für deine Zeit in Frankfurt vorgenommen?

»caress your fears, collapse if necessary« (Meg Stuart)

laura linnenbaum

Page 18: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 1 8

wurde am 1. April 1986 mit einem Vorsprung von sechs Minuten als ältere von zwei Schwestern geboren. Von da an erledigte sie Leben, Grundschule und Gymnasium in ihrer Heimatstadt Nürnberg, bis sie diese 2007 – nach ei-nem kurzen Ausflug ins Theaterwissenschaftsstudium an der F.A.U. Erlangen und in die Filmproduktionsleitung ver-schiedener Kurzfilmproduktionen – zum Regiestudium gen Frankfurt verließ.Dort blieb sie hängen, studierte an der Hochschule für Mu-sik und Darstellende Kunst und assistierte und inszenierte am Schauspiel Frankfurt. In den Spielzeiten 2011 bis 2013 entstanden dabei unter anderem »Schlafes Bruder« und »Ei-ne Teufeliade«. Unterbrochen wurde diese lange Frankfurt-phase (neben heimlichen Ausflügen an das DNT Weimar,

das Theater Heidelberg und andere...) hauptsächlich oder lediglich von einem einmonatigen Aufenthalt auf einem por-tugiesischen Bauernhof, wo Laura Linnenbaum in Zusam-menarbeit mit einer 20-köpfigen Ziegenherde versuchte, ihre Führungsskompetenzen entschieden zu erweitern.

Anknüpfend an diesen ersten Frankfurt-freien Versuch ver-ließ sie im August 2013 schließlich erneut die Stadt und kehrt nun, ein Jahr später, vorfreudig zurück.In dieser Zeit sind unter anderem »Reise nach Petuschki« am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken und »Ro-binson Crusoe« am Theater Osnabrück entstanden. Zuletzt inszenierte sie »what would vitali do?« am Thomas Bernhard Institut Salzburg.

Laura Linnenbaum

laura linnenbaum

Page 19: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

s e i t e 0 1 9 spielzeit 2014/15

Page 20: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 0 2 0

Page 21: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

s e i t e 0 2 1 spielzeit 2014/15

Page 22: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 2 2

Page 23: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 2 3

Pamphlet für Kieselsteine, die einmal Sand waren – zur Vorbereitung auf’s Getriebe

Fußnote

laura linnenbaum

Laura Linnenbaum

Page 24: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 2 4

Wenn es eine Möglichkeit gibt, dem Möglichkeitsraum des Theaters wieder seine Kraft zurück zu geben und genau dafür möglicherweise unsere kleine parasitäre Zelle da un-ten zu nutzen, dann vielleicht, indem man die Ordnung, in der wir uns befinden, als kybernetische und uns als Hacker begreift. – möglich. D.h. wenn es darum geht, dem System, in dem man sich bewusst gegen bestimmte Konventionen und Regeln stellt, Störsender einzupflanzen, dann vielleicht darüber, das Telefon auseinanderzunehmen und zum Toas-ter umzubauen.

Aggressiver Rückzug. Lücke. Loch. Nicht kalkulierbar sein. Nicht identifizierbar. Nicht verifizier-bar. Sondern problematisch. Keine Antwort. Keine Frage. Ein Problem. Box. Kieselsteine im Getriebe.

Eine Box ist – wie ein Stolperstein. Vielleicht ein bisschen größer, aber auch nicht immer. Jedenfalls ein Pflasterstein – im Getriebe. Sand nicht. Sand nein.Bitte, da geht’s um Relationen. Größenverhältnisse. Sand doch nicht! Wie kann denn – wir reden ja von einer Box, hier, von einem Stein!Wer sind wir denn hier? Und wer, wenn nicht wir?

So. Steht also ein Stein im Foyer herum. Gehört wie die Luft zur unbelebten Natur. Anders als der Mensch. Begeh-bar, zeitlich begrenzt, Stolperquelle für wenige Stunden. Ruht da so. Meistens zu, weniger offen. Begehbarer Stein. Wir sind die Box. Sie sind die Box. Die Box ist –nur eines nicht: Die Box ist keine Festung. Kein Bunker, kein luftundurchlässiges Etwas. Kein abgeschlossener Raum. Und erst recht keine Geschichte.

Aber wo ist sie, wenn’s über Leben geht.Wo sind wir, wenn’s ums Überleben geht? Da heißt es nämlich meistens rein in den Bunker, nicht rüber über die Box.

Weil es kein Heute gibt. Oder weil man Angst hat, dass es sonst kein Morgen gibt. Vor allem aber, weil man Angst vor dem Heute hat.

Heute gibt’s nicht. Gestern gab’s, ja. Da gucken wir dann drauf. Weil das schön ist. Schön wahr. Beruhigend nicht unbedingt, aber immerhin doch klar. Kann man so ein biss-chen zurück gucken. Hals verdreht, Flügel angespannt. Wir gucken also nach hinten, weil wir eine Ehrfurcht haben. Eine Ehrfurcht vor dem, was Geschichte ist. Weil. Weil das ja auch gut so ist. Gute Nachtgeschichte ist.Eben.

Lagerfeuer hin, warme Decke her, bisschen Kakao, biss-chen Mitleid. Bisschen Nostalgie. Geschichte? Kennich-doch! Wardasnicht? Ja,achgenau,daswar. Geschichte oh-ne ich. Da war ich ja noch nicht. Das war zwar, aber ich doch nicht. Geschichte eben. Genau, wusst’ ich doch, so war das. Mensch, dumm das. Damals.

