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Perspektiven musikalischen Lernensarbeitsgruppe.ch/pub/Music/Bwsc4Literatur/Sep05Spychiger...die...

Date post: 23-Mar-2021
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1 Perspektiven musikalischen Lernens 1 Maria B. Spychiger Erscheint im Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie 2006. __________________________________________________________________________________________ 1 Musikalisches Lernen, ein grosses Thema der Musikpsychologie im Schnittbereich mit der Musikpädagogik 1.1 Einleitung und Überblick Die Alltagsvorstellungen über Lernen allgemein, und für das musikalische Lernen speziell, sind vorrangig von Bildern organisierten Lernens geprägt. Man bringt es mit einer bewussten Anstrengung zum Zweck der Aneignung von Kenntnissen oder Fertigkeiten in Zusammen- hang; man denkt vielleicht an Instrumentalunterricht, an Frühförderung, an Berufsausbildung und an Meisterkurse, oder an die Schule, wo Kinder Lieder lernen, Singspiele machen, Rhythmen klatschen, später auch Theorie lernen, Intervalle, Notenlesen und –schreiben, u.a.m. Diese Lernprozesse ereignen sich unter pädagogisch gesteuerten Einflüssen und didaktischer, gegebenenfalls auch autodidaktischer Organisation. Ein solcher Lernbegriff hat viel mit der menschlichen Bildsamkeit und mit dem schulischen Lernen zu tun und liegt damit im Bereich der Bildungswissenschaften. Aber es muss darauf hingewiesen werden, dass diese Art Lernen auch in der Psychologie als erstes erforscht wurde; besonders berühmt etwa sind Hermann Ebbinghaus’ Untersuchungen (1885) zur Einprägung von standardisiertem Ge- dächtnismaterial geworden, wobei die Wiederholung, das Üben also, eine wichtige Rolle spielte. Menschen prägen sich etwas ein, indem sie es wiederholen, oder sie werden in einem Bereich gewandt, beispielsweise im Instrumentalspiel, weil sie viel geübt haben. Auch Klaus Holzkamps Lernverständnis geht in diese Richtung, ist aber bereits problemlösungsorientiert, wenn er moniert, dass Lernen immer dann aktuell werde, wenn einer Handlungsproblematik nicht direkt beigekommen werden kann, sondern dazu eine „Lernschlaufe“ eingelegt, eine Handlungsproblematik als Lernproblematik übernommen werden muss (1995, S. 445). Bekanntlich wird aber auch viel nebenher gelernt, einfach so, und auch schon lange bevor ein Kind gezielten Massnahmen und Ereignissen ausgesetzt werden kann. Musikalisches Lernen ereignet sich von frühster Stunde an, und bereits vor der Geburt, spontan. 1 Thomas Stockhau- sen erzählte einmal in einem Interview, dass er erst im Kindergartenalter begriff, dass nicht alle Erwachsenen ein Instrument spielen. Bis dahin hatte er, als Sohn des Komponisten in einer grossen Musikerfamilie aufwachsend, erlebt, dass die Menschen, die zu ihrem Haus kamen, meistens ihr Instrument mitbrachten oder sich an eines setzten. Fast jeden Sonntag wurde bei Stockhausens gespielt, und auf diese Weise hatte der Junge in seinem Kinderleben die menschliche Spezies kennen gelernt: Zu jedem Individuum gehört das eine oder andere Instrument. Bis zum Eintritt in den Kindergarten hatte bei ihm bereits viel Musiklernen statt- gefunden; Instrumente und deren Klang, Musikerinnen und Musiker die sie spielen, deren Le- ben als Improvisierende, Komponierende, Unterrichtende, Solisten, ihre Erfolge, vielleicht ihre Krankheiten, dazu eine grosse Anzahl von Musikstücken, verschiedenste Formationen, solches und vieles andere mehr waren dem 6-Jährigen da bereits geläufig. All das hatte er 1 Eine Version dieses Aufsatzes wurde an der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, 3.-5. September 2004 in Paderborn, gelesen.
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Perspektiven musikalischen Lernens 1 Maria B. Spychiger Erscheint im Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie 2006.

__________________________________________________________________________________________ 1 Musikalisches Lernen, ein grosses Thema der Musikpsychologie

im Schnittbereich mit der Musikpädagogik 1.1 Einleitung und Überblick Die Alltagsvorstellungen über Lernen allgemein, und für das musikalische Lernen speziell, sind vorrangig von Bildern organisierten Lernens geprägt. Man bringt es mit einer bewussten Anstrengung zum Zweck der Aneignung von Kenntnissen oder Fertigkeiten in Zusammen-hang; man denkt vielleicht an Instrumentalunterricht, an Frühförderung, an Berufsausbildung und an Meisterkurse, oder an die Schule, wo Kinder Lieder lernen, Singspiele machen, Rhythmen klatschen, später auch Theorie lernen, Intervalle, Notenlesen und –schreiben, u.a.m. Diese Lernprozesse ereignen sich unter pädagogisch gesteuerten Einflüssen und didaktischer, gegebenenfalls auch autodidaktischer Organisation. Ein solcher Lernbegriff hat viel mit der menschlichen Bildsamkeit und mit dem schulischen Lernen zu tun und liegt damit im Bereich der Bildungswissenschaften. Aber es muss darauf hingewiesen werden, dass diese Art Lernen auch in der Psychologie als erstes erforscht wurde; besonders berühmt etwa sind Hermann Ebbinghaus’ Untersuchungen (1885) zur Einprägung von standardisiertem Ge-dächtnismaterial geworden, wobei die Wiederholung, das Üben also, eine wichtige Rolle spielte. Menschen prägen sich etwas ein, indem sie es wiederholen, oder sie werden in einem Bereich gewandt, beispielsweise im Instrumentalspiel, weil sie viel geübt haben. Auch Klaus Holzkamps Lernverständnis geht in diese Richtung, ist aber bereits problemlösungsorientiert, wenn er moniert, dass Lernen immer dann aktuell werde, wenn einer Handlungsproblematik nicht direkt beigekommen werden kann, sondern dazu eine „Lernschlaufe“ eingelegt, eine Handlungsproblematik als Lernproblematik übernommen werden muss (1995, S. 445). Bekanntlich wird aber auch viel nebenher gelernt, einfach so, und auch schon lange bevor ein Kind gezielten Massnahmen und Ereignissen ausgesetzt werden kann. Musikalisches Lernen ereignet sich von frühster Stunde an, und bereits vor der Geburt, spontan.1 Thomas Stockhau-sen erzählte einmal in einem Interview, dass er erst im Kindergartenalter begriff, dass nicht alle Erwachsenen ein Instrument spielen. Bis dahin hatte er, als Sohn des Komponisten in einer grossen Musikerfamilie aufwachsend, erlebt, dass die Menschen, die zu ihrem Haus kamen, meistens ihr Instrument mitbrachten oder sich an eines setzten. Fast jeden Sonntag wurde bei Stockhausens gespielt, und auf diese Weise hatte der Junge in seinem Kinderleben die menschliche Spezies kennen gelernt: Zu jedem Individuum gehört das eine oder andere Instrument. Bis zum Eintritt in den Kindergarten hatte bei ihm bereits viel Musiklernen statt-gefunden; Instrumente und deren Klang, Musikerinnen und Musiker die sie spielen, deren Le-ben als Improvisierende, Komponierende, Unterrichtende, Solisten, ihre Erfolge, vielleicht ihre Krankheiten, dazu eine grosse Anzahl von Musikstücken, verschiedenste Formationen, solches und vieles andere mehr waren dem 6-Jährigen da bereits geläufig. All das hatte er

1 Eine Version dieses Aufsatzes wurde an der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, 3.-5. September 2004 in Paderborn, gelesen.

