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Phantom Baby

Date post: 03-Jan-2017
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Expose-Redaktion: H. G. Ewers Band 54 der Fernseh-Serie Raumpatrouille HANS KNEIFEL

Phantom - Baby Die Gefahr, die der irdischen Menschheit von Unandat-Vortha drohte, wurde durch das Eingreifen „Wendys" und schließlich durch den Sieg von TECOM über Unandat abgewendet. Vortha schlug eine Kreisbahn um den Mars ein — und Unandat dient der Menschheit inzwischen als eine untergeordnete Nebenstelle TECOMS. Dafür braute sich im Bermuda-Dreieck erneut eine Gefahr zusammen. Dort, wo man keine Gefahren mehr vermutet hatte, verschwand ein großes Frachtschiff. Doch zum erstenmal seit der den Menschen bekannten Geschichte des Bermuda-Dreiecks kam es dabei zum Auftauchen eines Objekts. Es handelte sich um eine düstere Land-masse, die bald nach ihrem Erscheinen spurlos wieder verschwand. Wieder einmal sollte die ORION-Crew das Rätsel lösen. Doch diesmal vermochten auch die erfahrenen Raumfahrer nichts auszurichten. Sie wurden hilflose Zeugen unheimlicher Phänomene, bei denen auch die Zeit eine Rolle zu spielen schien. Und auch sie sahen das Auftauchen und Verschwinden einer Landmasse, während mehrere U-Meßschiffe vom Teufelsdreieck verschlungen wurden. Unterdessen tauchte eine neue Gefahr für die Erde auf. „Wendy", wie die ORION-Crew den Großen Roten Fleck Jupiters nennt, sendet starke parapsychische Impulse aus und ruft damit nach ihrem „Baby". Die ORION-Crew soll gemeinsam mit den vorthanischen Blumenkindern versuchen, „Wendy" zur Einstellung ihrer Sendungen zu bewegen. Das gelingt auch. Dafür regt sich eine neue Hinterlassenschaft des Kosmischen In-fernos, die bisher im Sonnensystem geschlummert hatte. Es ist eine Hinterlassen-schaft des Varunja, die dafür vorgesehen war, Gutes zu bewirken. Doch die Zeit, in der das möglich gewesen wäre, ist unwiderruflich vorbei. Nur mit knapper Not können sich die Raumfahrer der ORION aus dem „Goldenen Käfig" retten. Aber schon steht ihnen ein neuer Einsatz ins Haus, denn irgendwo im Kosmos lauert PHANTOM-BABY...

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1. Han Tsu-Gol, der Regierungschef der

Erde und Befehlshaber von T.R.A.V., beugte sich vor und deutete anklagend auf Cliff McLane. In kalter Wut sagte er:

„Ich hoffe zu Ihrem eigenen Besten, Oberst, daß Sie sich nicht mit albernen Bemerkungen verteidigen, sondern mit Fakten und Argumenten. Sie und Ihre Crew wissen, worum es geht. Nehmen Sie es nicht leichtfertig."

„Keine Sorge", sagte Cliff und zeigte ein fast stei-nernes Gesicht, „nicht umsonst habe ich einen her-vorragenden Ver-teidiger. Wer urteilt eigentlich über uns?"

„Wir", sagte der Oberste Richter der Flotte und der Terrestrischen Raumflotten.

Die ORION-Crew war vollzählig, ein-schließlich Arlene, Cliffs Freundin. Sie standen vor dem Disziplinargericht der Terrestrischen Raumflotte. Han Tsu-Gol klagte sie an, und es sah jetzt und heute so aus, als wäre er entschlossen, bis zum bitteren Ende zu gehen. Cliff begann, etwa eine Stunde nach Anfang der Verhand-lung, zu ahnen, daß die Crew diesmal sich wohl kaum mit Eleganz aus der bedrohli-chen Lage würde befreien können. Aber in der Zeit zwischen dem Rückflug von Titan beziehungsweise Saturn hatten sie sich einige Varianten zur Verteidigung ausgedacht. Keiner hatte vor, klein beizugeben. Außerdem gab es keine technische Möglichkeit, die Manipulation des elektronischen Bordbuchs zu bewei-sen.

„In diesem Fall", entgegnete der Com-

mander scharf, „werden wir wohl die Dienstvorschriften gebührend strapazieren. Wir kennen sie auswendig."

„Sie können sicher sein, daß ich sie ebenfalls auswendig kenne!" rief der Regierungschef. Er wagte sich weit vor; normalerweise ließ er anklagen, anstatt dies selbst zu tun. „Also kennen wir alle sie auswendig!" stellte Hasso Sigbjörnson ruhig fest. Die Crew war in ihren Borduni-formen angetreten und machte einen

ernsten, ruhigen Eindruck.

„Sie sollten keine derartigen Bemer-kungen machen", erklärte einer der vier Beisitzer. Es war ebenfalls ein Oberst, wie McLane.

„Wir würden schneller zum Ende kommen", sagte Cliff achselzuckend, „wenn wir uns auf die wichtigen Dinge

des Abends konzentrieren würden. Ist unser Verteidiger anwesend, sprich: eingeschaltet?"

Die Hauptpersonen des Romans:

Cliff McLane, Mario, Atan, Hasso, Helgaund Arlene — Die ORION-Crew vorGericht.

Han Tsu-Gol — Der Regierungschef alsAnkläger.

Leandra de Ruyter und Tunaka Katsuro —Die Admiralin und der GSD-Chef alsZeugen.

TECOM — Ein Computer als Verteidiger.

Assimladja — Sprecherin der Blumen-kinder.

„Auch diese Frage", erklärte aus ver-steckten Lautsprechern eine künstliche, aber hervorragend modulierte Stimme, „ist unwichtig. Erstens bin ich immer einge-schaltet, zweitens ist es mir konstruktions-mäßig unmöglich, meine Aufgaben nicht wahrzunehmen."

„TECOM!" bemerkte Admiralin de Ruyter entgeistert. „Es ist unglaublich."

Cliff konnte sich nicht mehr be-herrschen. Er mußte einfach antworten. Die Verblüffung schien unter denen, die den „Verteidiger" nicht kannten, tatsäch-lich groß zu sein.

„Die Anklage wird nicht gerade klein-lich sein, also waren wir mit der Verteidi-gung es auch nicht, meine Damen und Herren!"

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Han Tsu-Gols Gesicht ließ nur un-deutlich erkennen, was der Mann dachte. Er hob die Hand und erklärte:

„Über die Personalien herrschen keine Unklarheiten. Die Besetzung des Gerichts ist bekannt. Wir können in die Verhand-lung eintreten. Ich will nicht ironisch sein, aber ich fragte die Verteidigung, ob sie bereit ist und irgendwelche Anträge stellen will."

„Ich bin bereit. Keine Anträge in diesem Stadium. Wie lautet die Anklage?"

Der Gerichtssaal war irgendein Raum in der Tiefe des Carpentaria-Golfs, ein Teil der Raumbasis 104. Lautsprecher, Scheinwerfer, eine niedrige Barriere, Schreibtische und verschiedenfarbige Sessel bildeten die Ausstattung.

„Die Anklage lautet: Unter der An-stiftung und Leitung des Kommandanten, Oberst Cliff Alistair McLane, und in der Ausführung hauptsächlich durch Funkerin Helga Legrelle hat die Crew der ORION Neun eindeutige Befehlsverweigerung begangen. Dieser schwere Verstoß wurde mit dem Versuch kaschiert, Funkstörungen zu haben. Die Verweigerung der Befehle hätte unübersehbaren Schaden für die Menschen der Erde und alle Kolonien heraufbeschwören können. Deshalb sehen wir uns gezwungen, diesen Fall offiziell zu behandeln. Als Zeugen sind anwesend:

Admiralin Leandra de Ruyter, der Diensthabende Funker des betreffenden Tages und Tunaka Katsuro, der Chef des GSD. Angeklagt ist die gesamte Crew, Verteidiger ist... TECOM."

Um den letzten Satz aussprechen zu können, mußte er sich förmlich überwin-den. Er hatte seine asiatische Geduld ziemlich eingebüßt. In einem winzigen Winkel seines Bewußtseins ahnte der Commander, daß die Rolle des Anklägers Han Tsu-Gol mit gelindem Widerwillen erfüllte.

„Kommen wir zum Protokoll des fragli-chen Tages und der bewußten Angelegen-

heit", sagte der Regierungschef halblaut, aber mit unüberhörbarer Schärfe. „Ich bitte, das Band abzuspielen."

Die Anklage hatte ihre Vorwürfe ge-sammelt und analysiert. Zusammen mit einer exakten zeitlichen Dokumentation wurden sämtliche Ereignisse, die zu dem Tatbestand der angeblichen Befehlsver-weigerung geführt hatten, per Bildschirm und Lautsprecher in wirklich her-vorragender Aufbereitung geschildert.

Die falschen Hilferufe aus Vortha, der Start nach Jupiter, die sehnsuchtsvollen Rufe des Großen Roten Flecks namens Wendy oder Gwendolyn, die Blumenkin-der und die kaum hörbare, unverständliche Antwort ihres angeblichen Babys, die Hyperfunksignale und die Lichter-scheinung über dem Pol Saturns. Alles, was von den Behörden, den beteiligten Besatzungen der CUNHILL und anderer Raumschiffe, den offiziellen Stellen bekannt war, wurde als Teil der Dokumen-tation für die wohlvorbereitete Anklage verwendet. Die fünf Türme aus unbekann-tem Material wurden nicht erwähnt, die verschiedenen kurzen Erklärungen der Crew ebenfalls nicht, und keiner hatte darüber gesprochen, was Cliff über sein Erlebnis innerhalb der sogenannten Mentorkugel berichtet hatte. Die Aufzäh-lung aller Dinge dauerte etwa neunzig Minuten.

Die Crew saß schweigend in den gelben Sesseln, sah und hörte alles und bewunder-te im stillen die nahezu perfekte Vorberei-tung, die innerhalb von wenig mehr als drei Tagen erfolgt war.

Cliff hatte kurz nach der Landung, von seinem weißen Wohnturm aus, sich nach der Möglichkeit erkundigt, die Crew und sich von TECOM verteidigen zu lassen. Zuerst stieß sein Antrag auf krasseste Ablehnung aller Beteiligten, aber es war einem hochbezahlten Juristen gelungen, ein Grundsatzurteil auszugraben, das TECOM hinreichend befähigte. Binnen

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eines halben Tages war die Anfrage den Dienstweg gegangen und genehmigt worden. Die Schwierigkeit dabei war, daß niemand TECOM als Person bezeichnen konnte; das Grundsatzurteil hatte bewie-sen, daß Aufgaben der Verteidigung in allen Fällen außer Mord auch von Geräten übernommen werden konnten, wenn die Angeklagten darauf bestanden. Die Crew bestand darauf, und TECOM willigte ein. Natürlich konnte kein Anwaltskollektiv mit der Leistung einer Rechenmaschine ernsthaft konkurrieren, aber der Rechner würde vermutlich auch keine unlogischen und daher wirksamen Überlegungen und Finten ausführen, wozu ein phantasiebe-gabter Anwalt mit einschlägigen Er-fahrungen in der Lage sein mußte. Trotzdem sah Cliff der Verhandlung keineswegs pessimistisch entgegen.

„Die Anklage hat ihre Argumente vor-gebracht", sagte Han Tsu-Gol ein wenig ruhiger. „Ich stelle den Antrag, Oberst McLane und seine Crew unehrenhaft aus der Raumflotte auszustoßen."

Cliff glaubte, sich verhört zu haben. Lähmende Stille breitete sich aus. McLane wandte den Kopf und blickte nacheinander Hasso, Arlene, Helga, Atan und de Monti an. Sie waren ebenso geschockt wie er. Admiralin de Ruyter beugte sich vor, als sie sich aus dem Sessel hochstemmte, und flüsterte in diese Stille hinein:

„Sie haben allen Ernstes verlangt, die Crew unehrenhaft aus der Flotte auszusto-ßen?"

Han Tsu-Gol hatte seine Fassung wie-dererlangt und wirkte im Licht der Scheinwerfer wie ein Buddha aus Mes-sing.

„Ich habe es laut und deutlich gesagt", erklärte der Regierungschef. „Wenn jede Besatzung eines jeden Schnellen Kreuzers sich so wie die Angeklagten verhalten würde, hätten wir Panduren, Söldner, Partisanen oder was weiß ich, nur keine in-takte Raumflotte mehr. Ein Haufen von

Abenteurern würde die Erde wohl kaum verteidigen können. Es geht, und ich weiß, daß mir niemand glaubt, nicht um meinen Stolz, sondern um die Gefahren für Erde und Raumkugel."

Mario de Monti sagte zu jedermanns Überraschung in einigermaßen ruhigem Ton:

„Ich glaube Ihnen, Han." „Ich auch, aber ich möchte der Ver-

teidigung helfen", rief Leandra de Ruyter plötzlich. „Sicher müssen Disziplinlosig-keiten bestraft werden. Aber die Forderung des Anklägers geht lichtjahreweit über das vernünftige Strafmaß hinaus."

Der Oberste Richter gab ein Licht-zeichen, das die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, und deutete auf McLane.

„Was haben Sie zu sagen, Oberst McLa-ne?"

„Einiges. Die Anklage hat grundsätzlich alles, was zu dem beanstandeten Zwi-schenfall geführt hat, notiert. Aber aus der Sicht der Crew und auch aus dem Proto-koll unseres Logbuchs stellen sich viele Ereignisse anders dar."

Der GSD-Chef hob beide Hände und erklärte in korrektem, kühlem Tonfall:

„Sie hörten soeben die Anklage. Es wird der Zweck der folgenden Verhandlung sein, die Dinge zu klären, Vorwürfe zu bestätigen oder zu entkräften, kurz: die Wahrheit zu finden. Nur danach werden Sie, falls überhaupt, verurteilt. Es sei denn, Sie bekennen sich schon jetzt aller Vorwürfe für schuldig."

„Wir werden uns hüten. Schließlich machten wir noch nie in unserer langen Karriere den Eindruck von Selbstmör-dern", sagte Hasso vorwurfsvoll. „Einer Karriere übrigens, die Sie alle hier nur zu einem Bruchteil ihrer Länge unter Beob-achtung hatten."

„Richtig!" sagte TECOM. „Die Ver-teidigung hält es für nötig, eine Erklärung abzugeben. Ohne dem Gericht vorgreifen und es in seiner Entscheidungsfreiheit

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einschränken zu wollen, muß bemerkt werden, daß ich seit knapp achtzig Jahren fast alle einschlägigen Verhandlungen und sämtliche Urteile, Verteidigungen und deren Begründungen gespeichert habe. Ich stelle daher den Antrag, meine zitierten Auslassungen entsprechend zu würdigen. Wie Sie alle wissen, bin ich eine Maschine und unfähig, subjektiv zu entscheiden. Wenn ich sage, daß in einzelnen Teilen der Anklage bereits Grundsatzurteile ganz anders entschieden haben, so ist dies die unverbrüchliche Wahrheit.

Ich bin unparteiisch. Ich, TECOM." Leandra lächelte kaum wahrnehmbar. „Außerdem haben wir TECOM sämtli-

che Ereignisse aus unserer Sicht geschil-dert. Der Komputer weiß, wie bei einem guten Verteidiger nicht anders üblich, mehr als das Gericht zu diesem Zeit-punkt", rief Arlene.

„Das Gericht hat es nicht anders erwar-tet!"

Der Oberste Richter schien tatsächlich unvoreingenommen zu sein; ein Umstand, der Cliff McLane in milde Verwunderung stürzte, weil er in seiner Skepsis dies nur selten in Betracht zog und in derlei Fällen meistens recht behalten hatte. Trotzdem hing dieser Tag wie ein Schwert über der Mannschaft und ihrer Zukunft.

„Den Vorwurf", begann TECOM wie-der, „das Logbuch als Beweismittel für die Funkstörungen manipuliert zu haben, werden wir später betrachten. Zunächst einmal ist es mir wichtig, auf die Hyper-funksignale einzugehen, die vom Saturn kamen. Welcher Natur waren diese Signa-le?"

„Deutlich und erkennbar waren es unidentifizierbare Hypersignale. Konnte TECOM eine Dechiffrierung vornehmen?" erwiderte Helga laut.

„Negativ. Stimmt die Anklage dieser Wahrheit zu?"

Der Funker des terranischen Re-gierungszentrums, der seinerzeit die

Verbindung zwischen Han und der ORION hergestellt und geschaltet hatte, gab zur Antwort:

„Die Anklage versichert, daß es tatsäch-lich Hyperimpulse waren, die niemand deuten konnte."

„Auch ich nicht", meinte TECOM mit seiner sterilen, aber beruhigenden Stimme. „Hat noch jemand, ein anderes Schiff etwa, diese Hypersignale empfangen?"

„Nein." „Ist die Anklage damit einverstanden,

daß diese Hypersignale nur und aus-schließlich von der Crew der ORION Neun empfangen wurden und von nie-mandem sonst? In diesem Fall tritt die Ermittlung in der Verhandlung gegen Commander Falpass versus GSD aus dem Jahre..." TECOM zitierte ein Urteil, das gefällt wurde, weil auch nur ein einziger Mann bestimmte Signale empfangen hatte, die eigentlich allen anderen Schiffen mit einer derartigen Funkeinrichtung zugäng-lich gewesen wären.

„Danke", stellte TECOM fest, ohne den Ausdruck der Maschinenstimme zu verändern. „Nun zu der eigentlichen Bedeutung eines Hyperimpulses. Wie jedermann bekannt ist, existiert seit kurzer Zeit ein Flottenbefehl, der die Anwendung von Hypersignalen auf das absolute Minimum und auf eine von Tag zu Tag wechselnde Kodierung vorschreibt. Be-steht dieser Befehl?"

„Ich habe diesen Befehl gegeben!" bestätigte Han Tsu-Gol, der zu ahnen begann, worauf die Verteidigung aufbaute.

„Aus welchem Grund?" „Um die Erben des Rudraja und auch

jene des Varunja nicht auf die Lage der Erde aufmerksam zu machen."

„Wenn ein Schiff bestrebt ist, genau dies zu tun, nämlich durch den Versuch, die Signale zu stoppen, die Erde zu retten, dann handelt es auftragsgemäß?"

„Ich...", begann der Regierungschef. „Da die Mannschaft der ORION diese

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Signale auf sich bezog, da sie ferner rückfragte, ob jemand sie gehört habe und abschlägige Auskünfte erhielt, da sie weiterhin versuchte, die Quelle ausfindig zu machen und den Sender gegebenenfalls zu zerstören - handelte sie im Sinn, nicht nach dem Wortlaut - der überdies reichlich vage und fast nach Belieben auszulegen war - Ihres eigenen Befehls, Herr Anklä-ger?"

Nach einer Pause, in der nur Mario grinste und sich sonst niemand rührte, erklärte Han leise:

„Sie handelte zumindest nicht gegen den Befehl."

„Dies ist eine nicht ungeschickte sprach-liche Variante für die Erklärung, daß McLane und die ORION-Crew im Sinn des Befehls handelte", fuhr der Komputer unerbittlich fort. „Bestand die Wahr-scheinlichkeit, daß die bedrohenden Mächte die Rufe des Großen Roten Fleckes empfangen konnten?"

„Diese Wahrscheinlichkeit war ge-geben!" pflichtete Tunaka Katsuro unparteiisch bei.

„Wer hat dafür gesorgt, daß diese Signa-le aufhörten? T.R.A.V. etwa oder die stationierten Wissenschaftler?" fragte TECOM.

Cliff stand auf und erklärte alles, ohne auf Widerspruch zu stoßen. TECOM zitierte wiederum ein Urteil, das zugunsten der Angeklagten ausgegangen war.

„Konnten die im einzelnen in der An-klage aufgeführten, hier nur Blumenkinder genannten Vorthanier der Crew helfen, als das Ei aus goldfarbenem Licht als Aus-gangspunkt der Hyperimpulse angemessen wurde?"

„Nein", rief Mario deutlich. „Sie be-fanden sich alle in der telepathischen Trance. Sie waren wie scheintot."

„Irgendwelche Einwände der Anklage?" wollte TECOM wissen.

„Nein", bekannte Zeugin Leandra de Ruyter und strich das Haar in den Nacken;

eine Geste, die ihre große Nervosität kennzeichnete. Aber alle Anwesenden in diesem Raum verhielten sich geradezu mustergültig. Selbst Cliff, von dem Leandra wohl etwas wie eine hinreißende, emotional gefärbte und mit einer Unmenge bissiger Bemerkungen und kluger Wort-spiele durchsetzte Verteidigung erwartet hatte, hielt sich noch zurück. Aber er konzentrierte sich scharf und hatte bereits mehrere Stellen entdeckt, an denen er einhaken würde.

Der Riesenkomputer befragte den Diensthabenden Funker und zitierte ein Gutachten, nach dem es unmöglich war, während einer empfangenen oder gesende-ten Bildfunknachricht das elektronische Bordbuch so zu beeinflussen, daß es Dinge dokumentierte, die nicht innerhalb seiner technischen Möglichkeiten lagen.

Helga hütete sich, ihren Gesichts-ausdruck zu verändern. Eines der Ergeb-nisse langer „nächtlicher" Funkwachen an Bord der ORION war gewesen, Leitungen und Schaltungen zu entdecken, die in be-stimmten Fällen Eigengesetzlichkeiten entwickelten, die keiner der Techniker jemals geahnt hatte. Einer solchen zufällig entdeckten Schaltung war das fragliche Manöver zu verdanken.

Das Gericht stellte nach einem ein-stündigen Duell fest, daß es - wohl unter dem Einfluß des energetischen Gebildes über dem Planeten Saturn - reale Bild- und Tonstörungen gegeben hatte.

Cliff bat um das Wort, erhielt es und sagte:

„Ich bin betroffen!" „Eine Einsicht, die ich Ihnen nicht

abnehme, Oberst", gab Han sofort zurück. Cliff schenkte ihm einen langen, schwer zu deutenden Blick und wiederholte.

„Ich bin betroffen. Nicht deswegen, weil wir sechs hier vor Gericht stehen, sondern weil sich ausgerechnet die Spitze der Regierung nicht entblödet, solche Lappali-en mit einem derartigen Aufwand zu

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untersuchen. Ich sage: untersuchen, obwohl jedem Praktiker schon lange klar war, daß es keiner von uns nötig hat, solche einfältigen und kindlichen Taktiken anzuwenden. Wenn wir wirklich auf eigene Faust handeln und Befehle umge-hen wollen, so stehen uns viel elegantere Methoden zur Verfügung. Als Sie, beispielsweise, Herr Han Tsu-Gol, noch Sternbilder auswendig lernten, waren wir bereits die höchstdekorierten Raumfahrer dieses schönen Planeten. Nur soviel zu diesem ersten Teil der Verhandlung, der wohl voll an uns gegangen ist.

Noch etwas. Wir fühlen uns erschöpft und ersuchen um eine Pause. Stehen wir unter Arrest?"

Eine müßige Frage; sie waren bisher frei gewesen und hatten sich ungehindert bewegen können.

Der Richter entschied, daß eine Pause wohl angebracht sei. Schließlich habe man seit fünf Stunden verhandelt, und Men-schen wären nun einmal nicht mit der kybernetischen Ausdauer eines Komputers ausgestattet, was allgemein bedauert wer-den würde. Ein Mann voll versteckten Humors, dachte Cliff, als er, mit der Crew hinter sich, den Saal verließ und auf dem kürzesten Weg die nächste Bar ansteuerte.

„Der zweite Teil wird die Überschrift ,Gewissensnotstand' tragen, denke ich", erklärte Arlene, die sich bei ihm einhängte und versuchte, die Unruhe abzuschütteln. Irgendwie wurde ihr Cliff wieder einmal unheimlich. Beherrschte er seine Gefühle so sehr, daß er weder unsicher noch nervös wirkte? Oder hatte er wieder einen Weg gefunden, sich aus allem herauszuwinden? Seine letzte Äußerung würde ihm jeden-falls bei Gericht kein übermäßig gutes Image verschaffen.

Cliff schwang sich auf einen Hocker und sagte:

„Sechs Mokka und sechs doppelte Cognac. Und wenn ich Cognac meine, dann mit zwei C und keinen Weinbrand.

Archers Tears gibt es hier wohl nicht!" „Nein", sagte der dicke Mann hinter dem

Tresen und warf der Mannschaft verblüffte Blicke zu.

„Ob das eine gute Idee war, TECOM allein alles machen zu lassen?" murmelte Atan und hob seine Tasse.

Cliff erklärte: „Auf diese Weise haben wir unser

Gedächtnis geschont. Schließlich haben wir das größte und bestfunktionierende Archiv dieses Planeten. Keine Sorge, wir werden sicherlich nicht hingerichtet."

„Aber wenn sie uns die ORION weg-nehmen", schloß Sigbjörnson, „dann ist es fast so schlimm." Voller Bitternis starrte er in den Becher mit dem schwarzen Ge-tränk.

