+ All Categories
Home > Documents > Programmbuch

Programmbuch

Date post: 15-Mar-2016
Category:
Upload: opernhaus-zuerich
View: 218 times
Download: 2 times
Share this document with a friend
Description:
Programmbuch zu «Les pêcheurs de perles»
36
georges BIZET
Transcript
Page 1: Programmbuch

georges BIZET

op

ernh

aus

züric

hS

pie

lzei

t20

10/2

011

Les

Pêch

eurs

de

per

les

PH_Les_Pecheurs_US:ph06_umschlag_mit_5mm 15.9.2010 11:19 Uhr Seite 1

Page 2: Programmbuch

Les Pêcheurs de perlesGeorges Bizet

Page 3: Programmbuch

Erster Akt

Für die bevorstehenden Tauchgänge in gefährlichem Gewässer machen sich die zur Ar-beit angetretenen Perlenfischer mit Gesängen Mut. Zurga fordert sie auf, dem von ihnengewählten Anführer unbedingte Treue zu schwören. Die Fischer bestätigen Zurga, dasser es ist, dessen Befehlen sich alle zu unterwerfen haben.

Von der Ankunft eines Fremden zunächst irritiert, erkennt Zurga in diesem seinenJugend freund Nadir. Dieser erklärt, in die Gemeinschaft zurückkehren zu wollen, die erfür längere Zeit gemieden hatte, um sein Schicksal in den Wäldern herauszufordern.

Nachdem Zurga Nadir offiziell willkommen geheissen hat und die Fischer an ihre Arbeitzurückgekehrt sind, versucht Zurga herauszufinden, ob Nadir als Freund oder Rivale zu-rückgekehrt ist. Bei einer gemeinsamen Reise nach Candi hatten sich beide in den An-blick einer Priesterin verliebt und sich darüber entzweit. Die Vernunft gebot ihnen imletzten Moment, zugunsten ihrer Freundschaft auf die Liebe zu dieser Frau zu ver-zichten, und sie schworen einander, diese nie mehr wieder zu sehen. Dennoch hattensich danach ihre Wege getrennt. Zurga versichert Nadir, dass er sich an den Schwur ge-halten und die Erinnerung an diesen Tag ausgelöscht habe. Nadir seinerseits gibt zu,dass er diese Frau zwar nie vergessen werde, sich aber gleichfalls von ihr ferngehaltenhabe. Mit einem erneuten Schwur auf ihre Freundschaft bis in den Tod besiegeln sie dasWiedersehen.

Der Oberpriester Nourabad meldet die Ankunft der von Zurga zum Schutz der Fischerangeforderten Priesterin. Tief verschleiert präsentiert sie sich der erwartungsvollenMenge und wird von Zurga aufgefordert, ein Keuschheitsgelübde abzulegen. Bricht siees, droht ihr der Tod. Ein mitleidiger Ausruf Nadirs erweckt die Aufmerksamkeit derPriesterin, die für einen Moment aus der Fassung gerät. Doch dann schwört sie, ihr Lebenden Perlenfischern zu weihen. Während Nourabad sie auf den ihr zugedachten Platzgeleitet, wird Nadir von den Erinnerungen an die von ihm geliebte Priesterin aus Candiaufgewühlt. Für einen Moment glaubte er, sie wieder vor sich zu haben. Anders, als erZurga versichert hat, ist er ihr damals gefolgt, um heimlich ihrem Gesang zu lauschen.Noch einmal begräbt er seinen Traum von einer Liebe, die unmöglich ist.

Die Perlentaucher unter den Fischern machen sich bereit; der Gesang der Priesterinerfüllt die Luft. Jetzt ist sich Nadir sicher, die Stimme der geliebten Frau – Léïla – wiederzu hören. In einem unbewachten Augenblick nähert er sich ihr, und verspricht sie zu be-schützen. Léïla, die in Nadir zuvor schon den Mann erkannt hat, der in Candi ihr Herzerobert hatte, überlässt sich glücklich ihrem Gesang, der nun Nadir gilt.

Page 4: Programmbuch

Zweiter Akt

Nach getaner Arbeit soll auch Léïla sich ausruhen. Nourabad ermahnt sie, immer ihresSchwures eingedenk zu sein, keinen Mann in ihre Nähe zu lassen. Sie erzählt ihm, dassihr schon als Kind die Bedeutung eines Eides bewusst gewesen sei. Eines Abends sei einFlüchtling in ihre Hütte gekommen und habe sie angefleht, ihn zu verstecken, da er ver-folgt werde. Sie habe ihm geholfen und sein Versteck verschwiegen, obwohl seine Ver-folger sie mit dem Messer bedroht hätten. So habe sie ihm das Leben retten können.Als Dank überliess er ihr damals eine Kette mit der Bitte, sie als Erinnerung an ihn inEhren zu halten. Als Nourabad sich zurückgezogen hat, schläft Léïla in Gedanken anNadir, den sie in der Nähe weiss, beruhigt ein.

Nadir nutzt die Gunst der Nacht und schleicht sich zu Léïla. Erschrocken und um seinLeben fürchtend, fleht sie ihn an zu gehen. Nadir glaubt sich zurückgewiesen und klagtsie an, sein Herz nicht verstanden zu haben. Léïla aber erwidert ihm, dass sie ihn wohlbemerkt habe, damals, als er heimlich ihrem Gesang gelauscht habe. Ihr Herz sei bereitgewesen, ihm zu folgen. Überglücklich schliesst Nadir sie in die Arme. Endlich könnensie sich ihre Liebe eingestehen. Doch Nourabad kehrt unbemerkt zurück und überführtsie des Eidbruches. Die herbeigerufenen Fischer fordern für beide die Todesstrafe. Datritt Zurga zwischen sie und befiehlt kraft seines Amtes, Nadir mit der unbekanntenPriesterin zu verschonen und ziehen zu lassen. Als Léïla von Nourabad gezwungen wird,ihn anzusehen, erkennt auch Zurga in ihr die einst geliebte Priesterin von Candi. Erglaubt sich von Nadir betrogen und fordert nun seinerseits Rache. Bei Anbruch des Tagessollen Léïla und Nadir mit dem Tod bestraft werden.

Dritter Akt

Zurga bereut, dass er sich aus Zorn zum Todesurteil für den Freund hat hinreissen lassen.Da wird Léïla zu ihm gebracht. Sie bittet ihn, Nadir das Leben zu schenken und nur siezu töten. Zurgas Eifersucht erwacht von neuem, als er erkennt, wie sehr Léïla Nadir liebtund unterschreibt das Todesurteil für beide. Gefasst wendet Léïla sich zum Gehen, dochvorher überreicht sie Zurga jene Kette, von der sie Nourabad erzählt hatte. Zurgaerkennt betroffen, dass er in Léïla seine Lebensretterin von einst vor sich hat.

Die Perlenfischer erwarten ungeduldig den Zeitpunkt, sich für den Verrat der Priesterinrächen zu können. Ungezügelt lassen sie ihren Aggressionen freien Lauf. Nadir und Léïlaerwarten ihren Tod. Bevor das Urteil vollstreckt werden kann, gebietet Zurga Einhalt.Er erklärt sich zum Schuldigen an allem Vorgefallenen und bezichtigt sich, als Menschgescheitert zu sein. Die Verwirrung der Menge nutzend, verhilft er Léïla und Nadir zurFlucht. Die Wut der Perlenfischer richtet sich nun gegen ihn.

Page 5: Programmbuch

Act One

The pearl-fishers, who are about to go diving in dangerous waters, are boosting theirconfidence by singing. Zurga urges them to swear unconditional loyalty to a leaderwhom they are to elect. The fishermen assure Zurga that he is the one whose orderseveryone must obey.

Initially unnerved by the arrival of a stranger, Zurga recognises him as his childhoodfriend, Nadir. The latter declares that he wishes to return to the community that he hasavoided for a long period in order to challenge fate in the forests.

Once he has officially welcomed Nadir and the fishermen have gone back to work, Zurgatries to find out whether Nadir has returned as a friend or a rival. On a trip to Canditogether, both of them had fallen in love with the sight of a priestess and fallen outwith each other. At the last minute, reason demanded that they renounce their love ofthis woman for the sake of their friendship, and they swore to each other never to seeher again. Nevertheless, they had subsequently parted company. Zurga assures Nadirthat he has kept his oath and expunged the memory of that day. Nadir for his part admits that, although he will never forget this woman, he has kept away from her. Theyseal their reunion by renewing their pledge to preserve their friendship to the death.

Nourabad, the high priest, announces the arrival of the priestess requested for the protection of the fishermen. Heavily veiled, she presents herself to the expectant crowdand is asked by Zurga to make a vow of chastity. If she breaks it, she risks death. Nadir’scompassionate interjection attracts the priestess’s attention, and for a moment she isdisconcerted. All the same, she swears to devote her life to the pearl-fishers. WhileNourabad leads her to her intended place of abode, Nadir is agitated by the memory ofthe priestess he loved in Candi. For one moment he believed he had seen her again: contrary to his assurances to Zurga, at the time he followed her and listened furtivelyto her singing. Once again, he buries his dream of an impossible love.

The pearl-divers among the fishermen are getting ready; the priestess’s song fills the air.Now Nadir is certain that he is once again hearing the voice of the woman he loves –Léïla. In an unguarded moment he approaches her and promises to protect her. Léïla,who has already recognised Nadir as the man who captured her heart in Candi, happilyabandons herself to her song, which is now devoted to Nadir.

Page 6: Programmbuch

Act Two

Having done her work, Léïla should now also rest. Nourabad reminds her that she mustalways remember her oath not to allow any man near her. She tells him that she wasalready aware of the meaning of an oath as a child. One evening a fugitive entered herhut and begged her to hide him, as he was being persecuted. She helped him and kepthis hiding place a secret, although his persecutors threatened her with a knife. Thus shewas able to save his life. As a token of his gratitude he left a necklace with her, askinghim to keep it in honour of his memory. When Nourabad retires, Léïla, calmed, fallsasleep amid thoughts of Nadir, whom she knows to be close by.

Nadir seizes the opportunity to steal to Léïla during the night. Aghast and in fear of hislife, she implores him to leave. Nadir believes she is rejecting him and accuses her of nothaving understood his heart. Léïla, however, replies that she had indeed noticed himwhen he secretly listened to her singing. Her heart is ready to follow him. Overjoyed,Nadir enfolds her in his arms. At last they can acknowledge their love. However,Nourabad returns unseen and condemns them for perjury. The fishermen summoned byNourabad demand the death penalty for both of them. Zurga intervenes and orders byvirtue of his office that Nadir and the unknown priestess must be spared and allowedto leave. When Nourabad forces Léïla to look at him, Zurga also recognises the oncebeloved priestess of Candi. He feels betrayed by Nadir and in turn demands revenge.Both are to be punished by death at daybreak.

Act Three

Zurga regrets having been driven by anger to condemn his friend to death. Léïla isbrought to him. She begs him to spare Nadir’s life and only to kill her. Zurga’s jealousyis reawakened when he realises how much Léïla loves Nadir, and he signs the deathwarrant for both of them. Composed, Léïla turns to leave, but before she does so shehands Zurga the chain about which she had told Nourabad. Shocked, Zurga realises thatLéïla is the girl who saved his life.