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gelernt, ohne dass es geplant und erarbeitet wurde, sondern beiläufig, ohne besondere Absicht oder Anstrengung. In der Lernpsychologie spricht man wie bereits erwähnt vom spontanen Lernen. Die Psychologie hat sich häufiger als die Pädagogik mit dem spontanen Lernen be-fasst, u.a. wohl weil Lernprozesse dieser Art den Entwicklungsprozessen ähnlich sind. Damit ist ein weiterer Schnittbereich, derjenige von Lern- und Entwicklungspsychologie, angespro-chen. Im vorliegenden Beitrag wird das musikalische Lernen aus mehreren Blickwinkeln an-gegangen: (1) Vorab verfolgen wir die bereits aufgenommene klassifikatorische Perspektive weiter und fokussieren pädagogische Aspekte des Gegenstandes im Vergleich mit psychologischen. Da-bei können wichtige Inhalte wie der Einfluss des Milieus oder die Bedeutung der Schriftlich-keit für Bildungsprozesse allgemein und für das musikalische Lernen diskutiert werden. (2) Danach kommen Ansätze des musikalischen Lernens und Lehrens im Sinne unter-schiedlicher Philosophies of Music Education zur Sprache und werden anhand der Lokalisie-rung auf dem semiotischen Funktionskreis, einem psychologischen Modell des Person-Welt-Bezugs, in eine begriffliche Einheit gebracht. (3) Die dritte Perspektive ist diejenige des musikalischen Lernens als Forschungsfeld mit unterschiedlichsten inhaltlichen Ausgestaltungen. Es wird eine Systematisierung nach den Kriterien 3a „Was?“, den thematischen Inhalten (z.B. pränatales Musiklernen), 3b „Wie?“ den Untersuchungen über die Prozesse und Methoden musikalischen Lernens (z.B. Suzukime-thode) und 3c „Wer?“, der Forschung über Personen und Gruppen bzw. deren Vergleiche (z.B. musikalisches Lernen von Laien vs. Professionellen) vorgenommen. (4) In einem neuen Kapitel werden drei Outcomes musikalischen Lernens besprochen, zuerst 4a das musikalische Wissen und Können als Performanz, dann 4b die musikalisch vermittelte Erkenntnis als epistemische Kompetenz und schliesslich 4c das musikalische Selbstkonzept oder, umfassender, das Musikalische als Identitätsbereich. Der Hintergrund zu dieser Darstel-lung liefert insbesondere der bereits unter den Philosophies of Music Education vorgestellte zeichentheoretische Ansatz, der im vorliegenden Aufsatz zur These der epistemische Valenz des Musikalischen weiter entwickelt wird. (5) Das musikalische Lernen im Laufe des Lebens erhält einen letzten, eigenen Abschnitt, weil sich hier anhand von Forschungsergebnissen aus einer eigenen Studie noch zwei wich-tige Aspekte exemplarisch aufzeigen lassen: Erstens das musikalische Lernen als Potenzial, formuliert als These des Musikalischen als Kapazitätsreserve, und zweitens das Phänomen, dass musikalisches Lernen in einer engen Beziehung zu den Wirkungen von Musik zu stehen scheint, woraus die These der erlebten Musikwirkungen als Faktor musikalischen Lernens abgeleitet wird. Damit eröffnen sich nochmals sehr bedeutsame Perspektiven des musika-lischen Lernens, die allerdings im vorliegenden Aufsatz nicht mehr weiter bearbeitet werden. 1.2 „Denen, die da haben, wird gegeben“ Für das spontane Lernen ist der Einfluss des Milieus von grosser Bedeutung. Es ist da etwas, so alt wie neu, voll im Gange, nämlich dass denen, die da haben – denen die da schon früh haben insbesondere – gegeben und später noch viel mehr gegeben wird. Mehr Darüber hinaus neigen diejenigen, die schon wenig bekommen haben, dazu, das Wenige auch noch zu verlie-ren. Altbekannt ist dieses Phänomen u.a. deshalb, weil schon Jesus es in seinem Gleichnis vom anvertrauten Geld beschrieb; es ist im Evangelium des Matthäus im Neuen Testament

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der Bibel nachzulesen.2 Neueren Datums sind dagegen die Untersuchungen, die Herbert Wal-berg & Shio-Ling Tsai über die berufliche Situation und den Wissensstand einer sehr grossen Stichprobe von jungen Erwachsenen in den Vereinigten Staaten von Amerika durchführten und die Ergebnisse 1983 publizierten. Nebst der interessierenden Variable des aktuellen Er-folgs, operationalisiert als Bildungserfolg und beruflichen Status, erhoben Walberg & Tsai auch die Variablen ‚Bildungsgeschichte bzw. Bildungserfahrung’, ‚Stand der aktuellen Bil-dungsaktivität’ sowie ‚Stand der aktuellen Bildungs- und Leistungsmotivation’. Das Zusammenspiel dieser Faktoren summiert sich zu einem Phänomen, das die Forscher in Anlehnung an das neutestamentliche Gleichnis als Matthäus-Effekt bezeichnet haben. Die Testergebnisse zum Wissensstand figurieren als abhängige Variable, während die dazu erho-benen Randbedingungen (wie erwähnt Bildungsgeschichte/-erfahrung, aktuelle Bildungsakti-vität sowie die Bildungs-/Leistungsmotivation) als unabhängige Variablen stehen. Die drei Unabhängigen korrelieren untereinander, sie bilden eine Art geschnürtes Paket, welches in einem kausalen Zusammenhang zu den Unterschieden in den Testergebnissen steht. Dabei ist aber eine der drei Variablen dominant, nämlich die erste, welche die Autoren als „educational background“ und wir etwas verallgemeinernd als „Milieu“ bezeichnen. Das also ist der Me-chanismus des Viel-Habens-und-immer-noch-mehr Bekommens, und er wird in den Kind-heits- und Jugendjahren aufgebaut. Im Falle des Musiklernens besteht er darin, dass Kinder in anregenden musikalischen Milieus sehr viel mehr lernen als Kinder mit geringer und wenig vielfältiger musikalischer Stimulation. Dabei erfolgt ein grosser Teil dieses Lernens, um auf die eingangs des Abschnittes eingeführte Unterscheidung zurück zu kommen, spontan, was bedeutet, dass mit kompensatorischen pädagogischen Massnahmen dem Vorsprung der be-vorteilten Kinder nie wirklich beizukommen ist. Differenzierend muss man ergänzen, dass nicht die musikalische Stimulation alleine, sondern auch die Möglichkeit der aktiven Teil-nahme entscheidend ist für das Ausmass des spontanen Lernens, was unter dem Begriff der Partizipation zu erläutern ist. Gute Pädagogen haben, zwar noch nicht unter diesen Begriffen, die Einflussgrössen des Mi-lieus und der Partizipation schon lange erkannt. Für die Musikpädagogik sei vor diesem Hin-tergrund der Ansatz von Heinrich Jacoby (1889-1964) erwähnt. Er sprach von der „gemein-schaftliche Teilhabe“ und davon, dass es Unmusikalität an sich nicht gibt, sondern diese nur eine Folge von „unvorteilhaften Einflüssen“ sein kann. Ein weiteres Element spielt eine wichtige Rolle, dasjenige des Vertrauens in die Fähigkeiten der Lernenden. Er monierte für Ermutigung anstelle von Korrektur und für musikalische Entfaltung anstelle von Musikerzie-hung (1984; vgl. auch Biedermann, 1993). An dieser Stelle wird sichtbar, wie spontanes Ler-nen in organisierte, unter bewussten und von Erzieherseite beabsichtigte Fördermassnahmen übergeht.3 Die Unterscheidung zwischen spontanem und organisiertem Musiklernen kann demnach keine scharfe sein, der Übergang vom einen zum andern ist ein fliessender. Spontanes Lernen bewegt sich im Bereich von Entwicklungs- und Sozialisationsprozessen, organisiertes Lernen findet sich, wenn Bildungsbemühungen aller Art, auch autodidaktische, oder erzieherische Ansprüche im Spiel sind. Wenn Eltern ein Milieu schaffen, in welchem sie ihren kleinen Kin-dern durch eine partizipative Haltung viele Möglichkeiten spontanen Musiklernens eröffnen, ist dies gleichzeitig eine erzieherische Haltung, mit welcher je nach dem Ausmass und der Art ihrer Absichtlichkeit mit grosser Wahrscheinlichkeit organisiertes Lernen bereits einhergeht. Wenn Eltern sich weiter fragen, ob ihr Kind ein Instrument lernen soll, und wenn ja, welches, oder wenn Bildungsgremien und Behörden diskutieren, wie viel und welche Art von Musik-unterricht in den Schulen erteilt werden soll, befinden wir uns definitiv im Bereich des orga-nisierten Lernens. Tatsächlich gibt es eine enorme Zahl verschiedener pädagogisch-psycholo-