2. Hasso Sigbjörnson ließ die Verhandlung

an sich vorüberziehen und versuchte, sein ungutes Gefühl loszuwerden oder wenig-stens genau festzustellen, woher es kam. Es gab einen Unterschied zwischen dem allgemeinen Geplänkel mit nahezu allen Vorgesetzten, die sie je gehabt hatten, und diesen schweren Vorwürfen. Inzwischen lief die Verhandlung seit einer halben Stunde wieder. Eben erklärte Cliff:

„Sie haben die Zeugenaussage der Blumenkinder. Sie erklären über-einstimmend, daß wir aus der ORION heraustransportiert wurden. Und von uns haben Sie erfahren, wo wir in Wirklichkeit waren."

„In der Mentorkugel", sagte TECOM ergänzend. „Die Bezeichnung stammt von McLanes Crew. In der Mentorkugel wurden sie, wie jeder einzelne der Crew vor wenigen Minuten geschildert hat mit ungewöhnlichen Kräften ausgestattet. Ein Beweis hierfür sind Sigbjörnsons Türme auf Titan, dem Saturnmond. Für die Verteidigung erhebt sich die Frage,

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welcher andere Mensch dieser Versuchung gegenüber immun geblieben wäre. Vermö-gen Sie sich vorzustellen, welche Macht Sie aufbringen müßten, um die schöpferi-sche Kraft des Gedankens aufhalten zu können?"

Tunaka Katsuro erklärte deutlich: „Ich persönlich weiß, was es bedeutet.

Die Crew hat sich entschlossen, dieses Danaergeschenk des Varunja nicht anzunehmen. Sie lehnte ab. Ich, vermut-lich, hätte zumindest länger gezögert, vielleicht sogar zugestimmt. Allein diese charakterliche Höchstleistung verdient einen schnellen und folgenlosen Frei-spruch."

„Hierüber entscheidet das Gericht, Herr Zeuge", meinte der Richter ungerührt. „Ich möchte, darüber hinausgehend, eines feststellen: Wären andere Menschen, andere Schiffsbesatzungen, in diese Kugel geholt worden?"

„Das Hyperrufsignal wurde nur von der ORION empfangen. Dieses Schiff war als erstes an Ort und Stelle. Nur Atan Shubas-hi und Cliff McLane haben jene diffuse Lichtkonzentration hoch über dem Pol entdeckt und waren sogar bereit, sich in einen Kampf einzulassen, was die Feuer-bereitschaft Mario de Montis am Overkill-projektor beweist. Dann erfolgte die Teleportation und die Auseinandersetzung mit einem unbekannten, gewaltigen Willen, einer völlig neuen Art von Beeinflussung. Ich behaupte, daß kein anderer Raumfahrer sich gegen diese Auf-forderung hätte durchsetzen oder wehren können!

Alle Ereignisse haben letzten Endes die Absichten, die Klarheit des Handelns und die hohe moralische Integrität der ORION-Neun-Crew bewiesen.

Ich als Maschine besitze keine Phanta-sie.

Phantasie ist eine menschliche Ei-genschaft ..."

„ .. .allerdings nicht sehr häufig verbrei-

tet", unterbrach Cliff. Die Stimme des Komputers war etwas lauter geworden, als sie weitersprach:

„ ...eine menschliche Eigenschaft. Dar-um bitte ich Sie, das Gericht und den Ankläger, Regierungschef Han Tsu-Gol, sich vorzustellen, was sechs Menschen anrichten können, deren Gedanken und Träume so schnell wie eben Gedanken sind, zur Wahrheit, zur existierenden Materie werden, belebter oder unbelebter Materie. Sigbjörnsons Türme sind nur ein kleines Beispiel; mir liegen Berichte vor, nach denen auf anderen Planeten und Monden andere Dinge erschaffen wurden.

Die Verteidigung plädiert auf Freispruch ohne jede weitere Einschränkung."

„Genau dieses Argument hätte auch ich vorgetragen", rief Admiralin de Ruyter aufgeregt. „Schließlich sind alle Beweise der Anklage zusammengebrochen, und hier im Raum ist niemand, der nicht weiß, was die ORION-Leute wirklich für uns bedeuten."

„Ihre Beredsamkeit ehrt Sie, Kollegin", unterbrach Katsuro. „Ich bin ebenfalls dieser Meinung. Aber das Gericht ent-scheidet."

Han Tsu-Gol schwieg. Seine dunklen, großen Augen wanderten langsam und abschätzend von einem Anwesenden zum anderen. Es war selbst für Cliff schwer, genau abzuschätzen, was der Regierungs-chef empfand. Zweifellos war Han Tsu-Gol viel zu intelligent, um nicht zu wissen, wer und was die ORION-Crew wirklich war. Er kannte ihre Verdienste, er hatte mit Sicherheit sämtliche Zeilen der Dokumentation gelesen, die in den Archiven vorhanden war, und vor allem hatte er - wie alle anderen - keinen Grund dazu, an der Haltung der Crew den Proble-men der Erde gegenüber zu zweifeln. Niemand hatte je einen Grund dazu gehabt. Es gab keinen, und es würde niemals einen geben. Warum er sich in diesem Fall derartig anstrengte, blieb

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verborgen. Schließlich heftete er seinen Blick auf Oberst Cliff Alistair McLane und schwieg.

„Ganz bestimmt ist es das Gericht, von dem das Urteil gefällt wird", sagte der Oberste Richter. „Halten Sie, Han Tsu-Gol, Ihre Anklage in allen Punkten auch jetzt noch in vollem Umfang aufrecht?"

Es ehrte den Regierungschef, daß er folgende Antwort gab:

„Ich ziehe viele Teile der Anklage zurück. Viele Beweise der Anklage sind nicht mehr stichhaltig. Aber nach wie vor bestehe ich darauf, die Crew wegen Befehlsverweigerung zu belangen."

„Die Verteidigung hat ausgezeichnet gearbeitet. Die Crew hat ausgesagt, was zu sagen war. Oder gibt es noch wichtige Einlassungen, die gemacht werden müssen, ehe sich das Gericht zurück-zieht?"

Cliff stand auf und bemerkte grimmig: „Keine weiteren Einlassungen. Wir

bitten nicht um Milde, sondern um Gerechtigkeit. In diesem Fall werden wir weitaus besser abschneiden."

„Man wird sehen", schloß der Richter trocken. Admiralin de Ruyter deutete mit einer schwungvollen Geste auf die Angehörigen der Crew und rief:

„Ich schließe mich dieser Bitte an. Es mag so aussehen, als ob bei diesem Einsatz vieles nicht befehlsgemäß gelaufen wäre, aber schließlich hat die Crew im Sinn ihres Auftrags gehandelt. Sie hat die Erde beschützt und vermutlich ein gräßliches Unheil abgewehrt. Das steht jedenfalls fest. Wie verhalten Sie sich, Kollege Katsuro?"

Tunaka Katsuro senkte seinen kahlen Schädel und entgegnete leise: „Ich schließe mich Ihrer Bitte an, Kollegin. Ich anerkenne auch die zahlreichen Erklärun-gen des verteidigenden TECOMs. Ich bin sicher, daß das Gericht klug und gerecht entscheiden wird. Ich und meine Abteilung jedenfalls haben alle Strafanträge zurück-

gezogen. Das Gericht hat das Wort." „So ist es", meinte der Oberste Richter.

„Zehn Minuten Pause bis zur Urteilsver-kündung. Wir ziehen uns zur Beratung zurück."

Türen glitten auf, Scheinwerfer schalte-ten sich ein, die Klimaanlage begann laut zu summen. Nach wie vor waren die Sensoren TECOMs eingeschaltet, die Aufmerksamkeit des Komputerverteidi-gers war ungebrochen. Gegen das Urteil gab es keinen Einspruch, aber alles war gespeichert worden, und auch der Rest der Verhandlung würde dokumentiert werden. Die Mannschaft blieb sitzen, nachdem alle anderen mit dem Gericht den Saal verlas-sen hatten. Hasso beugte sich zu Cliff hin-über und fragte sorgenvoll:

„Bist du sicher, daß es ein objektives Urteil geben wird?"

„Ziemlich sicher", gab Cliff ebenso leise zurück. „Objektiv in seinem Sinn zweifel-los, aber nicht unbedingt in unserer Erwartung."

„Sollte es da tatsächlich einen Unter-schied geben?" murmelte Mario de Monti. „Ich bin in echter Sorge. Dieser Han Tsu-Gol hat nicht ein einzigesmal seine feinsinnigen Sprüche benutzt."

„Das System und die Befehlshierarchie, gegen die wir uns angeblich versündigt haben", erläuterte Atan Shubashi giftig, „schlagen voll zurück. Zwar besitzen wir das Wohlwollen unserer Vorgesetzten, aber sie werden nicht zulassen können, daß ihre Autorität ausgerechnet von uns untergraben wird."

„Den Richter kann Han Tsu-Gol jeden-falls nicht beeinflussen", erklärte Arlene mit Sicherheit. „Warten wir also noch sieben Minuten."

Die Angehörigen der Crew fühlten sich

keineswegs mehr so überlegen. Sie warteten schweigend und mit wachsender Nervosität, bis der leise Summer ertönte. Der Oberste Richter mit seinen Helfern

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kam herein, die Gruppe nahm hinter dem Tisch Aufstellung. Der Blick, den der Richter Cliff zuwarf, ließ den Commander das Schlimmste befürchten.

Auch heute wurden die Urteile noch immer von Menschen gefällt, nicht von Maschinen, obwohl TECOM vermutlich sachlich korrekter entschieden hätte. Der Richter hob den Kopf und sagte nicht ohne Feierlichkeit:

„Das Gericht hat sein Urteil gefällt. Bei der Zumessung der Strafe wurden die Beweise der Anklage ebenso berücksich-tigt wie die Ausführungen der Komputer-verteidigung durch TECOM. Da die Argumente aber hauptsächlich aus den Speichern und Rechnern der Maschine kamen, wurden sie nicht in voller Tragweite berücksichtigt.

Das Urteil lautet: Die ORION-Crew wird für die Dauer von sechs Monaten vom Dienst bei T.R.A.V., den Terrestri-schen Raumaufklärungsverbänden, suspendiert. Für diese Zeitdauer werden Cliff McLane und seine Besatzung auf einen Forschungskreuzer versetzt. Dort wird ihre Verwendung von Fall zu Fall entschieden, darf aber nur unqualifizierte Arbeiten umfassen. Nach Ablauf dieser Zeit tritt der vorherige Zustand wieder ein. Die Bezüge werden für diese Zeit eben-falls voll nachgezahlt, weil eine finanzielle Einbuße bei Raumfahrern von diesem Range nicht relevant wäre."

Cliff hob die Hand, als der Richter seinen Ordner zuklappte.

„Ist den Angeklagten ein Schlußwort gestattet?" fragte er bissig.

„Wenn es nicht zu lange dauert", gab der Richter ruhig zurück.

„Wir beugen uns diesem Urteil", meinte Cliff und versuchte, vernünftig und ruhig zu sprechen. „Aber jeder von uns ist sicher, daß das Gericht einen schweren, wenn auch verständlichen und erklärbaren Fehler gemacht hat. Abgesehen von wenigen anderen Raumfahrern besitzen

gerade wir die größte Menge von Informa-tionen über die der Erde drohenden Gefahren. Diese Informationen haben wir während der Einsätze gesammelt, nicht während wir Maschinenräume reinigten. Es ist ziemlich sicher, daß wir nicht zur Verfügung stehen werden, wenn der nächste ernste Zwischenfall droht. Sollten dann tatsächlich Katastrophen eintreten, werden Sie alle nach Fachleuten suchen. Diese Fachleute sind dann Beibootmecha-niker auf Forschungsschiffen. Ich versage es mir, weitere Kommentare über die zuletzt abgelaufenen Pannen zu geben. Wie gesagt: Wir akzeptieren Ihr Urteil. Ob es allerdings der Erde ernsthaft helfen wird, bleibt fraglich. Die Zukunft wird es zeigen. Danke, Hohes Gericht."

Er grüßte knapp und militärisch, dann verließ die Crew den Sitzungssaal und ließ einen verblüfften, nachdenklich geworde-nen Richter zurück. Han Tsu-Gol, der den Kommentar über Lautsprecher mitgehört hatte, murmelte einen langen, unverständ-lichen Satz. Wenn seine Informationen richtig waren, würden Cliff und seine Freunde zurückschlagen. Auf ihre Weise, offen und kalt überlegt. Die Chancen dafür standen hoch.

3. Die Delegation der Erde wurde von

Erethreja bereits in der großen Schleuse jenseits des Hangars begrüßt. Sie leitete im Augenblick, unterstützt von TECOM/Unandat, das Leben in der Raumstation. Aber weder Han Tsu-Gol noch Tunaka Katsuro und Kyll Lennard konnten Freude oder Begeisterung über diesen Besuch im Gesicht der jungen Vorthanierin feststellen.

„Wir können verstehen", sagte Han und zog den Handschuh des Raumanzugs aus, „daß Sie verstimmt sind, Erethreja. Aber auch wir sind nur Instrumente einer

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anderen Ordnung. Sie sollten uns nicht allzu böse sein."

Erethreja schüttelte langsam den Kopf. Sie schien entschlossen zu sein, nur die unumgänglichsten Höflichkeitsformen zu wahren. Nicht mehr, keine echte Freund-lichkeit. Sie begrüßte Katsuro und Lennard kühl und höflich, aber mit deutlicher Di-stanz, Den Besuchern war schon vor dem Einschleusen klar geworden, daß die wahren Freunde der ORION-Crew auch hier lebten, in der Station, die noch immer um den Planeten Mars kreiste.

„Wir sind verbittert darüber, wie Sie Ihre besten Raumfahrer behandeln", erklärte sie, während die Gruppe über den weichen, mit Blüten und Blumen gemu-sterten Belag des Schleusenbodens ging.

„Der starke und mächtige Büffel", sagte Han Tsu-Gol mit breitem, wohlwollendem Lächeln, „muß darauf achten, wohin er tritt. Ein starker Zügel dämmt vorüberge-hend seinen Übereifer."

„Mario de Monti ist kein Büffel", stieß die exotische Frau hervor. „Und wir sehen uns ein halbes Jahr lang nicht. Das haben Sie zu verantworten."

Der Regierungschef blieb stehen, drehte sich zu ihr herum und murmelte mit seinem liebenswürdigsten Lächeln:

„Verzeihen Sie einem fetten, alten Mann seine üble Vorliebe für dumme Sprüche. Ich meinte mit dem Büffel den Eindruck von Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer, den die ORION-Crew auf uns alle macht. Sie wissen, warum wir hier sind?"

„Wir wissen es. Die Antwortsignale des von Ihnen ,Baby' genannten Objekts. Wir haben es als Baby von Gwendolyn oder Wendy identifiziert."

„Richtig. Deswegen sind wir hierherge-flogen", bestätigte Kyll Lennard, der Minister für Forschung und Wissenschaft.

Die Delegation wußte, daß der Prozeß der Selbständigwerdung der Vorthanier in vollem Gang war. Unandat befahl und steuerte nicht mehr, aber als Nebenstelle

TECOMs half er den Vorthaniern. Für diese Periode des Übergans versuchte Erethreja ihr Bestes, ihre Freunde zu unterstützen.

„Meinen Sie nicht, daß Sie die Crew zu Unrecht all dieser schrecklichen Sachen bezichtigt haben?" fragte Erethreja aggressiv. Han Tsu-Gol versuchte, mit Liebenswürdigkeit und seinem diplomati-schen Geschick die peinliche Situation zu überpielen. „Das meinen wir nicht. Schon immer waren McLane und seine Freunde führend darin, undiszipliniert vorzugehen. Es ist nicht der Ausdruck unserer bösen Gesinnung, sondern eine Warnung an die Mannschaft. Sie ist Beispiel für die gesam-te Flotte, und wir können uns keine undisziplinierte Flotte leisten. Wie gesagt, versuchen Sie, uns zu verstehen, Erethre-ja."

„Wir tun unser Bestes", schnappte die Vorthanierin. „Wir haben sogar auf Ihren Wunsch, Minister Lennard, die Blumen-kinder zusammengerufen. Sie warten auf Sie; lassen wir sie nicht allzulange warten."

„Keinesfalls!" antwortete Kyll Lennard aufgeregt. Er war an den parapsychischen Begabungen der Blumenkinder interes-siert, seit er zum erstenmal davon erfahren hatte. Aus diesem Grund hatte er sich der kleinen Delegation angeschlossen.

„Hier entlang, die Herren", sagte Ere-threja und deutete auf ein Laufband. Kurze Zeit später öffnete sich vor ihnen eine breite Platte aus milchigem Glas. Ein großer Raum lag vor ihnen. Im Zentrum der Rückwand befand sich auf einem riesigen Bildschirm die Ansicht der halb ausgeleuchteten Kugel des Roten Planeten Mars. An einem Schreibtisch saß Assim-ladja und sah den Eintretenden aufmerk-sam entgegen.

„Sie sehen, wir sind bereit", meinte Erethreja, noch immer kühl und zurückhal-tend.

„Gibt es etwas, womit wir unseren Dank

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ausdrücken können?" fragte der Regie-rungschef und stellte fest, daß auch Assimladjas Begrüßung distanziert ausfiel.

„Eine gerechte Beurteilung der so-genannten Untaten der Crew!" entgegnete Erethreja.

„Wir werden sehen, was sich tun läßt. Seit der Urteilsverkündung sind erst zwei Tage vergangen", gab Han Tsu-Gol zurück. „Sie haben wenig Zeit; wir sollten unsere Mission so schnell wie möglich durchführen." „Dies liegt in unserem Interesse", erklärte Assimladja.

Die Terraner setzten sich und öffneten teilweise ihre Raumanzüge.

„Waren Ihre Versuche", begann Len-nard, „die Antwortsignale des Gwendolyn-Babys anzupeilen, inzwischen erfolg-reich?"

Noch während des Rückflugs der ORION vom Saturn hatte Han Tsu-Gol die Blumenkinder gebeten, sich anhand von Sternkarten und der Mithilfe Shubashis zu orientieren. Aber dieses Vorhaben war nicht innerhalb kurzer Zeit durchführbar gewesen. Die Arbeiten waren auf Vortha weitergegangen.

„Wie Sie wissen, sind die Signale längst verstummt. Wir empfingen die letzten parapsychischen Impulse auf unserem letzten Flug mit der ORION."

„Das wissen wir", sagte der Regie-rungschef. Schon wieder ein Vorwurf wegen der Crew! „Ist es sinnvoll, auch die anderen Blumenkinder um eine Antwort zu bitten?"

„Das wird unnötig sein. Wir haben zusammengearbeitet, und ich weiß ebensoviel wie alle anderen."

„Alles klar. Aus welchem Raumsektor kamen also die Antwortsignale auf Wendys Rufe?"

„Es ist dieser Sektor!" Assimladja griff in ein Fach des Tisches

und schob eine Folie über die Platte. Han Tsu-Gol nahm sie, hob sie hoch und erkannte einen Ausschnitt aus einer der

alten, offiziellen Stern-Navigations-unterlagen. Gleichzeitig breitete Assimlad-ja einen zweiten, größeren Ausschnitt aus weißem Material aus, auf dem Sterne und Formationen in verschiedenen Farben wiedergegeben waren.

„Das ist eine Kopie einer vorthanischen Sternkarte. Beachten Sie die Hinweispfei-le. Sie bezeichnen das ,Auge der Götter' - so heißt diese Konstellation. Welchen Namen sie in Ihren Karten hat, wissen wir nicht. Aber Atan Shubashi hat uns seine alten Unterlagen zur Verfügung gestellt. Sie finden die entsprechende Stelle markiert."

Die Terraner verglichen beide Karten-ausschnitte. Schließlich sagte der GSD-Chef leise und überrascht:

„Ich kenne die Formation natürlich. Das Götterauge ist identisch mit Denebola oder Deneb oder Alpha im Bild Cygnus, der Schwan, also Alpha Cygni.

Gehört zu einer Gruppe von zwanzig hellsten Sternen am Nachthimmel, seine Größenklasse beträgt Magnitude 1.3. Ungefähr eineinhalbtausend Lichtjahre entfernt. Nach den Analysen ein Wasser-stoffstern am Beginn seiner Entwicklung die Hauptreihe hinunter. Das also ist das Auge der Götter und der Ort, aus dessen Richtung die Rufe kommen?"

„So stellte es sich für uns dar", ant-wortete Assimladja. „Vielleicht kann Ihnen Shubashi wichtige Hinweise geben."

„Wir schätzen seinen außerordentlich fachkundigen Rat", entgegnete Lennard, „aber zunächst habe ich noch einige Fragen. Die Impulse waren überlicht-schnell, ja?"

„Ganz eindeutig." „Ist parapsychische Energie durch

Massekonzentrationen zu beeinflussen?" „Vermutlich ja", sagte Assimladja

schnell. „Wir haben auch Wendys Signale deutlicher aufgefangen, als wir näher am Jupiter waren."

„Dann kann auch ein Stern die Strahl-

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richtung eines solchen Impulses beeinflus-sen?" wollte der Forschungsminister wissen.

„Um einen nur geringen Betrag. Die parapsychischen Energien werden nach unserer Erfahrung nicht so sehr durch die atomaren Prozesse oder den Lichtdruck, sondern durch gewisse hyperenergetische Strahlungseffekte der Sonnen stärker be-einflußt. Dies gilt naturgemäß besonders für große und größte Distanzen."

„Können Sie uns sagen, wie weit die Para-Quelle, also vermutlich Wendys Baby, entfernt war?"

„Kaum weiter als das Auge der Götter. Aber unter Umständen näher", sagte Assimladja. „Sie sollten sich bei derartigen Fragen bei Helga Legrelle erkundigen. Sie ist souverän in derlei Berechnungen."

Han Tsu-Gol schluckte eine unpassende, aber wütende Bemerkung hinunter und lächelte entgegenkommend.

„Sobald wir auf der Erde sind, rechnen wir fest mit Helgas Hilfe. In der Zwi-schenzeit wird uns TECOM, denke ich, keine schlechten Dienste leisten. Kann ich eine Verbindung mit Unandat haben?"

Wieder drückte Assimladja mehrere Schalter und sagte: „Hier ist sie."

Unsichtbare Mikrophone fingen die Worte auf. Der Bildschirm wechselte das Bild; es erschien Unandats Zeichen. Assimladja klappte ein Fach im Tisch auf und richtete die Linsen einer Aufnahmeop-tik auf die beiden Kartenteile, die neben-einander auf dem Tisch lagen.

„Unandat! Aufnahmebereit? Wir brau-chen eine Verbindung zu TECOM, der ein einfaches astronomisches Problem ausrechen muß", sagte Katsuro laut.

„Aufnahmebereit!" sagte Unandats Stimme. Gleichzeitig flammte die Schrift auf dem Bildschirm auf. Lennard definier-te klar und deutlich das Problem und stellte die Aufgabe. Einige Sekunden später sagte Unandat:

„Hier TECOM - Center auf der Erde.

Die Lösung wird erarbeitet." Die Anwesenden brauchten nicht lange

auf die Antwort zu warten. Sie wurde gleichzeitig auf verschiedenen Wegen erteilt: auf dem Bildschirm, akustisch innerhalb dieses Raumes, durch einen Drucker im Tisch Assimladjas und, auf der Erde, in Form einer Berechnung, die auf die Schreibtische der interessierten Minister rutschte.

Die Quelle der Antwortimpulse des als Baby definierten Senders war mit einer rechnerischen Wahrscheinlichkeit von fünfundachtzig Prozent vier bis fünf Grad nordwestlich von Deneb entfernt. Die Entfernung, falls ein lokalisierbares Objekt als Standort in Frage kommen darf, liegt bei 598 Lichtjahren Entfernung.

An der rechnerisch ermittelten Stelle sind die beiden Doppelsternsysteme Omicron Eins und Omicron Zwei zu finden.

„Das ändert die Lage", sagte Han Tsu-Gol voll sichtlicher Zufriedenheit. „Wir danken Ihnen sehr, Assimladja."

„Ich schlage vor, einen kleinen Flotten-verband hinzuschicken und die Situation an Ort und Stelle zu klären", meinte Tunaka Katsuro wie im Selbstgespräch.

„Am besten unter der Leitung von Oberst McLane und der ORION", pflichte-te ihm Erethreja bei.

„Das ist eine Entfernung, die eigenmächtiges Handeln geradezu herausfordert", erwiderte kopfschüttelnd Han Tsu-Gol. „Meine Herren, ich denke, wir können Vortha wieder verlassen. Lassen Sie uns Ihnen danken, Assimladja."

„Bitte, Wir wissen, daß wir Ihnen so sehr verpflichtet sind", erklärte die Vertreterin der Blumenkinder. „Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß wir Ihnen gern helfen, wenn Sie Probleme mit Wendy Baby haben."

