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Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag

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Peter Lehmann (Hg.)

Psychopharmaka absetzen

Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva,

Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern

Vorworte von Pirkko Lahti und Loren R. Mosher

3., aktualisierte und erweiterte Auflage

Mit Beiträgen von Karl Bach Jensen, Regina Bellion, Olga Besati,

Carola Bock, Wilma Boevink, Carola Burkhardt-Neumann, Michael

Chmela, Oryx Cohen, Karina Gelbecke, Bert Gölden, Ilse Gold, Gábor

Gombos, Katalin Gombos, Maths Jesperson, Klaus John, Bob Johnson,

Manuela Kälin, Kerstin Kempker, Leo P. Koehne, Jan Kuypers, Elke

Laskowski, Peter Lehmann, Ulrich Lindner, Ilona Malzahn, Iris

Marmotte, Constanze Meyer, Fiona Milne, Harald Müller, Mary Nettle,

Una M. Parker, Pino Pini, Nada Rath, Hannelore Reetz, Rosemarie

Reuter-Dax, Roland A. Richter, Marc Rufer, Jasna Russo, Lynne Setter,

Martin Urban, Wolfgang Voelzke, David Webb, Josef Zehentbauer und

Katherine Zurcher

Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag · Berlin · Eugene · Shrewsbury · 2008

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Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Gebrauchs- und Handelsnamen

in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der

Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Marken-

schutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann

benutzt werden dürfen.

Die kursiv gesetzten Erläuterungen in Klammern sowie die Fußnoten (so-

fern nicht besonders kenntlich gemacht) stammen vom Herausgeber.

»Psychopharmaka absetzen« ist auch in englischer Übersetzung erhältlich:

Coming off Psychiatric Drugs, ISBN 978-0-9788399-0-1 (amerikanische

Ausgabe), ISBN 978-0-9545428-0-1 (englische Ausgabe). Informationen zu

diesen Ausgaben stehen im Internet unter www.peter-lehmann-publishing.

com/withdraw.htm. Eine Ausgabe in griechischer sowie italienischer Spra-

che ist in Vorbereitung für Frühjahr 2008.

Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag Berlin 2008

©

by Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 2008. Alle Rechte vorbehalten.

Die Rechte für die einzelnen namentlich gezeichneten Originalbeiträge lie-

gen bei den Autorinnen und Autoren.

Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag

Zabel-Krüger-Damm 183 · 13469 Berlin · Deutschland

Tel. +49 / (0)30 / 85 96 37 06 · [email protected]

www.peter-lehmann-publishing.com · www.antipsychiatrieverlag.de

Umschlaggestaltung: Paula Kempker

Druck: Interpress, Budapest

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-925931-27-7

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Rechtlicher Hinweis 9

Vorworte

Pirkko Lahti 10

Loren R. Mosher 12

Peter Lehmann 14

Einführung 19

Der Entschluss zum Absetzen

Ilse Gold: Nach der Entlassung 29

Peter Lehmann: Rückfall ins Leben 39

Absetzen ohne Entzugsprobleme

Carola Bock: »Und endlich sagte ich alles« 49

Jasna Russo: Was, wenn ich nicht mehr schlafe 56

Maths Jesperson: Zwischen Lobotomie und Antidepressiva 62

Jan Kuypers: Don Quichotte und die drogenfreie Zone oder:

Was nun, kleiner Hampelmann? 64

Gábor Gombos: Ein psychiatrisches Familienerbe ausgeschlagen 67

Stufenweises Absetzen

Katharine Zurcher: Die zweite Angst 71

Michael Chmela: Entkommen 86

Bert Gölden: Mit Geduld 91

Wilma Boevink: Ungeheuer aus der Vergangenheit 100

Absetzen mit Problemen

Oryx Cohen: Crashkurs in Psychiatrie 105

Hannelore Reetz: Sucht oder Suche 111

Karina Gelbecke: Homöopathisches Gegengift 118

5

Inhalt

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Gegengewichte

Ulrich Lindner: Ich laufe um mein Leben.

Wie ich die Heilung meiner Depressionen erreichte 121

Katalin Gombos: Vom Elektroschock zur Stimme der Seele 131

Una M. Parker: Reden, weinen, lachen 135

Iris Marmotte: Die Blaue Karawane, unterwegs ... 140

Harald Müller: Zwanzig Jahre danach 159

Nada Rath: Kloster statt Klinik 162

Rosemarie Reuter-Dax: Schleichender Ausstieg aus dem

Krankheitsdenken 166

Olga Besati: Widrigkeiten 169

Absetzen mit professioneller Hilfe

David Webb: »Bitte tun Sie sich nichts an« 173

Ilona Malzahn: Wenn die Farben wiederkommen 184

Manuela Kälin: Hausbesuch vom Homöopathen 186

Fiona Milne: Mein Fels in der Brandung 188

Lieber manchmal Psychopharmaka als immer

Mary Nettle: Die Kontrolle zurück 193

Lynne Setter: Rückkehr zu mir selbst 199

Wolfgang Voelzke: Gemeinsam mit meiner Psychiaterin 207

Professionell unterstützen

Marc Rufer: Angst machen – Angst nehmen.

Beim Absetzwunsch wird die Meinung der Ärzte zur Gefahr 213

Josef Zehentbauer: Wer hat Angst vor dem Absetzen?

Ärztliche Beratung und psychotherapeutische Gespräche

beim Absetzen von Dämpfungs- und Beruhigungsmitteln 227

Carola Burkhardt-Neumann: Neuroleptika absetzen – Eine

›Nebenwirkung‹ klassisch-homöopathischer Behandlung 243

Pino Pini: Alberto mit intellektueller Behinderung

und ohne Psychopharmaka. Verabreichung eines

Depotneuroleptikums als (gescheiterter) Mediationsversuch 247

6

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Martin Urban: »Bin ich wirklich noch behindert?«

Psychotherapeutische Begleitung beim Absetzen

von Psychopharmaka – eine Fallgeschichte 250

Roland A. Richter: Absetzen mit Orthomolekularer Medizin 257

Constanze Meyer: »Sich der Medikamentenabhängigkeit

entziehen ...« Überlegungen zum Benzodiazepin-

und Schmerzmittelentzug bei Frauen 266

Klaus John: Absetzen und Entgiftung

von Psychopharmaka aus naturheilkundlicher Sicht 281

Kerstin Kempker: Absetzen im Weglaufhaus 299

Elke Laskowski: Biodynamische Körper- und

Auraarbeit mit Bach-Blüten, Steinen und Farben 301

Bob Johnson: Zum Absetzen von Psychostimulanzien bei Kindern 307

Die Zeit danach

Regina Bellion: Nach dem Absetzen fangen die Schwierigkeiten

erst an 313

Leo P. Koehne: »Jetzt gebe ich Ihnen Imap, das dient auch

der sozialen Bindung!« 325

Resümee

Karl Bach Jensen: Entgiftung – im Großen wie im Kleinen.