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gisch-didaktische Zugänge zur Förderung oder zum systematischen Training musikalischer Fähigkeiten. Wollten die vorgestellten Eltern oder Behörden wirklich eine Orientierung über die bestehenden Möglichkeiten erlangen, müssten sie sich in einer schier unüberblickbaren Auswahl von Personen, Lehrmitteln und Methoden zurechtfinden. Sie würden merken, dass viele Fragen über diese Lernprozesse gestellt werden, und dass die Antworten zu deren Orga-nisation kontrovers ausfallen. 1.3 Musikalische Literalität Ein Beispiel für die kontroversen Auffassungen über das organisierte musikalische Lernen ist die Frage um den Stellenwert und die Bedeutung des Erwerbs der Notenschrift. Sie führt uns zum Thema der musikalischen Literalität.4 Wie wichtig ist es, dass Kinder die Notenschrift lernen, also im musikalischen Bereich zur Schriftlichkeit vorstossen? Es gibt nicht wenige prominente Musikpädagogen, die den Erwerb der Notenschrift für das Musiklernen in den Hintergrund stellen. So zeigt etwa Thomas Ott (2000), wie Musik in oralen Kulturen anhand des Dreischritts von Vormachen–Nachmachen–Mitmachen gelernt wird, nennt das Kind auch gleich bei seinem alten Namen „die Papageienmethode“ und fragt mit guten Gründen, ob wir zu ihr zurückkehren sollten. Auch Kurt Pahlen, der ein langes Leben lang mit Menschen auf mehreren Kontinenten musiziert und vor allem gesungen hat, wehrt sich gegen frühes Notenlesen und Grammatiklernen; er argumentiert, dass dies die Entwicklung der musikali-schen Fantasie hemmt. Demgegenüber gibt es aber auch die Praxis hoch entwickelter Musik-kulturen, etwa in osteuropäischen Ländern wie Bulgarien oder auch Polen, wo die Noten-schrift sogleich bei der Einschulung erlernt wird, ohne Wenn und Aber, und offensichtlich ohne den Effekt, dass dies die musikalische Fantasie oder die Selbsttätigkeit dieser Kinder abtötet. Der Alphabetisierungsprozess vollzieht sich allgemein auf der Basis von Sprechen und Hören. Lesen und Schreiben bedeutet eine Erweiterung der oralen hin zu literalen Kompetenzen. Schriftlichkeit hat in Schriftkulturen den Effekt, dass die Erzeugnisse der Kultur sich in Form schriftlicher Dokumente konservieren, in externalen Gedächtnisse abgelegt werden. Walter Herzog (2002, S. 365ff) verweist auf die bedeutsame Implikation, dass – bezogen auf den Sprachbereich – die Zugänglichkeit von Texten im Gegensatz zu Spracherzeugnissen, die in menschlichen Gedächtnissen „lagern“, dazu disponiert, diese zu verändern. Er spricht damit die mentalen Prozesse der Reflexion und die Formulierung von Kritik an und zeigt auf, dass die Entwicklung von Rationalität ganz wesentlich an Schriftlichkeit gebunden ist.5 Ein interessantes Phänomen ist dabei, dass Menschen still werden, wenn sie lesen, schreiben und reflektieren. Dies wiederum fördert die Individualisierung und das Erleben von Differenz. Interessanterweise ist aber in Schriftkulturen die literale Kompetenz genau die Bedingung, um wiederum an dieser Kultur teilzunehmen, und stellt in diesem Sinne die Grundlage der oben erwähnten Partizipation dar. Es geht zwar nicht darum, die sprachbezogene Schriftlichkeit eins zu eins mit der musikbezogenen zu vergleichen,6 aber es kann doch die Aussage gemacht werden, dass eine Person in unserem Kulturraum, die nicht Notenlesen und –schreiben kann, von einem grossen Teil kulturüblicher musikalischer Aktivität ausgeschlossen ist. Es soll auch gar keine zentrale Frage sein, ob der Erwerb dieser Techniken, treffend bezeichnet mit dem Begriff der Kulturtechniken, Spass macht oder nicht. Der Alphabetisierungsprozess ist nun einmal für viele Kinder etwas Beschwerliches. Für den Schrifterwerb in der Muttersprache stellt man ja auch nicht die Frage in den Vordergrund, ob Kinder ihn gerne vollziehen, oder steht für den Lernbereich Mathematik zur Diskussion, ob das Zahlenlesen und –schreibenler-nen zur Einschulung gehört oder nicht.

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Trotzdem ist für das Musiklernen die Position der Kritiker der Schriftlichkeit ernst zu neh-men. Es ist kaum ein Zufall, dass es typischerweise gute Kenner oder sogar Praktiker ausser-europäischer, oraler Musikkulturen sind, und es passt auch dazu, dass Thomas Ott den Artikel über die Papageienmethode für Volker Schütz zum 60. Geburtstag geschrieben hat. Ohne die Impulse, welche die Musikpädagogik von den Leuten erhalten hat, die über die europäischen Grenzen hinausgeschaut und mit Leib und Seele überschritten haben, könnten wir heute kaum einen zeitgemässen allgemeinbildenden Musikunterricht realisieren. Ausserdem stimmt man Ulrich Günther zu, der schon Anfang der 90er Jahre gesagt hat, dass musikalische Notation nicht Selbstzweck sein kann, sondern ihren Wert im Gebrauch erhält. Konsequenterweise steht und fällt dann die Motivation zum Erwerb und Gebrauch musikalischen Literalität mit der Möglichkeit und Notwendigkeit, diese anwenden zu können. Es ist offensichtlich, dass der Stellenwert musikalischer Literalität unvergleichbar viel niedriger ist als derjenige sprach-licher und mathematischer, wenn es darum geht, ihre Bedeutung für den durchschnittlichen Lebenserfolg einzuschätzen. Tatsächlich gibt es je gute Gründe für die unterschiedlichen Meinungen über die Bedeutung musikalischer Literalität. 2 Philosophies of Music Education im Kreis des Person-Welt-Bezugs 2.1 Musikpädagogische Konzeptionen und Music Learning Theory Es gilt überhaupt, ein weites musikpädagogisches Feld zu betreten: Die Methoden und Kon-zepte über Musiklernen, die Auffassungen über wichtige Inhalte, die Entscheidungen über Stile und deren Gewichtung, sind höchst vielgestaltig. Es kann kein wirkliches Ordnen und sicher kein Entscheiden über Richtig und Falsch und Gut und Böse geben. Wulf Dieter Lugert hat (2003) festgehalten, dass von Michael Alts „Orientierung am Kunstwerk“ bis zu Wolf-gang Roschers „Polyästhetischer Erziehung“ von den Sechziger- bis in die Achtzigerjahre mehrere grosse Entwürfe, umfassende Konzeptionen des organisierten Musiklernens, entstan-den und vorgelegt worden sind (auf deren Inhalte wir im übernächsten Abschnitt noch zurück kommen). Heute ist eine Hinwendung zur Vielfalt und zu Entwürfen mit begrenzterem Gel-tungs- und Anwendungsanspruch zu verzeichnen, die wohl Ausdruck pluraler Lebenswelten, eben auch pluraler musikalischer Lebenswelten ist.7 Es gibt eine unglaubliche Zahl von Lehr-mitteln, didaktischen Konzeptionen und Materialien, z.T. mit ausgearbeiteten theoretischen Fundierungen, die Musiklernen für die verschiedensten Zielgruppen aufbauen, verschiedene Altersgruppen, Lernniveaus, Musikkulturen und –stile und Bereiche der musikalischen Akti-vität ansprechen. Das geflügelte Wort der Postmoderne, „Keine grossen Erzählungen mehr“, scheint auch für den Musikbereich zu passen (vgl. Anmerkung 7). Man muss dazu allerdings kritisch vermerken, dass es in dieser Absolutheit nicht zutrifft. Es gibt auch in der Postmo-derne verbindliche Ordnungen, die über einzelne gesellschaftliche Bereiche weit hinausrei-chen (z.B. der Kapitalismus), und ebenso hat sich innnerhalb der Musikpädagogik eine ‚grosse Erzählung’ durchgesetzt, nämlich die des handlungsorientierten Musikunterrichts. Schaut man über den angewandten Bereich hinaus auf die theoretischen Entwicklungen zum musikalischen Lernen, so nimmt als erstes die verfügbare Literatur ausserordentlich stark ab, und zweitens zeichnet sich mit Edwin Gordons Music Learning Theory ebenfalls eine grosse Theorie ab. Gordon hat sie über Jahrzehnte entwickelt und beforscht und erst kürzlich eine überarbeitete Version vorgelegt. Ihr Herzstück ist das Konzept der Audiation.8 Audiation (als Verb: auditieren) ist eine spezifisch musikalische Geistestätigkeit; mit dem Auditieren wird klar, was das Ziel und Kriterium von Musiklernen ist, nämlich das Denken in Musik, die Fä-higkeit, Musik unabhängig von der Anwesenheit physikalischen Klangs zu hören und zu ver-