Die Männer standen auf und schlossen ihre Raumanzüge wieder. Erethreja vollendete:

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„Vorausgesetzt, wir fliegen mit McLane in der ORION dorthin."

Mit einem grimmigen Lachen versprach Katsuro:

„Wir werden es uns sehr genau überle-gen. Aber es ist schwer, das Urteil eines unabhängigen Richters wieder rückgängig zu machen. Ich fürchte, Sie verkennen die Schwierigkeiten."

„Keineswegs." Höflich, aber in gemessener Zurückhal-

tung, begleitete Erethreja die drei Dele-gierten der Erdbehörden bis zur Hangar-schleuse, in der das Dienstschiff des Regierungschefs wartete. Schweigend gingen die Männer zum Schiff. Jeder von ihnen kannte die vordergründigen Ge-danken der Blumenkinder und auch jene, die tiefer gingen und wichtiger waren. Nach den übereinstimmenden Aussagen aller Beteiligten hatten die Blumenkinder aus dem kurzen Kontakt heraushören können, daß der Große Rote Fleck Jupiters zu den ORION-Leuten eine besondere, wenn auch unmöglich näher zu defi-nierende Beziehung hatte. Die Crew stellte in Verbindung mit den Blumenkindern eine Art Katalysator dar; einen Stoff, der andere Dinge veränderte, sich selbst aber nicht. Jedenfalls waren bei diesem Einsatz abermals die Blumenkinder wichtig, denn sonst war niemand in der Lage, parapsy-chische Impulse wahrzunehmen. Die Weigerung der Blumenkinder, mit anderen Kommandanten zu fliegen, hatte Han Tsu-Gol hiermit in eine unerwartet schwierige Lage gebracht. Die Ironie der Situation ließ ihn grinsen; die Männer neben ihm wunderten sich sehr darüber.

„Es ist unmöglich", sagte schließlich Katsuro in asiatischer Höflichkeit, „sich zu rasieren, wenn man das Gesicht verloren hat."

„Ihre Bemerkungen, Kollege Tunaka, stimmen mich fröhlich, aber sie zeigen keinen Ausweg aus dem Dilemma an", erwiderte der Regierungschef mit mühsa-

mer Zurückhaltung. „Das nicht. Aber das Dilemma wurde

von einer Anklage gegen die ORION-Crew herbeigeführt. Im Augenblick vermag ich mich nicht auf den Ankläger zu besinnen. Wer war's? Warum tat er's? Man wird es zu erfahren wissen."

Während das Schiff ablegte, ging Katsu-ro in seine Kabine und blieb dort bis zur Landung. Regierungschef Han aber war sicher, einen Weg herausfinden zu können. Er brauchte eine Bestätigung. Die Schwie-rigkeiten, diese Bestätigung zu erlangen, unterschätzte Han Tsu-Gol keine Sekunde lang. In diesem Fall hatte er fast alle, die mit der ORION jemals zu tun gehabt hatten, in elastischer Front gegen sich.

4. Auf einen unbefangenen Beobachter, der

mit der Historie der Erde einigermaßen gut vertraut war, würden die zwei schweigen-den Männer wie Samurais gewirkt haben, die sich entschlossen hatten, gegen eine er-drückende Übermacht anzutreten. Sie standen vor und hinter dem Schreibtisch in Han Tsu-Gols Arbeitszimmer unterhalb des Carpentaria-Golfes. In jenem Saal, der praktisch ein Knotenpunkt elektronischer Nervenfäden war. Sowohl der Chef des GSD als auch der Regierungschef hielten gefüllte Gläser in den Fingern. Niederge-schlagen murmelte Han Tsu-Gol:

„Eine scheußliche Lage. Mühsam ge-fangen, beginnt der furchtbare Tiger bereits, die Stäbe seines Gefängnisses zu durchbeißen."

„Und alle Freunde des Raubtiers kom-men und helfen ihm. Ich ahnte nicht, daß McLanes kosmische Trapezgruppe derartig viele Freunde hatte."

Katsuro trank einen großen Schluck. Als sei er Katsuros Spiegelbild, tat Han dasselbe. Schließlich sagte der Regie-rungschef nachdenklich:

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„Ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht. Nicht wir, ich war es. Aber ebenso haben wir die definitive Pflicht, für Disziplin und Zuverlässigkeit zu sorgen. Wir müssen wohl als sicher hinnehmen, daß die Blumenkinder sich nur zusammen mit McLane in den Einsatz wagen?"

„Mit Sicherheit. Ich habe noch einmal nachgefragt", antwortete Katsuro und trank den nächsten Schluck.

„Aber sie würden uns helfen?" „Das ist, mit obigen Einschränkungen,

ebenso sicher. Es tut mir leid, Han, aber der Grastiger und der mächtige Büffel und all die anderen Tiere aus den Konfuzius-Sprüchen müssen wohl freigelassen werden, nicht wahr?"

„Nicht von mir!" beharrte Han Tsu-Gol. Inzwischen lagen die detaillierten Be-

rechnungen für die beiden ermittelten Sonnensysteme auf den Schreibtischen. Omicron Eins war nach den neuesten astronomischen Erkenntnissen genau sechshundert Lichtjahre von der Erde entfernt, der Bedeckungsveränderliche Stern Omicron Zwei exakt sechshundert-ein Lichtjahr und ein paar Lichtminuten. In den Speichern TECOMs hatten sich noch die alten Entfernungen befunden. Beide Sterne gehörten zwar zum Sternbild des Schwanes, Cygnus, waren aber vom Zentrum der Raumkugel weitaus weniger weit entfernt als Deneb, der Hauptstern.

„Wie auch immer: Das Problem sollte möglichst bald geklärt werden", warf Katsuro ein.

„Wenn Gwendolyn abermals zu rufen beginnt, dann kann das irdische System exakt eingepeilt werden. Es wäre nicht das erstemal, daß die Erde von Fremden bedroht wird."

„Admiralin de Ruyter befaßt sich bereits mit der Ausrüstung einer kleinen Expedi-tionsgruppe, was soll ich tun, Tunaka?"

„Nachgeben, großzügig sein, Ihren Irrtum eingestehen - das empfehle ich Ihnen, Tsu-Gol!"

„Sie bringen mich in Verlegenheit, Kollege!"

„Wie das? Einsichtsfähigkeit ist das Geheimnis wahrhaft großer Männer!"

„Offensichtlich bin ich noch nicht groß genug für eine solche innere Größe. Ich sage Ihnen, was ich zu unternehmen gedenke."

„Ja?" Han Tsu-Gol warf dem GSD-Chef einen

niedergeschlagenen Blick zu und deutete auf das Gerät, das diesen Raum mit TECOM auf einer Sonderleitung verband.

„Ich werde von einer unbestechlichen Instanz ausrechnen lassen, ob für diese Mission die ORION-Crew von entschei-dender Wichtigkeit ist oder nicht. Wenn ja, zeige ich mich inkonsequent und milde. Wenn nein, bleibe ich bei meiner Haltung. Aber ich werde McLane in eine ebenso heikle Lage bringen, wie er mich. Das verspreche ich Ihnen, auch auf die Gefahr hin, daß ich mein Gesicht verliere."

„Wahrhaft große Männer", versuchte ihn Katsuro zu trösten, „sind auch gegen Verlust ihres Gesichts gut versichert. Jedermann wir Ihre weiteren Versuche mit der gebührenden Aufmerksamkeit beobachten. Ich mache den Anfang."

Einladend deutete er auf die In-strumentensäule, deren Bildschirm dunkel war. Han trank das Glas leer und setzte sich vor das Programmierpult. Schalter klickten, Lichter strahlten hinter vielfarbi-gen Gläsern, auf dem Bildschirm baute sich TECOMs Zeichen auf. Der mächtig-ste Rechner der Erde war bereit und durch seine Sensoren sozusagen in diesem Raum anwesend. Mit völlig veränderter Stimme sagte Han Tsu-Gol:

„Hier ist der Regierungschef Han Tsu-Gol. Ich habe ein schwieriges Problem zu berechnen. Zuerst eine Frage: Beeinflußt die Tatsache, daß TECOM die Verteidi-gung der ORION-Crew übernommen hat, die objektive Beurteilung einer Situation, die indirekt mit diesen sechs Personen und

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ihrer Haltung zu tun hat?" „Definitiv nicht", erwiderte die Kompu-

terstimme höflich. „TECOM ist völlig frei in seinen Berechnungen. Außerdem berührt der Komplex Verteidigung die absolut objektive Berechnung oder Analyse einer anderen Problemgruppe nicht."

„Also gut. Folgende Angelegenheit bereitet uns Sorgen ..."

Scheinbar ruhig schilderte Han die Notlage durch Gwendolyns Rufe, die Antwortrufe des „Babys", die entdeckte Quelle des überlichtschnellen parapsychi-schen Senders, die Weigerung der Blu-menkinder, mit einem anderen Schiff als ORION und einer anderen Crew als ihren Freunden zu fliegen, und schließlich verlangte er eine „schonungslose Analy-se", der Situation.

„Dürfen die Einlassungen der ehe-maligen Angeklagten als Informations-quelle nötigenfalls verwendet werden?"

„Wenn sie die objektive Wahrheit dar-stellen, dann ebenso wie die Schilderungen aller anderen Zeugen und der amtlichen Protokolle. Alles ist gespeichert."

„Richtig. Es dauert einige Sekunden", schloß der Komputer.

„Ich warte - was auch sonst?" brummte Han Tsu-Gol. Nach wenigen Sekunden druckte TECOM seine Analyse aus. Es sprach für die Entscheidungsfähigkeit der gigantischen Rechenmaschine, daß keine weiteren Darstellungsformen gewählt wurden. Schweigend und von Zeile zu Zeile mehr und mehr betroffen, las Han Tsu-Gol:

TECOM-Analyse: Die Vorthanier mit parapsychischer

Begabung, im folgenden „Blumenkinder" genannt, werden garantiert ihre Mitarbeit verweigern, wenn sie nicht in der ORION Neun und mit der kompletten Crew dieses Schnellen Kreuzers am Einsatz teilneh-men. Begründung: Nur die ORION-Crew hat es schaffen können, gefühlsmäßig

sowohl mit dem Großen Roten Fleck als auch mit den Blumenkindern auf einer zufriedenstellenden und freundschaftlichen Ebene zu verkehren. Diese Basis wohl-wollendkonstruktiven Vertrauens ist die einzige Erfolgsgarantie für eine Mission dieses hohen Schwierigkeitsranges.

TECOM hat mit Unandat korrespondiert und mehrmals zurückgefragt. Selbst die Blumenkinder beurteilen dieses Problem skeptisch. Grund hierfür:

Die Blumenkinder fürchten einen totalen Mißerfolg der Mission, wenn sie mit anderem Schiff und anderer Mannschaft fliegen. Da sie, parapsychisch ohnehin nur schwer stabil zu halten, diese Furcht in sich tragen, werden sie allein schon aus dieser Furcht heraus den Mißerfolg provo-zieren. Ein Mißerfolg dieser Mission jedoch, die sich mit dem Problemkreis um Gwendolyns entführtes Baby beschäftigen soll, hätte mit einiger Wahrscheinlichkeit weitere Gefahren für Erde und Raumkugel zur Folge. In diesem Fall können die Dimensionen als Anschauungsmaterial dienen, in denen die Gedanken der einzelnen Crewmitglieder während des Aufenthalts in der Mentorkugel realisiert wurden. TECOM-Empfehlung: Die ORION-Neun mit der Stammcrew und McLane sollte diesen Einsatz zusammen mit den Blumenkindern fliegen. Gegen eine Kontrolle durch andere Schiffsbesat-zungen hingegen ist nichts einzuwenden. Der Versuch, die Blumenkinder davon zu überzeugen, daß sie mit einer anderen Crew fliegen sollen, sollte unter keinen Umständen gemacht werden. Ende der Analyse.

Dann fragte TECOM mit seiner schmei-chelnden dunklen Stimme:

„Sehen Sie meine Aufgabe für diesen Augenblick als erfüllt an?"

„Ja, ich habe die Analyse zur Kenntnis genommen und melde mich wieder, wenn ich etwas brauche", schloß Han Tsu-Gol, drehte sich um und reichte Katsuro die

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Niederschrift. Katsuro las, während Han die Verbindung zu TECOM trennte.

„Eines sage ich Ihnen, Kollege Katsuro. Nein, ich sage Ihnen mehrere verschiedene Dinge: Unter uns, ich habe mich entschie-den, diese verdammte Omicron-Mission so gut wie möglich abzusichern. Dazu gehört also wieder dieser einzige Grund für meine Magengeschwüre, dieser kesse Oberst mit seinem fliegenden Zirkus. Und wenn auf dieser Mission McLane wieder eine seiner verderblichen und ärgerniserregenden Eigenmächtigkeiten begeht, dann trete ich als Regierungschef zurück." Katsuro stieß ein brüllendes Gelächter aus.

„Gut, daß TECOM nichts gehört hat! Er hätte es gespeichert, und irgendwann würden Sie beim Wort genommen. Ich werde dies sicher nicht tun."

„Sie geben mir den Rest, Kollege. Mei-nen Sie, daß früher oder später McLane wieder anfängt, seine eigene Auffassung von Disziplin zu haben?"

Lächelnd und in versöhnlichem Tonfall erwiderte Katsuro:

„Ihre abenteuerliche Rücktrittsdrohung, Herr Regierungschef, nehme jedenfalls ich nicht ernst; Sie glauben selbst nicht recht daran. Wenn ja, dann habe ich mich ge-täuscht. Aber Männer wie McLane werden immer wieder großzügig mit solch lästigen Dingen wie Dienstvorschriften umgehen. Ich kann ihn verstehen, ich liebe solche Einschränkungen der persönlichen Freiheit auch nicht.

Im Ernst: Glauben Sie wirklich, daß Oberst McLane etwas tut, das die Erde gefährdet oder nach Pflichtverletzung riecht? Nein. Das glauben Sie nicht. Diese Leute sind auf unbegreifliche Weise älter als wir, waren weiter im Weltall draußen als jeder andere Raumfahrer der Erde und haben Dinge erlebt und wieder vergessen, die keiner von uns jemals für möglich gehalten hat. Letzten Endes haben alle Unternehmungen der ORION-Leute immer wieder zu einem sehr positiven

Ende geführt. Trinken Sie, Han, lassen Sie es sich schmecken. Wir alle werden noch jede Menge Ärger mit Leuten wie McLa-nes Crew bekommen, aber wir werden auch, solange es Raumfahrt und alle damit verbundenen Gefahren gibt, ohne solche Raumfahrer nicht auskommen können.

Sie sind ganz besondere Menschen, denn sie sind jede Sekunde ihrer Dienstzeit vom Tod bedroht. Das ist keine Floskel, so ist es wirklich. Ich habe jetzt so ziemlich alles gesagt, was mir einfiel. Lassen Sie sich nicht über Gebühr strapazieren, nehmen Sie es leichter."

„Ich werde es zumindest versuchen", sagte Han Tsu-Gol und trank sein Glas leer. „Obwohl ich weiß, daß ich mich noch in fünfzig Jahren ebenso sehr wie heute darüber ärgere. Ich bitte, den Inhalt dieses Gesprächs nicht aus dem Raum zu tragen, Kollege?"

„Sie können sich darauf verlassen, Kollege."

Sie schüttelten sich die Hände und dachten - wie auch kaum anders möglich - an McLane und seine Crew.

*

Der Robotwagen, der die sechs schwei-

genden Mitglieder der Crew von ihrem ersten Einsatz zurückbrachte, hielt an, als Hasso nach vorn griff und den roten Schalter drückte.

„Was ist los?" rief Cliff gereizt. „Ich will nicht mehr aussteigen und mich mit Alkohol und Kaffee trösten lassen."

„Nichts davon, Commander", sagte Hasso und versuchte ein schüchternes Lächeln. „Wir befinden uns im Ausgang des Querstollens zur Basis Einsnullvier. In diesem Hangar dort steht die ORION. Sollten wir nicht einen Blick auf das Schiff werfen?"

„Meinetwegen", antwortete der Com-mander und schwang sich aus dem offenen Wagen. Cliff war, um ein Wort zu

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gebrauchen, das er selbst haßte, übermäßig frustriert. Und zwar nicht so sehr deswe-gen, weil sie bestraft worden waren, sondern wegen der in seinen Augen geradezu unwürdigen Arbeit, die sie ableisteten.

„Außerdem haben wir noch unsere Bordtaschen, eine Masse von Lesestoff und andere persönlichen Dinge an Bord!" erinnerte Arlene. Atan rief verblüfft:

„Tatsächlich! Das habe ich vor lauter Wut glatt vergessen."

Cliff half Arlene aus dem Sitz. Sie ließen den Wagen stehen, liefen die Treppe hinauf und sahen auf den Anzeige-tafeln, daß die Schleuse nicht geflutet war. Die Personeneingänge standen zum Teil offen.

„Hangar ist frei", murmelte de Monti. „Alle Scheinwerfer eingeschaltet. Was soll der Unfug. Wer macht sich da an unserem Schiff zu schaffen?"

Langsam, als witterten sie eine be-sonders unbekannte Gefahr, gingen sie näher heran. Mit dem Augenblick der Urteilsverkündung hatten sie auch ihre Dienstwaffen abgeben müssen. Trotzdem wirkten sie wie rachedurstige GSD-Leute, die einen Attentäter umzingeln wollten. Durch die beiden offenen Personen-schleusen erkannten sie die kleinen Maschinen, einige Leute eines War-tungskommandos und, nicht deutlich sichtbar, einen schweren Transport-anhänger.

„Etwas viel Aufmerksamkeit", meinte Atan. „Wir haben das Schiff doch in bester Verfassung abgeliefert?"

Cliff ging als erster durch die Schleuse. Niemand kümmerte sich um die Eintreten-den. Sie blieben an der stählernen, von zahllosen Tiefstrahlern ausgeleuchteten Wand stehen und blickten schweigend den silberleuchtenden Diskus an. Immer wieder begeisterte sie der technisch hervorragend gelöste Schnitt und das hinreißende Aussehen ihres Raumschiffs.

Summend glitt der Lift aus dem Unter-schiff und setzte auf. Im Licht eines aufgestellten Kontrollscheinwerfers erkannten sie einen großen, schlanken Mann, etwa vierzig Jahre alt.

„Moment", sagte Mario de Monti scharf. „Ich kenne ihn. Ich hatte ihn vor einiger Zeit als Lehrgangsleiter. Er ist Robotiker."

Offensichtlich wurde das Schiff für einen neuen Einsatz vorbereitet. Alle Anzeichen sprachen dafür. Als sich die Crew dem Schiff und den Leuten bis auf zwanzig Meter genähert hatte, konnten sie in den Transporter hineinsehen.

„Schrott!" stieß Mario hervor. „Lauter kinetische Elemente und Mikro-

schaltungen. Mit anderen Worten: Roboter."

Cliff ging schneller und steuerte zwi-schen den Wagen, den Containern voller Werkzeuge und Ausrüstung und den Scheinwerfern auf den Robotiker zu. Mario machte einen Satz, blieb neben Cliff und sagte leise:

„Es ist Doktor Talamon, ein her-vorragender Mann, aber sein Fachgebiet sind die Maschinen."

„Ich habe verstanden", murmelte der Commander und blieb vor Talamon stehen. Natürlich erkannten die War-tungsmannschaften die Crew und bildeten sehr schnell einen Kreis um die sechs Personen.

„Mein Name ich McLane", sagte Cliff leise. „Darf ich mich erkundigen, was Sie hier in der ORION tun?" Doktor Talamon schüttelte Cliffs Hand und bemerkte, daß sich alle Blicke auf ihn richteten.

„Ich versuche, die an mich ergangenen Anordnungen möglichst gewissenhaft auszuführen", erklärte er. Kein unsympa-thischer Bursche, dachte Atan. Nur leider hat er im Augenblick den falschen Beruf.

„Und wie lauten diese Anordnungen?" „Haben sie etwas mit diesen blechernen

Gesellen dort zu tun?" wollte Mario laut wissen.

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„Richtig. Ich weiß, daß es Ihr Schiff ist, ich weiß auch, daß Sie im Augenblick nicht zur Disposition stehen. Es soll der erste Versuch unternommen werden, mit speziell konstruierten Robotern ein Schiff zu bemannen."

„Gibt es etwa einen besonders kon-struierten und programmierten Funker-Robot?" rief Helga Legrelle voll ungläubi-gen Entsetzens aus.

„So ist es. Wir haben ebenfalls einen Astrogator, einen Kybernetiker und einen ganz besonders interessant gestylten Maschineningenieurrobot dort drüben."

Hasso machte eine Handbewegung, die seine völlige Verachtung ausdrückte.

„Sie begreifen, daß wir mehr als empört sind?" fragte Arlene angriffslustig. Doktor Talamon hob die Schultern und breitete seine Arme aus.

„Ich begreife es. Aber was sollte ich machen? Ich erhalte meine Befehle von Kyll Lennard."

„Sie trifft keine Schuld, aber im Moment sind Sie unser Gesprächspartner, Doktor", erklärte Cliff. „Sechs Roboter also, die uns ersetzen?"

„Ich weiß es nicht, ob Sie zu ersetzen sind, sicher nicht durch Roboter. Aber ich bin ganz sicher, daß die Maschinen das Schiff heil über einen schwierigen Kurs bringen können. Sie tun es schweigend und ohne ihre Vorgesetzten zu ärgern."

„Wie schön für die Vorgesetzten", meinte der Commander. Sie betrachteten die Roboter etwas genauer. Es waren keine humanoiden Maschinen, sondern rein zweckmäßig konstruierte Gestelle aus Röhren, simulierten Greifarmen, elffingri-gen Händen, Linsen und Antennenspiralen statt Köpfen.

„Sie sollen als Techniker und Lehrer mitfliegen?" erkundigte sich Mario vorsichtig.

„Nein, Die Robots sind programmiert. Sie besitzen nach meiner Auffassung das erforderliche Wissen, und der Apparat ist

dafür ausgelegt, daß sie es anwenden und neues hinzulernen können."

Cliff und Mario starrten sich in die Augen, dann begannen sie zu lachen. Es war ein bitterböses Gelächter.

„Ha!" machte Atan. Etwas irritiert wandte sich Doktor Tala-

mon ihnen zu. Die Männer der Wartungs-mannschaft rückten näher zusammen. Sie erwarteten ein Schauspiel, in dem die ORION-Crew Text und Darstellung übernahm. Aber Cliff winkte ab und sagte mit mühsam erzwungener Ruhe:

„Wir wollten nur unseren persönlichen Besitz zurückholen. So wie ich die Gründlichkeit derartiger Arrangements kenne, sind sie bereits aus dem Schiff geschafft worden, wie, Mac?"

Er wandte sich an den Chef der War-tungsleute. Dieser grinste verlegen und deutete auf einen offenen Container.

„Wir haben alles sorgsam sortiert, Commander. Hoffentlich ist nichts zerbrochen."

„Auch richtig", murmelte Hasso. „Robo-ter brauchen keinen Aufmunterungs-schluck, höchstens einen feinen Sprühne-bel von Kriechöl. Nun, Doktor Talamon - wenn Sie Ihren Auftraggeber sehen, dann können Sie ihn unserer schärfsten Mißbil-ligung versichern."

Die Crew nickte den Arbeitern zu, packte ihre Bordtaschen und verließ schweigend und demonstrativ Verärgerung verbreitend den Hangar.

Mario konnte nicht anders und schmet-terte die schwere Drucktür der Personen-schleuse hinter sich zu.

„Jetzt gehe wenigstens ich ins Casino. Ich habe erstens Hunger und brauche zweitens einen Schluck. Anders kann ich dieses Erlebnis nicht verarbeiten."

„Wenn es um Alkoholika geht, kann er sich fabelhaft versprachlichen", stichelte Helga. „Aber ich bin auch auf einem Punkt, an dem mein Unmut sich irgendwie Luft machen muß. Und ehe ich anfange,

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mich mit harm- und verantwortungslosen Robotikern zu streiten, lasse ich eher meine Wut an Champagner aus."

Hasso Sigbjörnson, der Bedächtigste der Crew, versicherte trocken:

„Ich spendiere der ganzen Mannschaft ein besonders gutes und daher wohl auch teures Essen. Mario, Helga - wenn ihr einen lieben Gast mitbringen wollt, so ist dies auch noch darin enthalten."

„Im Augenblick kein Interesse", gab Helga zurück. Sie stapelten ihr Gepäck auf dem kleinen Wagen.

Cliff drückte den roten Knopf, der daraufhin wieder hervorsprang, dann sagte der Commander ins Zielmikrophon:

„Zum Starlight-Casino." „Bestätigt!" schnarrte die Ton-

bandstimme der Maschine. Der Wagen schnurrte los und summte mit heftig blinkenden Scheinwerfern durch die Gänge.