Für eine Kultur des Respekts 331

Peter Lehmann: Schlusswort des Herausgebers 338

Anhang

Psychopharmaka-Wirkstoffe und Handelsnamen 353

Literatur 358

Autorinnen und Autoren 365

Register 372

Inhalt 7

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Rechtlicher Hinweis

Die Antipsychiatrie ist ständigen Entwicklungen unterworfen. Erfahrungen

erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was die Beendigung der psy-

chopharmakologischen Behandlung anbelangt. Soweit in diesem Buch eine

Dosisreduzierung erwähnt wird, dürfen die LeserInnen zwar darauf vertrau-

en, dass die AutorInnen sowie der Herausgeber bzw. Verlag große Sorgfalt

darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstel-

lung des Buches entspricht. Da eine Vielfalt individueller Faktoren (körperli-

cher und psychischer Zustand, soziale Lebensverhältnisse usw.) einen we-

sentlichen Einfluss auf den Verlauf des Absetzprozesses ausüben, dürfen die

Aussagen der AutorInnen nicht als übertragbare Empfehlungen für alle

LeserInnen aufgefasst werden. Diese sind angehalten, durch sorgfältige Prü-

fung ihrer Lebenssituation und gegebenenfalls nach Konsultation eines

geeigneten Spezialisten bzw. einer geeigneten Spezialistin festzustellen, ob

ihre Entscheidung, nach Lektüre des Buches Psychopharmaka auf eine spe-

zielle Weise abzusetzen, in kritischer und verantwortlicher Weise erfolgt.

Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten

oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Infolge dieser

Umstände übernehmen der Herausgeber bzw. der Verlag sowie die AutorIn-

nen weder die Verantwortung für die Folgen unerwünschter Wirkungen

beim Einnehmen von Psychopharmaka noch bei deren Absetzen. Der Peter

Lehmann Antipsychiatrieverlag appelliert an alle Betroffenen, ihm etwa auf-

fallende Ungenauigkeiten oder Misserfolge beim durchdachten Absetzen

unter genauer Schilderung der Umstände mitzuteilen.

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Vorworte

Dieses weltweit erste Buch zum Thema »Erfolgreiches Absetzen von Psy-

chopharmaka«, erstmals veröffentlicht 1998 in Deutschland, richtet sich vor

allem an Menschen, die aus eigener Entscheidung absetzen wollen. Es wen-

det sich aber auch an ihre Angehörigen und TherapeutInnen.

Millionen Menschen nehmen psychiatrische Psychopharmaka, zum Bei-

spiel Haldol

1

, Fluctin

2

oder Zyprexa

3

. Für sie sind detaillierte Erfahrungsbe-

richte darüber, wie man diese Substanzen abgesetzt hat, ohne wieder im

Behandlungszimmer des Arztes zu landen, von existentiellem Interesse.

Viele meiner KollegInnen im psychosozialen Arbeitsfeld verbringen einen

großen Teil ihrer Zeit damit, Kriterien für die Verabreichung von Psycho-

pharmaka zu entwickeln. Diagnosen wie Zwangshandlung, Depression,

Hautentzündung, Hyperaktivität, Schwangerschaftserbrechen, Schlaflosig-

keit, Bettnässen, Psychose, Stottern oder Reiseübelkeit können zur Anwen-

dung von Neuroleptika führen, von Antidepressiva, Lithium

4

, Tranquilizern

und anderen Psychopharmaka. Die Entwicklung von Indikationen ist eine

verantwortungsvolle Aufgabe, reich an Konsequenzen.

Diagnosen und Indikationen führen oft zur Behandlung mit Psychophar-

maka, die langwierig sein kann. Wer kann vorhersagen, ob die Psychophar-

maka – wenn die Zeit kommt – problemlos abgesetzt werden können? Von

Tranquilizern, besonders von Benzodiazepinen, kennen wir die abhängig

machende Wirkung bereits. Absetzen ohne therapeutische Hilfe und ohne

Kenntnisse über die Risiken kann einen dramatischen Verlauf nehmen. Wel-

10

1 Wirkstoff Haloperidol, (in Deutschland, Österreich und der Schweiz) im Handel auch

als Haloper, Haloperidol, Sigaperidol

2 Antidepressivum, Wirkstoff Fluoxetin, im Handel auch als Felicium, Floccin, Fluctine,

Fluox, FluoxeLich, Fluoxemerck, Fluoxe-Q, Fluoxetin, Fluoxgamma, Fluoxibene,

Fluoxifar, Fluox-Puren, Flux, Fluxet, Fluxil, FluxoMed, Mutan, Positivum

3 Neuroleptikum, Wirkstoff Olanzapin, im Handel auch als Olanza, Olanzapin, Zalasta

4 Phasenprophylaktikum, im Handel auch als Hypnorex, Litarex, Lithiofor, Neurolepsin,

Priadel, Quilonorm, Quilonum

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che Risiken gibt es beim Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva und

Lithium?

Welche Bedingungen können zu einem schnellen Rückfall nach dem

Absetzen führen? Hörten wir nicht schon von psychopharmakabedingten

Absetzproblemen, von Rezeptorenveränderungen, Supersensitivitäts- und

Absetzpsychosen? Wer kann Rückfälle von verdeckten Entzugsproblemen

unterscheiden?

Welche Bedingungen unterstützen ein erfolgreiches Absetzen – erfolg-

reich in dem Sinn, dass die PatientInnen danach nicht sofort wieder im Be-

handlungszimmer des Arztes sitzen, sondern frei und gesund leben, so wie

wir uns das alle wünschen?

Lassen wir unsere PatientInnen nicht allein mit ihren Sorgen und Proble-

men, wenn sie sich – aus welchem Grund auch immer – selbst entscheiden,

ihre Psychopharmaka absetzen zu wollen? Wo können sie Unterstützung,

Verständnis und positive Vorbilder finden, wenn sie sich enttäuscht von uns

abwenden (und wir uns von ihnen)?

Peter Lehmann, Vorstandsmitglied des Europäischen Netzwerks von

Psychiatriebetroffenen (ENUSP) und ehemaliges Vorstandsmitglied von

Mental Health Europe, der europäischen Sektion der World Federation for

Mental Health (Weltverband für psychische Gesundheit), hat Anerkennung

geerntet für die schwierige Aufgabe, als weltweit erster Experte Erfahrungen

von Betroffenen und ihren TherapeutInnen zu sammeln, die Psychopharma-

ka erfolgreich abgesetzt oder ihre KlientInnen dabei unterstützt haben. In

diesem Buch schreiben Betroffene aus Australien, Belgien, Dänemark,

Deutschland, England, Jugoslawien, Neuseeland, den Niederlanden, Öster-

reich, Schweden, der Schweiz, Ungarn und den USA über ihre Absetzerfah-

rungen. Darüber hinaus berichten ExpertInnen aus der Medizin, Psychiatrie,

Sozialarbeit, Psychotherapie und Naturheilkunde davon, wie sie ihren Klien-

tInnen beim Absetzen helfen. Durch die Internationalität der AutorInnen bie-

tet das Buch ein umfassendes Bild von Erfahrungen und Wissen.