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stehen.9,10 Im deutschen Sprachraum hat Wilfried Gruhn wichtige Beiträge zum audiationsba-sierten Musiklernen erstellt (u.a. 1998). Er hat die Audiation konsequent mit mentaler Reprä-sentation verbunden und definiert Lernen entsprechend als Aufbau und graduelle Verände-rung mentaler Repräsentationen. 2.2 Der Semiotische Funktionskreis In der Terminologie des semiotischen Funktionskreises, an welcher wir uns orientieren wol-len, würde eine Definition wie diejenige von Gruhn mit dem intrA-semiotischen Bereich in Verbindung gebracht werden. IntrA verweist auf die Prozesse, die sich innerhalb der Person abspielen, im Gegensatz zu ExtrA, dem Aussenbereich. Hinter dem angesprochenen Modell steht der Berner Psychologe Alfred Lang und weiter zurück der Biologe Jacob von Uexküll (1864-1944). Es stellt den Person-Welt-Bezug als Funktionskreis vor, in welchem die Person via Wahrnehmung auf der einen Seite und Handlung auf der andern Seite mit der Welt ver-bunden ist. Diese beiden Funktionen bezeichnen die zwei eben noch nicht benannten Bereiche IntrO – das, was von aussen in die Person hineinkommt, und ExtrO – das was die Person in die Welt hinausgibt. Die Anordnung dieser zwei Scharniere kann man sich Person (IntrA) und Welt (ExtrA) schematisch als zwei ineinander greifende Systeme vorstellen. Uexküll hat als Biologe diesen Modell für alle Lebewesen entwickelt, Lang als Psychologe hat es übernom-men, es aber für den Humanbereich als semiotischen Funktionskreis bezeichnet, weil der menschliche Weltbezug auf den menschlichen Zeichensystemen aufbaut und die menschliche Kommunikation durch die Bedeutungshaftigkeit des extensiven Zeichengebrauchs charakteri-siert ist.11 Die Funktionen und Inhalte der einzelnen Zeichensysteme lassen sich auf diesem Kreis ver-orten. Für das Zeichensystem Musik habe ich bereits früher vorgeschlagen, die Stationen wie in Abbildung 1 aufgezeichnet mit den Inhalten Musikalische Wahrnehmung, Musikalische Erfahrung, Musikalische Tätigkeiten und Musikalische Kultur formal zu fassen.

Abbildung 1: Klassifizierung musikalischer Verhaltens– und Erlebensbereiche auf dem

semiotischen Funktionskreis.12

Die Bereiche oder „Stationen“ auf dem semiotischen Funktionskreis sind mit den einschlägi-gen Inhalten gefüllt, etwa mit Singen, ein Instrument spielen etc. bei ExtrO, Musikstücke, Konzerte, Tonträger usw. bei ExtrA, die Rezeption dieser Musikstücke oder auch einfach das

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Hören der Klangumgebung (z.B. Kirchenglocken, Vogelgesang etc.) bei IntrO und das Verar-beiten von musikalischen Eindrücken, das Erleben von musikbezogenen Gefühlen, das Erfin-den bzw. Komponieren von Musik, der Abruf von Liedern aus dem Gedächtnis etc. bei IntrA. 2.3 „Die grossen Erzählungen“ als Stationen auf dem Funktionskreis Man kann jetzt „die grossen Erzählungen“ des musikalischen Lernens, oder, weniger meta-phorisch ausgedrückt, die verschiedenen „Philosophies of Music Education“13, je als Entscheidungen für einen Schwerpunkte auf dem semiotischen Funktionskreis verorten. So wären wohl Michael Alts „Orientierung am Kunstwerk“ (1968), Heinz Antholz’ „Introduk-tion in Musik“ (1970), die „Auditive Wahrnehmungserziehung“ von Rudolf Frisius (1973)14 und selbstverständlich auch Dankmar Venus’ „Unterweisung im Musikhören“ (1969) als re-zeptionsorientierte Zugänge und damit auf der IntrO-Seite zum Musiklernen einzustufen. Die Opposition trifft für Rauhe, Reinecke & Ribke mit deren Konzeption „Hören und Verstehen“ (1975) zu, welche erst im Untertitel sagt, was sie wirklich ist, nämlich eine Theorie und Pra-xis handlungsorientierten Musikunterrichts, und damit der ExtrO-Seite zuzuordnen ist. Dies gilt auch für „Musikmachen im Klassenunterricht“ von Ulrich Günther & Thomas Ott (1984), einer handlungs- und schülerorientierten Musikpädagogik. Hermeneutisch ausgerichtete Kon-zeptionen wie Christoph Richters „Didaktische Interpretation von Musik“ (1976) oder Karl Ehrenforths „Verstehen und Auslegen“ (1971) passen dagegen viel eher auf den IntrA-Be-reich, und gegenüber liegend bei ExtrA fänden sich dann die soziologisch orientierten An-sätze, etwa „Musik aktuell“ (Breckoff et al., 1971) oder Lugerts „Grundriss einer neuen Mu-sikpädagogik“ (1975), wo Musik als soziale Tatsache vorgestellt wird. Für einen eklektischen Ansatz wie Wolfgang Roschers „Polyästhetische Erziehung“ (1976) wäre dagegen nicht wirklich ein Platz auf dem Funktionskreis auszumachen. Für jeden Ansatz gilt, dass der zuge-ordnete Bereich auf dem Funktionskreis jeweils nur als Ausgangspunkt zu verstehen ist, es werden danach alle Stationen auf demkreis durchlaufen. Die Ansätze im IntrO- und IntrA-Bereich einerseits und im ExtrO- und ExtrA-Bereich ande-rerseits stehen einander je näher oder haben sogar eine Art Blöcke gebildet. Im nordamerika-nischen Raum, wo sie mit Bennett Reimer und David Elliott als Vertreter je einer Philosophie stark personifiziert waren, wurde die Auseinandersetzung in den 90er Jahren sogar als erbit-terter Kampf geführt, insbesondere im Zuge von David Elliotts Entwicklungen zum hand-lungsorientierten Musikunterricht. Er hatte sein 1995 erschienenes Buch selbstbewusst „Mu-sic Matters“ getitelt und mit „A New Philosophy of Music Education“ überschrieben,15 womit er sich von der „alten Philosophie“, dem Ansatz der Musikerziehung als ästhetischer Erzie-hung, abgrenzen wollte. Für letztere war über Jahrzehnte Elliotts Lehrer Bennett Reimer ein-getreten, der sein 1970 erschienenes und 1989 erneut aufgelegtes Lehrbuch bescheidener mit „A Philosophy of Music Education“ getitelt hatte und die unbestrittene Lektüre der musikpäd-agogischen Lehrveranstaltungen an den amerikanischen Ausbildungsstätten war. In den bei-den Kontrahenten sind unschwer die beiden Seiten, die oben für unseren Kulturraum vorge-stellt wurden, zu erkennen. Entsprechend können die beiden Bücher auf dem semiotischen Funktionskreis lokalisiert werden, Reimer mit der ästhetischen Erziehung bei IntrO, Elliott mit dem handlungsorientierten Ansatz bei ExtrO.16 Im zeichentheoretischen Ansatz (Spychi-ger, 1995; 2001) liegt der Fokus dagegen im IntrA-Bereich. Diese Philosophy of Music Edu-cation basiert auf dem Anspruch, dass das Musikalische eine dem menschlichen Geiste und im Anschluss daran dem menschlichen Handeln verfügbare Spielart im Person-Welt-Bezug darstellt. Die Prozesse der Audiation und der musikalischen Repräsentationen, umfassender das Musikalische als Intelligenz, verweisen auf die Eigenständigkeit dieses Zeichensystems insbesondere in Abgrenzung zur Sprache. Entsprechend rücken aus pädagogischer Sicht die