Das alte Casino von damals war zwar nicht tot, aber so gut wie verschwunden. Das neue, rund siebzig Jahre später, war viel größer, moderner und irgendwie aufregender geworden. Es gab mehr Räume, es gab mehr und bessere Bars, und es gab eine besondere Attraktion: eine kuppelförmige Halle, die stets so wirkte, als besäße sie keine Wände und wäre frei ins Wasser des Golfes hinausgebaut. Indirektes Licht rund um die Kanzeln, die schwerelos erscheinenden Gänge und die Kuppel vervollständigten die Illusion; im Lauf der langen Zeit hatten sich hier Korallenkolonien, Verstecke für alle nur denkbaren Fische und Meereslebewesen und gelegentliche Tieftaucher gezeigt. Da die Küchenabfälle ins Wasser geleitet wurden, erfüllten sich zwei ineinandergrei-fende Bedingungen: Die Lebewesen erhielten Futter und waren stets anwesend, und dies diente immer noch zur Freude und Unterhaltung der zahlreichen Gäste.

Und auch die Gäste hatten sich irgend-wie verändert.

Damals war das Starlight-Casino fast nur von Besatzungen, technischem Personal und den Angestellten der Basis 104 frequentiert gewesen. Heute kamen Gäste aus allen Teilen der kleinen Sied-lungen rund um die Ufer des Golfes. Sowohl Küche als auch der Service waren exzellent. Hin und wieder sorgten bizarr wirkende Kolonisten für folkloristische Untermalung.

Leise, unaufdringliche Hinter-grundmusik erfüllte die gesamte Anlage, als die Crew eintrat.

In der großen, gläsernen Kuppelhalle befand sich auf dem Zentralpodium eine exotisch wirkende Band, deren Musik nicht bis hierher drang. Eine akustische Schleuse verhinderte dies erfolgreich. Aber die Antigravscheiben, die offensicht-lich komputergesteuert durch den freien Raum hochstiegen, sanken und hin und her schwebten, waren mit tanzenden Gruppen oder Paaren besetzt. Vielfarbige Lichter-führung bestand auch innerhalb der Kuppel und rief überraschende Wirkungen hervor.

„Dieser Platz erscheint mir geeignet", sagte Hasso und bemerkte, daß der Service bis zu einem erträglichen Punkt automati-siert war. Aber augenscheinlich hatte man sie auch hier und jetzt erkannt. Ein weißgekleideter Ober erschien und fragte, ob er etwas für sie tun könne.

„Ja", sagte Hasso. „Wir wollen einen Aperitif, der sehr gute Laune erzeugt; wir alle haben es mehr als nötig."

Der grauhaarige Mann schaltete die elektronische Speisekarte ein, die das Angebot, die Preise und die Bilder der betreffenden Getränke in Form von überzeugenden und appetitanregenden Laserlichtholographien in der Tischmitte erscheinen ließ.

„Und dann ein Gastmahl von ex-zellentem Zuschnitt; wir haben jene Art von Hunger, die sich mit erstklassigen Steaks nicht befriedigen läßt", fuhr Hasso

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fort. „Anschließend einen Kaffee, ver-

schiedene Süßspeisen, die nicht dick machen, diverse scharfe Sachen und vielleicht noch einige Überraschungen", schloß Arlene und raffte sich zu einem schmelzenden Lächeln auf.

„Ich bin sicher, daß wir Sie zufrie-denstellen können."

Sie wählten Getränke, Speisen und Beilagen. Ein Mikrophon notierte aus der Flut der Überlegungen und Vorschläge die betreffenden Teile des ausgedehnten Menüs. Kurz darauf kamen zwei Robot-kellner und servierten die Aperitifs.

„Auf unser Wohl", sagte Cliff und hob sein Glas.

„Ich wüßte nicht, auf wessen Wohl wir sonst trinken sollten", fuhr Arlene fort. Hasso sah nachdenklich den aufsteigenden Perlen im Champagnerglas zu, stellte trübselige Vergleiche an und murmelte:

„Roboter! Seelen- und hirnlose Maschi-nen an den verwaisten Pulten der Steuer-kanzel. Es ist zum Wimmern und Schluch-zen."

„Es ist der schärfste Grund und der beste Zeitpunkt für ein Rücktrittsgesuch. Die Mannschaft verläßt das elektronikklirrende Schiff."

„Meinst du das im Ernst, Mario?" fragte Helga zurück. Dann biß sie auf ihre Unterlippe und flüsterte:

„Das ist zumindest ein diskutierbarer Vorschlag."

„Aber nicht schon beim ersten Glas Champagner, Freunde", rief Atan Shubas-hi und drückte auf den Wiederholungs-Knopf. Sofort schwebte eine der Maschi-nen herbei und tauschte Atans leeres Glas gegen ein volles aus.

„Laß uns dieses Thema nicht aus den Augen verlieren!" mahnte Cliff nach einer Weile, in der er über dieses unerwartet aufgetauchte Argument nachgedacht hatte. „Wenn wir den Raumstreitkräften und diesem Sinnbild väterlicher Strenge und

weiser chinesischer Sprüche den Rücken kehren, wird uns niemals wieder jemand wegen Ungehorsams belästigen, Cheeri-oh!"

„Keine Panik, Commander", be-schwichtigte ihn Hasso.

Es gab keinen Grund zur Panik. Aber als sie gerade beim Hauptgericht waren, tauchte vor ihnen eine bekannte Gestalt auf. Sie hatte im Arm ein hinreißend gutaussehendes Mädchen mit funkelndem, blauschwarzem Haar.

„Noch sind zwei Plätze frei, Basil!" rief der Commander, diesmal echt erfreut, und hob sein Glas.

*

Helga Legrelle, nur mit Maßen anfällig

gegen allzu überwältigende Wirkungen, hatte vor geraumer Zeit Basil Astiriakos als „den schönsten Mann meines Lebens" bezeichnet. Dies meinte sie so, wie sie es sagte. Der Mann, gut dreißig Jahre alt, war damals Orcast zur freien Verfügung gewesen. Ein großer, schlanker Mensch mit dunklem Lockenhaar und dem Temperament eines mühsam gezügelten Rennpferdes, und alles andere als dumm. Nur sein überwältigender Charme hatte Helga mißtrauisch gemacht, und dieses Mißtrauen hatte sie davor bewahrt, schmelzend dahinzusinken. Heute konnte sie Basil mit wohlwollendem, jedoch kühlem Interesse begrüßen.

„Schönste Funkerin des Universums!" schwärmte er unglaubwürdig und zog seine Begleiterin in den Lichtschein. „Dies ist Xernona, meine beste und schönste Freundin."

„Willkommen. Ihre Freundinnen sind auch unsere Freunde", rief Cliff. „Wollen Sie mit uns essen? Wir würden uns freuen. Setzen Sie sich, Junior!"

„Wollen wir?" fragte der jüngste Sohn eines der reichsten Reeder dieses Planeten.

„Wie kannst du nur zögern", erklärte

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Xernona. „Andere Leute zahlen Eintritt, um dich im Gespräch mit dem Comman-der Alistair sehen zu können."

Es gab zögerndes Gelächter. Der Abend schien doch nicht ganz verloren zu sein. Hasso schüttelte Basils Hand und küßte diejenige des Mädchens.

„Was führt Sie beide hierher?" „Xernona wollte die Korallen wachsen

hören", erwiderte Basil, rückte neben Helga und strahlte sie an. Xernona setzte sich zwischen Hasso und Cliff. Arlene hob wachsam den Salzstreuer.

„Wie ist Ihre Stimmung?" wollte Basil wissen. Der Ober näherte sich und zog sich zurück, nachdem Basil und Xernona gewählt hatten.

„Mies, aber steigende Tendenz", sagte Atan. „Sind Sie daran sehr interessiert?"

„Ja. Ich habe natürlich von Ihrem unver-schuldeten Mißgeschick gehört. Nicht tragisch, aber lästig", antwortete Basil. „Deshalb bin ich froh, Sie hier getroffen zu haben."

„Weshalb?" „Der Name Astiriakos ist noch immer

für eine Überraschung gut, meine ich." „Unserer auch!" knurrte Mario. Er war

mißtrauisch. Ihm mißfiel, wie Helga, für die er schwesterliche Gefühle hegte, mit Basil flirtete.

„Deswegen sollten gerade wir uns intensiv und völlig ehrlich über ein interessantes Thema unterhalten. Haben Sie Interesse?"

„Woran?" „An einem schnellen Schiff, her-

vorragender Bezahlung, völliger Freiheit und größter Verantwortung? Ich habe Ihnen allen im Namen meines Vaters ein Angebot zu machen. Wollen Sie mir zuhören?"

„Nicht mit leeren Gläsern", erwiderte der Commander mit Bestimmtheit und drückte abermals den Wiederholungs-Knopf. Basils Augen funkelten, als er weitersprach. Sein mühsam gezügeltes

Temperament ging mit ihm durch. Staunend und teilweise hingerissen hörte die Crew zu.

5. Hasso lehnte sich entspannt zurück. Ein

denkwürdiger Abend! Die Sessel waren bequem, die Musik und die Beleuchtung waren kultiviert, die Borduniformen rochen nicht nach Maschinenöl, das Essen und die Getränke waren Spitzenklasse gewesen und würden entsprechend teuer sein. Xernona schien ein Interesse an ihm zu finden, das weit über das Maß gesell-schaftlicher Konventionen hinausging. Und, ohne ihre bekannten sarkastischen und blitzschnell hin und her fliegenden Scherze überzustrapazieren, hörte die Crew zu, welchen Vorschlag ihnen der vielversprechende Sohn des reichen Astiriakos-Vaters unterbreitete.

„Sie kennen meinen Vater und wissen, daß er sich keine unqualifizierten Gedan-ken gestattet?"

„Was sich an seinem Sohn zeigt", flü-sterte Helga und strahlte ihn an.

Basil ließ sich nicht ablenken und fuhr fort.

„Er bietet Ihnen an, ein funkelna-gelneues Schiff zu übernehmen, das mit dem Besten und Teuersten ausgerüstet ist, was hergestellt werden kann. Ihre Aufgabe wäre noch verlockender: Sie sollten über die Grenzen der Raumkugel hinausfliegen und neue Kulturen suchen, bewohnte Planeten, künftige Partner für Handel und Absatzmärkte. Und Lieferanten für neue oder solche Rohstoffe finden, deren Vorräte allmählich zur Neige gehen."

„Wie kommen wir in den Genuß dieser verlockenden Offerte?" fragte der Com-mander und fühlte, wie er sich für diese Idee zu erwärmen begann. „Ich könnte Sie in die fatale Lage bringen, ja zu sagen, Basil!"

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„Stellen Sie es sich vor! Benutzen Sie Ihre als konstruktiv gerühmte Phantasie, meine Damen und Herren! Bester Sold, hohe Prämien und ein funkelndes Schiff mit mächtigen Maschinen!"

Xernonas Finger streichelten Hassos rechten Handrücken.

„Ein Schiff, das überlichtschnell wie ein Pfeil in ferne kosmische Bereiche vorstößt und dort Geheimnis auf Geheimnis sieht und entschleiert. Ohne Dienstvorschriften, nur mit einem klar umrissenen Auftrag ausgestattet. Keine Rückmeldungen, keinen Vorgesetzten, aber ständig die Antennen am Pulsschlag des kosmischen Abenteuers oder so. Ist das nicht ein Vorschlag, der Ihre Herzen höher schlagen läßt?"

Er schwieg erschöpft. Helga sagte, diesmal in ehrlicher Bewunderung:

„Sie reden, wie Pieter Paul Ibsen schrieb."

„Ein Klassiker, mittlerweile. Mit Aufla-gehöhen, die seine Erben vor Freude tanzen lassen."

„Wollen wir tanzen?" fragte Hasso auf dieses Stichwort. „Oder lieber einen starken Kaffee trinken?"

„Kaffee. Mit Ihnen, Sigbjörnson", sagte Xernona und hauchte gegen sein Ohrläpp-chen.

„Sie dürfen Hasso zu mir sagen", gab er, unhörbar für seine Nachbarn, zurück.

„Danke. Sie faszinieren mich. Werden Sie Basils Vorschlag annehmen?"

„Die Chancen stehen im Augenblick ... fünfzig zu fünfzig", flüsterte Hasso. „Bei mir. Ihre Chancen, Xernona, stehen inzwischen auf neunzig."

„Oh! Sie spekulieren auf Hausse?" fragte sie und streichelte das weiße Haar an seinen Schläfen.

„Mitunter. Wissen Sie, daß Sie Sterne in den Augen haben?"

„Mitunter. Nur wenn ich mit Raumfah-rern flirte."

„Wie oft?"

„Alle Lichtjahre einmal." Er fand sie wunderbar. Sie schien ernst-

haft an ihm interessiert zu sein. Wie durch einen dunkelblauen Samtvorhang hörte Hasso, wie sein Freund Cliff Alistair langsam und mit kaum erkennbar schwerer Zunge sagte:

„Abermals ohne Scherz, Basil: Der Vorschlag Ihres Vaters bedeutet für uns eine große Ehre und darüber hinaus eine der größten Verlockungen unseres Lebens. Wir wollen später einmal darauf zurück-kommen. Aber mein Magengeschwür, meine sprichwörtliche Sturheit und mein Hang dazu, schwere Probleme zu lösen, verbieten mir diese Flucht. Denn die Kündigung des Dienstverhältnisses bei T.R.A.V. wäre eine solche Fluchtreaktion. Zumal in diesem Moment die Erde in nicht unbeträchtlicher Gefahr schwebt. Unsere Bindung zur Raumflotte ist im Au-genblick, auch situationsbedingt, doch noch zu groß. Aber ... ich lasse mich überstimmen. Freunde! Sollen wir auf elegante Weise desertieren und Astiriakos neue Welten erobern? Wer ist für Basils Vater?"

Basil und Cliff blickten von einem Gesicht zum anderen. Cliff konnte in den Augen eines jeden Kampf und Zweifel entdecken, aber es hob sich nicht eine Hand.

„Fair?" fragte Cliff und hob das Glas in Basils Richtung.

„Absolut. Schade. Trotzdem: Wenn Sie kommen wollen, wird immer einer der besten Posten frei sein, die es unterhalb des alten Herrn in der Firma gibt. Oder in einer der Firmen. Einverstanden?"

Sie wechselten einen langen, mörderisch harten Händedruck.

„Natürlich. Ich rechnete mit einem knappen Erfolg für unseren Gemischt-warenladen", begann Basil, aber er unterbrach sich selbst. Eine deutliche, laute Stimme sagte im Bereich nur dieser Nische:

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„Die ORION-Crew wird dringend gebeten, sich sofort mit Admiralin de Ruyter in Verbindung zu setzen. Ich wiederhole ..."

„Das galt Ihnen!" Cliff zog die Schultern hoch, schüttelte

unwillig den Kopf und antwortete gestelzt: „Wir vernehmen es voller Unglauben

und reagieren sehr unwillig. Vermutlich werden wir es überhört haben."

„Aber ... dürfen Sie das, Hasso?" fragte Xernona verblüfft.

„Weiß ich nicht genau. Aber wir bringen es leicht fertig. Die Akustik ist hier überdies fragwürdig."

Voller uneingeschränkter Bewunderung sagte Basil, als er aufstand:

„Das Maß der Verehrung und Achtung, das Ihnen mein Herr Vater entgegenbringt, wird wachsen, wenn ich ihm diese Szene schildere."

Als Xernona aufstand, spürte Hasso unter seiner Hand eine schmale, lange Karte. Er schob sie in den Ärmelaufschlag der Bordjacke. Nur Helga sah die blitz-schnelle, fast unauffällige Bewegung. Das Mädchen und der junge Mann verabschie-deten sich höflich und noch immer be-dauernd von der Crew und gingen. Cliff bemerkte, daß Basil kurz mit dem Ober sprach. Hasso bemerkte seinerseits, daß Basil nicht mehr den Arm um die Schulter Xernonas legte. Als der Bordingenieur nachsah, entpuppte sich der Streifen als Visitenkarte, die auf den mikroelektroni-schen Schlüssel eines Spezialschlosses geprägt war. Die Adresse war eines der teuersten Apartmenthäuser zwischen Cliffs Wohnturm und der nordaustralischen Parklandschaft.

„Herzlichen Glückwunsch", sagte Helga trocken. „Auch den Mutigsten ereilt einmal die Stunde. Oder wie hat es Ibsen ausgedrückt?"

„Anders." Wieder störte sie diese hartnäckige

Stimme, die mit größerer Dringlichkeit

mahnte: „ORION-Crew und Commander McLa-

ne! Bitte bei Leandra de Ruyter melden. Dringend und wichtig! Bitte die ORION-Crew sofort Kontakt mit Admiralin de Ruyter aufnehmen ..."

„Unsinn. Freunde... sind wir schon fertig, oder trinken wir noch eine Runde?" fragte Mario herausfordernd.

„Letzteres." Die Gläser kamen. Zweimal kamen auch

Bekannte oder Freunde und begrüßten die Crew und tranken einen Schluck mit ihnen. Eine dritte Durchsage folgte nur zwei volle Gläser später. Und schließlich, als Mario eine Serie von gewagten Raumfahrerwitzen erzählte und die Crew endlich wieder herzhaft, laut und ohne Vorbehalt lachen konnte, hörten sie plötzlich eine vertraute Stimme mit einem vertrauten Satz.

„Trunken flattert der große farbige Schmetterling von Blüte zu Blüte; jedoch endet sein Flug oft im Netz des gierigen Sammlers."

Synchron rief die Crew: „Nein! Nein! Nicht schon wieder." Mario de Monti heftete seine abirrenden

Augen auf das Paar, das dicht vor dem Tisch stand und mit Mißbilligung auf die ansehnliche Batterie meist leerer Gläser, Flaschen und Kühlbecher heruntersah.

Han Tsu-Gols anfängliche Verlegenheit schlug innerhalb von etwa sieben Sekun-den in gemessene Empörung um. Er stützte sich zwischen Helgas und Atans Ellbogen auf den Tisch, während hinter ihm die schlanke Frau schweigend wie ein Racheengel dastand.

„Ich!" sagte der Regierungschef leise. Er hatte darauf zu achten, daß ihn niemand außer der Crew sah und ganz sicher niemand verstand, was er sagte. „Ich! Ich ..."

„Sie!" meinte Atan liebenswürdig. „Hick."

Das runde, glatte Gesicht des Asiaten

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wurde dunkel vor Ärger. „Ich überwinde mich, ich lasse Gnade

vor Recht ergehen. Ich erniedrige mich sogar so weit, daß ich nach Ihnen suchen lasse und hinter Ihnen herlaufe. Es ist mehr als nur eine Zumutung, diesen Haufen alkoholisierter Zeitgenossen in einen wichtigen Einsatz zu schicken."

„Zum Polieren der Schutzgeländer in den LANCETS des Forschungsschiffs SIR PASQUALE CASALONI. Wichtiger Einsatz für die ORION-Putzkolonne!" sagte Arlene und wunderte sich lange darüber, daß sie diese Antwort so schön scharf hatte formulieren können.

„Haben Sie nicht verstanden?" begehrte Han Tsu-Gol auf und versuchte, seiner Fassungslosigkeit Herr zu werden. Aber immer wieder blickte er die Gläser an und die Crew, die diese Gläser benutzte.

„Wir verstehen alles. Sie gehen also in einen schweren Einsatz, Chef? Wollen Sie zusehen, wie die Roboter Summsumm und Klickklick machen? Wann übernimmt der große TECOM die Regierungsgeschäfte? Oder heißt es das TECOM?"

Der Ober näherte sich mit noch größerer Diskretion. Auf eine Bitte der Admiralin hin schleppten Roboter zwei Sessel herbei.

„Hier! Ihre Assistenten bringen die Hocker!" sagte Hasso und verstaute den Schlüsselstreifen in der Brusttasche.

„Lassen Sie den Unsinn. Sie sind ein verlotterter, betrunkener Haufen. Ich weigere mich, Ihnen den Omicron-Auftrag zu erteilen."

„Wir sind ausgestoßen und geächtet", sagte Atan hartnäckig. „Und wir haben Freizeit. In unserer Freizeit können wir machen, was wir wollen. Sie sehen, was wir wollen. Das tun wir auch. Setzen Sie sich zu uns, Chef, und nehmen Sie auch einen Schluck. Heben Sie ein Glas auf das Wohl der Verdammten."

„Und schicken Sie die Roboter des Doktor Talamon nach Omicron zum Roten-Fleck-Säugling!" empfahl ihm Atan

Shubashi weiterhin. „Und Sie, verehrteste Admiralin - aber

Sie haben mit dem Komplott gegen uns ja nichts zu tun. Sie sind herzlich willkom-men."

„Danke!" sagte sie kühl. „Er sprach von einem wichtigen Ein-

satz!" sagte Cliff zu Atan. „Das ist richtig", erwiderte der schwarz-

haarige, lebhafte Astrogator. „Er will uns zu verstehen geben, daß wir unsere Strafe im Weltraum zu verbüßen haben. Wir sollen den Robotern hinterherfliegen und den Schrott aufsammeln."

„Das wird es sein", pflichtete ihm Cliff bei, ohne sich um den steigenden Zorn des Regierungschefs zu kümmern. „Denn wir sind ja zu sechs Monaten Sklavendienst verdonnert worden. Nun, die Blumenkin-der werden Wendys Baby schon allein finden. Irgendwann werden wir in der Zeitung lesen, wie das Abenteuer geendet hat."

„Vermutlich eher in den Unfallberichten der Flotte", warf Hasso ein. Der Ober kam wieder an den Tisch, brachte Gläser und eine Flasche, die selbst für sehr reiche Raumfahrer wie die ORION-Crew wie ein Signal wirkte.

„Das ist der teuerste Calvados der Gala-xis! Sie... Sie Kenner Sie" stöhnte Cliff.

Er stieß es hervor wie ein Schimpfwort. Auf einen Wink räumten die Robots den Tisch ab, breiteten ein neues Damasttuch darüber, entzündeten Kerzen und brachten vorgewärmte Schwenker. Acht Gläser be-gannen kurz zu brennen, und der Geruch sonnengereifter kleiner Äpfel im Gras der Champagne breitete sich wie ein Kome-tenschweif in diesem Teil des Starlight-Casinos aus.

„Wenn ich Sie ansehe, meine Probleme überschlägig errechne und mit dem Maß meines Ärgers multipliziere, dann bleibt mir nichts anderes übrig. Ich bin frustriert. Und Sie sind der deutliche Grund meiner Wut. Raumfahrer!"

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„Er sagte frustriert. Modewörter!" zisch-te der Commander und roch am Calvados. Seine Gedanken liefen ihm davon. Aber ihr guter Freund Han Tsu-Gol war da und trank mit ihnen.

Han Tsu-Gol? „Sie müssen mich verstehen! Ich bin wie

ein liebender Vater, der die Kinder ab und zu einmal züchtigen muß!" sagte der Regierungschef eben. Helga stieß ein nervöses Kichern aus und kommentierte:

„Ein Raumfahrer-Pestalozzi! Ein Don Bosco der Basis Einsnullvier! Ein wahrer de Sade der Schleusenvorräume!"

„Sie verhalten sich geistreich, aber unwürdig. Ich ziehe meine Konse-quenzen", rief die Admiralin und stand auf. Sie entfernte sich vom Tisch und kam wieder zurück. Mit einer schnellen Bewegung hob sie das Glas an ihre Lippen und trank es aus. Dann ging sie endgültig. Die Crew und Han Tsu-Gol tranken wei-ter. Der Ober kam wieder und berichtete, daß das Essen von Basil Astiriakos bezahlt worden war.

Um zwei Uhr nachts herrschte zwischen dem Hauptankläger der Flotte und seinen Schützlingen tiefer Friede. Alle Probleme waren im Alkohol ertränkt worden.

„Seid ganz fabelhafte Burschen!" sagte Han Tsu-Gol. In der Art von betrunkenen Männern sprach er jedes Wort mit übersteigerter Deutlichkeit scharf aus.

„Wir haben uns zusammengekämpft!" lallte Cliff. „Sie sind auch nicht übel, Boß. Nur ihre verdammten Vorschriften."

„Vergessen Sie's, hick!" machte Han Tsu-Gol. Er dachte nicht einmal mehr daran, welchen Skandal und welches Gelächter in der Flotte es geben würde, wenn ihn hier jemand so sah.

„Und wir sollen wirklich in einen neuen Einsatz gehen?"

„In einen sehr, sehr, sehr schweren Einsatz. Ohne Roboter, Burschen!"

„Wer ist eigentlich auf diese blödsinnige Überlegung mit den Robotern gekom-

men?" fragte Hasso, der langsam zu merken begann, daß seine Trunkenheit nachließ und er wieder etwas klarer denken konnte. „Nicht, daß ich etwas gegen Robots hätte. Aber nicht als Raumfahrerersatz in Schiffen."

„Kyll Lennard, Sigbjörnson." „Das Wissenschaftsministerium also.

Welch eine kühne Idee!" Mit großartiger Bewegung fegte Han

Tsu-Gol ein leeres Glas vom Tisch. Der Servierrobot, der eben die Gläser aus-wechselte, kippte einen seiner Arme und fing das Glas im Flug auf. Keiner der Versammelten beachtete diesen Beweis maschineller Schnelligkeit.