Das Buch hat eine provokante Botschaft: Lebenserfahrungen weichen

manchmal von wissenschaftlichen Übereinkünften ab. Es basiert auf persön-

lichen Erfahrungen von Betroffenen sowie von Professionellen, die beim

Absetzen von Psychopharmaka helfen. Somit ist es ein guter Ansatzpunkt, in

Vorworte 11

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die Diskussion einzusteigen. Das Buch sollte in jeder Arztpraxis, jeder The-

rapiestation und in jeder Patientenbibliothek verfügbar sein.

Helsinki, 19. August 2002

Pirkko Lahti

Präsidentin der World Federation for Mental Health (2001–2003)

Aus dem Englischen von Pia Kempker

»There is no tyranny so great as that

which is practiced for the benefit of the victim.« – C.S. Lewis

1

Dieses Buch ist einem Thema gewidmet, zu dem es heutzutage eine Menge

abwegiger Vorstellungen gibt. Wir leben in einem Zeitalter der ›Pille für je-

des Leiden‹. Speziell den Pillen, die auf unsere Psyche wirken, widmen die

Menschen jedoch zu wenig Aufmerksamkeit.

Was bedeutet es, die Seele, das Selbst, den menschlichen Geist medika-

mentös zu behandeln? Unser Standardlexikon »Webster« definiert Psyche

auf all diese drei Arten. Greifen diese Chemikalien (»Psychopharmaka«)

nicht in den Kern der menschlichen Natur ein? Sollte man diesem Prozess

nicht viel Vorsicht und Umsicht schenken? Wenn einmal begonnen, sollte er

nicht kontinuierlich überwacht werden? Wenn doch alle drei – Seele, Selbst,

menschlicher Geist – das Wesen des Menschen ausmachen, sollten dann

nicht die Betoffenen aufgrund ihrer eigenen subjektiven Erfahrung mit den

Psychopharmaka entscheiden, ob sie diese nehmen wollen? Die Antwort ist

natürlich ein lautes und deutliches Ja.

Lassen Sie uns realistisch werden. Da es nur wenige objektive Indikatoren

für die Wirkung dieser Medikamente gibt, sind die Berichte der PatientInnen

entscheidend. Beschäftigen sich die psychopharmakaverschreibenden Ärzte

und Psychiater sorgfältig mit der persönlichen Erfahrung der PatientInnen

12

1 »Es gibt keine größere Tyrannei als diejenige, die im Interesse des Opfers praktiziert

wird.« Clive Staples Lewis (1898–1963) war Professor für englische Literaturwissen-

schaft in Oxford und einer der bedeutendsten christlichen Autoren des 20. Jahrhunderts.

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mit einzelnen Medikamenten? Die Antwort auf diese Frage ist natürlich un-

terschiedlich, aber wenn man eine andere Sprache spricht, einer Minderheit

angehört, arm ist, als ›sehr krank‹ angesehen wird oder in der Psychiatrie

zwangsuntergebracht ist, nimmt die Wahrscheinlichkeit, wirklich angehört

zu werden, dramatisch ab – dabei ist sie für alle schon nicht sehr hoch.

Daher ist der Kern dieses Buches sehr wichtig: die Geschichten von Perso-

nen, denen nicht zugehört wurde, als ihre Seele, ihr Selbst und ihr mensch-

licher Geist durch die – oft zwangsweise verabreichten – Psychopharmaka

Qualen erlitten. Da gibt es die Geschichten von mutigen Entscheidungen, die

im Widerspruch zur Meinung von einflussreichen Experten (und manchmal

gegen Familie und FreundInnen) getroffen wurden – und vom Leiden, das

manchmal folgte. Nach dem Absetzen der Medikamente begann das Gehirn,

wieder den ursprünglichen Zustand herzustellen. Die meisten wurden nie da-

vor gewarnt, dass die Medikamente möglicherweise hirnverändernd wirken

(oder noch schlimmer, Hirnbereiche abtöten), so dass Entzugserscheinungen

fast zwangsläufig auftreten. Ebensowenig wussten sie, dass diese langwierig

sein und als »Rückfall« interpretiert werden können. Es gibt Horrorgeschich-

ten davon, was passieren kann (aber nicht muss), wenn man versucht, das

Gehirn zum normalen Funktionieren zurückkehren zu lassen, nachdem es

voll unter dem Einfluss ›therapeutischer‹ Chemikalien gestanden hatte. In

der Regel war dieses Leiden leider notwendig, um die Seele, das Selbst und

den menschlichen Geist – den Kern der menschlichen Natur – wieder herzu-

stellen.

Da die Medikamente gedankenlos, in paternalistischer Manier und oft un-

nötig gegeben wurden, um eine nicht identifizierbare ›Krankheit‹ zu heilen,

ist das Buch auch eine Anklage gegen Ärzte. Den Hippokratischen Eid – in

erster Linie keinen Schaden zufügen – missachtete man regelmäßig in der

Eile, ›etwas zu tun‹. Wie ist es möglich zu klären, ob es Seelenmord geben

kann, wenn man die Erfahrungsberichte von PatientInnen mit Medikamenten

nicht kennt, die direkt auf das Wesentliche ihres Menschseins abzielen?

Auch wenn sie sich anders geben: Ärzte sind nur Doktoren der Medizin, kei-

ne Medizingötter. Im Gegensatz zu richtigen Göttern müssen sich Ärzte für

ihre Taten zur Rechenschaft ziehen lassen.

Dieses Buch ist ein Muss für alle, die mit dem Gedanken spielen, diese

Vorworte 13

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legalen persönlichkeitsverändernden Medikamente zu nehmen oder nicht

mehr zu nehmen, und vielleicht noch eher für diejenigen, die sie verschrei-

ben können.

26. August 2002

Dr. med. Loren R. Mosher (1933–2004)

Direktor, Soteria Associates

Klinischer Professor für Psychiatrie

University of California, San Diego

Aus dem Amerikanischen von Pia Kempker

»AutorInnen gesucht zum Thema ›Psychopharmaka absetzen‹«. So lautete

mein Aufruf, den ich 1995 weltweit in einschlägigen Kreisen verbreitete. Ich

schrieb:

»›Psychopharmaka absetzen. Erfahrungsberichte mit Tranquilizern,

Antidepressiva, Neuroleptika, Carbamazepin

1

und Lithium‹. Dies ist

der Titel eines Buches, das 1997/98 erscheinen soll. Für die Mehrzahl

derjenigen, denen eines oder mehrere der genannten Psychopharmaka

verabreicht bzw. verschrieben werden, sind positive Beispiele dafür,

dass man diese Substanzen absetzen kann, ohne gleich wieder im Be-

handlungszimmer des Arztes oder in der Anstalt zu landen, von exis-

tentiellem Interesse. Deshalb suche ich Autorinnen und Autoren, die

über ihre eigenen Erfahrungen auf dem Weg zum Absetzen berichten

und die jetzt frei von psychiatrischen Psychopharmaka leben. Ich su-

che aber auch Berichte von Menschen, die anderen professionell oder

aus persönlichen Erwägungen mit Erfolg beim Absetzen helfen.«

So bekam ich eine Reihe von Zuschriften Betroffener, die einen Beitrag lie-

fern wollten. Auch einige Professionelle antworteten; sie sind hier im Buch

vertreten. Eine Berliner Psychiaterin zog ihren angebotenen Beitrag über das

in ihrer Praxis mögliche stufenweise Absetzen, verbunden mit psychothera-

14

1 Antiepileptikum, eingesetzt als Phasenprophylaktikum bzw. Stimmungsstabilisator, im

Handel auch als Carba, Carbabeta, carbadura, Carbaflux, Carbagamma, Carsol, Delep-

tin, espa-lepsin, Finlepsin, Neurotop, Sirtal, Tegretal, Tegretol, Timonil

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peutischen Gesprächsgruppen, vermutlich aus (nicht unberechtigter) Angst

zurück, absetzwillige PsychopharmakakonsumentInnen könnten ihre Praxis

überfluten. Da von Angehörigen keine Reaktion kam, schickte ich meinen

Aufruf an den deutschen Bundesverband der Angehörigen ›psychisch Kran-

ker‹. Reaktion: Schweigen. Ist der Grund darin zu suchen, dass die organi-

sierten Angehörigen seit Jahren von der Pharmaindustrie mit Gratisvorträgen

und Gratisinformationen bedacht werden?

Es wäre allerdings fatal, die Problematik der Dauereinnahme von Psycho-

pharmaka und mögliche Schwierigkeiten beim Absetzen auf gefühlskalte

oder unwissende Angehörige, verantwortungslose Ärzte und gewinnorien-

tierte Pharmaunternehmen zu reduzieren. Zwei AutorInnen, die sich auf mei-

nen Aufruf gemeldet hatten und von ihren Absetzerfahrungen berichten

wollten, zogen ihr Angebot zurück: Sie hatten einen ›Rückfall‹. Eine Frau

berichtete, der Zeitpunkt, den sie zum Absetzen gewählt hatte, sei unglück-

lich gewählt gewesen: die Trennung von ihrem Freund. Eine weitere teilte

ohne Angabe näherer Umstände mit, sie sei wegen einer erneuten Psychose

wieder in die Klinik gekommen: Hatte sie das erlebt, was Fachleute eine

»Absetzpsychose« nennen, oder war sie einfach wieder von ihren alten, un-

verarbeiteten Problemen überschwemmt worden?

Wohlweislich hatte ich mich gehütet, andere zum Absetzen aufzufordern.

Ich sprach ausdrücklich diejenigen an, die vor meinem Aufruf bereits abge-

setzt hatten. Dennoch stelle ich mir die Frage, ob ich nicht allein durch die

publizistische Beschäftigung mit dem Thema »Absetzen« andere fahrlässig

dazu verleite, ihre Psychopharmaka unbedacht wegzulassen.

Seit es psychiatrische Psychopharmaka gibt, setzen sehr viele Behandelte

von sich aus diese Mittel ab. Man kann spekulieren, bei wie vielen von ihnen

es einzig aus diesem Grund zu einem ›Rückfall‹ und damit eventuell zu einer

erneuten Verabreichung kommt. Sicher scheint mir die Tatsache, dass eine

Vielzahl der Absetzversuche erfolgreicher verlaufen würde, wenn bei den

Betroffenen und ihren Nächsten ausreichendes Wissen über möglicherweise

auftretende Probleme vorhanden wäre sowie eine Vorstellung darüber, was

man aktiv beitragen kann, damit der prophezeite Rückfall ausbleibt. Auch

professionell Tätige – von einer Handvoll Ausnahmen abgesehen – machen

sich wenig Gedanken, wie sie ihre KlientInnen unterstützen können, wenn

Vorworte 15

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sich diese nun einmal fürs Absetzen entscheiden. Ihnen den Rücken zu keh-

ren und sie mit ihren Problemen allein zu lassen, beweist wenig Verantwor-

tungsbewusstsein.

Die vielen unterschiedlichen Wege, Psychopharmaka abzusetzen, lassen

sich in einem Buch keineswegs umfassend darstellen. Wichtig war mir als

Herausgeber, dass ›meine‹ Autorinnen und Autoren – von den beteiligten

Profis abgesehen – ihre Wünsche, Ängste und persönlichen Vorgehenswei-

sen so offen wie möglich darstellen. Nur eines sollten sie nicht: anderen Rat-

schläge geben, was sie tun sollten, Patentrezepte verteilen. Jede Leserin, je-

der Leser muss gemäß den vorhandenen Problemen und Möglichkeiten, den

persönlichen Schwächen und Stärken, den individuellen Beschränkungen

und Wünschen die eigenen Mittel und Wege finden. Die Berichte derer, die

das Absetzen psychiatrischer Psychopharmaka bewältigt haben, sollen zei-

gen, dass es möglich ist, unbeschadet am Ziel seiner Wünsche anzukommen

und ein Leben frei oder zumindest relativ frei von psychopharmakologischer

Beeinträchtigung zu führen.

11. September 1998

Peter Lehmann

Nachtrag zur zweiten Auflage

Zwei AutorInnen leben nicht mehr: Ilse Gold starb am 7. September 1998 an

Brustkrebs, der sich nach der psychiatrischen Behandlung entwickelt hatte.

Nach wiederholter gewaltsamer Verabreichung von Psychopharmaka setzte

Erwin Redig seinem Leben am 14. Juni 1999 ein Ende. Beide hätten es ver-

dient, hundert Jahre alt zu werden.

16. September 2002

Peter Lehmann

Nachtrag zur dritten Auflage

Auch in dieser Ausgabe sind wieder Texte neu dazugekommen: Oryx Cohen,

Bob Johnson, Fiona Milne und Pino Pini. Damit soll die Aktualität gesichert

bleiben, der Themenkreis und die Internationalität der Autorenschaft ausge-

weitet und neuere Psychopharmaka integriert werden. Entsprechend musste

16

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ich einige ältere Artikel streichen, unter anderem den des oben genannten

Erwin Redig.

Um Missverständnisse auszuschließen, kann ich nicht oft genug betonen:

Im vorliegenden Buch nehmen die Absetzversuche positive Verläufe – kein

Wunder, ich hatte ausdrücklich nach erfolgreichen Erfahrungen gefragt.

Dass das Absetzen auch misslingen oder nicht wie gewünscht zum ununter-

brochenen psychopharmakafreien Leben führen kann, ist eine Binsenweis-

heit. Da erfolgreiches Absetzen in psychiatrischer und pharmafirmenge-

sponserter Literatur in aller Regel tabuisiert wird, scheint es mehr als berech-

tigt, der bisher ausgeblendeten Realität ein Forum zu geben – als Gegen-

gewicht zur Masse ideologischer und einseitiger Informationen.