The pearl-fishers impatiently await the moment to be able to avenge themselves for thepriestess’s betrayal. Without restraint, they allow their aggressions free rein. Nadir andLéïla await death. Before the sentence can be carried out, Zurga calls a halt. He declareshimself guilty of everything that has happened and accuses himself of having failed asa human being. Exploiting the crowd’s confusion, he helps Léïla and Nadir to escape.The pearl-fishers now direct their fury against him.

Page 7: Programmbuch

Wie bei vielen seiner Unternehmungen war auch Bizets Oper «Die Perlenfischer» («LesPêcheurs de perles») zu Lebzeiten des Komponisten nicht mehr als ein durchwachsenerErfolg beschieden. Ende des Jahres 1863 fanden achtzehn Vorstellungen statt, dann ge-riet das Werk bis nach Bizets Tod in Vergessenheit. Der Klavierauszug, den Bizet selbstanfertigte und im darauffolgenden Jahr herausgab, stellt die Werkgestalt der Oper dar,so wie der Komponist sie hinterlassen hat. Die Dirigierpartitur, die 1863 bei den Auf-führungen benutzt wurde, enthält Hinweise auf zahlreiche Kürzungen des Originals,die während der Proben oder auch während der Aufführungsserie vorgenommen wor-den sein müssen. Manche dieser Striche betreffen Wiederholungen, andere wurden of-fenbar gemacht, um besonders schwierigen Passagen aus dem Weg zu gehen (zum Bei-spiel beim Chor im Finale des Zweiten Aktes).

Diese Striche waren jedoch nichts im Vergleich zu der Art und Weise, wie die «Perlenfi-scher» nach Bizets Tod beschädigt wurden. Als «Carmen» die Opernwelt – nach etwaswackeligem Start – im Sturm eroberte, erkannte Bizets Verleger Antoine de Choudens,dass die Zeit reif war, um andere seiner im Besitz des Verlages befindlichen Werke aus-zubeuten. Da Bizet kurz nach der «Carmen»-Premiere 1875 gestorben war, fiel der Nach-lass seiner Witwe in die Hände, die dem Werk gegenüber keine besondere Sorgfalt wal-ten liess, sowie seinem Verlag, der sich ebenfalls als nicht allzu gewissenhaft erwies.Nach zahlreichen Aufführungen in italienischer Übersetzung in den 1880er Jahrenbrachte Léon Carvalho, der 1856-1868 Direktor des Théâtre Lyrique – der Urauf-führungsbühne der «Perlenfischer» – und seit 1876 Direktor der Opéra-Comique war, inParis 1893 eine Wiederaufführung der «Perlenfischer» auf die Bühne. Nicht länger durchdie Gegenwart des Komponisten behindert, verstümmelte Carvalho (so ist anzunehmen)die Oper und hielt sich dabei an seinen eigenen Geschmack und den Zeitgeist. Er gabbei Benjamin Godard neue Nummern sowie einzelne Abschnitte in Auftrag, ohne ihnals Urheber zu nennen; dabei wurde die Handlung verändert (vor allem im Dritten Akt,der nun mit dem Tode Zurgas in bester Grand Guignol-Tradition endete) und das DuettNadir-Zurga durch eine Wiederholung der Hauptmelodie im Schlussteil verunstaltet.Diese «neue» Version von Choudens enthielt nicht nur eine stillschweigende Umorche-strierung oder Weglassung vieler Abschnitte von Bizets Original, abgesehen von Feh-lern und falschen Lesarten; diese Partitur wich obendrein in vielen Details von den Or-chesterstimmen ab, die zusammen damit ausgeliefert wurden.

Brad Cohen

«Les Pêcheurs de perles» – zur Geschichte der Werkgestalt

Page 8: Programmbuch

Wie Michel Poupet in einem Artikel, der 1965 in der Revue de Musicologie erschienenist, bemerkt hat, war die nachträgliche Umgestaltung des Duettes Nadir-Zurga ganz be-sonders widersinnig. Die dramaturgische Funktion dieses Duetts ist es, den Verzicht aufLéïla zugunsten der Freundschaft mit einem Mann Ausdruck zu verleihen; in der posthu-men Version kehrt das Léïla-Thema nun am Ende als Quintessenz des Duetts wieder.Diese Verunstaltung des Duetts Nadir-Zurga ist meiner Ansicht nach für ein Gutteil derGeringschätzung verantwortlich, die sich in den letzten Jahrzehnten den «Perlenfi-schern» gegenüber manifestiert hat. Léïlas Motiv – das ersterbende Thema von Flöteund Harfe, das in diesem Duett zum ersten Mal auftaucht – wurde von dem anonym ge-bliebenen Bearbeiter völlig zu Recht als Schlüsselmelodie der ganzen Oper erkannt. Ver-kannt wurde jedoch seine Funktion im Gesamtzusammenhang des Werks, wie man ander hinzugefügten Wiederholung des Themas am Ende des Duetts sehen kann. Wenndas Thema so früh schon wiederaufgenommen wird, wird das Potential seiner musika-lischen Erzählung damit praktisch ausgeschöpft, und das Ohr ist des Themas bei den imspäteren Verlauf der Oper noch folgenden Wiederholungen schon überdrüssig gewor-den. Bizets ursprüngliche Idee, dieses Thema im Duett nur anklingen zu lassen, anstattes bereits an sein Ziel gelangen zu lassen, ist origineller, theatralischer, weniger abge-droschen und erweist sich als Reverenz an das Wagnersche Leitmotiv mit den Ausdrucks -mitteln der Melodie und der Klangfarbe. Obendrein war das Ende des Duetts in seinerursprünglichen Gestalt eine der Stellen, die 1863 am meisten gefallen hatten. Seine In-timität und sein Raffinement lassen eine völlig andere Atmosphäre entstehen als daslautstarke Ende des Duetts in der posthumen Fassung.

Die bearbeitete Version der Oper, von Poupet schlicht als «schlecht» charakterisiert,wurde von Choudens als Gesamtpartitur und Klavierauszug veröffentlicht. Bis ins Jahr1965, als der bereits erwähnte scharfzüngige Artikel («Les infidélités posthumes de par-titions lyriques de Georges Bizet») von Poupet erschien, wurde die Partitur von Chou-dens allgemein als den Intentionen Bizets entsprechend akzeptiert. Winton Dean nahmsich des Falls, der sich mehr und mehr als skandalöse Missinterpretation von Bizets Werkerwies, an und verfolgte ihn in einer Reihe von Artikeln und Büchern. 1975 griff der Di-rigent und Musikwissenschaftler Arthur Hammond, ein Spezialist für französische Mu-sik, dann auf Bizets Klavierauszug von 1864 zurück und erarbeitete auf dieser Grund-lage eine spielbare Fassung für die Welsh National Opera. Das war die erste Aufführungder Oper seit der Uraufführung, die Bizets Intentionen respektierte. Leider ist (undbleibt) die Orchesterpartitur verloren, so dass die Passagen in Bizets Original, die vonder korrumpierten Choudens-Partitur abweichen, von Hammond ganz neu orchestriertwerden mussten.

Ein weiteres Stadium der Wiederherstellung von Bizets Intentionen wurde unterdessenerreicht, als das Dirigierexemplar Bizets aus dem Jahr 1863 in den Archiven der Opéra-Comique wiederaufgefunden wurde. Dieses Particell, auf sechs Systemen notiert und

Page 9: Programmbuch

Georges Bizet, 1863

Page 10: Programmbuch

mit ausführlichen Angaben über die Instrumentierung versehen, stimmt genau mit Bi-zets Klavierauszug von 1864 überein. Hervé Lacombe hat in seiner 2001 erschienenengrundlegenden Studie «The keys to French opera in the nineteenth century» die Auf-merksamkeit auf die Existenz dieser Dirigierpartitur gelenkt. In Zusammenarbeit mitdem Verlag Editions Choudens hat er eine eigene Rekonstruktion der fehlenden Or-chestrierung vorgelegt. Lacombes Forschungen haben mich ermutigt, für die LondonerAufführungen im Jahr 2002 eine neue kritische Gesamtausgabe der Oper zu erstellen,die auf Bizets Klavierauszug von 1864 und der Dirigierpartitur als Hauptquellen beruht.Die Angaben zur Instrumentierung in der Dirigierpartitur sind so detailliert, dass die Re-konstruktion der fehlenden Abschnitte unkompliziert war.

Die von mir erarbeitete Fassung, für die sich auch das Opernhaus Zürich mit seiner Neu-produktion in der Spielzeit 2010/2011 entschieden hat, stellt bis auf weiteres wohl diegrösstmögliche Annäherung an Bizets Oper in ihrer ursprünglichen Gestalt dar. WürdeBizets Autograph der Orchesterpartitur wiedergefunden, schlösse sich der Kreis end-gültig; angesichts der Tatsache, dass viele der Manuskripte Bizets nach seinem Tod aus-einandergerissen und von seiner Witwe stückweise als Andenken oder Geschenk weg-geben wurden, erscheint eine solche Wiederentdeckung allerdings ziemlich unwahr-scheinlich.

Man kann die Geschichte der verschiedenen Fassungen der «Perlenfischer» als ellipti-sche Bewegung beschreiben. Die ursprünglichen Intentionen des Komponisten warenam Klavierauszug und der Partitur, in denen eine Aufführungsserie von über zwei Mo-naten im Jahr 1863 ihren Niederschlag findet, klar ablesbar. Nach der Herausgabe desvon ihm selbst verfertigten Klavierauszuges im Jahr 1864 endete Bizets aktive Teilnahmeam Entstehungsprozess der verschiedenen «Perlenfischer»-Fassungen. Die Abweichun-gen und Verunstaltungen, denen die Oper nach seinem Tod unterworfen wurde, habenganz offensichtlich nichts mit ihm oder mit seinen Intentionen zu tun. Mit der Rückkehrzu einer authentischen Fassung, was den Notentext und auch das Libretto betrifft, wi-derfährt nicht nur Bizet Gerechtigkeit; darin spiegelt sich auch eine allmähliche, höchstwillkommene Neubewertung der französischen Oper des 19. Jahrhunderts – leidet dieseGattung doch, wie Hervé Lacombe es ausdrückt, «als Ganzes unter einer dürftigen Wert-schätzung.»

Der australische Dirigent Brad Cohen hat in dem 2002 von ihm gegründeten Verlag PerformingEditions bisher fünf Opern von Bizet, Rossini und Bellini als kritische Urtext-Ausgabe herausgegeben. Die Rechte an der von ihm herausgegebenen Neuausgabe der«Perlenfischer», die Brad Cohen für die von ihm geleiteten Aufführungen des Royal Phil-harmonic Orchestra 2002 in London erarbeitet hat, wurden später von der Edition Peterserworben.

Page 11: Programmbuch

Exotik lag in der Pariser Luft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In den Salons feiertedie orientalistische Malerei Triumphe, Félicien Davids Ode «Le desert» hatte gerade diefernen Zonen des französischen Kolonialreichs als musikalischen Inspirationsquell pro-klamiert. Auch der 24-jährige Georges Bizet machte sich den Exotismus dieser Zeit zu -nutze und schuf unter dem Deckmantel ceylonesischen Südseezaubers ein beeindrucken -des Gesellschaftspanorama: «Les Pêcheurs de perles», seine erste abendfüllende Oper.