„Aber ich gehe jetzt mit euch los, zerre die Maschinen aus dem Schiff und verbiege ihnen die Rippen!" trompetete Han. „Der mächtige Büffel zerrt zornig an seinen Fesseln."

„Und wie! Wohin soll der Flug gehen?" Hasso sah, wie sich in der Nähe des

Eingangs mehrere Gardisten der T.R.A.V. betont unauffällig versammelten. Er ahnte Böses, aber sie waren in einer Gesell-schaft, die jede Belästigung ausschloß; niemand würde wagen, den Regierungs-chef wegen Trunkenheit zu verhaften.

„Mit den Kindern der Blauen Blumen nach Omicron Eins oder .. .hup .. .Zwei!" verkündete Han Tsu-Gol und schüttete sein Glas halbvoll.

„Tatsächlich? Und unser Urteil?" „Wird kassiert!" brummte Han Tsu-Gol.

„Der wahre Herrscher besiegt sich durch Milde gegenüber dem Feind. Wird annulliert. Gestrichen. Ihr seid wieder frei."

„Ein Abend der schnell aufeinan-derfolgenden Wunder!" kicherte Arlene.

Hasso, der die Gardisten scharf beobach-tete, erkannte jetzt zwischen ihnen die Admiralin in ihrem hellen Borddreß.

„Es wird keinen solchen Grißmiff mehr geben!" sagte Han dumpf.

„Keinen-was?"

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„Keinen Mißgriff. Kyll mit seinen Maschinen. Er ist ganz verrückt darauf. Auf Robots und auf Parapsychik oder wie das heißt."

Han nickte mehrmals und sah ebenso-wenig wie Cliff, daß die Robotkellner zwischen der Nische und dem übrigen Teil des Saales Paravents aufstellten. Der Ober kam wieder und bat andere Gäste, einen Umweg zu nehmen; man befürchte irgendwelche Störungen. Die Gardisten kamen herein, vor dem Eingang fuhren drei Robogs vor, offene Gleiter in ellipti-scher Form, gebaut für den schnelleren Verkehr innerhalb der Stollen und Korridore am Meeresgrund.

„Ich glaube, man will uns abholen", sagte Hasso.

„Wir gehen alle in die ORION und schmeißen die Roboter aus den Luken!" rief Han Tsu-Gol. Er stand auf, torkelte und schwenkte das Glas wie eine lodernde Fackel. Dann deutete er auf Cliff und senkte die Stimme:

„Und Sie, mein Lieber, sind das Salz in der Suppe! Wir brauchen Männer wie Sie. Wir machen das jetzt alles zusammen und gemeinsam. Alles! Und zuerst fahren wir ins Schiff und starten nach Omicron. Klar?"

„Alles klar!" gab Cliff zurück und stand ebenfalls auf. Admiralin de Ruyter war fast unbemerkt nähergekommen und sagte nüchtern und etwas mitleidig:

„In Ihrem Zustand gibt es nur eine gute Adresse!"

Han drehte sich schwerfällig um, legte seinen Arm um Leandras Schultern und schrie voller Begeisterung:

„Noch immer alles klar! Wird immer klarer. Wir gehen jetzt zu Lea auf die Bude und öffnen noch ein paar Flaschen. Los, Burschen und Burschinnen - mir nach!"

Er stolperte davon, in einer Hand das Glas, in der anderen die fast leere Calva-dosflasche. Nach zwölf Schritten fiel er

förmlich in die ausgebreiteten Arme zweier Gardisten, die ihn schnell und schweigend mit sich schleppten. Sie brachten ihn zum Eingang und verstauten ihn sanft, aber nachdrücklich in dem silberfarbenen Robog.

„Ihm nach!" sagte die Admiralin und deutete mit einem autoritär ausgestreckten Zeigefinger nacheinander auf die Crew-Mitglieder.

„Wohin, schönste Admiralin?" er-kundigte sich Mario.

„Auf eine meiner Buden", sagte sie unerschütterlich, „und dort machen wir noch eine Flasche auf. Eine Medizinfla-sche, ihr Trunkenbolde."

„Eine hervorragende Idee, Admiralin!" sagte Hasso. „Sie sind so nüchtern. Ganz anders als wir."

„Nicht unbeabsichtigt. Helfen Sie ihnen. Ich übernehme die Rechnung für den zweiten Akt dieses Abends."

„Und wer zahlt den dritten Akt?" fragte Hasso Sigbjörnson. Ihm war alles nicht geheuer. Er sah zu, wie seine Freunde von je zwei Gardisten in die Mitte genommen und davongeschleppt wurden. Der erste Robog schwebte summend davon. Hasso wartete nicht erst ab, bis ihn die Gardisten ergriffen, sondern ging langsam auf den Eingang des Starlight-Casinos zu.

Der zweite Robog drehte sich auf der Stelle und schwebte mit seiner Besatzung davon. Sie bestand aus Gardisten und Mitgliedern der Crew. Einer der Gardisten schwang sich in den Robotwagen und steuerte mit ihm davon. Die Admiralin setzte sich neben Hasso und sagte:

„Wie kommt es, Hasso, daß Sie den nüchternsten Eindruck machen?"

„Hauptsächlich liegt es daran, daß ich vermutlich am wenigsten getrunken habe. Aber jeder von uns hatte ernsthafte Gründe, seinen Groll hinunterzuspülen. Einschließlich Han Tsu-Gol. Wir sind solche Kleinigkeiten gewöhnt, er noch nicht. Er mußte sich wohl Mut für seine

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eigene Courage antrinken." „Was hiermit geschehen ist. Übrigens:

Wir fahren nicht ,auf meine Bude', wie sich unser Vorgesetzter auszudrücken pflegte, sondern zum Erholungszentrum des T.R.A.V. Dort warten ein diskreter Arzt und für jeden eine spezielle Spritze, eine Sauna und eine Stunde Tiefstschlaf mit Massage und Stoffwechselbeschleu-nigung. Anschließend können Sie nach Vortha starten, um die Blumenkinder abzuholen."

„Dann hat der Regierungschef also tatsächlich die Wahrheit gesagt? Ich habe es kaum glauben können! Welcher Umstand sollte seinen Sinneswandel herbeigeführt haben?" meinte der Bordin-genieur ehrlich verblüfft.

„Ich nehme an, es war eine Mischung zwischen TECOM-Argumentation, Notwendigkeit und Einsicht."

Nach einer Weile fragte Hasso sin-nierend:

„Und aus welchem Grund haben wir uns eigentlich dann betrinken müssen?"

„Die Beantwortung dieser Frage muß Ihnen überlassen werden."

Die Robogs nahmen den vorge-schriebenen Kurs. Sie verschwanden in einem Stollen, der um diese Zeit so gut wie leer war. Es gab keinerlei Aufsehen. Ärzte und Schwestern warteten auf die sieben Personen. Die schweren, schalliso-lierten Türen des medizinischen Zentrums schlossen sich hinter der Crew und dem Regierungschef. Dann begann eine Marter, die fünf Stunden dauerte. Die Zielvorstel-lung war klar definiert: Han und die Crew sollten so schnell wie möglich nüchtern und einsatzfähig gemacht werden.

6. Nachts: 03 h 46 m 25 s: Die Folter unter

verschärften Bedingungen war in vollem Gang. Es war eine Roßkur für harte

Naturen und trainierte Körper. Zuerst wurden die sieben Personen entkleidet und in eine Art weiche Zwangsjacke gekleidet; ein langes, einem riesigen Nachthemd gleichendes Gewand von antiker Länge. Dann bekam jeder eine gewaltige Injekti-on, die zuerst ein wenig einschläferte, dann die Blutgefäße bis hinunter zu den dünnsten Kapillaren in glühende Drähte zu verwandeln schien, dann sieben ver-schiedene Abwehrreaktionen des Körpers hervorrief. Leber und Nieren produzierten wie rasend. Ein gewaltiger Durst erfaßte die Menschen; sie stillten ihn mit einigen Litern Mineralwasser, das mit ver-schiedenen Kräutern und Extrakten versetzt war.

Anschließend gab es eiskalte Duschen. Eine Sauna schloß sich an, in der sie wie die Besessenen schwitzten. Nach der Sauna kamen sie in Wasserbecken, in denen Eisstückchen lustig schwammen. Dreißig Minuten lang mußten sie, in eine Robotapparatur eingespannt, schwimmen. Ihre Flüche und das Wimmern verhallten ungehört zwischen den steril weiß gekachelten Wänden und Decken. Bis auf Hasso und Arlene, die, am Körpergewicht ausgerechnet, am wenigsten Alkohol im Kreislauf hatten, hatte jeder der Crew das Gefühl, von einem rasenden Raumschiff durch einen Gürtel von zehn Millionen Asteroiden geschleppt zu werden, deren kleinster mindestens so groß war wie ein Tennisball. Und jeder einzelne Asteroid versetzte Cliff oder Atan, Mario oder Helga und Han Tsu-Gol einen furchtbaren Hieb. Jede einzelne Zelle ihrer Körper geriet in biologischen Aufruhr. Die Massage, nach der sie alle den Eindruck hatten, wie rohes Fleisch auszusehen, dauerte ganz sicher länger als eine halbe Stunde. Sie verloren jedes Zeitgefühl, ihre Köpfe wurden klarer und klarer, und eine große, kosmische Müdigkeit senkte sich über sie.

Eine neue Injektion.

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Man trocknete sie ab, ein paar Roboter hoben einen jeden von ihnen hoch und schleppten ihn in eine Tiefschlafkammer. Sie schliefen zwei Stunden. Dann brauch-ten sie sechzig Minuten, um wieder wach zu werden. Das Frühstück bestand aus ei-nem Becher eines undefinierbaren Getränks, das nur Aufbaustoffe enthielt.

Gegen sechs Uhr morgens trafen sie alle wieder zusammen. Sie waren völlig klar, aber schwach und mitgenommen. Sie schraken zusammen - jedes Geräusch rief schockartige Empfindungen hervor-, als Admiralin de Ruyter, ausgeschlafen und strahlend frisch zwischen sie trat.

„Nun steht einer Fahrt zur Basis Eins-nullvier nichts mehr im Weg. Ich nehme an, die Herrschaften sind ausgeruht und klar bei Sinnen?"

„Machen Sie sich nicht über uns lustig", grollte mit heiserer Stimme Han Tsu-Gol. Sein rundes Gesicht war bleich und eingefallen. Er trug eine dunkle Brille und wirkte um zehn Zentimeter kleiner.

„Keineswegs. Gehen wir. Kyll Lennard erwartet uns. Die Einsatzpapiere sind fertig."

Cliff erwiderte leise: „Bedeutet das offiziell unsere Re-

habilitierung und einen neuen Einsatz?" „Jawohl!" Still und unter Vermeidung hastiger

Bewegungen folgten die Crewmitglieder der Admiralin. Sie litten an einer Art Überfunktion des Verstandes und unter Körpern, die voller Schwäche waren. Ohne Begleitung durch Gardisten schweb-ten zwei Robogs durch die nunmehr be-lebteren Korridore und setzten alle Teilnehmer kurz vor den Personen-schleusen des Hangars der Basis 104 ab. Han Tsu-Gol litt deutlich unter Gewis-sensbissen. Er konnte sich nicht verzeihen, daß er sich hatte derart gehen lassen. Er schwieg und sonderte sich immer ein wenig ab. Nacheinander betraten Cliff und seine Freunde den Hangar.

„Da ist sie, die neunte ORION", sagte der Commander überflüssigerweise.

„Und alle Roboter scheinen ver-schwunden zu sein", kommentierte Mario de Monti.

„Ich habe es gestern abend noch veran-laßt", erklärte Leandra de Ruyter. Aus der Bodenschleuse des Zentrallifts trat Kyll Lennard in den freien Raum unterhalb des schwebenden Diskus, der von dem Kranz der Landescheinwerfer erhellt war. Er hob die Hand und machte ein zorniges Gesicht, als er den Regierungschef erkannte.

„Das hätte ich wissen müssen!" schrie er aufgeregt. „Sie und Ihre Milde! Ausge-rechnet diesen wertvollen und aufschluß-reichen Versuch mußten Sie sabotieren, Kollege Han! Doktor Talamon ist außer sich vor Enttäuschung." Mit einem Rest Fassung, den er sich seit dem letzten Glas von gestern nacht bewahrt hatte, erwiderte Han Tsu-Gol fast ebenso laut:

„Die Erde ist in Gefahr! Außerge-wöhnliche Situationen erfordern ebensol-che Maßnahmen. Ihre dämlichen Maschi-nen hätten schwerlich die Omicron-Mission durchführen können. Aber diese Crew kann es."

„Nicht in diesem Zustand", schrie Len-nard. „Es war die erste große Chance für eine völlig neue Entwicklung."

Mit Verblüffung sahen Cliff und seine Leute, daß ihre persönlichen Habseligkei-ten sauber gestapelt im Raum der zylindri-schen Schiffsschleuse standen. Die Crew versammelte sich und bildete zusammen mit Han Tsu-Gol und Leandra de Ruyter einen Halbkreis um Lennard. Von der glänzenden und startfertigen ORION IX ging eine Art Magnetismus aus. Cliff und seine Leute fühlten sich schlagartig besser. Gerade rief Han zurück:

„Entwicklung hin, Entwicklung her. Ich muß Ihnen Vorwürfe machen, Regie-rungschef. Wir hätten außerdem dadurch Sachwerte einsparen können."

Die Stimme der Startkontrolle meldete

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sich über wasserdichte Lautsprecher und rief hallend:

„Achtung, ORION Neun! Ihre Startzeit ist in vierunddreißig Minuten. Wir bitten, die Anlage zu räumen und das Schiff zu besetzen. Alle Personen, die nicht zur Mannschaft gehören, haben bitte die Anlage zu verlassen!"

„Kommt, Freunde!" sagte Cliff und winkte. Sie kletterten, zusammen mit der Admiralin, in den Lift und fuhren hinauf ins Schiff. Auch hier gab es keine Spuren von Robotern mehr. Nur Mario, der sein Gepäck in seiner Kammer verstaute, fand ausgerechnet auf dem frisch bezogenen Bett eine kleine verchromte Schraube.

Unterhalb des Schiffes merkten jetzt Lennard und Han, daß sie allein waren.

„Wir werden darüber noch zu sprechen haben", sagte der Wissenschaftsminister und wandte sich zum Gehen.

„Es war überhaupt eine blödsinnige Idee, eine derart qualifizierte Mannschaft durch Roboter ersetzen zu wollen. Es sind alles fabelhafte Burschen!" gab Han gereizt und viel zu aufgeregt zurück.

„Qualifiziert vielleicht im Trinken. Aber sie scheinen ja in bester Gesellschaft gewesen zu sein!"

„Allerdings. Oder wollen Sie mich vielleicht als schlechte Gesellschaft bezeichnen? Mit Ihnen jedenfalls werde ich mich nicht betrinken, Lennard."

„Kollege Lennard, bitte. Ich werde mich entsprechend beschweren!"

„Meinetwegen. Aber denken Sie daran, daß es um die Erde geht, nicht um Ihre stählernen Alptraum-Maschinen."

„Jawohl. Ich wünsche Ihnen viel Glück mit den betrunkenen Raumfahrern."

„McLanes Crew ist betrunken immer noch mehr wert als Hunderte Ihrer nüchternen Roboter, Herr Kollege!" tobte Han. Lennard zog es vor, den Ort seiner Niederlage zu verlassen. Der Asiate blieb allein unter dem Schiff zurück und sah, daß die hydraulische Liftschleuse nach

oben gezogen worden war. „He! Ihr dort im Schiff! Ihr wißt gar

nicht, wohin es geht! Holt euch die Unterlagen ab."

Inzwischen erlebte die Admiralin mit, wie aus fünf übernächtigten und müden Raumfahrern binnen Minuten präzis arbeitende Frauen und Männer wurden. Die Kontrollen wurden mit Schnelligkeit, Sicherheit und Ruhe durchgeführt. Dann schaltete der Commander die Verbindung zum „Tower" ein, der Zentrale, die sämtliche Starts und Landungen kontrol-lierte. Als Cliff die definitive Startzeit hatte und Mario den Kurs, der bereits einprogrammiert war, abermals checkte, meinte die Admiralin zu Cliff:

„Sie sind sich darüber klar, daß Sie jetzt wieder zu T.R.A.V. gehören?"

„Dank auch Ihrer Hilfe - jawohl!" ,,Raum-Aufklärungs-Verbände, das ist

das Stichwort. Die Aufgabe der ORION ist, aufzuklären. Die Aufgabe kann nicht sein, selbständig einschneidende Maß-nahmen zu ergreifen. Sollte Ihnen diesmal unsere Erklärung verständlich sein?"

„Ich denke schon", sagte Cliff. „Aber Sie werden niemals erleben, daß wir wegen jedem Knopfdruck dreimal vergeblich versuchen, bei der Zentrale nachzufragen."

„Sollen Sie auch nicht. Aber Sie haben den Chef in eine außergewöhnlich prekäre Lage gebracht. Er ist wirklich Ihr Freund, das hat sich eben erst gezeigt."

Sie schaltete die Außenmikrophone ein. „Er sollte vielleicht zu uns etwas mehr

Vertrauen haben, denn dann würde er nachts besser schlafen können. Übrigens: Er ist noch dort unten."

Aus den Lautsprechern drangen seine Rufe:

„Laßt mich hier nicht stehen. Ich muß euch noch erklären, wohin es geht. Ihr könnt doch nicht einfach in die Sterne hinein starten ..."

„Der Gute", sagte Cliff in warmer Herz-

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lichkeit. „In einer harten, unruhigen Welt ist es schön, solche Männer zu kennen. Von stählerner Härte wie eine Kirschblüte, klug wie ein thailändischer Elefant und schnell wie der Sieger des Schneckenren-nens. Gehen wir zu ihm, um ihm zu danken."

Vor Cliff McLane lagen auf der Zentra-len Bildplatte die Flugunterlagen; eine versiegelte Mappe mit dem Zeichen der T.R.A.V. und dem Dienstsiegel Han Tsu-Gols. Die Admiralin verabschiedete sich von der Crew und fuhr mit Cliff hinunter in den Hangar.

„Die Unterlagen!" entfuhr es Han. „Ich habe sie irgendwo liegengelassen. Im Casino. Oh, ich vergeßlicher Säufer."

„Ich habe die Unterlagen sichergestellt. Sie sind oben im Schiff. Wollen Sie nicht noch mehrere markante Worte zu Cliff, Ihrem Lieblingsraumfahrer, sprechen?" erwiderte die Admiralin ernst.

„Allerdings." Cliff und Han wechselten einen langen

Händedruck. Han starrte grimmig in Cliffs Augen, nachdem er die dunkle Brille in die Stirn geschoben hatte. Dann sagte er in völlig verändertem Ton:

„Ich weiß, daß ich es mit Ihnen kaum jemals leicht haben werde. Aber bringen Sie mich niemals wieder in eine solche Lage. Ich habe schon mehrmals in meinem Leben derartige üble Kompromisse ge-schlossen - Ihretwegen schließe ich keinen mehr. Das nächstemal trete ich, und Sie werden getreten. Es gibt keine Rücksicht mehr, keine gemeinsame Besäufnis, keine Gnade. Ist dies in Ihr alkoholschwangeres Hirn eingedrungen, Oberst McLane?"

Cliff schluckte und erkannte diese drohende Versicherung als das, was sie wirklich war, nämlich bitterer Ernst. Er sagte leise und stockend:

„Ich verspreche es Ihnen, Han Tsu-Gol. Hoffen wir, daß wir niemals in eine Situation geraten, in der wir gegen eine Anordnung handeln müssen. Betonung auf

dem letzten Wort. Das meine ich ebenso ernst."

„Ich verstehe. Guten Flug, erfolgreiche Mission, baldige Landung. Klar?"

„Klar!" Cliff salutierte diesmal militärisch exakt

und ging zurück ins Schiff. Summend schob sich der rüsselartige Schleusenlift ins Schiff. Die Deckplatte schloß sich. Die Landescheinwerfer blinkten grüßend, als Han Tsu-Gol und die Admiralin den Hangar verließen und die Schotte der Personalschleuse gewissenhaft hinter sich schlossen. Auf dem Monitor verfolgten sie den Start der ORION IX. Als das Schiff in der Atmosphäre der Erde war, murmelte Han gähnend:

„Vielleicht war es bodenloser Leicht-sinn, nur auf Assimladja, TECOM und das eigene Gewissen zu hören."

Die Admiralin strahlte Han mit ihrem selbstbewußten Lächeln an und sagte fröhlich:

„Um auch dieses Risiko auszuschalten, starten die OPHIUCHUS und drei Schnelle Kreuzer der Schweren Klasse unmittelbar nach der ORION. Wir kennen das Ziel, folgen dem Oberst im Kielwasser und brauchen nur noch Ihren Segen. Außerdem wird die Mission dort in der Omicron-Zone mehr als ein Schiff beschäftigen. Haben wir Ihre Einwilli-gung, Chef?"

Han Tsu-Gol stellte sich ein leeres, kühles Bett vor und eine geraume Zeit-spanne, in der ihn niemand mehr mit solchen Kleinigkeiten belästigte. Er sagte erleichtert:

„Sie haben meinen Segen. Nehmen Sie Ihre Schiffe und folgen Sie McLane. Unterwegs können Sie ihn an sein Ver-sprechen erinnern. Ich hätte sein Ehren-wort einholen sollen."

Sie nickte bestätigend. „Es war Ihr Fehler, dies nicht zu tun.

Gute Nacht." „Viel Vergnügen in sechshundert Licht-

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jahren Distanz. Versuchen Sie, dem Baby seinen parapsychischen Mund zu stopfen!"

„Ich tue, wie stets, mein Bestes!" Während die ORION IX direkten Kurs

auf den Mars nahm, während Cliff in seine Kabine ging, um zu schlafen, und Mario das Schiff steuerte, fuhr Han Tsu-Gol in seine Wohnung und war für die Weltöf-fentlichkeit zwanzig Stunden lang nicht mehr zu erreichen. Admiralin Leandra de Ruyter fuhr in den nächsten Startschacht, wechselte einige Sätze mit Captain Omar Shadem und ging dann ebenfalls schlafen. Sie war sicher, daß Cliff von Vortha die Blumenkinder ohne die geringsten Schwierigkeiten abholen und einen Kurs nach Omicron ebenso leicht fliegen konnte. Und dort, an Ort und Stelle, würde man weitersehen.

Vier Raumschiffe rasten im Über-lichtflug hintereinander im Sicher-heitsabstand auf dem Kurs der ORION in den Raum hinaus.

7. Omicron Eins war ein Bedeckungsver-

änderlicher Stern vom Typ des Algol. Auf den terraorientierten Sternkarten der Raumflotten lag er ziemlich genau viereinhalb Grad westlich von Deneb, von diesem Stern trennten ihn aber neunhun-dert Lichtjahre Distanz. Der Hauptstern dieses Systems war ein Riesenstern von hellorangefarbener Korona. Vier Magnitu-den groß Spektralklasse K Eins, wurde dieser diffuse Gigant von einem bläulich schimmernden Sternenzwerg umlaufen. Alle 10.42 Jahre vollendete der Winzling in der siebenten Größenklasse einmal seine Bahn um den Riesen. Von der Erde und somit auch von der Geraden des überlichtschnellen Fluges der ORION IX aus gesehen lag die Ebene dieser Bahn genau im Blickfeld des Betrachters. Dies hatte zur Folge, daß der Begleiter sich bei

jedem Umlauf einmal vor, einmal hinter den Hauptstern schob. Der Riese des Omicron-Eins-Systems war hundertfünf-zigmal größer als die irdische Sonne. Die Gashülle war, je weiter sie sich vom Kern des Sternes entfernte, um so dünner. In der Corona herrschte praktisch ein Pseudova-kuum. Der Sprung, den die ORION ausführte, war fünfhundertneunund-neunzig Lichtjahre und neunzig Hundert-stel lang, einschließlich Start und Brems-manöver.

Aber ... Assimladja, deren hellblaue, samtartige

Haut geradezuhinreißend modisch mit dem silberfarbenen Bordanzug kontrastierte, stand schräg hinter Atan Shubashi, der gewohnheitsmäßig seine verschiedenen astrogatorischen Geräte testete und in den unsichtbaren Raum hinauslauschte. Sie deutete auf einen runden Bildschirm, auf dem sich pulsierende, schwache Echos abzeichneten. Sie sahen aus, als habe jemand eisblaue Kristalle auf das Zentrum des Schirmes gestreut, die unter Vibra-tionen zu tanzen begannen. Mehr oder weniger deutlich zeichneten sich vier Konzentrationen ab. „Was ist das, Atan?" Shubashi blickte in die Schlitzpupillen der Katzenaugen des Blumenkindes und antwortete gutgelaunt:

„Das ist unser Alibi. Oder es sind unsere Kontrolleure. Jedenfalls sind es die Energieemissionen von vier Raumschiffen, die genau auf unserem Kurs folgen."