Selbstbestimmtes Absetzen wird nicht nur tabuisiert, es wird auch als Risi-

kofaktor in die Nähe einer psychiatrischen Störung gerückt. Dies geht bei-

spielsweise aus dem weltweit verbreiteten psychiatrischen Diagnosenschlüs-

sel DSM hervor, der für die Absetzwilligen unter der Nummer V15.81

(Z91.1) – »Nichtbefolgen von Behandlungsanweisungen« – den medizini-

schen Schlüssel bereithält, mit welchem der Entschluss zum Absetzen akten-

mäßig zu erfassen ist für den Fall, dass die Betroffenen ihre persönlichen In-

teressen und Werturteile über die der verabreichenden Psychiater stellen:

»Die Gründe für das Nichtbefolgen können sein: Beschwerden auf-

grund der Behandlung (z.B. Medikamentennebenwirkungen); Kosten

der Behandlung; Entscheidungen bzgl. der Vor- und Nachteile der

vorgeschlagenen Behandlung aufgrund persönlicher Werturteile oder

religiöser oder kultureller Anschauungen; problematische Persön-

lichkeitszüge oder Bewältigungsstile ...« (»Manual« 2003, S. 808)

Kommentar überflüssig.

31. Januar 2008

Peter Lehmann

Vorworte 17

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Einführung

Wer psychiatrische Psychopharmaka absetzt, muss laut medizinischer Fach-

literatur mit Entzugsproblemen rechnen. Diese Aussage wird in meinem

Buch »Schöne neue Psychiatrie« ausführlich belegt (Lehmann 1996b, S.

356ff.). Hier, in »Psychopharmaka absetzen«, fasse ich die möglichen Ent-

zugserscheinungen nur zusammen. Sie können auftreten, müssen aber nicht.

Die nachfolgenden Berichte machen dies deutlich.

Sprechen die in speziellen Fachzeitschriften eher beiläufig publizierten

Berichte über teilweise gravierende Entzugsprobleme eine deutliche Spra-

che, so wird in Lehrbüchern und in Informationsschriften, die sich an die

Betroffenen und ihre Angehörigen richten, immer noch behauptet, dass nur

bei Tranquilizern Entzugsprobleme auftreten. Um Carbamazepin, Lithium,

Antidepressiva und speziell Neuroleptika macht man denn auch in populär-

medizinischen Ratgeberbüchern einen großen Bogen (Neild 1990; Curran /

Golombok 1991; Trickett 1991). Die Betroffenen, die in großer Zahl abzu-

setzen versuchen – sei es wegen unerwünschter Wirkungen, ausbleibender

›therapeutischer‹ Wirkung, fehlender ›Krankheits‹-Einsicht oder Schwan-

gerschaft –, werden mit ihren Sorgen allein gelassen.

Typische Absetzstudien bergen zudem gravierende methodologische

Mängel, die selbst von Medizinern nicht übersehen werden: doppelblinde,

ohne Kenntnis der Betroffenen und ihrer unmittelbaren Behandler über die

tatsächlich verabreichte Substanz durchgeführte Versuchsanordnungen sei-

en ebenso Mangelware wie eine – für sich gesehen ebenfalls problematische

– Placeboverabreichung an eine Kontrollgruppe. Weiterhin fehlten eine sys-

tematisierte Verlaufskontrolle, Informationen über die Länge der Anstalts-

unterbringung und die Vorbehandlung sowie die Dosishöhe der abgesetzten

Substanz. Außerdem sei der untersuchte Zeitraum viel zu kurz, und schließ-

lich bleibe völlig offen, was jeweils unter einem erwähnten »Rückfall« zu

verstehen sei (Andrews et al. 1976). Als gebessert gelten Behandelte, die in

den Augen der Behandler zwar nicht entlassungsfähig sind, auf der Station

jedoch weniger Aufregung verursachen (Glick / Margolis 1962).

19

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Wie Bertram Karon von der Psychologischen Abteilung der Michigan Sta-

te University mitteilte, gehe es in manch einer Studie lediglich darum, die

gängige Verordnungspraxis von Psychopharmaka zu rechtfertigen (Karon

1989, S. 113). So habe beispielsweise der US-amerikanische Psychiater Phi-

lip May in seiner in Kollegenkreisen vielzitierten »California Study« (1968)

zwar die Überlegenheit von Neuroleptika, Antidepressiva und Elektro-

schocks gegenüber psychotherapeutischen Verfahren nachzuweisen vorge-

geben, dabei jedoch die Mitteilung unterschlagen, dass er als Therapeuten

lediglich unausgebildete und zudem unbezahlte Praktikanten ins Rennen

geschickt hatte. Dass bei Langzeitstudien nur behandlungsmotivierte Betrof-

fene einbezogen werden, ist ein weiterer methodologischer Mangel (Tegeler

et al. 1980); Personen, die von sich aus absetzen und ohne Psychopharmaka

leben, kommen in solchen Untersuchungen nicht vor, ihre Erfahrungen blei-

ben ausgeblendet.

Besonders gravierend wirkt sich aus, dass Entzugsprobleme wie behand-

lungsbedingte Rezeptorenveränderungen, Reboundeffekte oder Supersensi-

tivitätserscheinungen nicht vom sogenannten echten Rückfall unterschieden

werden. Die Psychopharmaka-Befürworterin Brigitte Woggon von der Uni-

versitätsanstalt Zürich findet die selbst bei abruptem Absetzen mangelnde

Differenzierung zwischen Entzugssymptomen und Wiederkehr der ur-

sprünglichen psychischen Probleme bedenklich:

»Interessanterweise wird in den meisten Absetzstudien zur Frage

möglicher Entzugssymptome nicht Stellung genommen, offenbar

weil die Studien nicht direkt auf diese Befunde ausgerichtet waren.«

(1979, S. 46)

Mediziner verweisen dennoch immer wieder auf ihre Absetzstudien und

kündigen mit viel Pathos einen raschen Rückfall für den Fall des eigenmäch-

tigen Absetzens insbesondere von Lithium, Antidepressiva und Neurolepti-

ka an. Etwas anders sieht die Situation bei Carbamazepin und Tranquilizern

aus. Carbamazepin wird in der Psychiatrie – im Gegensatz zur Vorbeugung

gegen epileptische Anfälle in der Neurologie – kaum allein eingesetzt, die

behauptete antimanische Wirkung ist ohnehin umstritten (Lerer et al. 1985),

Absetzstudien kommen praktisch nicht vor. Mitbedingt durch gerichtliche

Schmerzensgeldentscheidungen wegen unterbliebener Aufklärung über das

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Abhängigkeitsrisiko bei Tranquilizern gelten diese Substanzen in der Schul-

medizin inzwischen als problematisch.