– So, bitte Sand! Bitte jetzt!

Zurück zum Kieselstein. Raus aus dem Bunker, rein in die Box. Vergessen wir bitte nicht: Damals war damals heute. Und heute ist schon morgen damals. Was also ist diese »Geschichte«, die wir hegen, als gälte es stets zurück und nie nach vorne zu schauen/blicken?Vergessen wir nicht, nochmal für alle und offiziell: Geschte ist, was du draus machst! – Wussten schon die alten Rö-mer, weiß man aber spätestens seit der Kriegsberichter-stattung.

So. Schluss mit den ganzen Geschtchen. Schluss mit dem, was wir nicht wollen.

Raus aus dem (Märchen-)Bunker, rein ins Heute. Ich wieder rein. Rein in die Box!

Warum wir also hier sind, wer wir also hier sind.

Page 25: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 2 5laura linnenbaum

Page 26: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 2 6

Page 27: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 2 7

Box auf, Mensch rein. Werte schaffen.Mehrwert schaffen.Schaffen. Schaffen. Schaffen.Mensch ins Theater schaffen. Mit Mensch mehr Wert rein-schaffen. Mensch aus dem Haus rausschaffen. Auf die Straße schaffen. Auf der Straße Welt erschaffen. Dabei dringend auch die Stadt entschafen. Weg die Schwarzen, wie die Weißen.

Oder vielleicht doch gleich drinnen bleiben. In den heiligen vierten Wänden. Hier entschafen. Straße ins Theater! Platz schaffen! Und dann? Weiterspielen! Schweigen! Schweigen? Schweigen! Weiterspielen?Schweigen und spielen. Bloß nicht Geschichte erzählen. Bloß nicht nachahmen. Nicht denken, dass alles erzählbar wäre. Lieber stolpern.

Spielen und stolpern. Geste ja. Geschte nein.Für das Spiel. Für die Sabotage. Für die Öffnung ins Problem, für das Aufmachen und nicht Schließen.Wie kann man ein Problem aufmachen?Sich nicht vor Fragen, sondern vor Probleme stellen. Wo und wie kann man, wo man mit Sprache nicht weiterkommt, auf Bilder kommen? Unsichtbares sichtbar werden lassen? Oder ins lauthalse Schweigen verfallen?

Lasst uns wieder unsere eigenen Götter werden. Lasst uns auf die Straße und ins Theater gehen. Lasst uns das Thea-ter auf die Straße gehen lassen.Suchen nach dem Punkt, an dem es nicht weitergeht. An dem etwas explodiert, oder implodiert. An dem etwas in sich zusammenfällt.An dem nicht Verwertbares uns den Atem verschlägt.Ein Festival durch die Nacht.Wo sind Grenzen und warum?Wo sind wir? In den Lücken. Lückenfüller? Lückenmacher!

»watch me vanish«

Schick das weg, was dir alles zu erklären meint.Wir haben einen Ort. Einen Problemhort. Für Kreaturen und Kreationen.

Wir arbeiten für die Kunst. Und Sie? Überprüfen das bitte!

Kann die Bedrohung einer herrschenden Ordnung vom Spiel ausgehen? Wie kann man gemeinsam Grenzen über-schreiten? In der Phantasie, in geteilten Vorstellungen, die bedrohlich werden? In der Sinnlosigkeit? Sachen wgnhmn (E), um über die Lücken zu stolpern. Din-ge hinzufügen (»Der blinde Jüngling tappte nach dem Bordstein und ging weiter, den Stock zurückziehend, wie-der fühlend. Ob er das fühlte, wenn irgendwas nicht mehr da wäre plötzlich? Müßte ne Lücke spüren dann.« – James Joyce ULYSSES), um darüber zu stolpern. Keine Gründe hinterlassen als diese.Box Stolperstein sein. Box Stolpersein.

laura linnenbaum

Diesem System, das sich nur noch um sich selbst und seinen Machterhalt dreht, die Hoheit der Geschichte entreißen und selbst erzählen oder selbst schweigen.

Nicht das Schwert ist die Waffe,sondern der, der es führt.

Page 28: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 2 8

Wie bist du zum Theatermachen gekommen?

Es gab ehrlich gesagt nicht den einen romantisch-klingen-den Schlüsselmoment, der mich zum Theater gebracht hat. Ich würde sogar sagen, dass ich schon längst Theater ge-macht habe, ohne überhaupt zu wissen, was Theater ei-gentlich ist. Ich habe nie eine Theater-AG besucht oder wurde als Assistent durch ein Theater gescheucht. Damals habe ich mich immer mehr für die Musik interessiert. Ich habe durch das Musik-Machen überhaupt nur meine Schulzeit überlebt. Anschließend beschloss ich, diese Überlebensstrategie weiter zu führen und ging auf eine Mu-sikhochschule. Anstatt dort acht Stunden einsam in einem Proberaum zu hocken und dem sich fast beamtisch anfüh-lenden Perfektionismus zu frönen, verbrachte ich meine Zeit bei den Komponisten und besuchte möglichst viele Kurse beim experimentellen Musiktheater. Aus diesem Geist heraus entstanden erste eigene Stücke. Ich mietete ein Zirkuszelt, sammelte Musiker, Tänzer und Schauspieler zusammen und brachte etwas auf die Bühne, was man viel-leicht Theater nennen könnte. Es stellte sich für mich also nie die Frage, wie ich zum Theater komme, sondern ich wusste nur, dass ich damit nicht mehr aufhören will.