„Warum?" Die Crew war ausgeruht, bester Dinge,

völlig erholt und hatte sämtliche unange-nehmen Erlebnisse mit verblüffender Leichtigkeit verdrängt. Bis auf Arlene, Helga und drei der Blumenkinder befan-den sich alle in der Steuerkanzel. Die an-deren hatten turnusmäßig dienstfrei und schliefen vermutlich. Cliff winkte zu Atan und Assimladja hinüber und rief lachend:

„Zwei wichtige Gründe, Blumen-zwerglein. Sie wollen sehen, ob wir

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gehorsam bleiben, und sie wollen uns helfen, wenn wir sie brauchen. Ich habe nichts dagegen, aber es stört mich die Heimlichkeit. Ich denke, die bezaubernde Leandra und ihr grimmiger Funker Trude, der mich nicht mag, sind an Bord des ersten Echos."

Die Störfelder folgten der ORION beharrlich durch den Hyperraum. Das Schiff wurde von den Kräften des Hyper-antriebs rasend schnell entlang einer dreidimensional exakten Geraden auf Omicron Eins geschleudert. Bis hinunter in die winzigsten Verbindungen war das Schiff getestet. Der Versuch, Roboter an Bord zu bringen, war zu schnell ab-gebrochen worden; die Laderäume enthielten noch die gesamte Ausrüstung, die von der Crew selbst zusammengestellt worden war. In wenigen Minuten würde das Schiff in den dreidimensionalen Raum hineinrasen und abgebremst werden.

„Wollen wir sie abhängen? Wir haben entsprechendes Material an Bord", rief Hasso aus dem Maschinenraum herauf. Er saß dort, kontrollierte die Geräte und dachte an Xernona.

„Noch nicht", gab Cliff zurück. „Sehen wir erst einmal, was uns das erste System zu bieten hat."

Für die Blumenkinder stellte sich der Augenblick anders dar als für die Crew. Auch Vortha flog überlichtschnell durch den Kosmos, aber noch nie hatten die Blumenkinder diese plastische Unmittel-barkeit miterlebt. Auf sämtlichen einge-schalteten Schirmen beziehungsweise vor ihnen erschienen aus dem Nichts, nach einem leichten Schütteln der ORION und einer Veränderung der Maschi-nengeräusche, die Bilder der kosmischen Umgebung. Von Backbord schlug das helle Orange eines gigantischen Sternes in die Augen, voraus hob sich das viel schwächere Leuchten des kleineren Begleiters von der Kulisse der Myriaden Sterne ab.

„Ortung?" fragte Cliff leise. Atan ant-wortete sofort:

„Alles eingeschaltet. Nichts zu sehen. Noch nichts, Cliff."

Mit zwei weiteren Fingerbewegungen aktivierte der Commander das Bordbuch und die gesamte Installation des unbesetz-ten Funkpults. Irgendwo in diesem Sektor sollten sie Spuren des Babys finden.

„Und was sagen die Flowerchildren?" Elvedurija und Otsummid erwiderten

gleichzeitig: „Wir fangen eine Art Betriebsgeräusch

auf. Sehr schwache, nicht lokalisierbare parapsychische Impulse. Sie haben für uns keinerlei Bedeutung."

„Könnt ihr eure Aufmerksamkeit stei-gern?" erkundigte sich Atan und registrier-te, daß die fraglichen vier Echos auf einen anderen Schirm gewandert waren. Alle anderen Ortungsinstrumente zeigten nur das, was Atan Shubashi zu erwarten hatte: jene Beobachtungen, die man innerhalb eines Sonnensystems machte, wo immer auch es gelegen war. Nichts Verdächtiges also. Cliff kontrollierte den Autopiloten, der das Schiff auf einen Punkt zwischen den beiden Sternen bringen und gleich-zeitig die Lichtgeschwindigkeit der ORION abbremsen sollte. Geradezu Lehrbuchwerte wurden von den In-strumenten klar angezeigt. Der Comman-der brummte zufrieden und sagte:

„Nichts. Oder soll ich aus eurem Kopf schütteln etwas anderes schließen, Blumenfreunde?"

„Wenn in diesem Sonnensystem etwas verborgen ist, dann schläft es oder versteckt es sich", erklärte Assimladja.

„Absolut sicher?" „Ja. Absolut. Oder habt ihr einen Plane-

ten angemessen, auf dem sich Baby verstecken könnte?“

„Negativ. Es gibt keinen, der größer wäre als ein Fußball", erklärte Shubashi mit Entschiedenheit. An seiner Erfahrung war nicht zu zweifeln.

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„Hasso! Wir haben eine Notrufboje an Bord. Durch bestimmte Schaltungen sendet sie nicht nur Notrufe, sondern energetische Kennungen. Könntest du sie in die Kanzel bringen? Ich habe vor, eine interessante Spur zu legen."

„Mit Vergnügen, Cliff", antwortete Hasso und machte vom Bildschirm das Verstanden-Zeichen. Cliff dachte inzwi-schen einige Lichtsekunden weiter. Er war sicher, daß es hier mit rechten Dingen und gewohnten kosmischen, errechenbaren Gefahren oder Parametern nicht getan war. Wenn ein potentieller Gegner zwei Raumschiffe „sah", verringerten sich die Chancen, zerstört zu werden, für die ORION um fünfzig Prozent. Ein Wert, der Cliff weder begeisterte noch beruhigte, aber besser war als Null. Hasso brachte einen etwa zwei Meter langen, torpedo-förmigen Gegenstand in die Kanzel und legte ihn quer über einen Sessel.

„Wie lange willst du sie alle täuschen?" fragte er und bewies, daß er Cliffs Gedan-ken genau erkannt hatte.

„Sagen wir: sieben Stunden. Also ... zuerst diesen Schalter, dann jenen Regler ..."

Die Steuerung des Simulators, der schon vielen Schiffen aus lebensbedrohenden Lagen geholfen hatte, lag unter einer Klappe. Cliff stellte mit äußerster Sorgfalt die verschiedenen Schaltungen ein und zog dann die Fernsteuerung aus den Klemmen.

„Wir bringen es aus. Ich habe die Selbstvernichtungsschaltung aktiviert. Auf diese Weise wird uns die Admiralin keinen Henkersknoten knüpfen können."

„In Ordnung. Ich gehe in die Schleuse." Nur Minuten später flammte das kleine

Triebwerk auf und jagte den Torpedo in eine Flugbahn, die zwischen den beiden Sonnen auf der Ebene der Omicron-Eins-Beta-Bahn hindurchführte. Die ORION beschleunigte scharf, überholte den Torpedo und raste davon. Sekunden

später, als die Triebwerke des Schiffes wieder abgestellt wurden, schalteten sich sämtliche Projektoren der Sonde ein.

Sie erzeugten, klar erkennbar für jeden Astrogator, ein getreues Abbild der ORION. Der Reflexionsschirm würde nicht jeden immer täuschen, aber viele Beobachter wenigstens einige Zeitlang. Cliff sprach einen erklärenden Text auf das Bordbuch, weckte dann den Rest der Crew und bestellte Kaffee und einen kleinen Imbiß.

*

Joanna Tahuakoa schüttelte den Kopf,

lächelte breit und sagte halblaut: „Ich kann mir nicht helfen. Dieser

Oberst mit seinem impertinenten Witz ... er ist mehr als ein Fachmann! Sehen Sie sich das an, Admiral!"

Die OPHIUCHUS und die drei anderen Schiffe hatten vor dem Punkt angehalten, an dem die ORION aus dem Hyperraum herausgeglitten war. In größerem Abstand, auf bestimmte Weise besser zu sehen, lag das System der beiden Sonnen. Deutlich erkannte Leandra de Ruyter auf dem Schirm das Manöver, mit dem McLane zwischen den beiden Sonnen hindurchzu-rasen begann. Dann bremste er die ORION ab, schaltete die Maschinen aus und trieb dahin. Nach wenigen Sekunden feuerten die Projektoren wieder und trieben das Schiff weiter.

„Ich brauche die Werte etwas klarer, Joanna. Bündeln Sie die Suchstrahlen, ja?"

„Sofort, Admiralin." Die energetischen Störungen, durch die

sehr genau die meisten Manöver eines anderen Schiffes angemessen und je nach Fähigkeit des betreffenden Raumfahrers interpretiert werden konnten, zeigten fol-gendes an: Die ORION IX hatte vor dem System einen leichten Zickzackkurs eingeschlagen, hatte offensichtlich verschiedene Ortungen durchgeführt und

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war jetzt im Energieschutz der giganti-schen Sonnenkorona - relativ zum Standort der vier Verfolger - unterge-taucht, hinter der Riesensonne verschwun-den. Aber noch gab es verhältnismäßig scharfe Meßergebnisse. Leandra glaubte, Männer wie Cliff Alistair McLane zu kennen; sie rechnete fest damit, daß er noch immer dann einen neuen Trick aus dem Ärmel schüttelte, wenn anderen Raumfahrern schon längst nichts mehr einfiel. So auch jetzt und hier.

„Dachte ich es mir doch", flüsterte sie und grinste wider Willen anerkennend. Die Ortungssysteme der OPHIUCHUS brachten, obwohl dies kaum möglich war, die Silhouette der ORION klar auf die Schirme.

„Soll ich den listigen Freund anfunken?" fragte Jerome Trude.

„Nein. Noch nicht. Fragen Sie die ande-ren drei Schiffe, ob sie dieselben Werte anmessen. Kreuzpeilung ist nicht nötig."

Leandra hatte damit fest gerechnet, daß Shubashi die Verfolgung früher oder später erkennen würde. Es gab kaum eine Möglichkeit, nicht aufzufallen. Ein Astrogator wie Shubashi, mit allen Wassern gewaschen, würde dies mit Leichtigkeit festgestellt haben. Ebenso sicher war für die Admiralin, daß McLane einen Projektor ausbringen und versuchen würde, die vier Verfolger zu täuschen. Sie sollten denken, die ORION wäre noch im System Omicron Eins, während er im Ortungsschatten der Sonne nach Omicron Zwei raste und sich dort frei und unbelä-stigt und vor allem befreit von allen Ein-schränkungen bewegen konnte.

„Alle drei Schiffe bestätigen unsere Messungen. Rückruf an Han Tsu-Gol und T.R.A.V.?" fragte der Funker. Er war einer der Männer, die McLane nicht mochten, obwohl er laut und deutlich anerkannte, wie gut „dieser Oberst aus der Vergan-genheit" war.

„Danke. Nein. Noch gibt es dafür keine

Notwendigkeit." Der Verband flog, auseinanderfächernd,

langsam in das System ein. Während der nächsten fünfundfünfzig Minuten verän-derte sich die Lage der scheinbaren ORION nur geringfügig. Leandra de Ruyter war jetzt absolut sicher, daß Cliff eine Simulationsboje abgefeuert und sich in Richtung Omicron Zwei abgesetzt hatte. Tatsächlich ein gerissener Bursche, dieser McLane! Ein bißchen war Leandra allerdings auch auf ihre eigene Klugheit stolz.

„Quipapa! Schaffen wir es noch bis Omicron Zwei?" fragte die Admiralin ins Mikrophon. Der kahlköpfige Maschinen-ingenieur, ein Spitzenkönner seiner Branche, hob in gespielter Aufregung beide Arme und rief:

„Selbstverständlich. Rasten ist schlim-mer als rosten. Meine Schaltkreise flüstern mir zu, daß sie benutzt werden wollen."

„Trefflich. Danke. Jerome, Sie würden sich doch freuen, wenn wir den Obristen bei einer weiteren Verletzung seiner Pflichten erwischen würden. Ich will nach Zwei fliegen. Halten Sie es für eine gute Idee?"

Trude hob die mageren Schultern und starrte seinen Impulsbildschirm an, als würde dort die Erleuchtung ausgedruckt werden. Dann murmelte der Funker grimmig:

„Vielleicht können wir die Crew aus Raumnot retten. Das ist eines meiner vier Lebensziele. Schon allein deswegen, weil sich McLane bei mir bedanken müßte."

Ohne besondere ironische Betonung erwiderte die Admiralin:

„Das Weltall ist voller Liebe und Güte. Funken Sie die anderen Kommandanten an und verständigen Sie sie von unserem neuen Ziel. Omar Shadem?"

Shadem, der den rechten Arm dafür gegeben hätte, in der ORION fliegen zu dürfen, verhielt sich erwartungsgemäß fast unglaubwürdig korrekt. Er entgegnete

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ruhig: „Kein Kommentar, Admiralin." „Gida Tarasov. Sie haben eine Schwä-

che für Mario de Monti. Möchten Sie Mario in Omicron Zwei treffen?"

Ein schmelzend gehauchtes „Ja!" kam vom Terminal des Bordkomputers her.

„Also fliegt der gesamte Verband nach Omicron Zwei und versucht, dort zu sehen, was der kluge Cliff McLane mit seinen kosmischen Detektiven, den blauhäutigen Wunderkindern, findet!" verkündete Leandra und war verblüfft, als die Astrogatorin Tahuakoa zurückfragte:

„Entweder haben Sie sich in McLane verliebt und suchen seine Nähe, Admira-lin, oder Sie sind von echter Sorge erfüllt. Wie auch immer: Ich werde versuchen, die ORION auch im anderen System zu finden."

Während die vier Schiffe versuchten, auf Parallelkurs die verhältnismäßig geringe kosmische Entfernung in das zweite System dieses Sternbilds zurückzulegen, schwieg die Admiralin und ging unruhig in der Steuerkanzel der OPHIUCHUS hin und her. Sie beobachtete voller Aufmerk-samkeit, getrieben von innerer Unruhe, die Ausschläge und Anzeigen eines jeden Instruments. Langsam wich der Glanz des riesigen Hauptsterns von den Bildschirmen und der Zentralen Bildplatte vor Kom-mandant Omar Shadem. Shadem fluchte unhörbar und beneidete McLane. Er wußte, daß sich an Bord der ORION möglicherweise Raumfahrer mit der Mentalität von Piraten, Gangstern oder Trunkenbolden befanden - aber mit Sicherheit keine Neurotiker.

Geschwindigkeiten und Entfernungen sind höchst relative Werte. Wenn ein Raumschiff mit halber Lichtgeschwindig-keit der Rundung einer Sonnenkorona folgte, dann ergab dies auf den Bildschir-men und in den Überlegungen derer, die auf diese Schirme blickten, denselben Eindruck, als ob sie in rasendem Tempo

mit einem Speedboot einen Leuchtturm umrundeten. Die ORION war, kaum daß die Korona des Hauptsterns tangential gestreift worden war, in eine leichte Kurve gegangen und beschleunigte immer mehr. Cliff war sicher, daß wenigstens einige Zeitlang Leandras Schiffe außerhalb des Systems warten und das Schattenbild des Simulators anstarren würden, während die Crew sich längst im System Omicron Zwei herumtreiben und dort nach dem Roten Fleck-Säugling fahnden konnte. Wenn das Baby nur halb so drollig wie die frustrierte Mutter sein würde, versprach es interes-sante Stunden und eine Menge Stoff für die Nachbarn an der Bar des Casinos.

Die Geschwindigkeit der ORION nahm nur langsam zu. Cliff wollte keine scharfen, durch die Menge des Energie-ausstoßes bedingten Spuren hinterlassen. Rechts glühte sterbend der winzige Stern, links loderte gleichmäßig die orangenfar-bene Korona des Hauptsterns.

Nur die geschulten Ohren Hassos hör-ten, daß die Maschinen Geräusche in anderen Frequenzen produzierten. Ein langer Blick auf die Instrumentenkonsole im Maschinenraum zeigte ihm die furchtbare Wahrheit. Sigbjörnson dachte an das schwarzhaarige Mädchen und holte im vergeblichen Versuch, sich zu be-ruhigen, tief Luft. Dann sagte er mit mühsam erzwungener Beherrschung:

„Hasso an Cliff. Maschinen sind ausge-fallen. Leistung sank binnen acht Sekun-den von siebzig auf nullzwei."

„Cliff an Hasso. Verstanden. Er-klärungen?"

„Sigbjörnson-Testprogramm läuft. Ich melde mich wieder und bitte um Ruhe."

Hasso hatte vor Jahren ein Programm beendet. Die Effektivität dieses Tests ließ sich nur dann noch verändern, nicht aber verbessern, wenn es andere Typen von Maschinen gab. Er schaltete einige Instrumente ein und drückte seine Diagno-seknöpfe. Nach etwa dreißig Sekunden

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hatte er die Gewißheit, daß seine Instru-mente geradezu verblüffend gut in Ordnung waren und daß ferner die Maschinen theoretisch mit einundsiebzig Prozent der Kapazität arbeiteten. Nur - sie schwiegen. Das Schiff bewegte sich nur noch mit der erzeugten kinetischen Energie.

„Cliff? Ich bin sicher, daß eine un-bekannte, von außen einwirkende Kraft die Maschinen lahmgelegt hat. Ich bin mit meiner Weisheit am Ende, suche aber weiter. Ende."

„Danke und Ende. Wir haben ver-standen."

Abermals kontrollierte Cliff von seinem Platz aus die Maschinen und überlegte sich bei jeder Anzeige, welche Möglichkeiten sich boten. Je mehr Zeit verstrich, desto sicherer waren Hasso und McLane, daß kein technischer Fehler vorlag. Cliff hob die Hand und sagte laut:

„Wir werden von einer unbekannten Kraft daran gehindert, das System Omi-cron Eins zu verlassen. Hassos Untersu-chungen bestätigen diese Feststellung. Ohne Hilfe von außen sind wir im Moment zur Untätigkeit verurteilt. Ich schlage vor, einen Hilferuf an die Admira-lin abzusetzen. Einverstanden, Helga?"

„Du meinst, dieser Entschluß entspricht deiner Gewissenhaftigkeit?"

„Nein. Unserem guten Gewissen." „Es ist die Notwendigkeit des ,Manövers

des letzten Augenblicks', Freunde", sagte Arlene. „Handeln wir also vorschriftsmä-ßig. Kassieren wir Pluspunkte für Verhal-ten nach Dienstvorschrift. Funken wir um Hilfe - Jerome Trude wird sich bewußtlos freuen!"

Helga Legrelle hatte bereits ihre Anlage klar. Sie bog das Mikro herunter und sagte den betreffenden Text laut, langsam und deutlich durch. Alle Instrumente sagten übereinstimmend aus, daß der Funkruf per Richtstrahler tatsächlich zu den vier nachkommenden Schiffen abgestrahlt

wurde. Nach der ersten Durchsage schaltete Helga das Bandgerät ein, das ständige Wiederholungen produzierte. Zweieinhalb Minuten lang herrschte absolute Ruhe in der Kanzel. Helga drehte sich herum und schüttelte fassungslos den Kopf.

„Mein Gerät arbeitet perfekt! Aber sie antworten nicht. Es ist nicht einmal zu erkennen, ob sie unseren Hilferuf über-haupt aufgefangen haben."

„Verdammt!" zischte Cliff. „Jetzt wird es ernst."

Es existierte die schwache Wahr-scheinlichkeit, meinte der Commander, daß die Admiralin ihren Trick mit der Simulationsboje durchschaut hatte, darüber aufgebracht war und die Crew ärgern und bestrafen wollte. Aber das schien angesichts des Textes, den Helga formuliert hatte, nicht sehr wahrscheinlich; hier war eindeutig von ernster Gefahr die Rede.

„Tatsächlich. Es sieht so aus, als ob außer uns noch jemand hier wäre. Atan - irgendwelche Messungen?"

Der Astrogator schüttelte energisch den Kopf und antwortete:

„Nichts. Wir befinden uns laut meinen Instrumenten genau zwischen den Mas-senzentren der beiden Sonnen. Der Kurs ist noch stabil und weist aus dem System heraus, allerdings in Schleichfahrt."

Cliff runzelte die Stirn. Er kannte die Entfernung zu dem kosmischen Riesen, der die Bildschirme mit seinem hellen Leuchten füllte, obwohl Mehrfachfilter vorgeschaltet waren. Wenn sie überhaupt von irgend etwas angezogen wurden, dann vom Hauptstern des Systems.

„Willst du die Daten, Cliff? Ich kann's beschwören!"

„Ich auch", sagte Arlene, die neben Atan saß und die Instrumente betrachtete. „Im Augenblick schlagen zwei Zeiger aus ... ich verstehe. Es scheint sich im blaustrah-lenden Zwergstern ein Schwerezentrum

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aufzubauen. Wir werden seit drei... vier Sekunden in diese Richtung abgetrieben."

Cliff sagte erschüttert: „Dann schaltet bitte einmal die Anzeigen hier auf meine Instrumente. Helga? Neue Impulse?"

„Negativ. Absolut nichts, das ich auch nur als Versuch einer Antwort definieren könnte", erwiderte die Funkerin mit ein wenig Panik in der Stimme.

„Vielleicht hören sie tatsächlich nichts." „Unsinn!" rief de Monti. Cliff musterte die verschiedenen Aussa-

gen der erprobten, hervorragenden Instrumente. Es war nicht gerade eine Kunst, mit der Erfahrung dieser Crew die Werte richtig zu deuten. Obwohl die ORION IX, wenn überhaupt, vom Hauptstern angezogen und aus dem Kurs gebracht werden müßte, änderte sie langsam aber deutlich erkennbar ihre Flugrichtung auf den zwei Milliarden Kilometer entfernten kleineren Begleiter. Dies stand aller Erfahrung nach im krassen Gegensatz zu den Verhältnissen innerhalb dieses Systems und vor allem zu den Erfahrungswerten der Raumfahrer. Noch schwiegen die Blumenkinder diszipliniert, bald würden sie von der aufkeimenden Panik angesteckt werden und vermutlich verwirrend reagieren. Cliff biß auf die Unterlippe und erkundigte sich:

„Hasso. Wie sieht es aus?" „Ich schließe meinen Laden hier und

komme zu euch hinauf. Alles so lebendig wie eine Pharaonenmumie."

„Ausgezeichnet", entgegnete der Com-mander grimmig. „Dann dürfen wir also annehmen, daß die ORION wieder einmal sabotiert wird. Vermutlich startet jetzt dort in Sektor Blau eine Flotte und macht uns genußvoll nieder. Helga?"

„Kosmisches Schweigen. Nur die Stö-rungen der beiden Sonnen. Ich bin jetzt sicher, daß die Admiralin uns nicht empfangen kann. Und inzwischen läuft die Sendung seit vollen sieben Minuten."

Kaum hatte sich die halbrunde Tür

hinter ihm geschlossen, schrie Arlene alarmiert auf.

„Ein neuer Impuls! Direkt hinter der blauen Sonne. Da ist etwas!"

„Endlich!" knurrte der Commander. „Endlich zeigt dieses ungesunde Sonnen-system sein wahres Gesicht."

Die unbekannte Kraft, der von der Orion aus nichts entgegengesetzt werden konnte, wurde stärker. Das Schiff trieb immer schneller auf den Zwergstern zu.

8. Mario hatte überschlägig, aber mit der

Präzision seines Komputers, die Zeit ausgerechnet. Für zwei Milliarden Kilometer würde das Schiff, Be-schleunigung und Bremsmanöver einge-rechnet, rund drei Stunden brauchen. Dann waren sie etwa zweihundert Millionen Kilometer vom Stern entfernt. Drei Stunden. Hundertachtzig Minuten. In dieser Zeit versuchten die Crewmitglieder, das Schiff einigermaßen sicher zu machen. Sie zogen die leichten Raumanzüge an und stellen Hilfs- und Rettungsmittel bereit, aktivierten die LANCETS und sprachen die wichtigsten Überlegungen durch. Selbst die sieben Kinder der Blauen Blumen schlüpften in ihre Raumanzüge.

„Wir müssen warten", murmelte Cliff wütend. Die ORION wurde hilflos auf den kleinen blauen Stern zugesteuert. Und plötzlich, nach einer unerheblichen Kursänderung, wurde das Masseecho hinter der Sonne deutlicher.

„Atan! Hier ... das ist ein Planet. Oder ein Mond."

Die Bilder auf den Monitoren wechsel-ten, als Atan Shubashi umschaltete. Ganz deutlich war da das hart ausgeleuchtete Bild einer Kugel, eines Mondes oder eines kleinen Planeten. Sofort summten Atans Detektoren auf. Bis vor kurzer Zeit war der Begleiter der kleinen Sonne genau

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hinter ihr gewesen, exakt im Maximum der störenden Strahlenflut. Jetzt raste die ORION auf diesen kleinen Planeten zu. Nach einigen Minuten erklärte der Astrogator etwas weniger aufgeregt:

„Größe etwa wie der Erdmond, ebenfalls ungefähr dessen Masse, und ... ich kann es kaum glauben: eine Sauerstoffatmosphäre. Ich erkenne ganz klar die Spektrallinien. Außerdem könnt ihr selbst sehen, daß da verschiedene farbige Flächen eindeutig auf Vegetation hindeuten." McLane wies auf das Bild und sagte mit großer Sicherheit:

„Dorthin werden wir gebracht. Auf diesen winzigen Planeten einer kleinen, sterbenden Sonne. Entweder auf dem verrückten Mond oder im Innern dieses Planetchen ist jemand der uns zu sehen wünscht. Und zwar sehr dringend."