Die Einnahme von Tranquilizern beinhaltet nicht zu unterschätzende Risi-

ken. Toleranzbildung und Reboundphänomene können sich schon nach kur-

zer Einnahmezeit und unter niedriger Dosierung bilden. Massive, lebensbe-

drohliche Entzugssymptome wie insbesondere Krampfanfälle können das

Absetzen zu einer gefährlichen Angelegenheit machen. Aber auch teilweise

lang anhaltende Depressionen sowie Angstzustände oder Delire bergen Risi-

ken, nicht zuletzt die der Weiterverabreichung von Psychopharmaka, der

Psychiatrisierung und des Umstiegs auf noch riskantere Psychopharmaka,

zum Beispiel Antidepressiva oder Neuroleptika. Schlafstörungen, weitere

geistig-zentralnervöse Entzugssymptome, Muskel- und Bewegungsstörun-

gen sowie lästige, gelegentlich gar lebensgefährliche vegetative Symptome

sind einzukalkulieren, weshalb man oft zu einem stufenweisen Entzug rät.

Speziell bei Benzodiazepin-Tranquilizern ist die Ausrichtung von Ab-

setzstudien gemischt. Manche enthalten Berichte über die (problematische)

Verabreichung von Carbamazepin, Antidepressiva oder Neuroleptika zur

Unterdrückung von Entzugssymptomen, wobei nur selten vor der zusätzli-

chen toxischen Belastung gewarnt wird (zum Beispiel Klein et al. 1994).

Häufig ersetzt man die Tranquilizer auf Dauer durch andere Psychopharma-

ka. Immerhin sprachen sich in den letzten Jahren einige AutorInnen nicht nur

für einen stufenweisen Tranquilizerentzug aus; sie sahen auch – bei Men-

schen mit den unterschiedlichsten Diagnosen (Golombok et al. 1987) und

selbst bei vorangegangenen wiederholten Rückschlägen (Crouch et al. 1988)

– gute Langzeiterfolge, Rückfälle in die ursprünglichen Problemverarbei-

tungsmechanismen und in neue Abhängigkeiten zu vermeiden (Golombok et

al. 1987; Ashton 1987; Rickels et al. 1988). Als hilfreich erwies es sich, wenn

die Betroffenen in Selbsthilfegruppen (Tattersall / Hallstrom 1992) oder mit

psychologischer Unterstützung nicht-psychopharmakologische Bewälti-

gungsstrategien lernten (Ashton 1994), zum Durchhalten ermutigt, aktiv mit

den Problemen einer ständigen Tranquilizereinnahme konfrontiert wurden

(Bish et al. 1996) und während des Entzugs und die Monate danach psycho-

therapeutisch begleitet wurden (Otto et al. 1993; Kaendler et al. 1996).

Einführung 21

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Zu Psychostimulanzien zählt man unter anderem Kokain, Fenetyllin (im

Handel als Captagon), Pemolin, Amphetamine sowie mit Amphetaminen

chemisch verwandte Substanzen wie beispielsweise Methylphenidat

1

. Dass

diese Substanzen abhängig machen und zur Toleranzbildung führen können,

ist unter Psychiatern und Ärzten allgemein bekannt. Das Arzneimittelver-

zeichnis des deutschen Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie

warnt beispielsweise bei Pemolin und Methylphenidat vor dem Entstehen

psychischer Abhängigkeit und Entzugssyndromen (Bundesverband 1996).

Auch der Schweizer Psychiater Manfred Bleuler wies auf die Suchtgefahr

bei Amphetaminen hin. Bei Kindern, die man Methylphenidat schlucken

lässt, solle der Gewöhnungsgefahr entgegengewirkt werden, indem die Ver-

abreichung zumindest zeitweise unterbrochen werde (1983, S. 181/222f.).

Über Methylphenidat informiert das amerikanische »Physicians’ Desk Re-

ference«:

»Chronische missbräuchliche Anwendung kann zu deutlicher Tole-

ranz und psychischer Abhängigkeit mit unterschiedlicher Ausprä-

gung abnormen Verhaltens führen. Es können offen psychotische

Episoden auftreten, besonders bei parenteralem Missbrauch (Verab-

reichung per Spritze und ohne medizinische Indikation). Sorgfältige

Überwachung ist während des Absetzens notwendig, denn eine ernst-

hafte Depression und auch die Folgen einer chronischen Überaktivität

können freigelegt werden.« (»Physicians’« 1994, S. 836)

Hinweise gibt es auch auf andere Entzugssymptome, zum Beispiel Schlaf-

losigkeit, Apathie oder Magen-Darm-Störungen (Dulcan 1988; Network

1984, S. 58). Reboundeffekte können bereits auftreten, wenn Kinder zum

Frühstück oder Mittagessen Psychostimulanzien verabreicht bekommen und

die Wirkung am Abend nachlässt. Dann kann es zu einer deutlichen Inten-

sivierung der ›Zielsymptome‹ kommen, das heißt zu gesteigerter Erregbar-

keit und ›Geschwätzigkeit‹ (Johnstone et al. 1988; Zahn et al. 1980).

»Kliniker, die mit diesem Entzugsphänomen nicht vertraut sind, kön-

nen das Problem unbeabsichtigt verschlimmern, indem sie noch grö-

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1 Im Handel auch als Concerta, Equasym, Medikinet, Methylpheni, Ritalin

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ßere Dosen an Stimulantien verschreiben, die tagsüber einzunehmen

sind.« (Rancurello et al. 1992, S. 80)

Lernen Familien die Bewältigung von Erziehungsproblemen mittels psy-

chotroper Substanzen, hat dies auch Langzeitwirkungen für die Kinder und

Jugendlichen. Beeinflusst man ihre Persönlichkeitsbildung mit Psychosti-

mulanzien, sind sie mit dem Älterwerden in erhöhtem Maß gefährdet, auf Al-

kohol und andere Drogen überzugehen (Mannuzza et al. 1993; Greenfield et

al. 1988) – was wenig überrascht.

Entzugserscheinungen beim Absetzen von Phasenprophylaktika / Stim-

mungsstabilisatoren sind unterschiedlich zu bewerten. Carbamazepin-be-

dingte Entzugserscheinungen scheinen relativ gering zu sein. Dennoch traten

bei den wenigen bekannt gewordenen kontrollierten Absetzversuchen eine

Reihe psychischer, geistig-zentralnervöser, vegetativer und motorischer Stö-

rungen auf. Das größte Absetzproblem speziell bei Personen, die diese Sub-

stanz wegen epileptischer Anfälle oder zur Dämpfung unerwünschter psy-

chischer Zustände – eventuell gemeinsam mit Neuroleptika oder Lithium –

bekommen hatten, besteht in der Gefahr wieder einsetzender oder erstmals

auftretender epileptischer Anfälle.

Bei Lithium treten offenbar nicht die üblichen vegetativen Entzugserschei-

nungen auf. Allerdings ist je nach Dosis, Verabreichungszeit und körper-

licher und psychischer Verfassung mit Reboundphänomenen und Verwirrt-

heitszuständen zu rechnen, die die Gefahr der erneuten Psychiatrisierung be-

inhalten. Deshalb wird beim Absetzen ein langsames Vorgehen empfohlen.