Allerdings gingen die Kritiker nach der Uraufführung im Jahr 1863 nicht besondersfreundlich mit dem Komponisten um und bezichtigten ihn, Nachahmer von Verdi, Wag-ner und Gounod zu sein. Nur Hector Berlioz erkannte den eigenständigen Reichtum derOper: «‹Les Pêcheurs de perles› macht Bizet die grösste Ehre, und die Partitur enthältArien und Duette voller Feuer und grossem Farbenreichtum.»

Georges Bizet hat mit «Carmen» die wohl populärste und meistgespielte französischeOper geschaffen. Dass der Komponist in seinem kurzen Leben weitere elf Werke für dieOpernbühne komponiert hatte, ist kaum noch im Bewusstsein. Allenfalls seine zuAlphonse Daudets Schauspiel «L’Arlésienne» geschaffene Bühnenmusik ist als viersätzi-ge Suite überliefert. Auch «Les Pêcheurs de perles» sind eine Rarität in der Opernland-schaft geblieben, obwohl einige Nummern – insbesondere das Freundschaftsduett vonNadir und Zurga und die durch Enrico Caruso bekannt gemachte Romanze Nadirs – gros-se Popularität errungen haben.

Georges Bizet zeigte schon als Kind eine besondere musikalische Begabung, weshalbseine Eltern, die beide Musiker waren, ihn im Alter von neun Jahren am Pariser Con -ser va toire anmeldeten. Zwar war Bizet noch zu jung, um aufgenommen werden zukön nen; aber die Direktoren waren von Bizets musikalischen Kenntnissen und seinerBegabung für das Klavierspiel so stark beeindruckt, dass sie ihm erlaubten, in AntoineFrançois Marmontels Klavier-Klasse einzutreten. Am 9. Oktober 1848 wurde Bizet dannoffiziell zugelassen, und ein halbes Jahr später gewann er den Ersten Preis im Solfeggio.Es erfolgte Kontrapunkt- und Kompositionsunterricht u.a. bei Jacques FromenthalHalévy und Charles Gounod, dem späteren Schwiegervater Bizets.

1851 und 1852 gewann Bizet Preise in Marmontels Klasse, und sowohl Hector Berlioz alsauch Franz Liszt bezeugten die ausserordentliche Brillanz seines Spiels. Zudem erwiessich Bizet als gewandter Partiturspieler und war ein begehrter Begleiter bei Proben in

Ronny Dietrich

«Ich brauche die Bühne…»

Page 12: Programmbuch

der Opéra und der Opéra-Comique. Bizets Begeisterung für die Oper dürfte hier ihrenAnfang genommen haben. «Ich bin einfach nicht gemacht für die Sinfonie. Ich brau-che die Bühne, ohne sie kann ich überhaupt nichts», äusserte Bizet einmal gegenüberCamille Saint-Saëns. 1855 komponierte er sein erstes kleines Bühnenwerk «La maisondu Docteur», eine Art Hauskomödie für mehrere Gesangsstimmen und Klavier; ein Jahrspäter beteiligte er sich an einem von Jacques Offenbach ausgeschriebenen Einakter-Wettbewerb und erhält einen von zwei ersten Preisen für seine komische Oper «LeDoc teur Miracle», die 1857 mehrfach in den Bouffes Parisiennes zur Aufführung ge -lang te. Im selben Jahr gelang es Bizet im zweiten Anlauf mit der Komposition der Kan -tate «Clovis et Clotilde» den begehrten Rompreis zu erringen, der den Preis trägern einkostenloses fünfjähriges Studium in Italien, Deutschland und Frankreich gestattete. Dieeinzige Verpflichtung bestand darin, jedes Jahr ein grösseres Werk zu schreiben, dasnach Paris geschickt und dort von einem Professorenkollegium geprüft wurde. Obwohldie Akademie in Paris als erstes einzusendendes Werk eine Messe vorschreibt, setzt sichBizet – in Rom angekommen – darüber hinweg; lieber will er eine Oper komponieren:«Ich habe also eine italienische Farce in der Art des ‹Don Pasquale› gesucht und gefun-den. Ich bin entschiedenermassen für die Buffo-Musik geschaffen und ich gebe mich ihrvollständig hin. Ich war in jeder Buchhandlung Roms, und ich habe zweihundert Stückegelesen. Man schreibt in Italien nur Stücke für Verdi, Mercadante und Pacini. Was dieanderen angeht, begnügen sie sich mit Übersetzun gen französischer Opern, denn Ur -heberrechte werden hier nicht geschützt.», heisst es in einem Brief aus Rom an seineMutter.

«Don Procopio» erhält zwar eine positive Beurteilung, gelobt werden ein «leichter undbrillanter Tonfall, ein junger und kühner Stil», doch die Rüge folgt auf dem Fusse: «Wirmüssen Herrn Bizet tadeln, weil er eine komische Oper geschrieben hat, während dieSatzungen eine Messe verlangen. Wir gemahnen ihn daran, dass auch sehr lebhafteNaturen durch die Meditation und die Darstellung erhabener Vorwürfe einen Stil fin-den, der selbst in der leichten Muse unerlässlich ist und ohne den kein Werk Dauerhaben wird.»

Bizet reagiert darauf mit einer – wie er an die Mutter schreibt – «eigenartigen Ent schei -dung»: «Man verlangt von mir etwas Religiöses. Wohlan, ich werde etwas Religiö sesschreiben, aber etwas heidnisch Religiöses! Das ‹Carmen saeculare› von Horaz reizt michschon seit langer Zeit. Es ist ein Gesang an Apollo und Diana in zwei Chören. Vom

Page 13: Programmbuch

dichte rischen Stand punkt aus ist es schöner als die Messe, denn es ist keine Prosa, son-dern Poesie, d.h. viel gleichmässiger, viel rhythmischer und folglich viel musikalischer.Ich bin nämlich, um die Wahrheit zu sagen, mehr Heide als Christ.» Schliesslich ist eseine sinfonische Ode, betitelt «Vasco da Gama», mit der er seinen Verpflichtungennachkommt, doch im Vordergrund des Interesses steht immer noch die Oper. Werkevon Shake speare, Victor Hugo, Molière sowie E. T. A. Hoffmanns «Tonnelier de Nurem -berg» be schäftigen den jungen Musiker, der aufgrund einer schweren Erkrankung sei-ner Mutter im September 1860 nach Paris zurückkehrt.

Gemäss den Auflagen der Akademie wendet sich Bizet hier zunächst der Kompositionvon sinfonischen Werken zu und reicht neben einem in Rom bereits komponiertenScherzo einen Trauermarsch in f-Moll sowie die Ouvertüre «La chasse d’Ossian» ein. Alsnächstes Bühnenwerk entsteht «La Guzla de l’Émir» nach einem Libretto des renom-mierten Autorengespanns Jules Barbier und Michel Carré. Das von der Akademie auf-grund «der Lebendigkeit des Stils und der Sicherheit der Ausführung» zur Aufführungan der Opéra-Comique für würdig befundene Werk, zog Bizet jedoch während derschon laufenden Proben im April 1863 zurück, als ihm von Léon Carvalho, dem Direktordes Théâtre-Lyrique, ein ihm reizvoller dünkendes und – im Hinblick auf sein auslaufen -des Stipendium – lukratives Angebot gemacht wurde: ein mit 100 000 Francs subven-tionierter Opernauftrag.

Das Libretto, das Carvalho Bizet vorschlug, trug den Titel «Léïla» und stammte eben-falls von Carré, diesmal in Zusammenarbeit mit Eugène Cormon. Anders als bei denAuflagen der Opéra-Comique, die u.a. gesprochene Dialo ge verlangte, war es Bizethier freigestellt, eine durchkomponierte Oper zu schaffen. In nur vier Monaten ent-stand die Partitur zu der im Laufe der Arbeit in «Les Pêcheurs de perles» umgetauftendreiaktigen Oper, steht doch nicht wie in Bellinis «Norma» oder Spontinis «La Vestale»die Priesterin Léïla im Zentrum, sondern die mit zahlreichen Chören charakterisierteGemeinschaft der Perlenfischer.

Dirgent Carlo Rizzi zeigt sich nach seiner ersten Auseinandersetzung mit Georges Bizets«Les Pêcheurs de perles» von der Qualität des Werkes begeistert, das in seiner Eigen -ständig keit überrascht und den späteren Komponisten der «Carmen» mehr als nurahnen lässt. Léïlas Cavatine «Comme autrefois» weist exakt die gleiche Struktur wieMicaëles Arie «Je dis que rien ne m'épouvante» auf, die Behandlung von Hörnern undCelli erinnert an das Vorspiel des 4. Aktes von «Carmen». Aber wichtiger als ein Ver -glei chen der im Abstand von zwölf Jahren entstandenen Werke ist für den Dirigentendie Tatsache, dass schon der 24-jährige Bizet kompositorisch auf der Höhe dessen ist,was seine nachfolgenden Werke auszeichnet. In erster Linie nennt er die Ökonomie dermusikalischen Mittel, die nie zum Selbstzweck werden, sondern immer dem dramati-schen Ausdruck dienen und die Seelen regungen der Figuren deutlich machen. Charak -

Page 14: Programmbuch

teristisch dafür ist jener Moment, in dem die Priesterin Léïla – von Zurga zum Tode ver-urteilt – diesem eine Kette überreicht, mit der er vor Jahren einem Kind dafür gedankthat, dass es ihm das Leben gerettet hat. Dieses Kind war sie. Bizet zitiert hier daseinpräg same Motiv der Priesterin, das jedoch nach einem rallentando unvermittelt ineinem schmerzlichen Septimenakkord stockt.

Anders als man vermuten könnte bei einer unter Perlenfischern auf Ceylon spielendenHand lung, verzichtet Bizet weitestgehend auf die seinerzeit so beliebten Exotismen.Neben einigen sparsam gesetzten Schlagzeugeffekten liesse sich allenfalls den vierEinleitungstakten zu Nadirs Chanson «De mon amie fleur en dormie» ceylonesischesFlair unterstellen. Doch auch hier steht für Carlo Rizzi eine subtilere Absicht Bizets da -hinter. Nachdem sich zuvor mit Ausnahme Nadirs alle Handelnden zur Ruhe begebenhaben und auch die Musik gleichsam zum Stillstand gekommen ist, wird die Auf merk -samkeit der Zuhörer mit diesem fremdartigen Oboensolo auf die bevorstehen de Szenegelenkt, die die Katastrophe herbei führt.

Bizet, so Carlo Rizzi, wollte nicht demonstrieren, dass er eine grosse Oper mit allemzeittypischen Zubehör zu schreiben im Stande ist, ihm ging es darum, eine Geschichtemit den ihr angemessenen Mitteln ganz linear aus der Musik heraus zu entwickeln.Und das ist ihm in den «Perlenfischern» hervorragend gelungen.

Nach der Uraufführung geriet Bizets Oper nach nur achtzehn Aufführungen in Ver ges -sen heit. Erst der Welterfolg seiner «Carmen» veranlasste die Verleger, den Nachlass desKom po nisten auszuschlachten. Einen der Grün de da für, dass die «Perlenfischer» den-noch im Repertoire nicht Fuss zu fassen vermochten, vermutet der Dirigent darin, dassman die Oper gerne in die verkehrte Schubla de schob; etwa in eine Reihe mit Puccinis«La Rondine» stellte. Dabei übersah man das dramatische Potenzial, vor allem derChöre, das diese Partitur auszeichnet. Dass den «Pêcheurs de perles» kein Erfolg be -schieden war, wird zu einem nicht geringen Teil auch dem Textbuch angelastet. Aller -dings gibt der Umstand, dass Bizet ein bereits fertig komponiertes Werk zugunsten derVertonung dieses Buches zurückzog, zu denken. Möglicherweise erkannte er in derzwar augenfällig konstruierten, aber gera de dadurch kompositorische Deutungs räumebietenden Geschichte eine reizvolle Folie für seinen musikdramatischen Zugriff.

