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Psychosomatische Medizin integriert biologische ... · 20% haben eine oder mehrere Angststörungen...

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15.06.2015 1 Atemnot und Angst und ihre psychosomatischen Zusammenhänge Prof. Dr. med. Roland von Känel, Chefarzt Psychosomatische Medizin, Klinik Barmelweid Palliative Care Fachtagung 11. Juni 2015 Atemlos Atemnot Angst Tagungscenter FCG Aarau Psychosomatische Medizin integriert biologische, psychologische, verhaltensrelevante und soziale Faktoren American Psychosomatic Society
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15.06.2015

1

Atemnot und Angst und ihre

psychosomatischen Zusammenhänge 11. Juni 2015

Prof. Dr. med. Roland von Känel, Chefarzt Psychosomatische Medizin, Klinik Barmelweid

Palliative Care Fachtagung – 11. Juni 2015

Atemlos – Atemnot – Angst Tagungscenter FCG Aarau

Psychosomatische Medizin

integriert biologische, psychologische,

verhaltensrelevante und soziale Faktoren

American Psychosomatic Society

15.06.2015

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Psychosomatik: Atem als Metapher

Das nimmt mir die Luft weg.

Da stockt einem der Atem.

Vor Schreck den Atem anhalten.

Sich wieder Luft verschaffen.

Jemandem etwas husten.

Die Luft ist geladen.

Etwas schnürt die Kehle zu.

Vor Wut schnauben, Dampf ablassen, dem Ärger Luft geben.

Den längeren Atem haben.

An den Sorgen ersticken.

Bis zum letzten Atemzug kämpfen.

Kurzatmig – langatmig – atemlos sein….etc.

Franz Alexander: Asthmaanfall = "Schrei nach der Mutter!"

Häufigkeit von spezifischen Angststörungen

in der Hausarztmedizin

Randomisierte Rekrutierung von 965 konsekutiven

PatientInnen in Praxen der Grundversorgung in 15 US-

Bundesstaaten („US Primary Care Clinics“)

Strukturiertes psychiatrisches Interview für verschiedene

Angststörungen gemäss DSM-IV

20% haben eine oder mehrere Angststörungen

- 9% Posttraumatische Belastungsstörung

- 8% Generalisierte Angststörung

- 6% Soziale Phobie

- 7% Panikstörung

Kroenke et al, Ann Int Med 2007

Anzahl Arztbesuche mit vs. ohne Angststörung (letzte 3 Mte): 2.5 vs. 1.5

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Angstsymptomatik in der Palliativsituation

• 75% der Patienten in einer palliativen Situation erleben Angst.

• Angstgefühle / -symptome in der Palliativsituation unterscheiden

sich nicht von Angstgefühlen /-symptomen anderer Patienten.

• Angst und Furcht sind gesunde, lebensnotwendige Emotionen:

Bedrohung überprüfen, Verhalten anpassen, bewältigen.

• Panik ist eine pathologische Reaktion als Ausdruck intensiver Angst.

• Häufig liegen mehrere Ursachen für die Angst vor:

- Physiologische Stressreaktion?

- Begleitsymptom einer somatischen / psychischen Erkrankung?

- spezifische Angststörung?

- pharmakologisch / toxisch bedingt?

- Folge zwischenmenschlicher Interaktion (PC-Team, Angehörige)?

• Schmerz, Trennung, existentielle Bedrohung können Angst triggern.

• Angsterleben ist ein dynamischer Prozess: Krankheitsstadium,

Situation, Beziehungen zum PC-Team / den Angehörigen.

Psychosomatische (bio-psycho-soziale)

Betrachtungsweise:

65-jährige Patientin mit "Herzangst"

Herzinfarkt vor 3 J

Intermitt. Vorhofflimmern seit 2 J

"Unklare" Thoraxschmerzen

Angstattacken („Herzangst“)

Depressivität

Soziale Isolation

Familiäre Konflikte

BIO

PSYCHO

SOZIAL

15.06.2015

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Differenzialdiagnose: Thoraxschmerz

• Vom Herz:

KHK, Perikard, Rhythmusstörung, Aneurysma

• Nicht vom Herz:

Lunge, Pleura, Tumor, Ösophagus, Magen, muskulär,

Brustwirbelsäule

• Funktionell:

Kurze Stiche über der Herzgegend, nicht

anstrengungsabhängig.