Neuere Absetzstudien zeigten uneinheitliche Ergebnisse. Allgemein beob-

achtete man, dass stufenweises Absetzen die Gefahr vermindert, dass diesel-

ben Stimmungen erneut auftreten, die zur Psychiatrisierung und Lithiumver-

abreichung geführt hatten (Mander / Loudon 1988; Faedda et al. 1993; Sup-

pes et al. 1993). Eine Studie ergab, dass nach Überstehen der ersten drei auf

das Absetzen folgenden Monate die Rückfallrate nicht höher ist als bei Per-

sonen, die weiterhin Lithium einnehmen (Mander 1986). Manche Psychiater

gehen von einem Absetzrebound aus, das heißt einer erhöhten Rückfallge-

fahr mit vorübergehend verstärkten ›Symptomen‹ speziell bei abruptem

Absetzen (Hunt et al. 1992; Schou 1993). Andere fanden keinen solchen

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Rebound (Sashidharan / McGuire 1983) oder zumindest nur teilweise (Klein

et al. 1991). Dass Lithium depressive oder manische Attacken überhaupt ver-

hindert, ist in der Schulmedizin nicht unumstritten (»Lithium« 1969). Immer

wieder gibt es Publikationen über ›Einzelfälle‹, bei denen sich der behaupte-

te Schutz durch Lithium als Illusion erwies (Prien et al. 1984), sowie über

beträchtliche Rückfallraten (Lusznat et al. 1988) und eine Vielzahl von Sui-

ziden auch unter Lithiumeinfluss (Schou / Weeke 1988).

Beim Absetzen von Antidepressiva sind vor allem vegetative Entzugser-

scheinungen einzukalkulieren, zum Beispiel grippeartige Symptome oder

Magen-Darm-Störungen. Möglich sind aber auch geistig-zentralnervöse,

psychische und motorische Symptome (Konzentrations- und Schlafstörun-

gen, Angstzustände und Panikattacken, Muskelstörungen usw.). Toleranz-

bildung und Reboundphänomene schon nach kurzer Einnahmezeit in moder-

aten Dosen und möglicherweise Rezeptorenveränderungen können einen

schrittweisen Entzug nötig machen. Damit kann der Gefahr begegnet wer-

den, dass die – unter Umständen einige Wochen anhaltenden – Entzugser-

scheinungen bzw. deren Verwechslung mit einem Wiederauftauchen der

ursprünglichen Probleme erneute Antidepressivagaben und andere psychia-

trische Anwendungen nach sich ziehen.

Was Absetzstudien mit Antidepressiva betrifft, sahen Psychiater unter

anderem bei älteren Menschen relativ gute Aussichten für die Zeit nach dem

Absetzen (Cook et al. 1986), vor allem, wenn die Betroffenen vorher 16 bis

20 Wochen frei von depressiven Symptomen waren (Prien / Kupfer 1986).

Die Frage, was Menschen mit dieser Aussage anfangen sollen, die trotz oder

wegen Antidepressiva unter depressiven Symptomen leiden, stellten sie

allerdings nicht. Andere Studien sahen zwar hohe Raten von Rückfällen nach

dem Absetzen aller Arten von Antidepressiva (Misri / Sivertz 1991; Solyom

et al. 1991); der Verdacht, dass Antidepressiva eher zur Chronifizierung von

Depressionen führen (Irle 1974, S. 124f.), blieb unausgeräumt. Die Frage,

wie der Einfluss einer unterbliebenen Psychotherapie oder Selbsthilfearbeit

zu werten ist, wurde erst gar nicht gestellt.

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Auch beim Absetzen von Neuroleptika können Irritationsphänomene aller

Art auftreten, zum Beispiel Angst- und Verwirrtheitszustände, Entzugspsy-

chosen einschließlich Halluzinationen, Schlafstörungen und Schweißaus-

brüche. Diese Symptome sind in der Lage, Angehörige, Ärzte und Psychiater

an Rückfälle und die Betroffenen gar an die Notwendigkeit einer Dauer-

behandlung glauben zu lassen.

Die medizinische Einschätzung der fortgesetzten Verabreichung von Neu-

roleptika ist uneinheitlich. Patricia Gilbert und KollegInnen der Psychiatri-

schen Abteilung der University of California in San Diego publizierten 1995

eine Metaanalyse, in welcher sie 66 Studien untersuchten, die man zwischen

1958 und 1993 an nahezu 5600 Betroffenen durchgeführt hatte. Sie brachten

die Probleme fortgesetzter Neuroleptikaverabreichung für die Behandler auf

den Punkt:

»Das Thema ›Fortgesetzte neuroleptische Behandlung eines Patien-

ten mit chronischer Schizophrenie‹ bringt den Behandler in eine

Zwickmühle. Da die Neuroleptikabehandlung Schizophrenie nicht

heilt, braucht die große Mehrzahl dieser Patienten eine Dauerbehand-

lung. Gleichzeitig beinhaltet der fortgesetzte Gebrauch dieser Medi-

kamente ein hohes Risiko unerwünschter Wirkungen einschließlich

tardiver Dyskinesie (Symptomenkomplex aus möglicherweise irre-

versiblen unwillkürlichen Muskelbewegungen). Deshalb wird emp-

fohlen, die dauerhafte Verordnung antipsychotischer Medikamente

über einen langen Zeitraum nicht ohne angemessene Rechtfertigung

vorzunehmen, sowohl aus klinischen als auch aus medizinisch-juristi-

schen Überlegungen. Dies kann Versuche erfordern, die Neuroleptika

abzusetzen. Das Absetzen der Medikamente ist jedoch mit dem Risi-

ko eines psychotischen Rückfalls verbunden. Dass eine Anzahl von

Patienten nach Beendigung der antipsychotischen Therapie – zumin-

dest in einem kurzen Zeitraum – keinen Rückfall hat, macht alles noch

komplizierter.« (Gilbert et al. 1995, S. 173)

Sowohl psychotherapeutisch ausgerichtete Behandler als auch biologische

Psychiater gestehen intern ein, dass sie nicht wissen, ob Neuroleptika im Ein-

zelfall eher helfen als schaden. William Carpenter und Carol Tamminga vom

Einführung 25

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Maryland Psychiatric Research Center in Baltimore, die in ihrer Einrichtung

einen kontrollierten Entzug ermöglichten, kamen zur Einschätzung:

»Obwohl man unerwünschte Vorkommnisse wie Suizid, enttäuschte

Patienten oder Angehörige, Verlust der Arbeit, verschlechterter Ver-

lauf und Hirnabnormalitäten allesamt während des Medikamenten-

entzugs beobachten kann: In aller Regel findet sich dies alles auch bei

medikamentierten Patienten unter klinischer Aufsicht.« (1995, S.