Charakteristisch scheint in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Bizets während sei-ner Arbeit an der auf die «Perlenfischer» folgenden Oper «La Jolie Fille de Perth» miteinem ähnlich problematischen Libretto. Gegenüber seinem Schüler Edmond Galabertäusserte er: «Mein ‹Mädchen von Perth› hat wenig Ähnlichkeit mit dem Roman. Es istein effektvolles Stück, aber die Typen sind zu wenig charakterisiert. Ich hoffe, diesenFehler zu beseitigen. Es gibt da Verse… Ich halte mich beim Komponieren nicht an dieWorte; mir würde keine Note einfallen.»

Page 15: Programmbuch

Für Regisseur Jens-Daniel Herzog steht denn auch nicht die oberflächliche, von vielenZufällen gelenkte Handlung im Vordergrund seines Interesses an dieser Oper, sondernder dahinter verborgene kritische Blick auf eine Gesellschaftsordnung, die auf Unter -drückung basiert. Der Verortung der Handlung in exotische und scheinbar romantischeFernen – ein Verfahren, das Bizet von Jacques Offenbachs Einaktern her vertraut war,mit denen dieser die allgegenwärtige Zensur zu umgehen wusste – begegnet der Kom -ponist von Anfang an mit einer konkret die seelische Lage der exponierten Personen -gruppe auslotenden Tonsprache. Sowohl das piano gehaltene Vorspiel wie auch dereinleitende Chor mit seinen abwärts gerichteten Motiven künden eher von den bevor-stehenden Gefahren als den hier zum Schutz der Perlenfischer beschworenen Tänzenund Gesängen. Nebenbei: die Perlenfischerei gehörte zu den gefährlichsten Berufenund wurde ausschliesslich von armen Fischern oder extra dafür geschulten Sklaven aus-geführt, die nicht selten mit ihrem Leben dafür bezahlten.

Auch in der folgenden Szene, in der Zurga die Wahl eines Anführers fordert, wird inder Musik für den Regisseur ganz klar das Gleichgeschaltetsein der Fischer betont,denen keine andere Wahl bleibt, als Zurga in seinem Amt zu bestätigen. Die Mecha -nismen der Unterdrückung und Ausbeuterei basieren in «Les Pêcheurs de perles»zunächst auf Triebunterdrückung, die Zurga nicht nur von sich selbst, sondern auchvon seinen Untergebenen fordert. Halten sie sich an seinen Vorschriften, sorgt er imGegenzug für ihre Sicherheit: Er lässt eine Priesterin kommen, die während der lebens-bedrohlichen Tauchgänge mit ihren Gesängen die gefährlichen Naturgeister fernhal-ten wird. Wirksamkeit garantiert das von ihr abgelegte Keuschheitsgelübde; bricht siees, wird sie mit dem Tode bestraft. Alles läuft zur Zufriedenheit Zurgas. Mehr noch:Nadir, ein Freund, mit dem er sich einer Frau wegen zerstritten hatte, kehrt in die Ge -meinschaft der Fischer zurück, nachdem er die Unmöglichkeit einer Liebe zu dieser Frau– einer Priesterin – einsehen musste. Nichts und schon gar keine Frau soll sie je wiederentzweien.

Doch nun setzt eine Reihe von Ereignissen ein, die Jens-Daniel Herzog als eine Ver -suchsanordnung deutet, die das von Zurga aufgebaute ideologische Gebäude nichtnur in Frage stellt, sondern schliesslich zum Einsturz bringt. Die Priesterin, Léïla, ist nie-mand anderes als jene Frau, in die sich Zurga und Nadir einst zugleich verliebt hatten,doch Nadir hat sie im Unterschied zu Zurga nie vergessen können. Seine Bemühungen,die Liebe zu unterdrücken, scheitern in dem Moment, in dem er sie wieder erkennt.Und auch Léïla, der ihr Amt als Priesterin Keuschheit auferlegt, hat Nadir nie vergessenkönnen. Die Konflikte, in die die Protagonisten gestürzt werden, erlauben es Bizet, ex -treme Seelenzustände zu schildern – Sieg der Liebe unter Todesgefahr bei den Lieben -den, eine Achterbahn der Gefühle bei Zurga: Überzeugt von der Richtigkeit seinerIdeale, durchlebt er – nun selbst in seinen privaten Gefühlen verletzt – Stadien der Ent -täuschung, der Wut und der Eifersucht, um am Ende die Unmenschlichkeit und Lebens -

Page 16: Programmbuch

feindlichkeit des von ihm propagierten Systems zu erkennen und in einer grossenSelbstanklage die Schuld für alles Vorgefallene auf sich zu nehmen.

Erschreckend in diesem Prozess sind vor allem die Reaktionen des von Zurga jeglicherIndividualität beraubten Kollektivs der Perlenfischer, die von Bizet aufgezeigt werden.Auf die Tabu verletzung durch Léïla und Nadir reagieren die Fischer mit tödlicher Wutund geraten angesichts der Ratlosigkeit ihres Anführers völlig ausser Kontrolle. Bizet,der selbst mit wachem Geist auf die politischen Vorgänge seiner Zeit reagierte, wieseine Briefe aus Rom belegen, zeichnet hier ein eindrucksvolles Fallbeispiel von denGefahren politischer Systeme, die auf Unterdrückung basieren.

Für die Geschlossenheit des in den «Perlenfischern» dargestellten Systems entwarfBühnenbildner Mathis Neidhardt den Querschnitt durch einen Schiffsdampfer, dereinerseits den Arbeitsort der Fischer vergegenwärtigt, andererseits von alters her alsMetapher für u.a Staats-, Gesellschafts-, Menschheits-, Kirchen-, Narren-, Geister- oderLebensschiff fungiert. Auf der unteren Ebene agiert die Arbeiterklasse, die mittlereEbene ist für die Herrschaftsschicht reserviert, während die obere Ebene dem religiösenÜberbau vorbehalten ist.

Der Verzicht auf Südseezauber begründet sich darin, dass es Bizet hier kaum um einenroman tisch verklärten Blick auf eine ideale Gesellschaft zu tun war. Wie unwichtig demKomponisten letztendlich das Ambiente war, resultiert aus der Tatsache, dass dieHandlung der Oper ursprünglich unter mexikanischen Indianern angesiedelt werdensollte, bevor sie die Librettisten nach Ceylon an den Indischen Ozean verlegten – mög-licherweise «mit Rücksicht auf das französische Engagement bei der KrönungMaximilians zum Kaiser von Mexi ko», wie Christian Schwandt in seiner Bizet-Biografieanmerkt.

Die Allgemeingültigkeit und Überzeitlichkeit der vorgeführten Gesellschaftsform spie-geln auch die Kostüme von Sibylle Gädeke wider. Für die Fischer entwarf sie eine derTätigkeit entsprechende Kleidung, die mit Assoziationen an unterschiedlichste, dochim Grunde im mer ähnliche Uniformierungen spielt, die stets funktional ausgerichtetsind. Geringfügig modifiziert dienen diese auch der Mittel- und Oberschicht als Be -kleidung. Grösstmöglichen Kontrast dazu bietet das Gewand der Priesterin Léïla, indessen Farbig- und Luftigkeit gleichsam alle unterdrückten Sehnsüchte der Menge ein-gewoben sind.

Page 17: Programmbuch

Georges Bizet

Briefe an die Mutter

Rom, 16. Juli 1859

Ich bin vorgestern nach Rom zurückgekehrt, gerade um eine sehrerfreuliche Nachricht zu erfahren: der Friede ist abgeschlossenworden. Bravo! Italien ist endlich frei, «wie ein Dichter sagte». Ichhoffe, dass Du in Deinen Briefen die armen Österreicher nichtmehr herunterreissen wirst, denn sie sind unsere Verbündeten.Aus Feinden sind sie geworden, was sie immer gewesen sind,nämlich tüchtige, vortreffliche Leute, die keineswegs für die Grau-samkeit einiger Wilder verantwortlich sind. In Paris glaubt man zuleicht an all die alten Scherze von den «Bleikammern von Vene-dig» usw. Seit einer guten Anzahl von Jahren war die Lombardeimit der grössten Milde regiert worden. Die unglücklichsten Be-wohner waren gewiss nicht die Italiener. Der Herzog von Toskanaregiert seine Untertanen wie ein Vater (Stil des Amtsblattes).

Die Römer sind natürlich wütend und verabscheuen uns mehrdenn je. Diese Herrschaften hatten sich eingebildet, dass manganz Italien Victor Emanuel überlassen hätte. Alle diese hübschenkleine Stutzer, die, anstatt in der Lombardei ihr Leben einzuset-zen, Wortspiele mit den Namen unserer, auf dem Felde der Ehregefallenen Generale machten, schreien heute Verrat.

Die sardinischen Zeitungen haben unsere Offiziere in die übelsteLaune versetzt, weil sie alles der Armee Victor Emanuelszuschrei ben. Herr von Cavour hat sich Frankreichs bedienen wol-len, aber «mit Papa soll man nicht sein Spiel treiben», wie mansagt. Und Papa ist in dieser Angelegenheit Napoleon III. Jeden-

Page 18: Programmbuch

falls ist dieser glänzende Feldzug auf die glücklichste Weisedurchgeführt worden und gibt eine schöne Seite mehr in unsererGeschichtsschreibung ab.

«La Patrie» ist eine alte Schwätzerin, denn es sind keine Unruhenin Rom gewesen. Einer der neuen Pensionäre (ein Maler) ist vonzwei Individuen, die ihm Pistolen unter die Nase gehalten haben,für drei Francs «aufgehoben» worden, das ist alles. Der tapfereGeneral X, den ich nicht leiden kann, hat einige Püffe erhalten,aber keinen Schlag mit der Reitpeitsche ausgeteilt. Nun weisstDu, wie Geschichte geschrieben wird.

Die Aufstände verlaufen hier harmlos. In Perugia ist jedoch meh-rere Stunden gekämpft worden. Beide Seiten haben sich wie Kan-nibalen aufgeführt. Das ist schändlich!

Neapel, 24. Oktober 1859

Ich habe französische Zeitungen bekommen und finde darin fol-genden Satz: «Neapel befindet sich in unbegreiflicher Aufregung.»Die Zeitung fällt mir aus der Hand, und ich breche in schallendesGelächter aus! Diese Herren sind wahrlich gut informiert! Un ruhenin Neapel! Das ist zu komisch! Von 450 000 Einwohnern wissenmehr als 300 000 nicht, was «Freiheit» bedeutet.

Page 19: Programmbuch

Wenn Du diese dumme, erbärmliche Ausschweifung und dieseschwächliche, lächerliche Eitelkeit sähest, die einen auf Schrittund Tritt anekelt! Ah, es lebe Frankreich und die Franzosen! Dortfindet man wenigstens Herz, Ehre und vor allem Freimut. Ichkenne nichts Aufreizenderes als diese bleichen Basiliusgesichter[nach Don Basile in Beaumarchais’ «Barbier von Sevilla» und Ros-sinis gleichnamiger Oper, leicht zu bestechende Verleumder], dieOhrfeigen und immer wieder Ohrfeigen bekommen, ohne je et-was anderes von sich zu geben als Worte des Friedens und derNächstenliebe und sich im Nu an der nächsten Strassenecke ver-wandeln. Ganz abgesehen von ihren Helfershelfern und von denFrauen, die die Familie zerrütten und ihren Männern und Kindernum nichts nachstehen!