Wie sieht dein ideales Theater aus?

Das Theater ist nicht stark, wo etwas gelingt, sondern wo es etwas riskiert. Dieses Risiko hat etwas mit der Konfron-tation des uns Fremden zu tun – das verunsichernde Frem-de und der Ort der Ungewissheit als Motor allen Schaffens und auch allen Widerstands gegen die Macht der Rationa-lität. Die stärksten Momente im Theater sind für mich die-jenigen, die mich grenzenlos verunsichert haben. Die Ver-unsicherung erhebt unser Leben aus der Alltäglichkeit in den Bereich der möglichen Vorstellungen und öffnet neue Perspektiven, die, wenn man nur lange genug daran glaubt, wahr werden. Theater kann mehr als nur ein Spiegel der Realität sein. Theater kann Entwürfe machen und diese mit aller Sinnlichkeit verteidigen. Vielleicht ist das ideale Thea-ter für mich ein Theater der Verunsicherung, das genau da-durch neue Räume öffnet. Ein Theater, das sich nicht mit der allgemeinen Lethargie und Handlungsunfähigkeit zu-frieden geben will und den Gegenort zur Realität aufsucht. Kunst ist der terroristische Prellbock, der uns den Horizont der Geschichte öffnet und Zukunft ermöglicht. »Kunst ist die letzte Heimat, erste aller Utopien«.

Wie würdest du deine eigene Arbeit beschreiben?

Ich würde meine eigene Arbeit nicht beschreiben. Den besten Ausdruck finde ich im künstlerischen Prozess und nicht in der Analyse dessen. Gucken Sie sich also die Stü-cke an. Ich stehe anschließend für jeglichen Angriff, jegli-che Durchlöcherung bereit…

5 Fragen an Hans Block

Hast du Vorbilder?

In Theaterkreisen ist es verpönt, über Vorbilder zu reden. Viel zu schnell wird man des Plagiats bezichtigt oder als ästhetischer Jünger abgestempelt, der sich nicht emanzi-pieren kann und einer Idee hinterher jagt, die nicht die sei-ne ist. Mir selber ist der Gedanke des Vatermords näher, als der der unendlichen Verehrung. Doch im Grunde wäre die Negation von Vorbildern totaler Quatsch. Ich würde nicht von Vorbildern sprechen, sondern eher von Men-schen, die mich inspiriert haben auf meinem Weg. Einer der einschneidendsten Momente während meiner Ausbil-dung war beispielsweise der, der mich erfahren ließ, dass ein abgründiges Schweigen auf einer verrauchten Probe-bühne tausend Mal mehr bewirken kann, als die noch so ausgeklügelte Stanislawski-Methode. Weil dieses Schwei-gen etwas anderes wollte, als gut funktionierende Lösun-gen zu finden. Dieser bulgarische Berserker von dem ich spreche, war ein Theater-Besessener, der aus einer abso-luten Notwendigkeit heraus gesprochen hat. In einer Ge-sellschaft, die sich zunehmend auf Ähnlichkeiten verstän-digt und damit den falschen Konsens pflegt, erinnert uns sein Theater an die Notwendigkeit, das Andere und nicht das Gleiche zu suchen. Auf dieser Suche verlangte er sei-nen Schauspielern und dem Theater alles ab. Gotscheff nahm die postmodernen Vielleicht-Sager in die Verantwor-tung und hatte bis zu seinem Lebensende den Mut, seinen eigenen Überzeugungen treu zu bleiben und diese stand-haft gegenüber den Anforderungen des Marktes zu vertei-digen. Ich glaube, dass solche Menschen dem Theater nicht abhanden kommen dürfen.

Was hast du dir für deine Zeit in Frankfurtvorgenommen?

Für mich ist es das erste Mal, dass ich für einen längeren Zeitraum an der Institution Stadttheater arbeite, der ich im Grunde skeptisch gegenüber stehe. Dieses Theater befin-det sich dann noch in einer Stadt, die voller Widersprüche ist und doch so unerträglich widerspruchslos daherkommt. Ich wünsche mir für die kommende Spielzeit die Kraft, mich diesen Widersprüchen auszusetzen und nicht dem tägli-chen Trott des Produzierens zu unterliegen. Immer in der Hoffnung, dass die Qualität meiner Arbeiten auch in der Qualität der Infragestellung besteht. Kunst, die Grenzen überschreitet hin zu einer neuen Ästhetik oder die sich Stoffen widmet, fern ab des alt bekannten Kanons, ist ein Terrorangriff auf gesetzte Strukturen. Sie zerstört Hierar-chien. Sie tut das nicht nur in Zeiten des Totalitarismus, auch in Zeiten des Liberalismus, dem neben Marktfreiheit ebenso die Sinnfreiheit zu eigen ist. Die Frage nach der Relevanz von Theater muss aufs immer Neue gestellt wer-den. Auf die Form der Fragestellung kommt es an…

hans block

Page 29: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

s e i t e 0 2 9 spielzeit 2014/15

Page 30: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 3 0

Page 31: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 3 1

geboren 1985 in Berlin, studierte Schlagzeug an der Uni-versität der Künste und seit 2010 Regie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin. Hans Block ist langjähriges Mitglied der Plattform »Interflugs«, die als au-tonome Selbstausbildungsinitiative die Ausbildungsma-schinerie kritisch reflektiert und konterkariert (www.inter-flugs.de). Ebenso ist Hans Block Teil der »Unkoordinierten Bewegung«, einer Verbindung von KünstlerInnen verschie-dener Bereiche und Disziplinen, die gemeinsam nach einer Synthese von politischem Aktivismus und Kunst suchen