193)

Hanfried Helmchen von der Universitätsanstalt Berlin, ein Psychiater, der

eher als harter Verfechter einer neuroleptischen Langzeitbehandlung anzu-

sehen ist, äußerte sich schon in den 80er Jahren in einer internen Diskussion

unter Kollegen auffallend skeptisch:

»Im Rückblick auf die 25 Jahre, seit denen uns Neuroleptika zur Ver-

fügung stehen, ist festzustellen, dass Indikationsprädiktoren für eine

neuroleptische Behandlung bislang nicht gefunden wurden, aber drin-

gend nötig wären. Es gibt offensichtlich Patienten, die auch ohne

Neuroleptika symptomfrei werden, und solche, die symptomatisch

bleiben, aber von einer neuroleptischen Therapie keinen Nutzen zie-

hen, sondern eher zusätzlich behindert werden.« (1983)

Sein Kollege Karl Leonhard von der Nervenklinik der Charité der Berliner

Humboldt-Universität unterschied seiner Meinung nach prozessförmig ver-

laufende ›Schizophrenien‹ von sogenannten zykloiden Psychosen (zum Bei-

spiel Angst-, Verwirrtheits- und Glückspsychosen oder – der Katatonie ähn-

lichen – sogenannten Motilitätspsychosen) und wertete es geradezu als

Kunstfehler, die verordneten Neuroleptika nicht bald wieder abzusetzen:

»Ich sehe heute leider sehr viele zykloide Psychosen, die durch eine

Dauermedikation in einem toxisch-krankhaften Zustand gehalten

werden, während sie ohne diese Medikation völlig gesund wären.

Wenn man mit der Dauermedikation das Auftreten weiterer Phasen

verhüten könnte, wäre sich auch in solchen Fällen gerechtfertigt, aber

das ist je leider nicht der Fall. So hält man Patienten, die zwischen-

durch, oft für lange Zeit, manchmal auch für immer gesund wären, in

einem toxischen Dauerzustand ...« (Leonhard 1980, S. 3)

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Eine Vielzahl weiterer Faktoren sollte Anlass für Überlegungen geben, sich

nicht weiter von Medizinern und Psychiatern mit ihrem häufigen Drang zur

Langzeitverabreichung von Neuroleptika bevormunden zu lassen:

• Die Aufenthaltsdauer in der Anstalt verringert sich nicht, wenn man Neu-

roleptika einnimmt (Hartlage 1965); man kommt sogar eher schneller her-

aus, wenn man auf sie verzichtet (Epstein et al. 1962).

• Die Verfassung insbesondere älterer Menschen unter Neuroleptika, spe-

ziell Haldol, ist schlechter als im Vergleich zum psychopharmakafreien

Zustand (Tune 1992).

• Der Blick auf den schnellen Erfolg – Ruhigstellung und Management – gilt

auch Psychotherapeuten als grundfalsch: wichtig seien persönliche Entfal-

tung sowie Veränderung von krank- und verrücktmachenden Familienver-

hältnissen (Haley 1989).

• Neuroleptika dämpfen womöglich ›Selbstheilungstendenzen‹ (Ernst 1954,

S. 588) und verhindern die ›Gesundung‹ (Stierlin et al. 1985; Harding et al.

1987). Wer seine Krisen ohne die psychotropen Substanzen meistert, hat

deshalb mittel- und langfristig bessere Aussichten (Goldberg et al. 1965;

Hogarty et al. 1974; May / Goldberg 1978; Wehde 1991, S. 44ff.), wird an-

schließend weniger häufig ›psychotisch‹ als Psychopharmakabehandelte

und landet seltener erneut auf einer psychiatrischen Station (Young / Melt-

zer 1980; Heinrichs / Carpenter 1985).

• ›Rückfälle‹ unter Neuroleptikaeinnahme ziehen einen längeren Anstalts-

aufenthalt nach sich als ›Rückfälle‹, die in psychopharmakafreiem Zu-

stand auftreten (Gardos / Cole 1976).

• Neuroleptika tragen nichts zur langfristigen Rehabilitation bei (Niskanen /

Achté 1972), verhindern in der Regel ein normales ›Funktionieren‹ im

Alltag (Schooler et al. 1967) und führen sehr oft zum sozialen Abstieg

(Müller et al. 1986).

Das Risiko, dass beim Absetzen vorübergehende Entzugserscheinungen,

Reboundeffekte und weitere Absetzprobleme wie Supersensitivitätspsycho-

sen auftreten, sollte denen zu denken geben, die sich überlegen, Psychophar-

maka einzunehmen oder zu verabreichen. Auf der anderen Seite erhöht sich

mit der Zeit der Einnahme dieser Substanzen die Wahrscheinlichkeit, dass

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psychopharmakabedingte Langzeitschäden und beim Absetzen die genann-

ten Absetzprobleme eintreten (siehe Lehmann 1996a, 1996b), so dass stän-

dig die Frage gestellt werden kann, ob nicht die Zeit gekommen ist, die Risi-

ken zu beschränken und die Psychopharmaka in umsichtiger Weise abzuset-

zen. Dass man Psychopharmaka trotz Entzugserscheinungen absetzen kann,

ohne gleich wieder im Behandlungszimmer des Arztes oder in der Anstalt zu

landen, zeigen die Erfahrungsberichte von Betroffenen, die jetzt frei von

psychiatrischen Psychopharmaka leben.

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Der Entschluss zum Absetzen

Ilse Gold

Nach der Entlassung

Neuroleptika: Haldol, Sigaperidol

Heute, Freitag, 8. Februar 1991, wurde ich aus der Irrenanstalt entlassen. Die

davorliegenden 14 Tage waren die schrecklichsten meines Lebens, und auch

jetzt geht es mir gar nicht gut. Ich freue mich überhaupt nicht über die wie-

dergewonnene Freiheit. Zittrig bin ich, schwammig, unruhig, gefühllos und

schwer, müde und auch wieder nicht müde zugleich.

Meine deutlichste, aber trotzdem nicht genau definierbare Empfindung ist

wohl am ehesten mit Verwunderung und Erstaunen vergleichbar, aber dieses

Empfinden bleibt auf halbem Wege stecken, erstirbt, bevor es mir richtig be-

wusst wird. Nur ganz kurz wundere ich mich über das halbfertige Bild in

meiner Staffelei, und noch flüchtiger ist der ungläubige Gedanke daran, dass

ich noch vor wenigen Wochen etwas aus Vergnügen getan habe, wie zum

Beispiel ein Bild malen.

Die Gegenwart von Gerda ist mir unangenehm. Ihre Anwesenheit empfin-

de ich als notwendiges Übel, aber seltsamerweise schäme ich mich nicht,

dass ich so fühle, obwohl sie ja immerhin meine Schwester ist. Auch wenn

ich ihr aus früheren Zeiten zu Dank verpflichtet sein sollte, jetzt steht im Vor-

dergrund, dass ich es schließlich vor allem ihr zu verdanken habe, zwei lange

Wochen gegen meinen Willen eingesperrt gewesen und mit allen möglichen

Medikamenten vollgestopft worden zu sein.

Und dieses Haldol muss ich jetzt auch noch weiternehmen. Die Anstaltsärz-

tin hat mir für die nächsten Tage, bis zu dem Termin mit diesem Psychiater,

jede Menge Tabletten mitgegeben. Und sie hat mich eindringlich davor ge-

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