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musikalischen Aktivitäten im Bereich der Kreation, dem Hervorbingen von Klängen, Melo-dien und Rhythmen, dem Komponieren und Erfinden von Musik also, was seinerseits auf den musikalischen Strukturbildungen in der Person beruht, ins Zentrum. Damit lehne ich auch an Francis Sparshott an, der definiert, Musik sei – vielleicht – „ ...a sounding structure or a structured sound, indwelling in the listening mind” (1994, S. 25). Es gilt auch hier, dass die Verortung des Ansatzes auf dem semiotischen Funktionskreis eine Integration der verschie-denen Philosophies erlaubt, jede Philosophy spricht jede Station an, wenn auch mit unter-schiedlicher Gewichtung.17 Ergänzend muss an dieser Stelle auf die Ansätze hingewiesen werden, die kulturbetont sind, heute besonders die Zugänge zur Musikerziehung in der Multi-kulturalität (vgl. z.B. Jorgensen, 2003), was einer extrA-orientierten Philosophy entspricht. Zur Zeit ist in der lernpsychologischen Forschung ein Schwerpunkt im neuronalen Bereich auszumachen. Nehmen wir terminologisch nochmals den semiotischen Funktionskreis in An-spruch, liegt damit der Personbereich oder das IntrA im Fokus. Das folgende Kapitel über das musikalische Lernen als Forschungsfeld eröffnen wir deshalb mit einem Blick auf die Gehirn-forschung. 3 Musiklernen als Forschungsfeld 3.1 Neuronale Vorgänge Das grosse Interesse an den neuronalen Vorgängen in der Lernforschung hat u.a. viel damit zu tun, dass Lernen hier sehr gut beobachtet und operationalisiert werden kann: Lernen geht mit neuen Synapsenverbindungen einher, mit Veränderungen in der Verknüpfung von Nerven-zellen aufgrund der Synapsenaktivität. Das Weitergeben von Signalen und dabei das Einge-hen von Verbindungen ist das, was Nervenzellen bei der Aufnahme von Sinneseindrücken und deren Verarbeitung tun. Man kann deshalb Manfred Spitzer recht geben, wenn er in eher populärwissenschaftlichem Jargon sagt, das Gehirn sei zum Lernen programmiert (Spitzer 2002). In Norbert Herschkowitz’ Schrift „Das vernetzte Gehirn“ (2002) findet sich eine Dar-stellung über diese zunehmenden Verschaltungen im Laufe des Lebens. Dabei ist zu beachten, dass nebst dem bekannten Phänomen besonders aktiver Verschaltung und Dendritenwachs-tums im frühen Kindheitsalter auch im Alter zwischen 45 und 60 Jahren noch einmal eine signifikante Erhöhung der Vernetzung des Gehirns auftritt.

Abbildung 2: Die zunehmende Vernetzung der Hirnrinde vom Lebensbeginn bis zum ca. 60. Altersjahr. Bild aus Herschkowitz, 2002, S. 28 (Hervorhebung der sog. Spurts durch Kreise M.S).

Die Verarbeitung von Musik hat schon früh Gehirnforscher auf den Plan gerufen, um ihre Methoden zu erproben und zu demonstrieren. Anhand musikalischer Stimuli lässt sich die

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Komplexität und Plastizität des Gehirns hervorragend demonstrieren, oft beansprucht ihre Verarbeitung verschiedenste Areale und lässt Rückschlüsse auf deren Verbindungen zu. Ins-besondere finden auch die emotionalen Effekte von Musik Beachtung oder gar Verwendung, etwa dergestalt, dass Reaktionen erzielt werden können, für die ansonsten ausgewählte Sub-stanzen eingesetzt werden müssen (vgl. dazu Panksepp & Bekkedal, 1997). Für die Erforschung der Verarbeitung von Musik im Gehirn seien als Vertreter im deutschen Sprachraum Hellmuth Petsche und seine Mitarbeiter erwähnt. Sie konnten schon in den 80er Jahren mit spektakulären Ergebnissen aufwarten, als es mittels der Elektroencephalografie ge-lang, durch Musikhören ausgelöste Gehirnaktivitäten nachzuweisen und zu lokalisieren (Pet-sche, 1987). Heute gibt es dafür neue Methoden und Techniken, die als ‚bildgebende Ver-fahren’ anhand der enorm weiter entwickelten Computertechnik noch viel eindrücklichere Resultate liefern. Besonders berühmt sind die Publikationen aus der Forschergruppe um Gott-fried Schlaug geworden (vgl. Schlaug, Jäncke, Huang, Staiger & Steinmeth, 1995), die u.a. bei Musiker/innen ein verdicktes Corpus callosum fanden, insbesondere bei denjenigen, die früh im Leben mit dem musikalischen Training begonnen hatten. 3.2 Musiklernen als unabhängige oder aber als abhängige Variable Für den Typ dieser letzten Arbeiten ist allerdings festzuhalten, dass es um Lernen oder Lei-stungssteigerung unter der Einwirkung von Musikverarbeitung oder musikalischem Lernen geht. Letzteres figuriert dann nicht als abhängige Variable, sondern als Unabhängige, unter deren Einfluss sich Lernprozesse im aussermusikalischen Bereich ereignen. Es gibt wesent-lich mehr Forschung über Wirkungen von Musik und musikalischem Lernen auf aussermu-sikalische Bereiche, als über die Einflüsse auf das musikalische Lernen, dessen Bedingungen oder Optimierungsmöglichkeiten. So wird der Mozarteffekt ungebrochen weiter beforscht, bei seriösen Arbeiten mit dem immer gleichen Resultat, nämlich dass man ihn kaum nachweisen kann. Man findet auch wieder eine neue Publikation über Intelligenzsteigerung infolge von vermehrtem Musikunterricht (Schellenberg, 2004), weiter eine Fülle von Studien oder Be-schreibungen über all die kurzfristigen Wirkungen, Schmerzbehandlungen zum Beispiel, Ver-änderung der Befindlichkeit oder des Aktivierungsniveaus, gezielte Leistungssteigerungen aller Art (z.B. im Sport), Einfluss von Hintergrundmusik auf Schul- und Hausaufgabenleis-tungen usw.18 Abbildung 2a zeigt schematisch die Anlage des Kausalverhältnisses mit einigen inhaltlichen Angaben, in Gegenüberstellung zur Situation, wie sie in Abbildung 2b gezeigt ist, wo es um die Untersuchung von Einflüssen und Zusammenhängen aus Interesse am musikali-schen Lernen geht.

Abbildung 3a: Musik und musikalisches Lernen als unabhängige Variable, d.h. als Ursache von verschiedensten, zumeist erwünschten Outcomes.

Abbildung 3b: Musiklernen als Untersuchungsge-genstand, Erforschung der Variablen, die damit zu-sammenhängen.

Musik / Musikernen als UV

AV‘s, zum Beispiel

SozialverhaltenLesefähigkeitKreativitätLeistungssteigerungIntelligenzsteigerungSchmerzreduktionEtc. etc.

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Obwohl wie gesagt die Forschungsaktivitäten zum Typ 1 höher sind und prominenter zur Darstellung kommen, wenden wir uns jetzt ausschliesslich dem Forschungsfeld zu, das sich genuin mit dem Musiklernen befasst, mit Forschung zur Frage, an welchen Gegenständen das musikalische Lernen festzumachen ist, wie es funktioniert, welchen Einflüssen und Randbe-dingungen es unterliegt usw. Es geht um das Lernen von Musik, nicht durch Musik. 3.3 Formale und inhaltliche Strukturierung des Forschungsfeldes Eine formale Strukturierung des Forschungsfeldes sei anhand der Unterteilung in die drei Be-reiche (1) „Was?“, d.h.: welcher musikalische Bereich, welche musikalischen Fähigkeiten und Funktionen? (2) Wie?, d.h. Forschung über die Art und Weise und die Mittel des musikali-schen Lernprozesses, und (3) Wer?, d.h.: welche Personen(-gruppen) stehen im Fokus? vor-genommen. Die Darstellung ist summarisch, sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und macht nur vereinzelt Hinweise auf dahinter stehende Studien oder Forscherpersönlich-keiten und –teams, weil es kein vernünftiges Kriterium zur Auswahl oder zum Setzen von Grenzen gibt. Im Bereich 1 finden sich die Inhalte

Absolutes Gehör als etabliertes Forschungsgebiet, welches bereits die frühesten Musikpsychologen, etwa Ernst Kurth, eröffnet haben. Die Auffassungen über die Bedeutung des absoluten Gehörs für das musikalische Lernen oder über dessen Trainierbarkeit sind kontrovers und haben sich im Laufe der Zeit geändert.

Ausprägungen der musikalische Wahrnehmung, traditionell besonders als Fähigkeitstests über die Wahrnehmungsgenauigkeit von Tonhöhen, Erkennen von Harmonien, Lautstärke, Rhythmen und Klangfarben etabliert.

Musikalisches Gedächtnis und Abruf als neuerer, aber gut abgestützter Forschungsbereich, mit guter Verankerung in der kognitiven Psychologie und guten methodischen Anlagen.

Musikalische Repräsentation als ebenfalls breit bekannter Gegenstand, ursprünglich in philosophisch ausgerichteten Abhandlungen (z.B. bei Susanne Langer)

Pränatales Musiklernen und das Phänomen des frühen Auftretens des Hörens in der Ontogenese

Instrumentallernen als bedeutendes, eigenständiges Feld für eine grosse Anzahl ausgewählter Instru-mente

Singen, ebenfalls als sehr grosser eigenständiger und Forschungsgegenstand mit vielen Teilaspekten (wie Liedgut, Stimme, Stimmlagen etc.)