(www.unkoordiniertebewegung.org). Vor und während des Regiestudiums entwickelte er eigene künstlerische Pro-duktionen wie »Lisa Hrdina ist: Nicht Lisa Hrdina« (2012) und »Traurigkeit und Melancholie« (2013, beide am Maxim Gorki Theater Berlin), »Abschied von Gestern« (2011), »Oblomow – Eine überflüssige Geschichte« und »Don Don Don Quijote« (2013, am bat-Studiotheater in Berlin). Im Ap-ril 2014 wurde Hans Block mit der Gruppe »Unkoordinierte Bewegung« mit »Austrian Psycho« zum Festival »Radikal jung« nach München eingeladen.

Hans Block

hans block

Page 32: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 3 2

1. Willkommen in Frankfurt

Das REGIEstudio bietet drei jungen RegisseurInnen die seltene Möglichkeit, ihr künstlerisches Schaffen über eine isolierte und oft vorgeschriebene Einzelinszenierung hin-aus zu entwickeln. Diese auf eine Spielzeit begrenzte Ver-bindlichkeit ist ein erster Schritt hin zur Schaffung einer Nachwuchsförderung, die es ermöglicht, eine substanzielle künstlerische Sprache zu formen. Die Verbindlichkeit er-möglicht wieder ein in der Kunst wegrationalisiertes Risiko. Durch die von äußeren Umständen geschaffene Sicherheit entsteht ein Raum, in dem man sich selbst wagt, zu verun-sichern, in dem man beginnt, neue Perspektiven zu denken und in dem man den Mut hat, Wege einzuschlagen, die man sich zuvor nicht traute zu gehen.

Und doch, wenn ich ganz ehrlich bin, durchfährt mich eine ebenso große Skepsis in diesem Theater zu arbeiten, das seine gläserne Brust raussteckt im Zentrum der Stadt Frankfurt gegenüber der Schaltzentrale Europas mit seiner fast zynisch wirkenden Euroskulptur – selbstbewusst und widerspruchslos. Wie kann man hier in Frankfurt die Kunst als ein kritisches Werkzeug begreifen, das dem gesell-schaftlichen Konsens Brüche verleiht? Es ist an der Zeit, wieder einzufordern, dass die künstlerische Produktion von einem rein handwerklichen Tun hin zu einem theoretischen, philosophischen und vor allem sehnsüchtigen Suchen nach unvereinnahmbaren (Produktions-)Formen einer Äs-thetik des Lebens und des Widerstands zu führen.

Das soll Ausgangspunkt für mein künstlerisches Schaffen hier in Frankfurt sein: »K u n s t u n d W i d e r s t ä n d ig- k e i t« – ja, das ist leicht gesagt. Doch genau um die Frage der Vereinbarung dieser beiden Begriffe muss es in der kommenden Spielzeit gehen. In einer Ökonomie, in der jeg-liche Form des Widerstands selbst zu einer Ressource ka-pitalistischer Verwertung und Profitabilität gemacht wird, scheint es kaum denkbar zu sein, dem eigenen künstle-risch-politischen Anspruch gerecht zu werden, den man sich in nächtlichen Diskussionen auf Probebühnen im ge-schützten Ausbildungshort erarbeitet hat.

Wie ist es möglich, in einem Theater, das alle Regeln der markwirtschaftlichen Unternehmensführung verinnerlicht hat, einen gesellschaftlichen Gegenentwurf auf die Bühne zu heben, der Horizonte über die neoliberalen Profitma-schine hinaus öffnet? Wie ist es möglich einen kritischen Realismus zu pflegen, wenn ein Großteil der Gelder für die Kunst, die man zu machen versucht, aus Drittmitteln zwie-lichtiger Großunternehmen besteht? Wie ist es möglich, in einem Theater, das im Sinne des New Public Management seine Mannschaft derartig in Schuss hält, durch die Dyna-misierung jeglicher Arbeitsabläufe bei gleichzeitiger Kon-trolle durch die performenden Angestellten selbst, andere Zeitrhythmen zu etablieren, die Formen des Anders-Den-kens erst möglich machen?

Folgt man der öffentlichen Meinung, so heißt es, dass das Schauspiel Frankfurt in den letzten fünf Jahren seine größ-ten Erfolge gefeiert hat. So heißt es auch auf der Presse-konferenz, auf der das Schauspiel die neue Spielzeit vor einer Hand von ausgewählten Leuten vorstellt.