(„atypische Thoraxschmerzen“ = man findet

organisch nichts)

DD: funktioneller Thoraxschmerz

Panikattacke (F41.0)

Hyperventilation (R06.4)

autonome somatoforme Funktionsstörung

des Herzkreislaufsystems (F45.3)

früher "Herzneurose" oder Da Costa

Syndrom (Müdigkeit, Dyspnoe, Palpitationen,

Schwitzen, Brustschmerz)

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Definition der Panikattacke / -störung

Wiederkehrende, heftige Angst-

attacken, wie „aus heiterem Himmel“

innerhalb von einem Monat

Gefühl, sterben zu müssen

(Todesangst), die Kontrolle zu

verlieren oder verrückt zu werden.

Angst vor erneuter Attacke

(Angst vor der Angst)

Vielzahl körperlicher Beschwerden

und physiologischer Veränderungen

erschwert Diagnostik

(Vereinfachte) Neurobiologie der Angst

Aus: www.kriechbaum.eu

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Angst und körperliche Reaktionen (Psychophysiologie)

Organsystem Symptome („symptoms“) Befunde („signs“)

Kardiovaskulär Schmerzen/Druck auf

Thorax, Herzrasen/stolpern

Hoher Blutdruck bis

Hypertonie,

beschleunigter Puls

Respiratorisch Atemnot, Erstickungsgefühl Tachypnoe,

Hyperventilation

Gastrointestinal Aufstossen, Kloss im Hals,

Magenschmerzen, Übelkeit

Durchfall, Erbrechen

Muskulär Schwäche, Schmerzen Zittern, Hartspann

Dermatologisch Kälte, Wärme, Juckreiz Blässe, Rötung,

Schwitzen, kühle Akren

ZNS Kopfschmerzen, Schwindel,

ohnmächtig werden

Verminderte Merkfähigkeit

und Konzentration,

(Prä)synkope

Hyperventilation

Störung der Atemregulation mit über den Bedarf

gesteigerter Lungenbelüftung aus psychischen

oder körperlichen (!) Gründen

Abnahme des Kohlenstoffdioxid-Partialdruckes (CO2)

und pH-Anstieg im Blut (respiratorische Alkalose)

Akutes Hyperventilationsyndrom: anfallsweise

auftretende beschleunigte + vertiefte Atmung mit den

typischen tetanischen Symptomen

Chronisches Hyperventilationsyndrom:

oft mit nicht eindeutigen Symptomen

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EKG Veränderungen bei Hyperventilation

• Abflachung der T-Welle

bei Gesunden

• T-Negativierungen

• Koronarer Vasospasmus

mit Elevation der ST-

Strecke

• Pathophysiologie:

- Koronarer Blutfluss –30%

- Myokardiale O2-Zufuhr

- Blutgase: PCO2, PO2,

pH (resp. Alkalose)

Neill & Hattenhauer, Circulation 1975

Koronarer Vasospasmus bei einer 59-jährigen Frau mit

Hyperventilation – DD: anterior-inferiorer Myokardinfarkt

Hebung der ST-Strecke in V2-V4

Senkung der ST-Strecke in II, III, aVF

Fangio et al, Can J Anaesth 2004

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Viele Ursachen von Thoraxschmerzen bei Panik

Koronarspasmen: affektbedingte Aktivierung des ANS

und Hyperventilation

Muskuloskelettal: Hyperventilationsbedingte

Spasmen der interkostalen Muskulatur

Ösophagus: Dysmotilität und Spasmen

Ischämie: erhöhter Sauerstoffbedarf des Myokards in

der Kampf-Flucht-Situation (BD↑, HF↑)

„Angstschmerz“: Erleben des Affekts Panik als

schmerzhaft (ungenügende Differenzierungsfähigkeit)

Fleet et al., J Psychosom Res 2000

Die Angstspirale: Ein circulus vitiosus

Thoraxschmerz

Angst Hyperventilation

Interpretation „Ich ersticke“

„Mein Herz steht still“

„Ich sterbe“

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Die Panikstörung als „Herznotfall“

441 konsekutive Patienten mit Hauptsymptom

Thoraxschmerz zugewiesen auf kardiale

Notfallstation (Zentrumsspital in Kanada).

25% der Patienten erfüllten die Kriterien für

eine Panikstörung.

In 98% (!) der Fälle wurde diese Panikstörung

nicht erkannt bzw. nicht diagnostiziert.

Fleet et al, Am J Med 1996

Symptome bei Panik und Herzinfarkt:

Täuschend ähnlich!

Schwindel und leichte Kopfschmerzen

Kloss im Hals, trockener Mund

Atemnot, Erstickungs-, Beklemmungsgefühl

Schmerzen od. Unwohlsein in der Brust

Herzklopfen und schneller Puls

Schwitzen

Schüttelfrost

Übelkeit und abdominale Beschwerden

Durchfall und Harndrang

Gefühlsstörungen

Zittern oder Beben

Benommenheitsgefühl

Herzinfarkt ???