Musikalische Expertise, ein Forschungsgebiet, das grossen Einfluss über die Musikpsychologie und –pädagogik hinaus gewonnen hat

Motorik, häufig im Zusammenhang mit dem Instrumentallernen ebenso wie dem Singen, aber auch mit einer gewissen Eigenständigkeit

Literalität, die Diskussion um die Lese- und Schreibfähigkeit im musikalischen Bereich, wobei das Sight-reading oder Vom-Blatt-Lesen empirisch besonders intensiv beforscht wird, z.T im Zusammen-hang mit der Thematik der musikalischen Expertise.

Üben, u.a. viel diskutiert und der musikalischen Begabung gegenübergestellt im Rahmen der Theorie der deliberate practice

Auftritt, Music Performance, als Lerngegenstand mit hoher Aktualität. Es finden sich z.Zt. auffallend viele Publikationen in den führenden musikpsychologischen und –pädagogischen Zeitschriften zu die-sem Thema.

Musikalisches Lernen als Gegenstand im Verlauf der Evolution, seit einigen Jahren Gegenstand des Fachgebiets der Biomusicology.

Während die Inhalte des ersten Bereichs überwiegend zur Musikpsychologie gehören oder sogar ihre Kerngebiete betreffen,19 fallen die Fragen zum „Wie“ des musikalischen Lernens, zu der Art und Weise und den Mitteln des musikalischen Lernprozesses, typischerweise ins

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Feld der musikpädagogischen oder –didaktischen Forschung. Für Bereich 2 seien folgende Inhalte aufgelistet:

Arten des Lernens, z.B. Lernen durch Einsicht, durch Versuch und Irrtum, aber auch z.B. autodidakti-sches Lernen, Lernen in Gruppen u.ä.

die Art, die Qualität, die Prozesse in der Lehrer-Schüler-Beziehung

Medial unterstütztes oder vermitteltes Lernen, auch die Rolle und der Einfluss der Medien auf den musikalischen Lernprozess

Didaktische Modelle oder Didaktiken und Lehrgänge für Gesang und Instrumentalspiel, verschiedenste Materialien zur Anregung oder Unterstützung musikalischen Lernens

besondere Techniken, z.B. Atemtechniken, mentales Üben

Unterrichtsformen, Sozialformen des Unterrichts, z.B. Gruppenunterricht

Lernen in verschiedenen Musiktraditionen (z.B. Klassik vs. Jazz) oder Musizierformen (z.B. Improvisieren)

Neuronale Prozesse (z.B. hirngerechtes Lernen)

Die Bedeutung des Fehlers und des Fehlermachens beim musikalischen Lernen

Im Bereich 3, welcher Forschung mit Fragen über die Musiklernenden bzw. unterschiedli-chen Gruppen von Personen umfasst („Wer?“), finden sich folgende Typen, manchmal auch miteinander kombiniert: • Cultural studies

• Gender studies

• Studien über Repräsentanten unterschiedlicher Musikstile (z.B. Klassik vs. Jazz)

• Studien zum Vergleich von Laienmusikern mit professionellen Musiker/innen

oder

• verschiedener Instrumentalist/innen, z.B. Geiger/innen und Pianist/innen

• Altersgruppen

• Schulstufen inklusive Vorschul- und Kindergartenstufe

oder mit Fokus auf

• Eltern und Kind, Familie, besonders Mutter und Kind

• das ungeborene Kind

• Minderheiten, z.B. Behinderte

• Lehrpersonen

• Schüler/innen

Die Forschungsaktivitäten im musikalischen Bereich haben insgesamt in den letzten Jahren sehr zugenommen, auch für das musikalische Lernen. In einigen Forschungsfeldern haben musikbezogene Forschungen sogar eine trend-setting Rolle eingenommen. Dies gilt etwa für die Theorie der „deliberate practice“, wie sie ursprünglich von der Forschergruppe um K. An-ders Ericsson entwickelt und empirisch fundiert wurde (Ericsson, Krampe & Tesch-Römer, 1993). Die Auslegung und Darstellung dieser Untersuchungsergebnisse haben die Diskussion über das Begabungskonzept entscheidend belebt und die Auffassungen über das Verhältnis von Fähigkeit und Lernprozess fundamental erschüttert.20 Eine vergleichbar hohe Bedeutung, und mit ersterem in Zusammenhang stehend, haben Untersuchungen zur musikalischen Ex-pertise erlangt. Auch sie hat weit über den musikalischen Bereich hinaus Massstäbe gesetzt und Studien angeregt. Ebenso einflussreich sind, wie bereits angetönt, die Forschungen im

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neuronalen Bereich. Hirnforscher sind seit längerem an der musikalischen Wahrnehmung und deren Verarbeitung im Gehirn höchst interessiert, weil sich damit wesentliche Fragen, u.a. über die Plastizität des Gehirns oder die Stimulierung, Genese und der Einfluss von Emotio-nen, sehr gut untersuchen lassen. Dabei ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass hier der Mu-sik und dem musikalischen Lernen lediglich die Rolle der unabhängigen Variable zukommt. In anderen Bereichen ist die musikbezogene Forschung jedoch behind the game.21 So hat die Genderforschung vergleichsweise spät eingesetzt und nur spärlich Studien produziert oder sind auf der Ebene des Unterrichtens Untersuchungen bzw. Implementationen von Lernfor-men, die vom traditionellen dyadischen Lehrer-Schüler-Verhältnis abweichen, nur zögerlich aufgenommen worden. Überhaupt ist die Rezeption lernpsychologischer und unterrichtswis-senschaftlicher Ergebnisse auf musikpädagogischer und –didaktischer Seite gering. 4 Musikalisches Lernen und seine musikalischen Outcomes 4.1 Musikalische Performanz und musikalisches Selbstkonzept Wenn es nun dem aufgelisteten Programm der Perspektiven entlang als nächstes um die Iden-tifikation musikbezogener Outcomes musikalischen Lernens geht, dann soll vorerst das Of-fensichtlichste aufgegriffen werden: Musikalisches Lernen hat mit dem Erwerb musikalischer Fähigkeiten, mit dem Aufbau musikalischen Wissens und Könnens zu tun. Falls man dies als den Erwerb musikalischer Kompetenzen bezeichnen will, möchte ich mit Kanning (2003) zwischen Kompetenz (1) als potenziellem Verhalten und (2) tatsächlich gezeigtem Verhalten unterscheiden. Letzteres würden wir dann als Performanz bezeichnen. Auch die Musikpäda-gogen Johannes Bähr et al. (2003) halten fest, dass musikalische Kompetenz als Tiefenstruk-tur verstanden werden muss und als solche nicht sichtbar ist. Sie ist dem direkt beobachtbaren musikalischen Verhalten, der manifesten musikalischen Leistung, die mit dem erlernten Mu-sikalischen einhergeht, gegenüberzustellen. Dabei ist der Begriff der Performanz nicht zu verwechseln mit dem verwandten Begriff der performance, wie er im englischen Sprach-gebrauch u.a. als Bezeichnung für das Auftreten und Konzertieren verwendet wird. Die musi-kalische Performanz bildet einen Teilbereich aller Performanzen einer Person. Musikalisches Wissen und Können als Performanz sei nun mit dem musikalischen Selbstkon-zept in Zusammenhang gebracht. Man kann sich dann vorstellen, dass musikalische Leistung und musikalisches Selbstkonzept miteinander in Beziehung stehen und beide auf der dahinter liegenden musikalischen Kompetenz als Ergebnis des musikalischen Lernens aufbauen. Unter dem Titel „Musikbezogenes und persönliches Selbstkonzept – Einzelergebnisse einer Studie über Musiker mit medizinischen Problemen“ hat Gabriele Hofmann (2000) im deutschen Sprachraum erstmals explizite über musikalische Selbstkonzepte geforscht. Gut erforscht sind weiter die Selbstkonzepte von Studierenden der Musikpädagogik sowie von Musiklehrperso-nen. Musikalische Selbstkonzepte sind, aus der bisherigen Forschung zu schliessen, nur bei angehenden oder professionell tätigen Musiker/innen von Interesse oder wurden möglicher-weise bisher nur bei solchen angenommen. Vor dem Hintergrund des zeichentheoretischen Ansatzes musikalischen Lernens (vgl. oben, Spychiger 1995) ist jedoch von einem musikbe-zogenen Bereich des Selbstkonzeptes bei allen Menschen auszugehen. Nimmt man mit Shavelson, Hubner & Stanton (1976) eine Hierarchisierung der Selbstwertbereiche vor und unterscheidet zwischen akademischem und nicht-akademischem Selbstkonzept (vgl. Abbil-dung 4), folgt aus den bisherigen Auffassungen die Annahme, dass das musikalische Selbst-konzept eine Subarea des akademischen Selbstkonzeptes ist.