Es ist hier mein erster Arbeitstag, meine erste Begegnung mit dem neuen Theater. Die ersten 30 Minuten der Presse-konferenz werden genutzt, um ausführlich über die finanzi-elle Bilanz des Hauses zu sprechen. Auch wenn dieser Vor-gang am Theater mittlerweile normal zu sein scheint, um die städtische Politik nicht nur künstlerisch, sondern auch wirt-schaftlich zu überzeugen, schmeckt dieser Moment als ers-ter Eindruck fahl. Der Hausherr des Schauspiels kommt nach ausführlichem Auslastungs-Quoten-Gewinn-Sprech auf das bis dato unerwähnte »Spielzeitmotto« zu sprechen: ÜberLeben! Eine durch diese Rahmung künstlich klingende Worthülse, die in diesem Moment an Bedeutung verliert. Überleben wird hier zur Kunst. Wenn Überleben darin be-steht, Wirklichkeit als eine Inszenierung zu genießen und sich als bequem zurückgelehnter Zuschauer mitziehen zu lassen, statt sich mit einer ebenso existenten realen Bruta-lität zu konfrontieren. Wie also in diesem Haus aktiv wer-den? Wie sich positionieren bei all der frankfurterischen Überlebenskunst?

AgitationIdioten aller Länder vereinigt Euch!

Hans Block

Page 33: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 3 3

2. Ab morgen werde ich Idiot

Das kann doch alles nicht so weitergehen! Wer aus dem Nützlichkeitsdenken und der einhergehenden Verwer-tungslogik herausfallen will, kann nicht einfach auf dem zu-gegebenermaßen fruchtbaren Boden des Kapitalismus seinen Unmut in Form von kritischen Impulsen äußern, die dann sofort als falsch verstandene Reförmchen das Sys-tem stabilisieren, sondern muss heutzutage anfangen ei-nen Genuss daran zu entwickeln, einen für die Gesellschaft unbrauchbaren Wert darzustellen. Eignet man sich ein idi-otisches Handeln an, so ist man »überflüssig« und damit ausgeschlossen von gesellschaftlichen Funktionssyste-men. Idiot-Sein bedeutet dann Widerstand leisten – keinen aktiven Widerstand in Form eines Widerstandskämpfers, der für etwas kämpft, sondern Widerstand in Form von Ent-zug. Der Idiot ist widerständig durch seinen Entzug. Er stört die gegebene Ordnung. Er durchkreuzt das Gegebe-ne, Nicht-Hinterfragte, er begibt sich in einen Zustand der völligen Unberechenbarkeit.

Idiot-Sein bedeutet unberechenbar sein! Betrachtet man den Ursprung des Wortes Idiot, wird man schnell auf das griechische Wort »Iodiotes« kommen, was wertfrei bis heu-te »Privatperson« bedeutet. Es bezeichnete in der Polis Personen, die sich aus öffentlichen-politischen Angele-genheiten heraushielten und keine Ämter und öffentliche Aufgaben wahrnahmen. Der Gegentyp zum politisch in der Öffentlichkeit agierenden Staatsmann. Das Private und Alltägliche als die düstere Rückseite der politischen Sphä-re anzunehmen, den Rückzug ins Häusliche als unpolitisch und irrelevant für den Fortgang der Geschichte zu bezeich-nen, funktioniert ganz offenbar nur, solange diese Option nicht von den Massen gewählt wird. »Man erkennt allmäh-lich, dass das Alltägliche, die Menschen in all ihrer Banali-tät, nicht zwangsläufig die bedeutungslose Rückseite der Geschichte sind – besser noch: dass der Rückzug ins Pri-vatleben durchaus eine direkte Herausforderung des Poli-tischen, eine Form des aktiven Widerstands gegen die politische Manipulation sein könnte. Die Rollen kehren sich um: Das banale Leben, alles, was man als kleinbürgerlich, abstoßend und einschließlich der Sexualität unpolitisch stigmatisiert hatte, gibt nun den Ton an, während sich die Geschichte und das Politische in ihrer abstrakten Ereignis-haftigkeit anderswo abspielen.« Scheitert die Politik an der angeblichen Destrukturiertheit derer, für die sie vermeint-lich gemacht wird, so stellt sich die Frage nach der Legiti-mation der Politik neu:

Wer macht hier was für wen? Spielt sich die Politik im An-derswo ab und betrifft nicht mehr das Soziale, so ver-schwindet sie offensichtlich, sie hat ihren Gegenstand ab-geschafft. So bildet die Masse bloß noch die Hohlform zur rationalen Sphäre der Ökonomie: Statt sich nach ange-nommenen rationalen Interessen zu verhalten, konsumiert sie, was und wozu auch immer und treibt so das System allmählich in die Hyperlogik. Abfall und Recycling, das ist das »Soziale« in einer Produktion, die sich längst den »so-zialen« Zweckbestimmungen entzogen hat – die Semantik des »Sozialfalls« illustriert dies auf einschlägige Weise – und sich der verwaltenden Fürsorge derer annimmt, deren Anzahl immer weiter steigt, je mehr das Pathologische dem Sozialen gleichgesetzt wird. Alle sind vollkommen ausge-