Gott sei Dank bin ich noch nie mit den Söhnen des Loyola inBerührung gekommen und ich habe auch keine Neigung dazu. Esist sonderbar, je mehr ich auf meinen christlichen Glauben ver-traue, um so mehr verabscheue ich diejenigen, die ihn uns lehren.Zum Glück kann man aber Gott lieben, ohne die Priester liebenzu müssen.

Page 20: Programmbuch

Winton Dean

Zur Musik von «Les Pécheurs de perles»Der Vertrag über «Les Pêcheurs de perles» wurde Anfang April 1863 unterzeichnet. DieAufführung sollte Mitte September stattfinden. Bizet hatte somit nicht viel Zeit. Gounodriet ihm, eher im Schneckentempo fortzuschreiten als sich zu hetzen und sich nicht unterdem Vorwand, die Zeit sei zu knapp, zu übereilen. Nachdem er Bizet nahe gelegt hatte,er solle sich ganz an sich selbst halten («denn Sie sind zwar heute allein, aber morgen liegtIhnen die Welt zu Füssen») nahm er zu Klagen Bizets Stellung: «Sie bedauern, dass dieherrschenden Gesetze keine Ermordung bestimmter Musiker gestatten? Freilich ist sie er-laubt, und das göttliche Recht befiehlt sie sogar. Nur müssen Sie sich selbst über die Mittelklar werden. Wir töten alle: Die Metzger das Vieh, der Faule die Zeit, Journalisten dieToten, gute Werke die schlechten. In zwanzig Jahren werden Wagner, Berlioz und Schu -mann eine stolze Zahl von Opfern auf ihrem Konto haben; haben wir nicht schon einigeseinerzeit grosse Namen von Beethovens Schlägen halb hingemordet gesehen? Was wardas für ein Blutbad! Seien Sie auf der Seite der Mörder, zwischen dieser und der Seite derOpfer gibt es keinen Mittelweg.»

Kluge Worte, zur richtigen Zeit gewählt: für Bizet war dies System wertvoller als GounodsVorbild. Die Uraufführung, auf den 14. September terminiert, musste noch wegen derIndisposition Léontine de Maësens, der Darstellerin der Léïla, bis zum 30. September ver-schoben werden, und auch da war die Sängerin noch nicht ganz wieder auf der Höhe.Die Oper war ein mittelmässiger Erfolg, wenngleich das Publikum von der Lebendigkeitder Orchestrierung und der Gewagtheit der Harmonik eher überrascht denn begeistertwar. Bizet wurde am Ende auf die Bühne gerufen und enthusiastisch beklatscht (für Land-ormys Vermutung, dass die Ovationen nur dadurch zustande kamen, dass Bizet seineFreunde sorgfältig über den ganzen Saal verteilt hatte, gibt es keine stichhaltigen Be -weise). Louis Gallet, der Bizet damals zum ersten Mal sah, beschrieb ihn als etwas be nom -men; gesenkten Hauptes zeigt er nur ein Gestrüpp fester, lockiger Haare über seinemrunden, noch ziemlich kindischen Gesicht, das aber von seinen lebendigen, strahlendenAugen belebt war, die den ganzen Saal mit Freude und Verwirrung zugleich in sich auf-nahmen. Nach Pierre Berton, einem anderen Zuhörer, wurde Bizet von seinen Altersge -nossen bereits als Anführer einer jungen französischen Schule gefeiert: «Der Mensch Bizetzeigte damals derart seltene und bezaubernde Eigenschaften, dass man dem Künstlerseine verwirrende Überraschung verzieht.»

Dies mag die Stellungnahme der Presse verstehen helfen, die sich mit einer Ausnahmeals kühl und herablassend beschreiben lassen. Bizet wurde beschuldigt, Wagner, Félicien

Page 21: Programmbuch

David und die «ungestümen Affekte» der modernen italienischen Schule (Verdi) nach-ahmen zu wollen, «harmonische Bizarrerien, die aus irregeleiteter Suche nach Originalitätentsprungen sind», und die unverzeihliche Sünde der Schwärmerei begangen zu haben;sein Talent sei in etwa dem des Albert Grisar zu vergleichen (einem der trivialsten Kom-ponisten der Opéra-Comique), und an Pathetisches möge er sich doch bitte nie heran-wagen. Jouvin («Le Figaro») bezeichnete die Oper als Lärm-Orgie, Gustave Bertrand («LeMénestrel») schloss seine Rezension mit dem aufgeblähtem Tadel, dass Bizet am Endeder Vorstellung auf der Bühne erschienen sei; wenn er schon habe kommen müssen, dannhätte er sich dazu nötigen lassen oder sich zumindest den Anschein dessen geben müssen.Johannes Weber («Le Temps») erging sich gleichermassen spitzfindig in Nebensächlich-keiten. Die eine Ausnahme – und zwar eigentlich grundsätzlich in der französischenMusik kritik der Zeit – war Berlioz, der seinen letzten Artikel für «Journal des Débats»Bizets Oper widmete und diese dabei sorgfältig analysierte. Er griff einige besonders ein -fallsreich komponierte Sätze heraus, um ihnen sein Lob zuteil werden zu lassen, darunterden Eingangschor und den herrlichen Chor zu Beginn des zweiten Aktes. Besonders lobteer die Sorgsamkeit und den Einfallsreichtum Bizets in der Orchestrierung, wies aber denChor «Ah, chante, chante encore» zurück, «dessen Rhythmus zu den Dingen gehört, dieman heutzutage nicht benutzen sollte». Mit typischer Ironie betonte er, Bizet sei aus Romzurückgekehrt, ohne die Musik verlernt zu haben, und schloss: «Die Partitur zu ‹lesPêcheurs de perles› macht Monsieur Bizet alle Ehre, so dass wir ihn trotz seiner grossenBegabung im Vom-Blatt-Spiel als Komponisten zu akzeptieren haben.»

Berlioz kämpfte wie üblich auch diesmal auf verlorenem Posten. Die Oper errang zwarbei Bizets Kunstgenossen einen gewissen Achtungserfolg: Ludovic Halévy hörte sie drei -mal, stellte «ausgesprochen seltene Eigenschften» fest und schrieb in sein Tagebuch: «Indiesem Erstling liegt eine Sicherheit, eine Ruhe, ein unbeschwerter und sachkundigerUm gang mit Chören und dem Orchester, wie sie mit Sicherheit einen wahren Kompo -nisten ankündigen.»

Im Unterschied zu dem erwähnten Félicien David, dessen exotische Musik («Le Désert»)Selbstzweck war, ein Versuch, Bilder zu malen, deren Farben fremd und aufregend sind,benutzte Bizet das exotische Element, um Charakterzüge und dramatische Atmosphärezu transportieren. Der einleitende Chor lässt vor dem Hörer ein weit lebendigeres Bildentstehen, als man es als Leser des Textes erwartete; mit seiner scharfen Rhythmik, seinenharten Modulationen und chromatischen Ansätzen wirft er das Publikum mitten in dieHandlung der Oper hinein, und wer 1863 im Publikum dem Stück aufmerksam folgte (wiezum Beispiel Berlioz), dem entging nicht, dass hier ein neuer und bis ins Innerste dra ma -tisch empfindender Komponist am Anfang seiner Laufbahn stand. Die sorgfältig aus-gearbeitete Coda, in der die Melodie sich über einem Orgelpunkt allmählich in einzelneBruchstücke verliert, weist bereits auf «Carmen» voraus. Ebenso gut ist der blutrünstigec-Moll-Chor «Dès que le soleil» in der Schlussszene, zu dessen Feuer auch etwas von derBehändigkeit eines Mendelssohn-Scherzos tritt.

Page 22: Programmbuch

Auch in den wirkungsvollen Solosätzen findet man jenes Element, in Nadirs «De monamie» zum Beispiel, das mit seiner diffizilen Rhythmik (12/8-Takt mit gelegentlichemWechsel in 9/8-Takt), seinem Schwanken zwischen Dur und Moll und seiner Harfenbe -gleitung von eindringlicher, beklemmender Schönheit ist.

Auch in harmonischer Hinsicht geht Bizet über Davids Leistungen hinaus, die weitgehendaus ostinaten Rhythmen oder speziellen Effekten über Orgelpunkten (oder beidem) be-stehen. Seine Techniken ritt Davis zu Tode, und er vermied ernsthafte Zusammenstösse.Sein Verdienst liegt darin, eine Tür aufgestossen zu haben, aber er war nicht begabt ge -nug, um sie zu durchschreiten und das Territorium in Besitz zu nehmen, das hinter ihrlag. Bizet war vermutlich der erste, der dies dann tatsächlich tat, und obgleich ihm nochUnzählige folgten, liegt in seinen Lösungen des Problems häufig eine Unverbrauchtheit,wo sich exotische Abschnitte jüngerer Komponisten bereits wieder getrübt haben. DerGrund dafür liegt allein in der Qualität der Musik. Bizet war wie David vom musikalischenMittel des Orgelpunktes begeistert, das in jedem Fall en Gemeinplatz ist, benutzte ihnaber, um über ihm mit Chromatik zu spielen, dehnte damit die funktionalen Möglichkei -ten des Orgelpunktes aus und entwickelte dabei eines seiner fruchtbarsten Stilelemen -te. Auch bei ihm kam es zu keinen Exzessen, aber mit den neu gewonnen Möglichkeitenkonnte er die Ausdrucksfähigkeit seiner Musik erweitern. Vermutlich diese Experimenteriefen den Widerspruch Halévys und der übrigen Lehrer hervor. Heutzutage klingen siemilde, können aber noch immer einen aufmerksamen Hörer mit dem Gefühl des Neuenanrühren.

Bizet arbeitet mit der Kombination von Chromatik und Orgelpunkt in dreierlei Hinsicht:als Element der Abwechslung in textloser, absoluter Musik, als Ausdrucksmittel für eineexotische Farbe oder Atmosphäre, womit fast immer dramatische Absichten verbundenwaren, und als Spannungselement in Krisensituationen. Die erste Möglichkeit wurde ander C-Dur-Sinfonie und den «Variations chromatiques» vorgestellt, die zweite kommt in«Les Pêcheurs de perles» häufig zu Entfaltung (zum Beispiel im Einleitungschor). Amüberzeugendsten arbeitete er jedoch mit der dritten Methode, in «Les Pêcheurs deperles» besonders intensiv.

Im zweiten Akt erinnert Nourabad Léïla an ihr Gelübde, dessen Geist sie bereits halb ver-letzt hat, verlässt den Raum, und sie bleibt mit ihrer Angst und ihren Sorgen allein; diehierzu eintretende Orchesterbegleitung hat eine beeindruckende Wirkung.