„Etwas Gefährliches lauert dort auf uns!" flüsterte Assimladja. „Aber ich kann nicht sagen, was es ist."

Arlene starrte sie verblüfft an. „Tatsäch-lich? Ist es etwas, das euch bekannt vorkommt?"

Noch bevor Arlene ausgesprochen hatte, schlug eine andere, ebenfalls unbekannte Kraft mit gnadenloser Gewalt und Plötzlichkeit zu. Die Körper wurden förmlich in die Höhe gerissen, kippten aus den Sitzen oder wurden gegen Wände oder Konsolen geschmettert. Dann blieben sie starr und mit weit aufgerissenen Augen liegen. Augenblicklich handelten Hasso, Helga und Arlene. Sie versuchten, die Vorthanier aus der Steuerkanzel in die verschiedenen Kabinen zu schleppen.

„Ein Schock. Sie wurden von einer geistigen Gewalt niedergeschlagen. Aber sie leben und werden vermutlich ihre Lähmung verlieren, wenn sich die Fronten klären." Cliff sah auf der Zentralen Bildplatte, wie sich der Kleinplanet näherte, wie die Formationen der Oberflä-che deutlicher wurden und sich in präzise zu beobachtende Einzelheiten auflösten.

„Es ist nicht das erstemal, daß sie in

diese Starre verfallen", keuchte Mario und trug Yllyrhadja über der Schulter zum kleinen Lift.

Die rätselhaften Vorgänge gingen wei-ter. Die ORION IX raste durch die dünne Lufthülle des Planeten, wurde stark abgebremst und hielt schließlich über einem Tal an, das um einen kleinen See herum angeordnet war. Spärlich bewaldete Hänge stiegen terrassenförmig an und gingen am Horizont in kahle, felsige Berge über. Seltsame Gräser und Pflanzen bedeckten den Boden. Über allem lag der harte, schmerzende Schein der fremden Sonne. Die Umgebung machte einen absolut friedlichen und ruhigen Eindruck.

Cliff betrachtete dieses Bild schweigend, dann sagte er:

„Der Spiegel des Sees ist unbewegt. Es scheinen keine Tiere dort draußen zu sein. Die Indikatoren zeigen atembare Luft und eine Oberflächenschwerebeschleunigung von acht Zehnteln des Erdwerts an. Keiner von uns ist so naiv, dieser friedlichen Ruhe zu trauen. Ich schlage die Bezeichnung Phantom, für diese Welt vor. Am besten wird sein, wir bleiben hier und beobachten erst einmal, wer das Schiff derartig fach-männisch geparkt haben könnte."

„Am besten tun wir dies mit Mario im Overkillwerferstand!" pflichtete ihm Shubashi bei.

*

Drei Stunden später wagten sie sich

hinaus. Cliff, Arlene, Helga und Shubashi

trugen die Raumanzüge mit voller Ausrüstung, waren genügend bewaffnet und hatten sich ein Ziel herausgesucht. Es gab absolut kein Zeichen für irgendeine Form intelligenten Lebens, nur die verschieden großen, dunklen Löcher von Höhlen oder Stollen in den Berghängen.

Vor der Öffnung des Schleusenlifts blieb Cliff stehen, testete das Armbandfunkgerät

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und hörte mit gewisser Zufriedenheit Hassos Stimme:

„Tiere werden euch nicht überfallen, bei Bedarf schließt ihr die Helme rechtzeitig, und wir beide bewachen die ORION so gut wie immer. Viel Spaß auf Phantom."

„Danke. Es wird ständig ein Gerät eingeschaltet bleiben. Wir berichten für euch und für das Bordbuch."

„Verstanden." Cliff führte an, die anderen folgten. Es

gab keinen erkennbaren Weg. Aber die Geländestruktur aus Sand, Geröll, großen und kleinen Felsen und sparsamem Bewuchs hatte einige Pfadsysteme optisch vorgezeichnet, an deren Enden jeweils die Höhlenöffnungen gähnten, das einzig Bemerkenswerte an dieser öden, nie-derdrückenden Landschaft. Während die vier Raumfahrer so schnell wie möglich in die Richtung der Höhlen kletterten, schilderten sie ihre Eindrücke - aber es gab nicht allzuviel zu berichten.

Linsensysteme und Verstärker verfolg-ten die vier Raumfahrer, als sie eine natürliche Treppe hinaufkletterten und ingrimmige Kommentare ausstießen. Plötzlich brach die Verbindung ab, aber nur Sigbjörnson und de Monti im Schiff merkten es; Cliff schien mit den anderen gewisse bergsteigerische Probleme zu haben. Ohne sich zu melden, verschwan-den die silbernen Gestalten im Eingang der Höhle.

Hasso und Mario blickten angestrengt auf die Bildplatte. Die Linsen waren auf den fraglichen Höhleneingang gerichtet.

„Wenn es wirklich das uralte Baby Gwendolyns sein sollte, das uns hierherge-rufen hat, dann ist es eindeutig aus der Art geschlagen", flüsterte Hasso. Augenblick-lich fragte Mario zurück:

„Wie meinst du das?" „Die Mutter, um diesen Vergleich zu

strapazieren, kann nur parapsychische Rufe ausstoßen. Das Baby oder seine Helfer können alle die Effekte herbeifüh-

ren, die wir bisher passiv beobachten mußten. Kann es sein, daß dieser Kleinst-planet eine Art Wiege für das Baby ist?"

„Es kann alles sein. Denke an den Schrei des Blumenkindes: Etwas Gefährliches lauert auf uns ... Da! Hier sind sie wie-der!"

„Die Funkgeräte?" Hasso sah den Trupp aus der Höhle herauskommen.

„Nichts. Noch immer gestört oder mani-puliert. Jedenfalls können wir etwas sicherer sein, daß die ORION nicht gleich vernichtet wird."

„Richtig. Noch leben wir. Das ist Cliff, dahinter Arlene... ja, alle vier."

Mit steigender Spannung warteten Mario und Hasso etwa zwanzig, fünfund-zwanzig Minuten, bis die vier Freunde ihren etwas leichteren Rückweg hinter sich gebracht hatten und wieder mit dem Zentrallift ins Schiff zurückfuhren. Die ORION stand unverrückbar auf ihren Antischwerkraftpolstern.

Cliff winkte mit grimmigem Ge-sichtsausdruck ab, als Mario auf Helgas Funkpult deutete.

„Ich weiß. Vielmehr: Wir wissen. Wie-der einmal hat das Unheimliche, Unsicht-bare und Unbegreifliche gescherzt. Die kleinen Geräte sind ausgefallen."

„Was habt ihr gefunden?" „Nichts", erklärte Arlene. „Die Höhle

war so leer wie meine Vorstellung von dem, was hier passieren ..."

Sie unterbrach sich, packte Cliffs Arm und drehte ihren Freund um neunzig Grad. Dann zeigte sie mit deutlich zitternden Fingern auf die Bildplatte. Innerhalb einer Sekunde stand die gesamte Crew um den großen, horizontal liegenden Bildschirm und sah entgeistert, wie zuerst Cliff, dann Arlene, schließlich Helga und Atan aus der Höhle herauskamen. Der Commander winkelte in seiner charakteristischen Be-wegung seinen Arm an und schien in das Armbandfunkgerät sprechen zu wollen, das er über der Handgelenkstulpe des

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Raumanzugs trug. „Cliff hier. Vorstoß vorläufig er-

gebnislos abgebrochen. Die Höhle endet nach einigen Windungen von etwa hundert Metern Länge vor einer recht massiven, stählernen Wand, die mit den Felsen vergossen scheint. Wir kommen wieder an Bord. Die Luft ist etwas dünn."

„Halt! Keine Bewegung. Zur Seite, Mario!"

Hasso Sigbjörnson hatte blitzschnell reagiert. Der Schall der letzten Worte aus den Lautsprechern zitterte noch in der Luft. Mit einem Satz war Sigbjörnson zurückgesprungen und richtete die Spitze der HM 4 auf die vier Raumfahrer. Er war sicher, Kopien vor sich zu haben. Mario hechtete zur Seite, prallte mit ausgestreck-ten Armen gegen die Verkleidung seines Terminals und wirbelte herum. Auch er zog die schwere Dienstwaffe und richtete sie auf Cliff.

„Jemand spielt hier gräßliche Scherze", sagte de Monti entschlossen. „Wer hat euch geschickt? Wer seid ihr?"

„Mache keinen Blödsinn, Hasso", sagte Cliff ruhig. Er schien zu erkennen, welches Problem hier eben entstanden war. „Ich bin keine Kopie. Es gibt nur einen echten McLane, und das ist schon fast zuviel."

„He!" rief der andere McLane aus den Lautsprechern. „Da erlaubt sich dieser Witzbold von Sigbjörnson, mich wieder zu imitieren. Du solltest öffentlich auftreten, Hasso. Aber hier auf Phantom gibt es kein applaudierendes Publikum."

Mario bewegte sich schnell in einem Viertelkreis und ließ die vier falschen oder richtigen Freunde nicht aus den Augen. Die HM 4 schien sich jeder seiner Bewe-gungen anzugleichen. Er drehte das Mikrophon herum und sagte in ungewohn-ter Schärfe:

„Hier Mario. Cliff, oder wer es immer dort vor der Höhle sein mag - hier sind vier Leute, die perfekte Kopien von euch

sind. Oder von denen ihr perfekte Kopien seid. Kommt ganz schnell hierher! Wenn ihr zu flüchten versucht, wissen wir, wer die Kopien sind. Du weißt sicher auch, selbst als perfekte Kopie, wie hervorra-gend ein Overkillprojektor arbeitet. Also ... schnell hierher. Wir treffen uns unter-halb des Schiffes."

„Das war klug und völlig richtig. Ich hätte es nicht anders gemacht", erklärte der Atan Shubashi, der drei Meter von Mario entfernt stand.

„Soll ich Kaffee kochen?" fragte die Helga im Raumschiff. Die wirklichen Raumfahrer oder die Kopien hörten jedes Wort mit, was auch beabsichtigt war. Ebenso lief das elektronische Logbuch mit und speicherte jeden lauten Atemzug.

„Unterstehe dich, du Silhouette!" rief Legrelle über Funk. „Wenn hier jemand Kaffee kocht, dann ich."

„Ich weiß nicht", sagte Arlene im Raum-schiff leise, „warum sich die falsche Helga so aufregt: Wir haben die Originalköchin ja hier."

Mario und Hasso wechselten einen schnellen Blick.

„Für ein Feuergefecht ist uns die Steuer-kanzel zu gefährlich. Gebt eure Waffen her, und fahrt mit dem Lift hinunter und hinaus. Zwei von uns sind auf alle Fälle echt; ich und Hasso. Wir wissen auch, wie tödlich diese Waffen sind."

„Meinetwegen. Aber Cliffs Schattenbild von Phantom wird uns niedermachen!" sagte Arlene aufgebracht.

„Bevor es zum Feuergefecht geht, be-kommt ihr eure Waffen wieder. Schnell und keine sinnlosen Aktionen!" sagte Hasso und hob die Waffe. Weder er noch Mario würden zögern, einen oder alle vier zu töten ... aber sie wußten nicht, ob sie nicht den wahren Cliff umbrachten. Fieberhaft versuchten sie, eine Lösung zu finden. „Hasso?"

Cliff und Arlene legten vorsichtig ihre Waffen auf den Rand der Bildplatte und

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stiegen in den kleinen Lift, der sie in den Ringkorridor hinunterbrachte.

„Ja? Du willst vermutlich sagen, daß wir mit normalen Sinnen und unter den herrschenden Bedingungen die Kopie nicht vom Original unterscheiden können, ja?"

„So ist es. Wer die ORION hier landen kann, stellt auch vollendete Kopien her. Es ist sinnlos, das Spielchen mit den gemein-samen Erinnerungen spielen zu wollen. Was sagte Helga vor dreiunddreißig Jahren am Donnerstag um vier. Verstan-den?"

„Alles klar. Beide Gruppen kennen alle Antworten. Also bleibt nur - Geduld und der Versuch, auf eine Erleuchtung zu warten."

„So sehe ich es etwa auch." Auch die beiden anderen echten oder falschen Besatzungsmitglieder ließen sich wider-standslos entwaffnen und fuhren hinunter. Als Mario und Hasso im Lift sich gegenü-berstanden, jeder drei HM 4 in der Hand, flüsterte der ältere Maschineningenieur erschüttert:

„Jeder andere außer uns würde durch-drehen und schreiend davonlaufen. Perfekte Kopien, sechshundert Lichtjahre von der Erde entfernt! Das wird uns wieder niemand glauben."

„Beide Gruppen werden beteuern, sie sind echt. Was tun, Hasso?" Der Lift hielt, die Unterkante der Schleuse setzte auf. Als das Schott aufglitt, brachten Hasso und Mario ihre eigenen Waffen in Anschlag. Aber sie sahen nichts anderes als ein Bild relativen Friedens: Die vier Freunde aus dem Schiff standen in größerem Abstand in einer Reihe nebeneinander und blickten den vier Freunden entgegen, die aus der Höhle kamen und in beachtlichem Tempo auf die ORION zurannten. Wer war Kopie, wer war echt? Mario und der Erste Offizier blieben stehen, fühlten sich im Schweigen und der Ruhe der unbewegten Landschaft unbehaglich, fürchteten sich

vor den denkbaren Konsequenzen dieser tödlichen Komödie und warteten, bis die Gruppe aus der Höhle die Gruppe aus dem Schiff erreicht hatte.

Cliff Eins sagte atemlos: „Eine schöne Bescherung. Keiner von uns wird den anderen überzeugen können, daß er echt ist."

„Nur zwei von uns entgehen dieser lästigen Prüfung", gab Cliff Zwei zurück, „nämlich Hasso und Mario. Also ... wo fangen wir an?"

„Offensichtlich hat diejenige Macht", begann Cliff Eins nachdenklich, „die das Baby gestohlen hat, diesen Kunstplaneten geschaffen. Ich vermute, daß irgendwo im Innern das Baby verborgen ist."

„Die Idee hat etwas für sich", erklärte Atan Zwei. „Die Tarnung und der Schutz des Ablegers sind anscheinend vollkom-men. Aber das löst nicht dein Dilemma, die Shubashi-Kopie dort drüben."

„Keine Beschimpfungen, Spiegelbild", mahnte Atan Eins. „Das Rudraja war es, von dem unser Kleiner Unsichtbarer Roter Fleck manipuliert worden ist."

„Manipuliert oder nicht. Vier von uns sind echt. Ich weiß, daß wir es sind", rief Helga Eins und sah zu, wie Mario mit vier Waffen herankam und jedem der anderen Gruppe die Waffe übergab. Es war eine makabre Situation: Nur zwei Raumfahrer, und sie wirkten verwirrt und unsicher, aber entschlossen, nötigenfalls das Äußerste zu riskieren, befanden sich nicht in diesem tödlichen Reigen.

„Es gibt keine Möglichkeiten, es uns zu beweisen, daß wir echt oder unecht sind", rief Helga Zwei und schüttelte wild den Kopf. „Schachmatt für beide Parteien. Auch über die Funksprüche kommen wir nicht weiter, denn wir alle, alle acht, sind eindeutig in die Manipulation einbe-zogen."

„Richtig", sagte Arlene Eins und wischte den Schweiß von ihrer Stirn, „Wir warten auf den großen Lenker. Auf jene Macht,

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die uns manipuliert." Hasso schloß einen Moment lang die

Augen. Er dachte nach und fühlte sich elend. Die vier Schiffe, die nicht antworte-ten, die Serie der angsterregenden Vorfäl-le, und jetzt dieser Schock! Es mußte einen Grund geben, der ihnen allen nicht einfiel. Mit der Suche nach dem kosmischen Ort, von dem die Antwortrufe des Babys gekommen sein sollten, hatte alles angefangen.

Einige qualvolle Minuten lang dauerte das Schweigen. Keiner rührte sich, jeder beobachtete mißtrauisch den anderen. Erst, als das Rauschen schon einige Sekunden lang dauerte, hob Mario den Kopf.

„Wind. Sturm oder so etwas. Irgend etwas passiert hier ...", flüsterte er und sah sich suchend um. Aber nicht einmal die stacheligen grünen Zweige der Krüppel-gewächse bewegten sich. Dann, als wäre das Rauschen nur ein Atemholen gewesen, fuhr ein donnerndes Geräusch über das Tal hin und formierte sich zu einzelnen Worten. Sie waren laut wie ein nahes Gewitter.

„Wenn diejenigen, die es zweimal gibt, miteinander gekämpft haben, werdet ihr wissen, wer die Kopien sind!"

„Also doch!" stöhnte Hasso auf. „Es geht weiter. Die Stimme des Geistes, der uns alle hierhergezerrt hat."

„Ihr seid nichts anderes als Schatten. Nur dann, wenn die echten Schatten von den anderen getötet werden, kann ich euch als Teile der Wirklichkeit anerkennen."

„Ein Verrückter!" entfuhr es Mario de Monti. „Wer hat mit uns gesprochen?"

„Niemand weiß das!" sagte Cliff Eins laut. „Und die dort werden es uns auch nicht sagen wollen."

„Wenn uns nicht einmal die Kopien etwas erklären können", schrie Helga aufgebracht, „dann können wir es erst recht nicht. Uns hat man hierhergeschleift, gegen unseren Willen."

„Kämpft! Tötet die Schattenbilder von

Phantom. Nur der Tod beweist die Realität. Wer übrigbleibt, ist real, wer stirbt, ist eine Projektion."

Das Irreale der Szene verstärkte sich, als Cliff Eins erklärte:

„Ich kämpfe nicht. Kein Kampf auf Leben und Tod. Ich finde meinen Doppel-gänger ganz gut gelungen."

„Das sagte der Doppelgänger vom Ideal. Aber was kann man schon von einer perfekten Kopie anderes erwarten als die eigenen Argumente!" Cliff Zwei lachte sarkastisch. „Und wie steht es mit euch, Kopien und Nichtkopien?"

„Kein Kampf!" erklärten die beiden Funkerinnen. Es war wie ein Original und sein Spiegelbild: gleichzeitiges Sprechen gleiche Mimik, gleiche Menge an Über-zeugung. Hasso merkte, daß er vor Entsetzen fror.

„Auf keinen Fall!" „Mit dieser sympathischen Person? Und

schon gar nicht, um unserem Gastgeber ein Schauspiel zu bieten", riefen Arlene Eins und Zwei aus.

„Schatten ...", murmelte Hasso schließ-lich. „Es erinnert mich an das bekannte Höhlengleichnis von Kollege Platon. Unser verrückter Gastgeber scheint lange Zeit in einer Höhle gelebt zu haben, in der geistigen Variation einer solchen Kaverne. Alles, was außerhalb einer bestimmten Bewußtseinsebene passierte, war nur reine Theorie. Es wurde nur als Schatten, als Derivat der Wirklichkeit empfunden. Ein echtes Kavernensyndrom, wie wir von der ORION sagen würden. Das Erscheinen des Schiffes, der Schiffe vielmehr, in diesem System muß alle bisherigen Erfahrungen in den Schatten gestellt haben."

Die beiden Shubashis nickten be-stätigend. Zumindest einer von ihnen schien dasselbe zu denken wie Hasso. Mario, der den Gedanken schnell aufge-griffen und akzeptiert hatte, fuhr fort:

„Schatten und Höhlen, das sind die Stichwörter. Nur ein Wesen, auf das

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unsere gedankliche Charakterisierung von Phantom-Baby zutrifft, kann auf solche hirnrissigen Ideen kommen. Was wenig-stens mir beweist, daß das Gwendolyn-Baby im Innern, in der Tiefe von Phantom gefangen oder eingeschlossen sein muß."

Offensichtlich hatte ihr Ge-sprächsgegenstand mitgehört. Während die zehn Personen ratlos dastanden und keinerlei feindliche Absichten zeigten, meldete sich die eindrucksvoll donnernde Stimme wieder. Für einen Teil der Mannschaft hatte sie ihre tödlichen Schrecken eingebüßt, aber das hatte nichts zu sagen.

„Wenn es tatsächlich reale Dinge gibt, muß dies bewiesen werden. Ich habe keine Bedenken, Schattenbilder wegzuwischen und aufzulösen. Aber der Beweis, daß sie es nicht sind, muß angetreten werden. Vier Schiffe, die dem gelandeten gleichen, sind im Nachbarsonnensystem und werden wie alle anderen Unwirklichkeiten zerstört, weil sie mich ablenken in meiner Beschau-lichkeit. Deshalb: Kämpft! Zeigt mir, was wirklich ist und was nur aus Illusion besteht! Kämpft! Beweist es mir!"

„Also ...", sagte einer der Kom-mandanten, „die Dinge geraten in Bewe-gung. Uns muß etwas einfallen. Admiralin de Ruyter und ihre drei Schiffe befinden sich in Gefahr. Vermutlich sind sie auf unseren Simulationsbojen-Scherz herein-gefallen und suchen im System Omicron Zwei nach uns."

„Es ist verblüffend, daß unser Gastgeber derart weit hinauslangen und echte Gegenstände trotzdem für Illusion hält!" pflichtete ihm sein Doppelgänger bei.

„Phantom-Baby wird seine Drohung wahrmachen!" rief Mario de Monti entsetzt. „Es besteht für mich kein Zweifel!"

„Für mich leider auch nicht", sagte Hasso und schob seine Waffe gesichert zurück.

Gleichzeitig merkte er, daß er fremde

Gedankenbilder empfing. Ein schneller Blick, ehe ihn diese „Übertragung", ausschließlich beschäftigte, bestätigte ihm, daß es allen anderen Anwesenden ebenso erging.

Die Bilder: Vier silberne Diskusraumschiffe drifte-

ten hilflos und langsam, aber unaufhaltsam in die lodernde Korona des roten Riesen-sterns Omicron Zwei hinein. Es wurde deutlich, daß die Schiffe nach Ablauf des neuntausendsten Teiles eines Umlaufs des Zwergsterns Omicron Zwei Beta um Alpha, den Riesen, verglühen werden. Eine Gnadenfrist, die sehr kurz war. Schon jetzt hatten Angst und Verzweiflung die hilflosen Besatzungen gepackt.

Mario rechnete in rasender Schnellig-keit.

„Da die Umlaufdauer drei Komma fünfzehn irdische Jahre beträgt, werden Admiralin de Ruyter und ihre Leute in drei Stunden und sechs Minuten sterben müssen", sagte der Erste erschüttert. „Ich glaube jetzt, daß euch nichts anderes als ein Kampf auf Leben und Tod übrig-bleibt."

Die makabre und unglaubliche Situation konnte durch Scherze oder überlegtes Handeln nicht mehr verändert werden. Der Zwang war zu groß, es gab keinen Ausweg. Was jetzt passierte, konnte keiner ahnen. Erschossen die Schatten die echten ORION-Leute - oder siegte die andere Partei? Konnten Tod und Mord die Schwierigkeiten lösen?

„Lasse dir etwas einfallen, Com-mander", sagte Hasso leise und senkte den Kopf. „Ich bin mit meiner Klugheit am Ende. Wir müssen die vier Schiffe zu retten versuchen. Selbst wenn es unser Leben kostet."

Niemand sprach. Die erstarrte Natur des nachmittäglichen Talkessels rührte sich nicht. Nicht einmal die lautlosen Schatten wanderten. Das Ende des Weges war erreicht.

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9. Ein düsteres, wie Nebel wirkendes Licht

erfüllte die Steuerkanzel. Keiner der Raumfahrer sprach etwas. Sie alle blickten auf die Bildschirme und die Instrumente. Bis auf die Funkgeräte und die Antriebs-einheiten funktionierten rätselhafterweise sämtliche Anzeigen und alle Aggregate. Aber dies hatte keinen Einfluß auf die Gedanken und Empfindungen der Mann-schaft.

„Ich bin sicher, daß wir in einer Stunde sterben werden", sagte der Funker Trude mit heiserer Stimme. „Und nur, weil wir diesen Wahnsinnigen von der ORION nachgeflogen sind."

„McLane ist nicht der Grund. Es ist eine versteckte Macht in diesem Sonnensystem, die unseren Tod will", antwortete Leandra de Ruyter leise. Die Gesichter der Crew glühten und glänzten in dem fahlen Rot der ausgedehnten Sonnenkorona, durch die alle Schiffe des kleinen Verbandes drifteten.

„Außerdem leben wir noch. Solange wir leben, müssen wir hoffen - und zwar nicht auf den Tod", erklärte der Kommandant.