schlossen und versorgt, vollkommen desintegriert und so-zialisiert. Das Soziale wird selbst zum Rest, an ihm kann sich keine Politik mehr konstituieren; das Soziale ist bloß noch ein Dienst, ein Bedarf, ein Recht, das durch staatliche Institutionen verwaltet wird. Diese Verwaltung, die Be-handlung des Sozialen als Rest ist ein Mechanismus der Exklusion und das Abtöten der Politik durch das Prinzip der Polizei. Das, was als Soziales daherkommt, ist im eigentli-chen Sinne der Gegenstand der Politik, der ständig ver-handelbar sein muss und nicht als Rest abgeschafft wird zugunsten der Wahrung der bestehenden Ordnung. Das ausgerufene Ende des Sozialen ist nichts anderes als das Ende des politischen Streits über die Aufteilung der Wel-ten, darüber, was sichtbar ist und was nicht, was vernehm-bar ist und was nicht. Keine Debatte über die Ordnung. Stillstand. Abfälle entsorgen. Alles in Ordnung. Es gibt hier nichts zu sehen. Das Wesentliche der Politik aber ist es, diese Anordnung zu stören, indem es sie durch einen Anteil der Anteillosen supplementiert. Das, was nicht zu sehen ist, sichtbar zu machen, was ein Geräusch war, vernehmbar zu machen. Dies wollen wir in der Form der Kunst in neue Gestalten übersetzen und somit einen Widerstand in der polizeilichen Ordnung schaffen, neue Aufteilungen des Sinnlichen generieren, die der bestehenden Ordnung wi-derstehen und so deren Widersprüche offenlegen. Ein Theater in diesem Sinne muss als ein gesellschaftliches Bollwerk verstanden werden, anstatt als eine kulturelle Wohlfühl- und Konsens-Anstalt. Wenn es normal gewor-den ist, sein Handeln immer nur nach dem eigenen Nutzen auszurichten, dann ist es folglich idiotisch, selbstlos zu sein und uneigennützig zu handeln. Wer gut ist, passt nicht in unser System, und wer nicht in unser System passt, ist ein Idiot. Teil der idiotischen Asozialität zu werden, ist keine Selbstbeschädigung, sondern die Möglichkeit, eine kollek-tiv geteilte Weite außerhalb der Erfassung zu betreten – ein Fallen aus den Rastern. Idiotisch-Sein bedeutet, ein Rau-schen zu produzieren und eine Störung zu verursachen, die nicht als Information – und erst recht nicht als Widerstand – von den Apparaten ausgewertet werden kann. Nutzlos-Werden!

Etwas, das »nutzlos« ist: Die Kunst. In der Sprache der Ökonomie bedeutet dies, dass die Kunst und somit eben auch das Theater überflüssig sind und sich nicht rentieren. Daraus ist kein Gewinn zu ziehen, sie sind vielmehr Fässer ohne Boden, in denen massenhaft Subventionen ver-schwinden, die doch an anderer Stelle so viel nützlicher und sinnvoller eingesetzt werden könnten. Wer glaubt, die Kunst entziehe sich letztendlich der Logik der Verwertbar-keit, hat die Mechanismen der Integration künstlerischer Kritik in das wirtschaftliche Funktionssystem übersehen. Die Kritikpunkte der »Künstlerkritik«, die Künstler und Intel-lektuelle gleichermaßen im Rahmen der 68er Bewegung äußerten, waren klassischerweise die Unterdrückung durch das kapitalistische System in Form der Herrschaft des Marktes und der Disziplin, die Arbeitsbedingungen in der Fabrik und die Transformation jeglicher Gegenstände in Waren. Dementsprechend bestanden die Forderungen in dem Anspruch auf Autonomie, auf Emanzipation und au-thentische Beziehungen sowie Kreativität. Dieser Forde-rung wurde zu einem Großteil stattgegeben und ihre Integ-ration führte zu einer Wandlung des Geistes des Kapitalismus. Diese Entwicklung nimmt der Kritik der

hans block

Page 34: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 3 4

Page 35: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 3 5

Künstler, laut Ève Chiapello, den Stachel. Ihre These veran-schaulicht, wie das System der Wirtschaft tatsächlich Punkte der Kritik verwirklicht. Das sollte aber eben nicht dazu führen, nicht weiter im Bereich der Kunst an dieser und somit an der Gesellschaft als Ganzem zu arbeiten. Es bleibt zu überprüfen und aufzuzeigen, sichtbar zu machen, zu welchem Zweck hier künstlerischen Kritikpunkten statt-gegeben wird, und dass diese zusammen mit künstleri-schen Mitteln zugunsten einer Verwertbarkeit vereinnahmt wurden und somit die Künstlerkritik keineswegs überflüs-sig, sondern umso angezeigter machen. In dem Prinzip, verwertbar, für anderes nutzbar zu sein, versteckt sich das Prinzip des Tausches und somit der Herrschaft. »Fürs Herrschaftlose steht ein nur, was jenem sich nicht fügt«. Also wieder der Idiot! Ganz offensichtlich befinden sich künstlerische Arbeiten doch in diesem Paradox, das es für uns zu verteidigen gilt: Gleichzeitig zu nichts und eben in diesem Sinne zu etwas Nutze zu sein.