Page 23: Programmbuch

Der Auftritt des eifersüchtigen Zurga am Anfang des dritten Aktes wird von ruhigenchromatischen Skalen in Gegenbewegung über einem Orgelpunkt begleitet – ein Genie -blitz, der in Mitifios Auftritt in «L’Arlésienne» eine Wiederholung fand. Auch «L’ombredescend», der Eingangschor des zweiten Aktes, weist auf «L’Arlésienne» voraus: die Bässewerden in Quinten geführt und behalten ihren ratternden Rhythmus zusammen miteinem Tamburin den ganzen Satz über bei, nur von zwei Pikkoloflöten begleitet, derenTriller und Arpeggien dem Satz einen ganz entlegenen Zauber verleihen, der aber fürBizet sehr typisch ist.

Immer wieder fand Bizet den musikalisch passendsten Ausdruck, mit dem sich eine Situa -tion ohne unnötigen Kräfteverschleiss überzeugend zusammenfassen läst – was ja dochdas höchste Ziel eines Opernkomponisten zu sein hat. Ein solcher genial getroffenerMoment ist Léïlas Keuschheitsgelübde im ersten Akt:

Dies sind die ersten Worte, die sie überhaupt singt, und die Phrase wird noch zweimalwiederholt. Im nächsten Augenblick erkennen Nadir und sie einander; Zurga bemerkt ihrZögern, weiss dafür aber keinen Grund und biete ihr an, sie vom Gelübde zu lösen, be-vor es dafür zu spät ist. Sie reisst sich zusammen:

Page 24: Programmbuch

Den Tonfall ihrer Erwiderung traf Bizet so erst wieder in Carmen, besonders in Carmens«mais que je vive ou que je meure, / Non, je ne te céderai pas!», wo dieselbe Grundstim -mung wie in Léïlas Bekräftigung ihres Schwures in einer ähnlichen und ebenso über-zeugenden Phrase zum Ausdruck kommt. In der Vertonung von Léïlas Worten findet manjedenfalls Wurzeln für die flexible, rezitativische Melodik, mit der Bizet später in «Carmen»so sorgfältig arbeitet (Seguidilla, Kartenszene, Schlussduett) und das sicherlich noch fort-entwickelt worden wäre, wenn Bizet ein längeres Leben beschieden gewesen wäre.

Worüber sich zeitgenössische Kritiker am meisten den Kopf zerbrachen, war die Orches-trierung. Sie fanden sie schrecklich laut und überladen (einer bezeichnete die Oper als«fortissimo in drei Akten»), und tatsächlich lässt sich vorstellen, dass Bizets Musik ein Ohrschmerzte, das nur Auber gewöhnt war. Die pompöseren Abschnitte – in denen Bizet al-lerdings am unselbständigsten erscheint – sind ohne Meyerbeer und Gounod kaum zudenken, deren Partituren damals als der Gipfel romantischer Extravaganzen galten.(Berlioz freilich erschien seinen Hörern schlicht exzentrisch). Nadirs «Des savanes et desforêts», wo die Singstimme von Celli und Fagotten (unter langen Streichertremoli) mit-gespielt wird, spiegelt Methoden Meyerbeers und des jungen Richard Wagner wider.

Der instrumentale Abschnitt im Eingangschor, in dem Melodie und Klanglichkeit bei dreisolistischen Bläsern liegen, während Bratschen, Celli, Tamburin und Triangel beständigin leeren Quinten an einer bestimmten rhythmischen Figur festhalten, schafft für dieHandlung genau die richtige Farbe. Auch erhalten hier bereits Flöte und Harfe, zwei In-strumente, für deren Möglichkeiten Bizet besonderes Verständnis entwickelte, heraus-ragende Aufgaben zugewiesen. Sie stellen miteinander das Thema des Duetts «Au fonddu temple saint» vor, über dessen spätere Eintritte die Flöte, getragen von Streicher-tremoli, besondere Rechte zu beanspruchen scheinen. Das Englischhorn, dessen ersterAuftritt in Nadirs zauberhaft instrumentierter Romanze sich zu höchster Wirkung ent -faltet, wird ansonsten sparsam eingesetzt, ebenso das Schlagzeug. Wenn also Teile derPartitur mit den Konventionen der Zeit gehen, gibt es doch klare Anzeichen für dasPikante, Biegsame und den ökonomischen Einsatz bestimmter Mittel, die Bizets Arbeits-stil in späteren Werken besonders auszeichnen.

Page 25: Programmbuch

Seit Beginn der geschichtlichen Überlieferung, und vermutlich schon seit dem Ende desSteinzeitalters, gab es auf der Welt drei Menschengattungen: die Ober-, die Mittel- unddie Unterschicht. Sie waren in sich mehrfach unterteilt, führten zahllose verschiedene Na-mensbezeichnungen, und sowohl ihr Zahlenverhältnis wie ihre Einstellung zueinanderwandelten sich von einem Jahrhundert zum anderen; die Grundstruktur der mensch-lichen Gesellschaft jedoch hat sich nie gewandelt. Sogar nach gewaltigen Umwälzungenund scheinbar unrückführbaren Veränderungen hat sich immer wieder die gleiche Ord-nung durchgesetzt, genau wie ein Kreisel immer wieder das Gleichgewicht herzustellenbestrebt ist, wie sehr man ihn auch nach der einen oder anderen Seite neigt.

Die Zielsetzungen dieser drei Gruppen sind miteinander vollkommen unvereinbar. DasZiel der obersten ist, sich dort, wo sie ist, zu behaupten. Das der Mittelklasse, den Platzder obersten einzunehmen. Das der Unterklasse ist, wenn sie überhaupt ein Ziel hat –denn es ist ein bleibendes Charakteristikum der unteren, dass sie durch ihre mühseligeArbeit zu sehr zermürbt ist, um in sich mehr als hin und wieder ihre Alltagssorgen bewusstwerden zu lassen –, alle Unterschiede abzuschaffen und eine Gesellschaftsordnung insLeben zu rufen, vor der alle Menschen gleich sind. So wiederholt sich die ganze Geschichtehindurch ein in seinen Grundlinien gleicher Kampf immer wieder von neuem. Währendlangen Zeitspannen scheinen die Oberen sicher an der Macht zu sein, aber früher oderspäter kommt immer ein Augenblick, in dem sie entweder ihr Selbst oder ihre Fähigkeitstrenger Zucht, oder beides zugleich, verlieren. Dann werden sie von den Angehörigender Mittelklasse gestürzt, die die Unteren auf ihre Seite ziehen, indem sie ihnen vor-gaukeln, für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Sobald sie ihr Ziel erreicht haben,drängen die Angehörigen der Mittelklasse die Unteren wieder in ihre alte Knecht-schaftsstellung zurück und werden selber zur Oberklasse. Bald darauf spaltet sich voneiner der anderen Gruppen oder auch von beiden eine neue Mittelgruppe ab, und derKampf beginnt wieder von vorne. Von den drei Gruppen gelingt es allein der unterennie, auch nur zeitweise ihre Ziele zu erreichen. Es wäre eine Übertreibung, behauptenzu wollen, dass im Verlauf der Geschichte kein materieller Fortschritt erzielt worden sei.Selbst heutzutage, in einer Periode des Niedergangs, ist der Durchschnittsmenschphysisch besser daran als vor ein paar Jahrhunderten. Aber keine Steigerung des Wohl-standes, keine Verfeinerung der Sitten, keine Reform oder Revolution haben dieGleichheit der Menschen jemals auch nur um einen Millimeter der Verwirklichung näher-gebracht. Vom Gesichtspunkt der Unteren aus hat kein geschichtlicher Wandel jemalsetwas anderes bedeutet als eine Änderung im Namen ihrer Beherrscher.

George Orwell

Unwissenheit ist Stärke

Page 26: Programmbuch

Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Regelmässigkeit dieses Turnus vielen Beob -achtern bewusst geworden. Daraufhin entstanden damals philosophische Richtungen,welche die Geschichte als einen sich zyklisch wiederholenden Prozess auslegten und auf-zeigen wollten, dass Ungleichheit ein unabänderliches Gesetz des menschlichen Lebenssei. Diese Lehre hatte natürlich schon immer ihre Anhänger gehabt, aber in der Art undWeise, wie sie jetzt hervortrat, äusserte sich ein bezeichnender Wandel. In der Vergan -gen heit war die Notwendigkeit einer hierarchischen Gesellschaftsform die Doktrin ge -wesen, die von den Oberen vertreten wurde. Sie wurde von Königen, Adligen und Prie -stern, den Rechtspflegern und ähnlichen Leuten, die daraus Nutzen zogen, gepredigtund gewöhnlich durch Versprechungen einer Vergeltung in einer imaginären Welt jen-seits des Grabes schmackhafter gemacht. Die Mittelklasse hatte immer, solange sie umdie Macht kämpfte, Worte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit im Mundegeführt. Jetzt begannen jedoch diejenigen die Auffassung von Brüderlichkeit einer Kritikzu unterziehen, die noch keine herrschende Stellung innehatten, sondern lediglich hoff -ten, bald zu einer zu kommen. In der Vergangenheit hatte die Mittelklasse Revolu tionenunter dem Banner der Gleichheit gemacht und dann eine neue Tyrannei aufgerichtet,sobald die alte gestürzt war. Die neuen Mittelgruppen aber proklamierten ihre Tyranneigleich im voraus. Der Sozialismus, eine Theorie, die Anfang des neunzehnten Jahrhun -derts auftauchte und das letzte Glied einer Gedankenkette war, die bis zu den Sklaven-aufständen des Altertums zurückreichte, war noch heftig von dem Utopismus vergan -gener Zeitalter infiziert. Aber in jeder von 1900 an sich geltend machenden Spielart diesesSozialismus wurde das Ziel, sich für Freiheit und Gleichheit einzusetzen, immer unum -wundener aufgegeben. Die neuen Bewegungen endlich, die um die Mitte des Jahr-hunderts auftauchten, Engsoz in Ozeanien, der Neo-Bolschewismus in Eurasien und dersogenannte Todeskult, wie er gewöhnlich bezeichnet wird, in Ostasien, setzten es sichbewusst zum Ziel, Unfreiheit und Ungleichheit zum Dauerzustand zu machen.