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Die Psychosomatische Medizin

beschäftigt sich mit dem „Flöhe

und Läuse" Problem

Die Hälfte aller Patienten, die auf den Herznotfall kamen,

hatten eine bekannte, d.h. vorbestehende Herzkrankheit,

darunter auch solche mit aktuell "nur" einem Angstanfall

Fleet et al, Am J Med 1996

Erkennen einer Panikstörung "leicht gemacht"

– 1 Frage genügt!

„Hatten Sie in den letzten 4 Wochen einen

Angstanfall – ich meine damit plötzlich

auftretende Furcht oder Panik?“

Sensitivität = 93% (95% CI 81-99)

Spezifität = 78% (95% CI 74-82)

Sample: 500 Patienten einer medizinischen und psychosomatischen

Ambulanz (Universität Heidelberg; 9% Panikstörung)

Löwe et al, J Psychosom Res 2003

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GAD-7 Fragebogen: je Item 0-3 Punkte

Cut-Off-Wert 10+: Sensitivität = 89%, Spezifität = 82% Spitzer et al, Arch Intern Med 2006

Bio-Psychosoziale-Spirituelle Anamnese

• Ergänzend: Verhalten im Alltag, Kontaktaufnahme, Nonverbales

• Medikamentenanamnese, Einschränkungen im Alltag

• Wissen über die Krankheitssituation? subjektive Beurteilung?

• Mit welchen Emotionen spricht Patient über Krankheitssituation?

• Was sind seine Ziele, Hoffnungen und Ängste?

• Sorgfältiges Ansprechen von Ängsten wirkt i.d.R. entlastend:

Helfen, die Ängste zu thematisieren (viele Ursachen sind möglich!)

• Angst haben ist normal; wovor haben Sie Angst? Sterben und damit

verbundenes Leiden (Ersticken!) machen häufig mehr Angst, als der

Tod. Ängste / Sorgen um Angehörige?

• "Rezepte" der Angstbewältigung? Erfahrungen? Ausprobieren?

• Seelsorger bei Bedarf ins Gespräch bringen ("Unerledigtes?")

• Eigene Angst vor dem Sterben nicht an Patienten herantragen

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Konsequenzen des Nichterkennens und

Nichtbehandlung einer Panikstörung

Chronifizierung (Erstdiagnose einer Panikstörung im Mittel nach 7-10 Jahren!)

Wiederholte Konsultationen und unnötige

Abklärungen auf dem Notfall, bei Spezialisten

und beim Hausarzt

"Therapieversagen"

Zunahme der psychiatrischen Komorbidität (Depression, Sucht, Suizide)

Arbeitsunfähigkeit

Hohe Kosten

Gefahr für das Herz, Bluthochdruck und Tod

Therapie von Angststörungen

• Kognitive Verhaltenstherapie (Angstkreis!, Exposition)

• Antidepressiva: SSRI sind erste Wahl bei Panikstörung

• Benzodiazepine: im Notfall, begrenzte Zeitdauer

• Körperliche Aktivität (3-5x 30 min / Woche Ausdauer)

• Stressreduktion und Schlafregulation

• Meiden von Triggern (z.B. Kaffee!)

• Atemtherapie ("Plastiksack")

• Entspannungsformen (üben, üben, üben…), Massagen

• Kreativtherapien (Ausdrucksmalen, Musiktherapie)

• Psychodynamische Therapie

• Psychosomatisches Konsilium bei Vd. auf Angststörung

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Medikamente bei Ängsten in der Palliativsituation

Akute Angstzustände:

• Lorazepam (Temesta Expidet® 1 mg) 1.0-2.5 mg 3-4x tgl.

• Oxazepam (Seresta®) 15-30 mg 3-4x tgl.

• Alprazolam (Xanax® 0.5 mg): initial 0.5 mg, schrittweise erhöhen

Antidepressiva bei generalisierten Angststörungen, Panikstörungen

• SSRI: Escitalopram (Cipralex®): initial 5 mg, bis 10-20 mg tgl.

• SSNRI: Venlafaxin (Venlafaxin ER Pfizer® 37.5, 75, 150): initial

37.5-75 mg, ev. alle 1-2 Wochen bis auf max. 225 mg steigern

• TZA bei Depressivität / Schlafproblemen: Trimipramin (Surmontil®

25, 100 mg): initial 25-75 mg abends, ev. Steigerung bis auf 100 mg

Antiepileptikum bei generalisierten Angststörungen

• Pregabalin (Lyrica® 2, 50, 75, 150 mg): initial 150 mg tgl. verteilt auf

2-3 Einzelgaben, nach 7 Tagen auf 300 mg tgl. erhöhen

Palliative Care – Symptomorientierte Medizin, Klinik Barmelweid

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!


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