3. Spielzeit, Spielzeit, Spielzeit

Ich liebe das Theater, bitte, verstehen Sie mich nicht falsch! Aber dennoch, die Theaterarbeit ist immer eine Tätigkeit gegen alle Prinzipien der Realität. Lassen Sie uns anfan-gen, wieder mehr zu behaupten, mehr Modelle zu erden-ken, mehr Gegenöffentlichkeiten herzustellen. Gesucht werden Stoffe, die über den Befund des sogenannten Pri-vatlebens hinausgehen, die von den Bedingungen eines sozialen Lebens handeln, von Strukturen der Macht, dem Anspruch auf Gerechtigkeit, von der Verteilung von Armut und Reichtum erzählen – das Theater als ein soziales La-boratorium. Weg von den ästhetischen Spielereien, weg vom ironischen Zitieren von Formen, weg vom sarkasti-schen Betrachten der eigenen Biografie, weg von der Angst, dass Fremdscham entstehen könnte, weg von der permanenten Rekonstruktion der so üblich gewordenen Dekonstruktion. Die Vielfalt rückt anstelle einer gemeinsa-men Ethik. Der neoliberale Relativismus schleicht sich bis in die letzten Poren der Kultur. Doch wie kann ein nicht-to-talitäres Kalkül gedacht werden, dass das plurale Sein auf neue Horizonte hin öffnet und zu einer vielleicht mittlerwei-le notwendigen Haltung überführt? Mit »Mein Himmel der Abgrund von morgen« beschrieb Heiner Müller treffend die Einbahnstraße des kapitalistischen Realismus, in dem wir uns scheinbar ausweglos befinden. Ein Himmel, der nicht unwesentlich mit der Frankfurter Skyline bestückt ist. Ge-gen diesen bevorstehenden Abgrund müssen wir jungen Regisseure mit unserem Theater anspielen. Dazu bedarf es einer präzisen Haltung zur Gegenwart. Ich bin auf der Su-che nach einem Theater, mit dessen Mitteln die rundum gesicherten Machtnarrative von Arbeit, Leistung, Nation und Wachstum verunsichert werden können. Hier gibt es wieder etwas zu entwerfen, mit aller Leidenschaft maßloser Parteilichkeit! Selbstbestätigungsanstalt Adé! Hier geht es nicht um christliche Nächstenliebe oder ein verkapptes Gutmenschentum, das uns die Sicherheit gibt, am nächs-ten Morgen mit gutem Gewissen aufzuwachen. Ich insze-niere ohne jede Schamkontrolle. Ich lasse den Idioten in mir frei, der mir wieder Räume eröffnet, die schon lange in Ver-gessenheit geraten sind. Wir leben noch unter der Herr-schaft der Logik, unter dem Diktat der Rationalität. Aber ich lasse mich nicht wegrationalisieren und öffne mit meinem Theater Räume, die üblicherweise entsorgt und für un-

hans block

Page 36: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 3 6

brauchbar erklärt werden. Ja, ich erkläre mich selber zum unbrauchbaren Idioten, denn das Überflüssige ist für mich ein Hoffnungsträger, ist genau das, was in der Verwer-tungslogik nicht vorkommt. Dieses notwendige Unbrauch-bare ist dafür da, neue Perspektiven zu wagen, Alternativen zum Menschen als Marktprodukt zu spinnen, auch Alterna-tiven zum jeweiligen Realitätsprinzip zu suchen. In der kon-sequent praktizierten und absolut gesetzten Freien Markt-wirtschaft ist alles überflüssig, wonach nicht nachgefragt wird, das, was auf dem Markt nicht mit Profit verkäuflich ist, womit man keinen Profit erzielen kann, was sich nicht rech-net. Ja, lasst uns wieder versuchen, unverkäuflich zu wer-den, denn das Überflüssige oder das Idiotische ist das Un-verkäufliche. Unverkäuflich ist, was keinen Profit macht. Ohne Profit kann das Kapital nicht neu investieren. Ohne neue Investition gibt es kein Wachstum. Dann eben kein Wachstum. Die angebliche Gesetzmäßigkeit des notwendi-gen Wachstums wird als gegeben, nicht als Annahme oder Behauptung unterstellt. Sie wird zu einem Mythos, zu einer neuen Glaubensregel stilisiert. Ich glaube nicht daran. Ich schaffe mir einen eigenen Glauben und werde zu unserem persönlichen Idioten. Mit dieser Verwandlung setze ich ei-nen irrationalen Orkan frei, der nur sehr mühsam von der Vernunft, von der Aufklärung, von der Zivilisation unter Kon-trolle gehalten werden kann. Dieser Orkan beschreibt das Ringen nach Haltung und das Sich-Immer-Wieder-Er-schüttern bei schon längst für sicher gehaltenen Annah-men. Das Herausfordern oder gar Überfordern als künstle-risches Handlungsprinzip. Man könnte dieses Spiel mit dem Kollaps als Hoffnung lesen, um aus der übermächtig er-scheinenden neoliberalen Einbahnstraße herauszukommen. Ein Votum für den Terrorismus des Systems und eine apo-kalyptische Lesart unserer Zeit: Wenn man alles gefressen hat, bleibt einem am Ende nur noch, sich selbst zu fressen. Ein idiotischer, wenn doch hoffnungsvoller Akt!