Diese neuen Bewegungen gingen natürlich aus den alten hervor und hatten die Neigung,deren Namen beizubehalten und ihren Ideologien äusserlich Anerkennung zu zollen.Aber alle zielten darauf ab, dem Fortschritt Einhalt zu gebieten und die Geschichte in ei -nem geeigneten Augenblick für immer zum Stillstand zu bringen. Das Pendel sollte nocheinmal wie üblich ausschlagen, doch dann sollte es stehenbleiben. Wie gewöhnlich soll -ten die Oberen von den Mittleren verdrängt werden, die damit zu Oberen wurden. Aberdiesmal sollten die Oberen durch eine bewusste Strategie instand gesetzt werden, ihreStellung für immer zu behaupten. Die neuen Lehren traten teils infolge der Anhäu fung

Page 27: Programmbuch

historischen Wissens und eines zunehmenden Verständnisses für Geschichte in Erschei -nung, das es vor dem neunzehnten Jahrhundert kaum gegeben hatte. Die zyklischeBewegung der Geschichte war jetzt erkennbar oder schien es wenigstens zu sein. Wennsie aber erkennbar war, konnte man sie auch ändern. Der hauptsächliche, tiefere Grundjedoch lag darin, dass bereits anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheit derMenschen technisch möglich geworden war. Es galt zwar noch immer, dass die Menschenin bezug auf ihre angeborenen Begabungen nicht gleich waren und dass für die Erfüllungbestimmter Aufgaben eine Auswahl getroffen werden musste, bei der einzelne gegen-über anderen bevorzugt wurden. Aber es bestand keine wirkliche Not wendig keit mehrfür Klassen- oder bedeutende Besitzunterschiede. In früheren Zeiten warenKlassenunter schiede nicht nur unvermeidbar, sondern sogar erwünscht gewesen. Un-gleichheit war der Preis der Kultur gewesen. Mit der Weiterentwicklung der maschinellenProduk tion änderte sich jedoch die Sachlage. Auch wenn die Menschen noch die eineoder ande re Arbeit selbst verrichten mussten, brauchten sie deshalb doch nicht längerauf verschie denen sozialen oder wirtschaftlichen Stufen zu leben. Gerade deshalb warvom Gesichtspunkt der neuen Gruppen, die im Begriff standen, die Macht zu ergreifen,menschliche Gleichheit kein erstrebenswertes Ideal mehr, sondern eher eine Gefahr, dieverhütet werden musste. In primitiveren Zeitaltern, als eine gerechte und friedlicheGesellschafts ordnung praktisch unmöglich war, war es ganz leicht gewesen, an diesegerechte und friedliche Ordnung zu glauben. Der Vorstellung eines Paradieses auf Erden,in dem die Menschen ohne Gesetze und ohne schwere Arbeit in einem Zustand der Ver-brüderung leben sollten, hatte der menschlichen Phantasie Tausende von Jahren hin-durch vorge schwebt. Und die Vision hatte sogar noch einen gewissen Einfluss auf dieGruppen ausgeübt, die in Wirklichkeit aus jeder geschichtlichen Veränderung Vorteilzogen. Die Erben der französischen, englischen und amerikanischen Revolution hattenteilweise an ihre eigenen Phrasen von Menschenrechten, freier Meinungsäusserung,Gleichheit vor dem Gesetz und dergleichen mehr geglaubt und hatten sogar ihr Ver-halten bis zu einem gewissen Grade davon beeinflussen lassen.

Aber mit dem vierten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts wurden alle Haupt-strömungen des politischen Denkens autoritär. Das Paradies auf Erden war in genau demAugenblick in Misskredit geraten, in dem es der Verwirklichung naherückte. Jede neuepolitische Theorie führte, wie immer sie sich nannte, zu Klassenherrschaft und Reglemen -tierung. Und bei der ungefähr um das Jahr 1930 einsetzenden Vergröberung der sittli -chen Auffassung wurden Praktiken, die seit langem, in manchen Fällen seit Hundertenvon Jahren, aufgegeben worden waren, – wie Verhaftung ohne Gerichtsbeschluss, dieVerwendung von Kriegsgefangenen als Arbeitssklaven, öffentliche Hinrichtungen,Folterung zwecks Erpressung von Geständnissen, die Gefangennahme von Geiseln unddie Deportation ganzer Bevölkerungsteile – nicht nur wieder allgemein üblich, sondernauch von Menschen geduldet und sogar gutgeheissen, die sich für aufgeklärt und fort-schrittlich hielten. Erst nach einem ganzen Jahrzehnt nationaler Kriege, Revolutionen

Page 28: Programmbuch

und Gegenrevolutionen in allen Teilen der Welt traten Engsoz und seine Rivalen als sichvoll auswirkende politische Doktrinen hervor. Doch waren sie von den verschiedenen,gewöhnlich als «totalitär» bezeichneten Systemen, die sich schon früher in diesem Jahr-hundert gezeigt hatten, bereits angekündigt worden, und ebenso waren die grossenUmrisse der Welt, die aus dem herrschenden Chaos hervorgehen würden, seit langem of-fenkundig gewesen. Welche Art von Menschen in dieser neuen Welt die Macht ausübenwürde, war ebenfalls deutlich geworden. Die neue Aristokratie setzte sich zum grösstenTeil aus Bürokraten, Wissenschaftlern, Technikern, Gewerkschaftsfunktionären, Propa -gandafachleuten, Soziologen, Lehrern, Journalisten und Berufspolitikern zusammen.Diese Menschen, die aus der Angestelltenklasse und der gehobenen Arbeiterschaftstammten, waren durch die dürren Jahre der monopolistischen Industrie und der zentra -listischen Regierung geformt und zusammengeführt worden. Mit früheren Generationender beherrschenden Klasse verglichen, waren sie weniger besitzgierig, weniger luxusbe -dürftig, mehr auf blosse Macht versessen, und vor allem bewusster in ihrem Handeln undmehr darauf bedacht, ihre Opposition zu vernichten.

Dieser letztere Unterschied war grundlegend. Im Vergleich mit der heutigen waren alleTyranneien der Vergangenheit lau und wirkungslos. Die herrschenden Gruppen warenfrüher immer bis zu einem gewissen Grade von liberalen Ideen infiziert und damit zu-frieden gewesen, überall ein Hintertürchen offen zu lassen – nur die sichtbaren Taten insAuge zu fassen und sich nicht darum zu kümmern, was ihre Untertanen dachten. Sogardie katholische Kirche des Mittelalters war, an neuzeitlichen Massstäben gemessen,tolerant gewesen. Ein Grund dafür war, dass in der Vergangenheit keine Regierung dieMacht besass, ihre Bürger unter dauernder Überwachung zu halten. Die Erfindung derBuchdruckerkunst machte es schon leichter, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, undFilm und Radio förderten diesen Prozess weiter. Mit der Entwicklung des Fernsehens aberund dank des technischen Fortschritts, der es ermöglichte, mit Hilfe desselben Instrumentsgleichzeitig zu empfangen und zu senden, war das Privatleben zu Ende. Jeder Bürgeroder doch jeder Bürger, der einer Überwachung für wert befunden wurde, konnte vier-undzwanzig Stunden des Tages den Argusaugen der Polizei und dem Trommeln deramtlichen Propaganda ausgesetzt werden, während ihm alle anderen Mittel der Kom-munikation verschlossen blieben. Zum ersten Mal bestand die Möglichkeit, allen Unter -tanen nicht nur vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Willen des Staates, sondernauch vollkommene Meinungsgleichheit aufzuzwingen. Nach der revolutionären Periodeder fünfziger und sechziger Jahre unseres Jahrhunderts gruppierte sich die menschlicheGesellschaft wie immer wieder in eine Ober-, eine Mittel- und eine Unterschicht. Aberdie neue Oberschicht handelte anders als ihre Vorläufer, nicht aus dem Instinkt heraus,sondern weil sie wusste, was nötig war, um ihre Stellung zu behaupten. Man war seitlangem dahintergekommen, dass die einzig sichere Grundlage einer Oligarchie imKollektivismus beruht. Wohlstand und Vorrechte werden am leichtesten verteidigt, wennsie Gemeinbesitz sind. Die sogenannte «Abschaffung des Privateigentums», die um die

Page 29: Programmbuch

Mitte des Jahrhunderts vor sich ging, bedeutete praktisch die Konzentration des Besitzesin weit weniger Händen als zuvor; doch mit dem Unterschied, dass die neuen Besitzereine Gruppe waren, statt einer Anzahl von Einzelmenschen. Als Einzelnem gehört keinemParteimitglied etwas, ausser seiner unbedeutenden persönlichen Habe. Kollektiv gehörtin Ozeanien der Partei alles, da sie alles beherrscht und über alle Erzeugnisse nach Gut -dünken verfügt. In den auf die Revolution folgenden Jahren konnte sie nahezu wider-standslos diese beherrschende Stellung einnehmen, da das ganze Verfahren als Kollekti-vierung hingestellt wurde. Man hatte immer angenommen, dass auf die Enteignung derKapitalistenklasse der Sozialismus folgen müsse; und fraglos waren die Kapitalisten ent-eignet worden. Fabriken, Bergwerke, Land, Häuser, Transportmittel – alles war ihnenweg genommen worden, und da diese Dinge nicht mehr Privateigentum waren, musstensie mithin öffentlicher Besitz sein.

Aber die Probleme, eine ewige hierarchische Gesellschaftsordnung einzusetzen, liegentiefer. Es gibt nur vier Möglichkeiten, auf die eine herrschende Gruppe der Macht ver-lustig gehen kann. Entweder wird sie von aussen besiegt; oder sie regiert so ungeschickt,dass die Massen zum Aufstand aufgerüttelt werden; oder sie lässt eine starke und un-zufriedene Mittelschicht aufkommen; oder sie verliert ihr Selbstvertrauen und dasInteresse am Regieren. Diese Gründe wirken nicht vereinzelt, und in der Regel sind allevier von ihnen in gewissem Umfang vorhanden. Eine herrschende Klasse, die sich gegenalle vier schützen könnte, würde dauernd an der Macht bleiben. Und letzten Endes istder entscheidende Faktor die geistige Einstellung der herrschenden Klasse selbst. Nachder Mitte des gegenwärtigen Jahrhunderts war die erste Gefahr praktisch verschwunden.Jeder der drei Grossstaaten, die sich heute in die Welt teilen, ist faktisch unüberwindlichund könnte nur durch langsame Änderungen in der Zusammensetzung seiner Be völke -rung, die eine Regierung mit weitgehender Macht leicht verhindern kann, besiegbargemacht werden. Die zweite Gefahr ist ebenfalls nur eine theoretische. Die Massenrevoltieren niemals aus sich selbst heraus und lehnen sich nie allein aus dem Grunde auf,dass sie unterdrückt werden. Tatsächlich werden sie sich niemals, solange man ihnenkeine Vergleichsmassstäbe zu haben erlaubt, auch nur bewusst, dass sie überhaupt unter-drückt werden. Die immer wiederkehrenden Wirtschaftskrisen vergangener Zeitenwaren vollständig unnötig und werden jetzt einfach unterdrückt, dafür können aberandere und ebenso grundlegende Verschiebungen eintreten und treten auch ein, ohnedass sie politische Folgen haben, weil es einfach keinen Weg gibt, auf dem sich die Un-zufriedenheit äussern könnte.

Page 30: Programmbuch

Georges Bizet

Briefe an die Mutter

Rom, 20. März 1860

Sprechen wir nun ein bisschen von anderen Dingen. Hier hat gesterneine Protestkundgebung stattgefunden. Die italienischen Polizistenhaben 50 Personen niedergesäbelt und verwundet. Zwei französi-sche Offiziere in Zivil sind leicht verletzt worden. Der General deGoyon hat den Polizisten Recht gegeben und die Offiziere derb zu-recht gewiesen, die trotz seines ausdrücklichen Verbotes in Zivilaus gegangen waren. Alle Offiziere sind wütend darüber.

Victor Emanuel hat die Romagna und die Herzogtümer von Toska -na, Parma und Modena in Besitz genommen. Das bedeutet einen Zu-wachs von 11 oder 12 Millionen, also soviel wie Preussen.

Die Erregung hat unglaubliche Formen angenommen. Neapel ist inAufruhr. Man hat dort Angst vor Garibaldi. Wenn die Revolution inNeapel ausbricht und das Volk die Einverleibung Sardiniens verkün-det, wird alles zu Ende sein oder erst recht anfangen.

Es ist für einen Fürsten, der einen so kleinen Staat regierte, ein schö-ner Traum an der Spitze der ersten Macht zweiten Ranges, kurz: vordem Königtum über Italien mit einer Einwohnerzahl von 26 Millionenzu stehen.

Page 31: Programmbuch

Gustave Le Bon

Psychologie der Massen

Was ist eine Masse?