Leandra wischte mit dem Unterarm über ihr Gesicht. Es war unerträglich heiß in der Steuerkanzel, dem zentralsten und am besten gesicherten und isolierten Raum innerhalb des Diskusschiffs. Die Klimaan-lage funktionierte, sie lief auf Hochtouren. Trotzdem konnte sie die Hitze nicht mehr niederhalten.

Sogar die Energieschirme, die um die Außenhülle lagen, konnten nichts gegen die Hitze ausrichten. Die vier Schiffe waren bereits zu tief in die heiße Gaskon-zentration vorgedrungen.

Summend arbeiteten die Bandgeräte im Funkpult. Ununterbrochen jagten mit höchstmöglicher Energie die Notrufe aus den Sendern. Die Signale gingen hinaus,

aber niemand antwortete. Wurden sie überhaupt gehört?

Joanna Tahuakoa hob die Hände und deutete auf den Monitor, der die ständig ansteigende Gaskonzentration anzeigte.

„Es wird ernst. Niemand hört uns, Ad-miralin."

„Vermutlich wird man die Bänder aus der Notboje finden und erfahren, was mit uns passiert ist", erklärte Trude und wischte mit beiden Händen den Schweiß von seiner Stirn.

„Vermutlich ja." Die Luft war stickig und heiß. Auf der

Zentralen Bildplatte sah die Admiralin die drei anderen Schiffe. Antriebslos, in verschiedenen Winkeln und Abständen, wurden die Schnellen Kreuzer vom Kern der Sonne angezogen. Der riesige Stern, ebenfalls ein Bedeckungsveränderlicher vom Algol-Typ, hatte die Größe von 4,2 Magnituden. Aus der ehemals geraden Flugbahn der Schiffe wurde eine leichte Kurve, die sich immer mehr dem Kern der Sonne zu verstärkte.

„Noch eine halbe Stunde. Höchstens eine Stunde", sagte Mateus Quipapa gebrochen. „Warum will man unseren Tod?"

Es gab keine hysterischen Ausbrüche. Noch beherrschten sie sich und hielten ihre Todesfurcht unter Kontrolle. Aber schon lagen am Rand der Zentralen Bildplatte die sechs kleinen Würfel, die keine Selbst-morddrogen waren, sondern stark und schnell wirkende Schlafmittel.

Sie brauchten sich nicht umzubringen, doch sie wollten sich ihr eigenes Ende ein wenig erleichtern. Das Medikament wirkte binnen Sekunden, aber noch hofften sie. Die Admiralin drehte ihren Sessel herum und sagte:

„Gida, ist die Boje klar?" „Ja. Es wird Zeit, sie abzufeuern." „Wir warten noch ein wenig. Aber ich

werde meinen Bericht sprechen." Jedes Flottenschiff besaß ein solches

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Projektil. Es war mit einem Koaxialkabel mit den Kommunikationsgeräten und dem Komputer des Schiffes verbunden und hatte vier verschiedene, unabhängig voneinander arbeitende Triebwerke. Unter anderem ein starkes Feststofftriebwerk geradezu archaischer, aber zuverlässiger Bauart. Ein kleiner, unzerstörbar eingebau-ter Datenspeicher würde den letzten Bericht vom Untergang der OPHIUCHUS geben.

Und wenn die Kommandanten der anderen Schiffe ähnlich handelten, auch vom Sterben der restlichen Flotte.

Leandra de Ruyter packte das Mi-krophon, drückte die Knöpfe, nachdem sie die Schutzkappen entfernt hatte. Jetzt war das Funkpult sowohl mit dem elektroni-schen Logbuch als auch mit der Notsonde verbunden.

Die Admiralin gab, immer wieder von Pausen unterbrochen, eine Schilderung des Zustands ab. Die einzelnen Daten befan-den sich ohnehin im Logbuch. Dann schloß Leandra de Ruyter stockend und müde:

„Wahrscheinlich ist auch die ORION Neun bereits zum gegenwärtigen Zeit-

punkt von der Sonne Omicron Eins oder von Omicron Zwei verschlungen worden. Wir stehen kurz vor unserem Ende. Die

ORION-Crew, die Elite der Raumfahrer in den Terrestrischen Raumaufklärungs-verbänden, hat ihre Pflicht geradezu

bewunderungswürdig getan, in unerschüt-terlicher Treue zur Erde und in absoluter

Loyalität zur Menschheit. Und zwar bis zu ihrem Tod, so wie wir auch. Wir über-

spielen den Speicherinhalt auf den Datenspeicher der Notboje und feuern

diese ab." Ein Knopfdruck, ein Startimpuls, und

aus dem Unterschiff der OPHIUCHUS jagte ein Torpedo hinaus. Auf dem Bildschirm erschien die Rauchbahn des Triebwerks, das aus dem Zentrum heraus das Projektil in die Richtung des freien

Raumes riß. Dann setzte das nächste Segment des Antriebs ein und schleuderte die Sonde durch die äußeren Schichten der Sonnenkorona.

Die Anziehungskraft des weißglühenden Sonnenkerns zerrte an den vier Schiffen und zog sie mehr und mehr dem Augen-blick des sicheren Todes entgegen. Langsam streckte Omar Shadem die Hand nach der Packung mit den Medikamenten aus.

10. „Kämpft! Die vier anderen Schatten treiben in den

Kern der Sonne. Sie werden in Kürze zerstört werden. Beweist mir die Realität, zeigt mir die Wirklichkeit und tötet die Duplikate! Kämpft!"

Hasso Sigbjörnson stieß einen grimmi-gen Fluch aus. Er musterte abermals die beiden Gruppen, die sich mit den Waffen in den Händen gegenüberstanden. Der Nachhall der donnernden Stimme klang noch in den Ohren der Raumfahrer.

„Aber wenn ihr schon glaubt, kämpfen zu müssen", rief Mario de Monti scharf, „dann auf keinen Fall in der Nähe des Schiffes. Für so etwas ist die ORION zu schade."

„Denke ich auch!" sagten beide Cliff McLanes gleichzeitig.

„Das heißt, den Irrsinn auf eine un-glaubliche Spitze zu treiben. Geht dort hinter den Felsbrocken in Deckung und versucht, die Gegend einzuäschern!" schrie Hasso wütend. Sie waren buchstäb-lich zur Ohnmacht verdammt. Sie hatten keinen anderen Ausweg, weil es keinen gab. Hasso und Mario sahen schweigend und voller Angst zu, wie sich die beiden Gruppen zu verteilen begannen. Keiner der acht - vier Originale und vier Duplikate, die absolut nicht voneinander zu unter-scheiden waren - war von der Idee

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begeistert oder konnte ihr das geringste abgewinnen. In den Gesichtern war deut-lich die Angst von dem möglichen Tod zu sehen, aber auch die Entschlossenheit, durch den Kampf das Schicksal der vier Schiffe in Omicron Zwei zu ändern.

Plötzlich blieb der Cliff McLane stehen, der zuletzt aus der Höhle hervorgekom-men war. Er hob die HM 4 hoch, holte Luft und schrie laut:

„Bevor ich kämpfe und womöglich mich selbst umbringe, soll dieses größenwahn-sinnige Baby gegen mich antreten!"

Er schleuderte die HM 4 auf den steini-gen Boden und trat wutentbrannt danach. Die Waffe wirbelte in einem Schauer aus Kies davon. Das Phantom-Baby oder wer immer diese Gefahren heraufbeschworen hatte, schwieg.

„Ich habe hier im Omicron-System das Baby des Großen Roten Fleckes erwartet, das der Mutter ähnlich ist, nicht einen feigen und dummen, unerfahrenen und größenwahnsinnigen Wechselbalg."

Fassungslos und von diesem Ausbruch überrascht, starrten alle anderen den Commander an, ob es nun der echte war oder seine Kopie. Noch immer meldete sich die Stimme des Babys nicht.

Aber dafür geschah etwas anderes. Vier der Gestalten lösten sich auf und

verschwanden, als habe es sie niemals gegeben. Einen Sekundenbruchteil später gab es nur noch einen Cliff, der das Resultat seines Gefühlsausbruchs ebenfalls fast erschrocken mitangesehen hatte, eine Helga, einen Atan und eine Arlene. Wie Marionetten, schweigend und starr, bewegten sie sich auf den Commander zu. Arlene bückte sich und hob die Waffe auf.

„Also doch: das Baby!" brummte Hasso kopfschüttelnd. Ein kalter Wind schien plötzlich durch das Tal zu fahren.

„Ich habe die Kopien aufgelöst! Nie-mand braucht mehr zu kämpfen. Ich ahnte nicht, daß meine Mutter euch geschickt hat."

Cliff brüllte zurück: „Eine Frage hätte alles geklärt! Die vier

anderen Schiffe! Sie stürzen in die Sonne! Lasse die Schiffe frei!"

„Schon geschehen. Meine Mutter rief nach mir, ich antwortete. Aber sie schwieg plötzlich. Auf meine Antwort kamen keine Impulse mehr. Ich mußte daraus schließen, daß die Außenwelt nur aus Schatten, Illusionen und Unwirklichkeit besteht. Jetzt erst erkenne ich, daß ihr real seid."

„Reichlich spät! Du lebst im Innern dieses künstlichen Kleinstplaneten?"

Wieder tobte donnernd die Stimme des Babys durch das Tal.

„Der Planet wurde zu meinem Schutz und zur Tarnung erschaffen. Eine kompli-zierte technische Anlage regelt die Umweltbedingungen. Ich wurde von einer unbekannten Macht mißbraucht. Ich mußte vor unendlich langer Zeit Informationen speichern, Raumflotten fernsteuern und anderen helfen, die Diener dieser Macht waren. Für mich ist alles nur ein Spiel, es gibt keine Wirklichkeit, nur Informationen, Verknüpfungen und Planspiele."

Beeindruckt und nachdenklich sagte Mario de Monti zu Cliff:

„Eine heiße und dichte Kohlen-wasserstoff-Polymerwolke wie Gwendo-lyn und ihr Baby am Leben zu erhalten, erfordert wirklich eine technische Anlage von gewaltiger Größe und Kapazität. Das Rudraja hat das Baby eindeutig miß-braucht."

„Scheint so", sagte Cliff mürrisch. „Hoffentlich sind die vier Schiffe wirklich inzwischen auf dem Weg aus der Sonne heraus."

„Wir werden es wohl gleich erleben oder sehen."

Das Atmen fiel Cliff etwas schwerer; vermutlich eine Reaktion auf die ungeheu-re Nervenanspannung, die sich jetzt abbaute.

„Ich nehme auch an, daß seinerzeit das Rudraja durch irgendwelche Energiebah-

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nen den Stoffwechsel und damit das ,Funktionieren' der Polymerwolke zum schnelleren Funktionieren angeregt hat. Anders kann ich mir es nicht vorstellen. Jedenfalls arbeiten die Zellen oder Partikel von Gwendolyns Baby so schnell wie die Schaltkreise eines großen modernen Rechengehirns."

Cliff ging auf die Schleuse zu und hob den Arm.

„Zuerst brauchen wir eine Funk-verbindung zu den vier Schiffen."

Wieder erschienen in ihren Gedanken Traumbilder von beängstigender und ausschließlicher Realität. Sie sahen, wie sich die vier von loderndem Gas umhüllten Schiffe zu einer Formation zusammen-schlossen und in rasender Geschwindigkeit ihren Kurs änderten, um in einem engen Bogen wieder vom Zentrum des Riesen-sterns freizukommen und den Schutz des freien, „kalten" Weltraums zu gewinnen.

Kaum waren diese Bilder und Eindrücke verblichen, schrie Arlene auf.

„Die Luft wird dünner! Schließt die Raumanzüge."

Wieder einmal rettete ihnen die Routine zwar nicht unbedingt das Leben, aber mit Sicherheit die Gesundheit. Jeder der sechs Raumfahrer führte fast synchron mit den anderen die notwendigen Handgriffe aus und setzte den Helm auf, schloß die Versorgung an, klappte den Mechanismus der raumdichten Verbindung zu und schob die verschiedenen Visiereinrichtungen hoch.

Sie hörten noch die laute, hallende Stimme:

„Ich höre euch! Ich höre auch die Botschaft meiner Mutter. Ich habe nicht gewußt, daß ihr meine innerste Sprache versteht. Sprecht! Sagt mir, was meine Mutter wollte, als sie nach mir rief!"

„Die Blumenkinder!" krachte es aus Hassos Außenlautsprecher.

„Schnell ins Schiff zurück!" Die Raumfahrer waren mit wenigen

Sätzen in der Kabine des Zentrallifts. Nacheinander fuhren die beiden Schleu-sentüren zu. Der Lift schwebte in dem System sich ineinanderschiebender Röhren ins Schiff hinauf. Die Besatzung rannte durch den Ringkorridor, öffnete im Laufen bereits die Helme und riß die Türen zu den einzelnen Kabinen auf. In Helgas Kabine saßen und standen die sieben Blumenkin-der und sprachen unhörbar mit dem Baby.

Nichts war zu verstehen, nichts zu sehen. Die offenen Augen der Vorthanier schienen durch die Raumfahrer hindurch-zublicken. Nach einiger Zeit sagte Usqueesid erschöpft:

„Das Baby ist nicht mehr verkrampft. Es anerkennt uns zwar nicht als Freunde, aber als harmlose und reale Boten. Uns alle."

„Was habt ihr gesendet?" „Das", meinte Elvedurija, „was wir in

Jupiternähe gehört und verstanden haben. Die Sehnsucht eines mütterlichen Wesens nach ihrem Kind. Nichts mehr, nur diese Empfindungen und Gefühle."

„Und was ..." Das Raumschiff begann leicht zu vibrie-

ren. Cliff ahnte, was die Erschütterungen zu bedeuten hatten und war mit wenigen Sätzen die Wendeltreppe zur Steuerkanzel hinaufgesprungen. Der erste Blick auf die Zentrale Bildplatte zeigte ihm, daß ein schweres planetares Beben stattfand.

Die Berge jenseits der höhlen-durchbrochenen Hügel zitterten. Riesige Felsplatten lösten sich und kippten zu Tal. Auf dem See entstanden hohe Wellen, die ineinanderschlugen und das Gestrüpp der Ufer wegrissen. Die Vegetation, eben noch grün und stachlig, änderte binnen weniger Sekunden ihre Farbe.

Sie wurde braun, dann grau in sämtli-chen Schattierungen, schließlich zerstäubte sie zu Asche und bildete Wirbel und schlauchartige Gebilde, als die Sauerstoff-atmosphäre des Kleinstplaneten sich ins All hinaus zu verflüchtigen begann.

Eine Minute später hatte sich das Tal in

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eine öde, luftleere Planetenwüste verwan-delt. Nur vom See aus stieg schräg eine dünne, gasartige Nebelwolke in die Höhe.

„Phantom ist wieder zu dem geworden", sagte der Bordingenieur leise zu Cliff, „was es vor Jahrtausenden war, nämlich eine öde Welt unter einer kleinen, heißen Sonne."

Je mehr Luftpartikel, nicht mehr an die Oberflächenschwerebeschleunigung gebunden, in den Weltraum hinausjagten, desto stechender und härter wurde das Licht. Die Schatten hatten überscharfe Kanten; es gab nur noch krasse Helligkeit und pechschwarze Löcher wie auf der Landschaft des irdischen Mondes und einer Achtelmillion anderer kosmischer Körper dieser Art.

„Die Blumenkinder haben ihre Versu-che", rief Arlene vom Lift her, „Phantom-Baby zu erreichen, aufgegeben. Baby hat alles zur Kenntnis genommen und ist verstummt."

„Richtig. Der Schock muß das Baby paralysiert haben", meinte Assimladja, die in diesem Augenblick in die Kanzel trat.

„Wie? Paralysiert?" Helga blieb neben dem Funkpult stehen und vergewisserte sich, daß der Notruf noch immer ununter-brochen gesendet wurde.

„Ja. Wir glauben alle, daß der Schock der Erkenntnis das Baby zum Verstummen gebracht hat. Es ist förmlich in sich hineingekrochen, jedenfalls waren das die Impulse, die wir auffingen", verkündete Assimladja.

„Ich glaube, das Baby ist tot!" meinte Hasso, nickte seinen Freunden zu und ging hinunter in den Maschinenraum. Er war sicher, daß sein Test das völlige Funktio-nieren aller Maschinen ergeben würde.

„Welche Erkenntnis, meint ihr, hat Baby gelähmt, paralysiert oder getötet?" erkundigte sich Cliff. Sie befanden sich noch immer in den Raumanzügen, und keiner machte Anstalten, seinen Anzug auszuziehen.

„Baby hat sich in der Beurteilung der Außenwelt seit dem Zeitpunkt, an dem es zur Steuerung verschiedener Rudraja-Aktivitäten mißbraucht wurde, total geirrt. Es hielt Wahrheit und Wirklichkeit für Schatten, Illusion und Spiel. Diesen Schock meinen wir."

„Ich werde darüber nachdenken!" erklär-te Cliff. Helga hantierte schweigend an ihren Knöpfen und Reglern. Eine wispern-de Lautsprecherstimme wurde schärfer, erkennbar und dann lauter.

„Hypergramm an ORION Neun: Wir empfangen Ihren Notruf aus System Omicron Eins. Bitte antworten ... wieder-hole: Wir empfangen Ihren Notruf ..."

„Selten habe ich so gern mit Vorge-setzten gesprochen!" rief die Funkerin in grenzenloser Erleichterung.

„Antwortest du, Helgamädchen?" fragte der Commander zurück und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. Mehr und mehr verfiel die Natur dort draußen zu kosmischer Einöde.

„Selbstverständlich!" Knacken, Knistern und Rauschen - dann folgte Helgas Stimme:

„Hypergramm ORION Neun an OPHIUCHUS und Admiralin de Ruyter. Wir haben Ihren Funkspruch empfangen. Wir sind seit mehreren Minuten außer Gefahr. Wir bitten Sie, auf Phantom zu landen. Die Ansteuerung ist..."

Atan Shubashi schalte sich ein und gab an Tahuakoa die exakten Koordinaten durch. Im Überlichtflug war die Distanz von rund einem Lichtjahr für die Schiffe eine Kleinigkeit.

„Verstanden. Wir kommen und landen in der Nähe der ORION Neun !"

„Interessante Umstände erwarten Sie. Ende und Aus."

*

Dreißig Minuten genügten sicher nicht,

um die Crew und die längst nicht so

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belastungsfähigen Blumenkinder zu beruhigen. Alles, was nun folgte, wurde mit nervöser Hektik, mühsam gesteuert durch die geliebte und lebensrettende Routine, unternommen. Die Crew saß kurz darauf wahllos verteilt in der Steuerkanzel, trank alkoholisierten Kaffee und aß die erhitzen Gerichte aus dem Bordvorrat. Aus den Lautsprechern kam vor der Kulisse der beruhigenden Musik die Kommunikation zwischen den vier Raumschiffen im Anflug auf Phantom.

„Was ist eigentlich mit unserer Si-mulationsboje geworden?" fragte Cliff.

Mario blickte auf die Uhr und sagte abwinkend:

„Selbstzerstörungsschaltung. Die Batte-rien waren erschöpft. Es gibt nur eine reale ORION und keinen energetischen Schatten mehr."

„In Ordnung. Und da sind auch unsere geretteten Verfolger", kam es aus Atans Ecke. Deutlich waren die Flugbahnen der vier Schiffe zu sehen, die dem Leitstrahl der ORION folgten und mit gekonnten Manövern etwa halbkreisförmig um das Schiff landeten, ihre Position auf dem verwüsteten Gelände einnahmen und die Antigravpolster einschalteten.

„McLane? Leandra de Ruyter spricht!" ertönte Sekunden später die vertraute Stimme. Sie klang keineswegs ärgerlich, aber erschöpft.

„Sie laden uns sicher zum Rapport auf Ihr Flaggschiff ein?" fragte Cliff zurück und verzichtete darauf, das Bild zuzuschal-ten.

„Richtig. Ausnahmsweise kein Versuch, Ihre Eigenmächtigkeiten zu diskutieren. Kommen Sie bitte alle. Wir brauchen einen Bericht, weil keiner von uns die Zusammenhänge richtig durchschaut."

„Wir sind in einigen Minuten in der OPHIUCHUS!" versicherte der Comman-der, schaltete ab und stellte den Becher zurück.

„Hoffentlich haben die dort drüben den

Sekt kaltgestellt." Atan sagte kurz: „Ein Schiff, in dem Jerome Trude als

Funker fliegt, wird ausgerechnet uns mit allem bewirten, nur nicht mit Champag-ner!"

Er hatte recht. Die Besatzung der OPHIUCHUS war knapp dem Tod entkommen und wirkte auch so. Während das Logbuch lief, schilderten Cliff und seine Freunde die Erlebnisse seit dem letzten Funkkontakt bei Erreichen von Omicron Eins. Die Simulationsboje zu erwähnen, vergaßen sie angelegentlich. Nach etwa zwei Stunden breitete der Com-mander die Arme aus und grinste Jerome herausfordernd an.

„Das war's, Admiralin. Nach unserer Meinung ist das Phantom-Baby so tot wie die Oberfläche des Riesenmondes oder des Kleinstplaneten hier."

Helga stand neben dem Funkpult und ließ die Bänder zurücklaufen, um einige Stellen noch einmal kontrollieren zu können. Jerome verfolgte jeden ihrer Griffe und jede Schaltung mit dem Argwohn der Eifersucht.

„Trotzdem: Sie hätten außerhalb von Omicron Eins warten sollen. Sie haben wieder einmal zu schnell gehandelt. Wenigstens hätten Sie besser orten müssen, denn der Kunstplanet wäre zu entdecken gewesen.

Wenn dann die Blumenkinder ihre Botschaft gesendet hätten, wären wir alle nicht für lange Stunden in Lebensgefahr gewesen."

Helga drückte abermals einige Knöpfe, dann lachte sie ausgesprochen fröhlich und spulte das Band abermals einige Meter zurück. Mitten in die Unterhaltung Cliffs mit der Admiralin dröhnten die Laut-sprecher auf.

„.. .ORION-Crew, die Elite der Raum-fahrer in den Terrestrischen Raumaufklä-rungsverbänden, hat ihre Pflicht geradezu bewunderungswürdig getan, in unerschüt-

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terlicher Treue zur Erde und in absoluter Loyalität zur Menschheit. Und zwar bis zu ihrem Tod, so wie wir auch..."

Hasso lachte laut und herzhaft, Arlene und Helga kicherten wie Schulmädchen, Cliff und Mario grinsten sich breit und schadenfroh an. Auch Omar Shadem lachte. Nur Jerome Trude machte eine Gesicht, als habe er Magenschmerzen.

„Ihre richtige Meinung von uns ehrt Sie, Admiralin. Danke für den Nachruf. Aber - selbst ich irre mich hin und wieder, warum nicht auch Sie. Löschen wir's, denn das braucht niemand zu hören. Wir werden unter Eid versichern, daß diese Leerstelle einen unbeschreiblichen Raumfahrerwitz enthielt."

Die Admiralin und Cliff nickten Helga zu. Diese trat zurück, und Jerome Trude löschte diese Bandstelle mit großem

Vergnügen. „Wir fliegen zurück zur Erde, die

ORION und die OPHIUCHUS. Die drei Schiffe bleiben hier, bis ein For-schungskreuzer eingetroffen ist. Phantom muß genau untersucht werden. Wir werden auf dem Flug noch Gelegenheit haben, uns zu sprechen. Klar?"

„Einverstanden!" sagte Cliff und küßte galant Leandras Hand. Die Crew verließ das Schiff, enterte die ORION und machte das Schiff startbereit.

Zwanzig Minuten später jagten die beiden silberschimmernden Diskusse in den Raum hinaus, passierten die zwei Sonnen von Omicron Eins und nahmen direkten Kurs auf die Erde. Jedermann aber wußte, daß Phantom-Babys Geheim-nisse noch längst nicht geklärt waren.

ENDE Kaum war die ORION-Crew von einem Gericht der Terrestrischen Raumflot-te wegen eines schweren Disziplinverstoßes für die Dauer eines halben Jahres vom Dienst bei den T.R.A.V. suspendiert worden, als das Oberkom-mando das Urteil schon wieder aufheben muß, weil es irgendwo „brennt" und die Einsatzerfahrung der Crew gebraucht wird. Dia ORION-Crew, die diesmal glaubt, in einen relativ ungefährlichen Einsatz zu gehen, erlebt ein totales Fiasko, denn „Wendys Baby" besitzt keinen echten Bezug zur Realität. Es ist nur Cliff McLanes Temperament zu ver-danken, daß schließlich doch alles gut geht. Als die ORION-Crew sich wieder auf der Erde befindet, kehrt ein Handels-schiff unter ominösen Umständen aus Richtung des Sternbildes Aquila zurück. Welche Folgen das für die Raumfahrer der ORION hat und ob sie einen Weg aus der Hölle finden, in die sie diesmal geraten, das erzählt Harvey Patton in dem ORION-Roman der nächsten Woche mit dem Titel

DER TRANSMITTERKREIS


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