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Abbildung 4: Bereichsspezifische und hierarchische Struktur des Selbstkonzeptes. Nach Shavel- son, Hubner und Stanton, 1976 (Fig. 16.1, S. 413).

Allerdings tritt das Musikalische im Modell von Shavelson et al. nicht auf. Ausgehend von meiner eigenen Behauptung, das Musikalische sei ein Selbstkonzeptbereich aller Menschen, kann man sich deshalb unbefangen fragen, wo es im vorliegenden Model allenfalls zu lokali-sieren wäre. Man kann sich weiter vorstellen, dass professionelle Musiker/innen ihr musikali-sches Selbstkonzept als Subarea des akademischen Selbstkonzeptes verstehen, wogegen bei Nicht-Professionellen das Musikalische möglicherweise eher Bestandteil des sozialen Selbst-konzeptes ist, z.B. via Identifikation mit einem Musikstil, der für die eigene Bezugsgruppe oder gesellschaftliche Klasse typisch ist. Es könnte auch zum emotionalen Selbstkonzept ge-hören, weil Musik mit vielen emotionalen Wirkungen und Erlebnissen verbunden ist, oder würde, nochmals anders, im Falle von Menschen, bei denen etwa der rhythmische Aspekt des Musikalischen wichtig ist, auch gut zum physischen Selbstkonzept passen. Beiden Gruppen, Laien und Professionellen, bliebe gemeinsam, dass es das musikalische Lernen ist, welches via musikalische Kompetenz und Performanz zu einer Erhöhung und Differenzierung des musikalischen Selbstkonzeptes führt. Es folgt schliesslich die sehr wichtige Implikation, dass die Ausbildung des musikalischen Selbstkonzeptes und der musikalischen Performanz in Wechselwirkung stehen. 4.2 Musikalisch vermittelte Erkenntnis:

Zur These der epistemischen Valenz des Musikalischen Die entscheidenden interaktiven Prozesse menschlichen Lernens und Werdens im Sinne der sogenannten höheren Geistesprozessen beruhen nicht nur, wie von den einschlägigen Theoretikern zumeist implizite oder explizite vorgestellt, auf sprachlicher Interaktion und Kommunikation. Nicht-sprachliche Prozesse, darunter die musikalischen, spielen ebenso eine Rolle. Denken und Erkenntnis ereignet sich in verschiedenen Zeichensystemen, Wissen und

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Gedächtnis existiert auch in nicht-sprachlichen Formen. Die Annahmen über diese Art musi-kalischer Qualitäten seien hier als These der epistemischen Valenz des Musikalischen be-zeichnet.22 In der Audiation hat musikalisches Denken seine eigenen Grundlagen (wie vorne bereits erläutert, vgl. Gordon, 2003; Gruhn, 1998), musikalisch vermittelte Erkenntnis ihre eigenen Strukturen. Es ist ein hoch interessantes Phänomen, dass aus kulturgeschichtlicher Perspektive seit der Antike Erkenntnis mit dem Sehsinn, dem Sehen und dem Licht in Verbindung gebracht (vgl. Spychiger, 1995, S. 134f.) bzw. metaphorisch besetzt wird (Herzog, 2002, S. 14); ebenso wer-den die Prozesse des Erkennens und Verstehens und des Geistigen insgesamt gerne zusam-men mit dem Zeichensystem Sprache verbunden oder sogar in einen Bedingungszusammen-hang gesetzt. Dem Hören, dem Schall und der Musik werden dagegen vergleichsweise kaum epistemische Funktionen zugesprochen, vielmehr führen die traditionellen metaphorischen ebenso wie die philosophischen Zuweisungen in die Bereiche des Emotionalen und des Aus-drucksverhaltens. Auch wenn es in keiner Weise darum geht, Musik und Sprache einander gleich zu machen (das Gegenteil ist der Fall, es sind zwei unterschiedliche Zeichensysteme), kann man gegebenenfalls doch mit guten Gründen gegen ihre Auftrennung, Dichotomisierung und vor allem gegen ihre Hierarchisierung – epistemische Valenz für Sprache vorhanden / für Musik nicht, Kognition/Sprache hierarchisch höher als Emotion/Musik, Erkenntnisprozesse höher als Ausdrucksprozesse etc. – antreten und dabei geltend machen, dass das Musikalische ebenso epistemische Valenz aufweist wie das Sprachliche. Wenn menschliche kognitive Ent-wicklung, oder umfassender, die Identitätsentwicklung vor dem Hintergrund konstruktivisti-scher Vorstellungen über Entwicklung und Lernen entscheidend auf Handeln und Interaktion beruht, dann wird hier im Anschluss an die These der epistemischen Valenz des Musikali-schen behauptet, dass musikalisches Lernen genau in diesem Kontext allgemeiner kognitiver Entwicklung zu sehen ist.23 Auch in Donald Hodges’ soziologisch ausgerichteten Arbeit über die Funktionen der Musik (1989) findet sich ein Punkt, der das Musikalische als Form des Wissens anspricht: Hodges macht geltend, dass es zentrale Inhalte menschlicher Erfahrung und Existenz gibt, die im musikalischen Ausdruck eine ganz eigene Darstellung finden und auf diese Weise musikalisch, nicht sprachlich verstanden werden – z.B. Liebe, Schönheit, Triumph, Wahrheit, Treue u.a.m. Es bleibt noch, für die Aneignung von Wissensstrukturen im Sinne musikalischen epistemi-schen Lernens zwischen eigentlicher musikalischer Erkenntnis und aus dem Musikalischen abgeleiteter allgemeiner Erkenntnis zu unterscheiden. Zwar muss diese Trennlinie künstlich gesetzt werden, gerade bei professionellen Musiker/innen mag musikalische Erkenntnis und Welterkenntnis in engem Zusammenhang stehen. Trotzdem kann man sich vorstellen, dass musikalisch codierte Episteme den Charakter des Intuitiven oder der Ahnung haben. Dabei ist wichtig anzuerkennen, dass Erkenntnis nicht nur als solche zu bezeichnen und explizite hand-lungsleitend ist, wenn sie Eindeutigkeit hat oder wissenschaftlich gewonnen ist, sondern dass Menschen auch weniger „gesicherte“ Formen der Erkenntnis als solche empfinden und sich von ihr leiten lassen. In diesem Sinne unterscheidet Wolfram Hogrebe (1996) zwischen Ah-nung und Erkenntnis, gibt aber ausdrücklich beiden den Rang epistemischen Wissens, im ers-ten Fall als natürliche, im zweiten als wissenschaftliche Erkenntnis. Ahnungen haben nicht die Genauigkeit und Diskursfähigkeit von sprachbasierten und ausformulierten Erkenntnissen, wie sie etwa in der Logik produziert werden, sondern sind eher vage, unscharf, oft vorsprachlich, oft emotionsnah. Hogrebe schlägt dafür die Bezeichnung „epistemische Verfassung“ vor.24 Es sei in diesem Zusammenhang auch nochmals auf „Philosophy in a New Key“ zurück gegriffen, auf Susanne Langers Entwurf über den menschlichen Geist: Dieser verarbeitet bereits auf der Ebene des präsentativen Symbols Erfahrungen und artikuliert Verständnis. Nebst dem Musika-lischen gilt dies insbesondere auch für Bilder und Bewegungserfahrungen. Tatsächlich entste-