Im gewöhnlichen Wortsinn bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher Einzelnervon beliebiger Nationalität, beliebigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlassder Vereinigung.

Vom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck «Masse» etwas ganzanderes. Unter bestimmten Umständen, und nur unter diesen Umständen, besitzt eineVersammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der Einzelnen, die dieseGesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. Die bewusste Persönlichkeitschwindet, die Gefühle und Gedanken aller Einzelnen sind nach derselben Richtungorientiert. Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele, die wohl veränderlich, aber von ganzbestimmter Art ist. Die Gesamtheit ist nun das geworden, was ich mangels eines bes-seren Ausdrucks als organisierte Masse oder, wenn man lieber will, als psychologischeMasse bezeichnen werde. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz derseelischen Einheit der Massen (loi de l'unité mentale des foules). Die Tatsache, dass vieleIndividuen sich zufällig zusammenfinden, verleiht ihnen noch nicht die Eigenschafteneiner organisierten Masse. Tausend zufällig auf einem öffentlichen Platz, ohne einenbestimmten Zweck versammelte Einzelne bilden keineswegs eine Masse im psycho lo gi -schen Sinne. Damit sie die besonderen Wesenszüge der Masse annehmen, bedarf es desEinflusses gewisser Reize, deren Wesensart wir zu bestimmen haben.

Das Schwinden der bewussten Persönlichkeit und die Orientierung der Gefühle undGedanken nach einer bestimmten Richtung, die ersten Vorstösse der Masse auf demWeg, sich zu organisieren, erfordern nicht immer die gleichzeitige Anwesenheit meh -rerer Einzelner an einem einzigen Ort. Tausende von getrennten Einzelnen können imgegebenen Augenblick unter dem Einfluss gewisser heftiger Gemütsbewegungen, etwaeines grossen nationalen Ereignisses, die Kennzeichen einer psychologischen Masse an -nehmen. Irgendein Zufall, der sie vereinigt, genügt dann, dass ihre Handlungen so gleichdie besondere Form der Massenhandlungen annehmen. In gewissen historischen Augen -blicken kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachen,während hunderte zufällig vereinigte Menschen sie nicht bilden können. Andererseitskann bisweilen ein ganzes Volk ohne sichtbare Zusammenscharung unter dem Druckge wisser Einflüsse zur Masse werden.

Page 32: Programmbuch

Hat sich eine psychologische Masse gebildet, so erwirbt sie vorläufige, aber bestimm-bare allgemeine Merkmale. Diesen allgemeinen Merkmalen gesellen sich besondereKennzeichen veränderlicher Art hinzu, je nach den Elementen, aus denen die Masse sichzusammensetzt und durch die ihre geistige Struktur zu verändern ist.

Gesetz von der seelischen Einheit der Massen

Das Überraschendste an einer psychologischen Masse ist: welcher Art auch die Einzelnensein mögen, die sie bilden, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäfti gun -gen, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den blossen Umstand ihrer Um -formung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele, vermöge deren sie in ganzandrer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denkenund handeln würde. Es gibt gewisse Ideen und Gefühle, die nur bei den zu Massen ver-bundenen Einzelnen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen. Die psychologischeMasse ist ein unbestimmtes Wesen, das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht, diesich für einen Augenblick miteinander verbunden haben, genau so wie die Zellen desOrganismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaftenals denen der einzelnen Zellen bilden.

In Widerspruch zu einer Anschauung, die sich befremdlicherweise bei einem so scharf-sinnigen Philosophen wie Herbert Spencer findet, gibt es in dem Haufen, der eine Massebildet, keineswegs eine Summe und einen Durchschnitt der Bestandteile, sondern Zu -sam menfassung und Bildung neuer Bestandteile, genau so wie in der Chemie sich be -stimmte Elemente, wie z. B. die Basen und Säuren, bei ihrem Zustandekommen zurBildung eines neuen Körpers verbinden, dessen Eigenschaften von denen der Körper,die an seinem Zustandekommen beteiligt waren, völlig verschieden sind.

Umwandlung der Gefühles des Einzelnen

Das Auftreten besonderer Charaktereigentümlichkeiten der Masse wird durch verschie -dene Ursachen bestimmt. Die erste dieser Ursachen besteht darin, dass der Einzelne inder Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht er -

Page 33: Programmbuch

langt, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die er für sich allein notwendig ge zü -gelt hätte. Er wird ihnen um so eher nachgeben, als durch die Namenlosigkeit und dem-nach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefühl, das die Ein zel -nen stets zurückhält, völlig verschwindet.

Eine zweite Ursache, die geistige Übertragung (contagion mentale), bewirkt gleichfallsdas Erscheinen der besonderen Wesenszüge der Masse und zugleich ihre Richtung. DieÜbertragung ist leicht festzustellen, aber noch nicht zu erklären; man muss sie den Er -scheinungen hypnotischer Art zuordnen, mit denen wir uns sogleich beschäftigen wer -den. In der Masse ist jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar, und zwar in so hohemGrade, dass der Einzelne sehr leicht seine persönlichen Wünsche den Ge samt wün schenopfert. Diese Fähigkeit ist seiner eigentlichen Natur durchaus entgegenge setzt, und nurals Bestandteil einer Masse ist der Mensch dazu fähig.

Noch eine dritte, und zwar die wichtigste Ursache, ruft in den zur Masse vereinigtenEin zelnen besondere Eigenschaften hervor, welche denen der alleinstehenden Einzel -nen völlig widersprechen: ich rede von der Beeinflussbarkeit (suggestibilité), von der dieoben erwähnte geistige Übertragung übrigens nur eine Wirkung ist.

Um diese Erscheinung zu verstehen, müssen wir uns gewisse neue Entdeckungen derPhysiologie vergegenwärtigen. Wir wissen heute, dass ein Mensch in einen Zustand ver-setzt werden kann, der ihn seiner bewussten Persönlichkeit beraubt und ihn allen Ein -flüssen des Hypnotiseurs, der ihm sein Bewusstsein genommen hat, gehorchen undHand lungen begehen lässt, die zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten inschärfstem Gegensatz stehen. Sorgfältige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen,dass ein Einzelner, der lange Zeit im Schosse einer wirkenden Masse eingebettet war,sich alsbald – durch Ausströmungen, die von ihr ausgehen, oder sonst eine noch unbe-kannte Ursache – in einem besonderen Zustand befindet, der sich sehr der Ver zau be -rung nähert, die den Hypnotisierten unter dem Einfluss des Hypnotiseurs überkommt.Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist, wird er der Sklave seinerunbewussten Kräfte, die der Hypnotiseur nach seinem Belieben lenkt. Die bewusstePersönlichkeit ist völlig ausgelöscht, Wille und Unterscheidungsvermögen fehlen, alleGefühle und Gedanken sind in die Sinne verlegt, die durch den Hypnotiseur beeinflusstwerden.

Ungefähr in diesem Zustand befindet sich der Einzelne als Glied einer Masse. Er ist sichseiner Handlungen nicht mehr bewusst. Während bei ihm, wie beim Hypnotisierten,gewisse Fähigkeiten aufgehoben sind, können andere auf einen Zustand höchster Über-spannung getrieben werden. Unter dem Einfluss einer Suggestion wird er sich mitunwiderstehlichem Ungestüm auf gewisse Taten werfen.

Page 34: Programmbuch

Und dies Ungestüm ist in den Massen noch unwiderstehlicher als bei den Hypnotisierten,weil die für alle Einzelnen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit wächst. Die Einzel -nen in einer Masse, die eine hinreichend starke Persönlichkeit haben, um dem Einfluss zuwiderstehen, sind in zu geringer Anzahl vorhanden, und der Strom reisst sie mit. Höch -stens können sie vermittels eines anderen Einflusses eine Ablenkung versuchen. Einglücklicher Ausdruck, ein im rechten Augenblick angewandter bildlicher Vergleich hatoft die Massen von den blutigsten Taten abgehalten.

Die Hauptmerkmale des Einzelnen in der Masse sind also: Schwinden der bewusstenPersönlichkeit, Vorherrschaft des unbewussten Wesens, Leitung der Gedanken undGefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zurunverzüglichen Verwirklichung der eingeflössten Ideen. Der Einzelne ist nicht mehr erselbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalthat.

Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrereStufen von der Leiter der Kultur hinab. Als Einzelner war er vielleicht ein gebildetesIndi viduum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar. Er hat die Unbe rechen -barkeit, die Heftigkeit, die Wildheit, aber auch die Begeisterung und den Heldenmutursprünglicher Wesen, denen er auch durch die Leichtigkeit ähnelt, mit der er sich vonWorten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verführen lässt, die seineaugenscheinlichsten Interessen verletzen. In der Masse gleicht der Einzelne einem Sand -korn in einem Haufen anderer Sandkörner, das der Wind nach Belieben emporwirbelt.

Aus diesem Grunde sprechen Schwurgerichte Urteile aus, die jeder Geschworene alsEinzelner missbilligen würde, Parlamente nehmen Gesetze und Vorlagen an, die jedesMitglied einzeln ablehnen würde. Einzeln genommen waren die Männer des Konventsaufgeklärte Bürger mit friedlichen Gewohnheiten. Zur Masse vereinigt zauderten sienicht, unter dem Einfluss einiger Führer die offenbar unschuldigsten Menschen aufsSchafott zu schicken, brachen unter Ausserachtlassung ihres eigenen Vorteils derenUnverletzlichkeit und verringerten ihre Schar.

Nicht nur in seinen Handlungen weicht das Glied der Masse von seinem normalen Ichab. Schon bevor es jede Unabhängigkeit einbüsste, haben sich seine Gedanken undGefühle umgeformt, und zwar so, dass der Geizige zum Verschwender, der Zweifler zumGläubigen, der Ehrenmann zum Verbrecher, der Hasenfuss zum Helden wird. Der Ver -zicht auf alle seine verbrieften Vorrechte, den der Adel in einem Augenblick der Be -geisterung in der berühmten Nacht vom 4. August 1789 leistete, wäre sicherlich vonseinen Mitgliedern als Einzelnen niemals angenommen worden.

Page 35: Programmbuch

Georges Bizet

Briefe an die Mutter

Rom, 30. März 1860

Wir warten immer noch auf bedeutende Ereignisse. Ein sonderba-res Gerücht ist hier im Umlauf. Der Herr General Lamoricière solldas Kommando über die päpstlichen Truppen übernehmen. Tat -sache ist, dass Monseigneur de Mèrode, der Pius IX. mit Leib undSeele ergeben ist, ihn nach Ascona geleitet hat. Man erwartet siemorgen im Vatikan. Man erlebt eigenartige Dinge in unserer Zeit.

Die Wahl der Italiener war prächtig. Mehrere französische Offizieresind für einen Monat in die Engelsburg eingeliefert woden. Ein er -bärmlicher Staat ist das, in dem man keine eigene Meinung habendarf. Die Haltung Englands gegenüber Neapel wird interessant.

Es ist wahrhaftig verwunderlich zu sehen, wie gut Europa die Pilleder Annexion von Savoyen geschluckt hat. Der Kaiser ist wirklichein aussergewöhnlicher Mensch. Man hat gut reden, aber Frank -reich verdankt ihm seine ganze kriegerische Macht stellung, und,bei Gott, das bedeutet etwas. Schreibe mir mal, wie man bei Euchdarüber denkt, und lebe wohl für heute.

Page 36: Programmbuch

opernhaus zürich


Recommended