Es geht hier auch immer darum, sich ebenso wie den Be-trachter dazu zu animieren, eine eigene Haltung zu entwi-ckeln, eine Standortbestimmung in den komplexen politi-schen Gegenwartsdiskursen vorzunehmen und sich verantwortlich zu fühlen. Vielleicht mit drastischen Bildern, mit viel zu langen Abenden, mit risikoreichen Formaten, mit abwegigen Texten, mit vorher noch nicht eingenommenen Perspektiven. Aber nicht um Sie auszuladen, nicht auf-grund eines spontanen Kitzels einer Provokation oder nicht des Selbstzwecks wegen, sondern um die Akteure, die zu Teilnehmern gewordenen Betrachter und nicht zuletzt sich selbst in Alarmbereitschaft zu versetzen. Ich suche nach einem Theater, das die Bilder so zeigt, dass der Betrachter sich für das Gezeigte haftbar fühlt, da er sich all der Porno-grafie der Gewalt und der sozialen Ungerechtigkeiten hin-geben muss. Bilder, die unterdrückt werden, aber existie-ren. Ich scheue mich nicht davor, wieder ethische Fragen im Theater zu stellen. Deswegen sage ich: Ich komme so-weit ich eben komme und entziehe mich dem vorausge-setzten Effizienzdruck. Ich bin nicht brauchbar und brauche deswegen das unbrauchbare Theater, geleitet von einem Haufen unbrauchbarer Idioten! Verstehen Sie mich nicht falsch, ich nehme das, was ich mache, sehr ernst. Ich glau-be, dass in der Utopie der unbrauchbaren Idioten die größ-te Gefährdung der kapitalistischen Maschinerie liegt. Mit der Suche nach dem Idioten beende ich die Hoffnungs- und Ziellosigkeit, die im ewig weiterlaufenden Kommunika-

tionsparadigma des kybernetischen Kapitalismus gefan-gen zu sein scheint. Wir, die jungen »politischen« Künstler sind eben nicht dazu da, den blinden Fleck des Theaters auszufüllen. Wenn wir mit unserem kritischen Bewusstsein anfangen, die Wüste der Kritik fruchtbar zu machen, entsteht ein Feedback, ein offenes System, das keine eigene Bestimmung hat, außer sich zu erhalten. Selbst dann, wenn es sich um eine Stö-rung handelt. All das stimuliert das System. Es stabilisiert es. Wir wollen keine leicht verdaulichen Regietalente sein, die Theater(System) mit Reformen füttert. Wir wollen eher den Idioten in uns suchen. Ja, vielleicht ist das Idiot-Sein ein Ausweg. Idiot im alten Sinne des Privatmenschen, der keine prozessierbare Kommunikation absetzt und somit un-sichtbar wird, sich der Abtastmaschine entzieht. Nur Stö-rungen, die keine sichtbare Intention haben, werden wirk-sam, weil die Sensoren der Abtastmaschine dabei ins Leere laufen. Diese Irritation ist dann meist Ausgangspunkt einer grundlegenden Diskussion über die Normative unse-rer Gesellschaft. Und genau diese Diskussion will ich ent-fachen und rufe aus: IDIOTEN ALLER LÄNDER VEREI-NIGT EUCH! Und vielleicht ist mein idiotisches Verhalten ansteckend. Die Menschen, die mit der Idee »Idiot-Sein« in Berührung kommen, durchlöchern die Rationalität der eu-ropäischen Vernunft. Freiheit führt bei ihnen nicht zum sitt-lichen Handeln, sondern dazu, gegen den eigenen Vorteil anzugehen, den Schmerz zu suchen, sein Geld zu verbren-nen, Nihilist, Mörder, Selbstmörder oder Idiot zu werden. Und genau damit: »Die ganze Kraft des Menschen liegt darin, zu beweisen, dass er keine Schraube sondern ein Mensch ist.« Bleibt nur zu hoffen, dass in den nächsten Monaten Heerscharen von Idioten durch Frankfurt laufen.

hans block

Wir laden Sie herzlich ein, sich infi-zieren zu lassen. Oder Sie sagen sich an dieser Stelle, dass Sie auf diesen ganzen Quark keinen Bock haben und bleiben deswegen ein-fach zuhause und trinken einen guten Wein (es sei Ihnen gegönnt). Vielleicht sind Sie auch ganz ande-rer Meinung als wir und planen deswegen schon jetzt das REGIE-studio in den kommenden Monaten zu stürzen, um es anschließend zu übernehmen. In allen Fällen freuen wir uns. Fühlen Sie sich also herz-lich Willkommen. Bäm!

Page 37: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

spielzeit 2014/15s e i t e 3 7

Page 38: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 0 3 8

Herausgeber: Schauspiel FrankfurtIntendant: Oliver ReeseRedaktion: Dr. Michael Billenkamp, Clara Topic-Matutin, Henrieke Beuthner, Rebecca LangGestaltung: Mirjam Kremer Fotos: Birgit HupfeldDruck: Druckerei Hassmüller Graphische Betriebe

Schauspiel Frankfurt ist eine Sparte der Städtische Bühnen Frankfurt am Main GmbHGeschäftsführer: Bernd Fülle, Bernd Loebe, Oliver ReeseAufsichtsratvorsitzender: Prof. Dr. Felix SemmelrothHRB-Nr. 52240 beim Amtsgericht Frankfurt am MainSteuernummer: 047 250 38165

KontaktSchauspiel FrankfurtNeue Mainzer Straße 1760311 Frankfurt am MainE-Mail [email protected]

Zentrale Schauspiel Frankfurt069.212.37.10.1www.schauspielfrankfurt.de

www.schauspielfrankfurt.de/regiestudio

Page 39: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

s e i t e 0 3 9 spielzeit 2014/15

Page 40: REGIEstudio 2014/15 - Das Magazin

REGIEstudio s e i t e 0 4 0

Clara Topic-Matutin, Leitung REGIEstudioDr. Michael Billenkamp, Dramaturgische Beratung REGIEstudio

Viel Spaß!


Recommended