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hen heute sogar neue Disziplinen, die diese Bereiche zum Gegenstand haben, weil die beste-henden sich schwer tun, solchen Erweiterungen einen angemessenen Platz einzuräumen.25 4.3 Musikalische Identität Angesichts der Breite in der Bedeutung des Musikalischen im menschlichen Leben (vgl. dazu weiter hinten, Abschnitt 5.1 und 5.2) kann man aus pädagogisch-psychologischer Sicht von der Entwicklung oder Konstruktion musikalischer Identität sprechen.26 Das Phänomen kann hier lediglich angedacht werden: Musikalische Identität, oder wie Erik Erikson es noch gesagt hat, das Gefühl der musikalischen Identität,27 entsteht in der Interaktion mit andern und im Kontext der eine Person umgebende Musikkultur in einem lebenslangen Konstruktionsprozess. Entspre-chend ist musikalische Identität – vielleicht – ein Gefühl der Kontinuität in der Auseinander-setzung mit Musikalischem, vorgestellt als fester Bestandteil der audiativen und interaktiven Prozesse, in welche eine Person innerlich und äusserlich involviert ist. Es gilt auch hier nochmals, zwischen musikalischer Identität als abhängiger oder aber als un-abhängiger Variable zu unterscheiden. Wenn North & Hargreaves (1999) von der Bedeutung des Musikalischen für die Ausbildung der Identität in der Adoleszenz sprechen, im Speziellen den Präferenzen für Musikstile, und dazu interessante Untersuchungen vorlegen, dann figu-riert das Musikalische hier wieder als unabhängige Variable; ihre Rolle ist die des Einflusses auf die allgemeine Identitätsentwicklung, oder wie es die Autoren in diesem Falle ausdrücken, eines „badge of identity“. Als abhängige Variable ist das Musikalische definierter, es ist eine Identitätskomponente, die sich als Folge musikalischen Lernens und musikalischer Kompe-tenz einstellt. Diese Perspektive impliziert einen musikalischen Bildungsanspruch: Ein allfäl-liger Zusammenhang zwischen Musik und (allgemeiner) Identität ist dann nicht ein direkter, sondern ein über das musikalische Lernen und den Aufbau eines musikalischen Selbstkon-zeptes vermittelter Zusammenhang. Die in Abschnitt 5.2 vorgestellte Geschichte der 87-jähri-gen Martha Aschwanden kann aus diesem Blickwinkel als Beispiel für Identitätsgewinn in-folge musikalischen Lernens verstanden werden. 5 Lebenslanges musikalisches Lernen 5.1 Anlage der Studie „Musikalische Biografien von Nicht-Musiker/innen“ Viele Aspekte des Musiklernens und der damit einhergehenden musikalischen Entwicklung könnten vertieft werden. An dieser Stelle soll abschliessend nur gerade noch die Perspektive des lebenslangen musikalischen Lernens differenziert werden. In einer eigenen Studie, die unter dem Titel „Musikalische Biografie“28 im Sommer 2003 angelaufen und noch nicht abgeschlossen ist, wird in vielfältiger Weise deutlich, dass das musikalische Lernen in hohem Masse Gegenstand lebenslangen Lernens ist. Eine Anzahl Personen, mehr oder weniger zu-fällig über Lebensspanne, sozio-ökonomischer Status, Lebensraum und weiteren Variablen verteilt, wurde ausführlich über ihr musikalisches Leben befragt. Den Befragten war lediglich gemeinsam, dass sie keine spezifische musikalische Ausbildung durchlaufen hatten und im Voraus auch nicht angeben mussten, ob sie musikalisch aktiv sind, z.B. in einer Band spielen, einem Chor singen oder überhaupt je ein Instrument zu spielen gelernt haben.29 Die klassi-schen musikpsychologischen Forschungsthemen gaben einen guten Rahmen ab, um den Leit-faden aufzubauen; er enthielt Nachfragen über Musikgeschmack und –präferenzen, Hörge-wohnheiten, Mediengebrauch, die Erfahrung von und mit Musikwirkungen, weiter Selbstein-

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schätzungen zur musikalische Begabung, zum Verlauf der musikalischen Entwicklung und Aktivitäten, sowie einen ausführlichen Frageteil zu den Erfahrungen im schulischen Musik-unterricht und in ausserschulischen musikbezogenen pädagogischen Beziehungen. Es ist nicht die Absicht, die Ergebnisse dieser Studie hier umfassend darzustellen, aber ein ausgewähltes Beispiel, nämlich dasjenige der zum Zeitpunkt der Erhebung 87-jährigen Martha Aschwanden, wird aufzeigen, was lebenslanges musikalisches Lernen an Möglichkei-ten und Potenzialen aufweist. Weiter soll zur Sprache kommen, wie der eingangs dargestellte Matthäus-Effekt im Bereich musikalischen Lernens und musikalischer Entwicklung mögli-cherweise durch die erlebten Musikwirkungen beeinflusst und moderiert wird. Schliesslich wird noch die Idee des Musikalischen als Kapazitätsreserve aufgeworfen, dies nicht zuletzt, um die oft als unabdingbar vorgestellte Frühförderung zu relativieren und aufzuzeigen, dass zwischen Spezialistentum und musikalischer Förderung im Normalbereich unterschieden werden muss und für den zweiten Fall unter geeigneten Bedingungen die Frühförderung nicht zwingend ist. 5.2 Ein Beispiel: Martha Aschwanden, 87-jährig Martha Aschwanden gab ihr Interview in ihrem Zimmer im Altersheim, in welchem sie seit zweieinhalb Jahren wohnt, in der gleichen ländlichen Gegend wie sie aufgewachsen ist, später als Hausfrau und Mutter ihr Leben verbracht und jetzt, verwitwet, ins spätere Seniorenalter gekommen ist. Angefragt, ob sie bereit wäre, über ihren musikbezogenen Lebenslauf Aus-kunft zu geben, wehrte sie vorerst ab. Sie meinte, dass sie nur wenig gebildet sei und bezwei-felte, unseren Ansprüchen an ein solches Interview genügen zu können. Letztlich willigte sie aber gerne ein, die Vorbehalte waren in erster Linie Bekundungen ihrer Bescheidenheit. So konnte ich mit dieser 1916 geborenen, in den Schweizer Voralpen im bäuerlichen Milieu zu-sammen mit 9 Geschwistern aufgewachsene Frau ein höchst informatives und berührendes Gespräch führen. Frau Aschwanden berichtete, dass zuhause viel gesungen wurde, „man musste zum Teil auch“, sagte sie, der Vater befahl es manchmal, etwa wenn am Sonntag nach dem Mittagessen alle in der Küche waren. Man tat es eigentlich nicht immer gerne, man hat die eigene Stimme nicht so gerne gezeigt, aber es hat dann schon sehr schön getönt, bemerkte Frau Aschwanden, und entschuldigte sich, weil ihr Tränen in die Augen geschossen waren. In der Schule wurde auch viel gesungen, das tat sie gerne, ausser wenn man vorsingen musste, das war furchtbar. Das wurde sogar noch an der Klassenzusammenkunft vor sieben Jahren, als sie achtzig waren, gesagt, dass das furchtbar, Blut geschwitzt habe man da. Anderes als Singen hat man im Mu-sikunterricht nicht getan. Instrumente gab es wenige, zuhause stand ein Harmonium, eine Psalmenpumpe, wirft Frau Aschwanden verschmitzt-verschämt ein. Eine ihrer Schwestern durfte Stunden nehmen und spielen. Das Leben im Altersheim gefällt ihr sehr gut; sie kann hier vieles tun, was vorher nie möglich war, etwa Weben, Zeit nehmen für Körperpflege und auf einem Hometrainer täglich 20 Minuten Radfahren, ihr Zimmer sehr gepflegt halten, Patchworkdecken anfertigen und vieles mehr. Das Schönste aber sei die Zitherstunde. Zither-stunde? Zu meinem Erstaunen erwähnt sie diese erst, als der Leitfaden die aktuellen musikali-schen Aktivitäten adressiert. Aber nun berichtete sie ausführlich, wie die Heimleiterin mit sechs Frauen eine Zithergruppe gründete, jedes Mitglied erhielt ein Instrument und seither spielen sie jede Woche an einem Vormittag miteinander und lernen. Frau Aschwanden übt jeden Tag. Die Gruppe spielt Volkslieder und hat auch schon vor der ganzen Altersheimge-sellschaft an einem Sonntag gespielt.

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Es wäre alles andere als Frau Aschwandens Art, mit ihrer Spezialität anzugeben. Sie spiele ja erst ein Jahr jetzt, und sicher noch nicht so gut; und die Gruppe müsse jetzt sehr üben, weil sie am Jubiläum zum 25-jährigen Bestehen des Altersheims vor all den geladenen Gästen spielen wollen, berichtete die Probandin zum Schluss. Es war ein Ereignis der besonderen Art, ins Altersheim zurück zu gehen und der Zithergruppe zuzuhören, als sie für das Jubiläum eine Zusatzstunde übte. Das Zuhören war das eine, und es tönte wirklich gut, auch ohne Anklang zu therapeutischem Spielen. Ebenso eindrücklich war es aber, die Gruppe zu sehen – sechs alte Frauen, die Leiterin auch nicht mehr jung, sassen als geschlossene Gruppe um einen quadratischen Tisch herum, jede die Zither vor sich, in höchster Konzentration und im Spiel völlig miteinander synchronisiert. Es war das Ergebnis eines Jahrs musikalischen Lernens auf der Zither in hohem Alter. Das Beispiel zeigt eindringlich, dass unter guten – aber durchaus normalen – Bedingungen der Erwerb musikalischer Kompetenzen wohl zu jeder Zeit im Lebenslauf noch möglich ist.30 5.3 Zur Hypothese der Musikwirkungen als moderierende Variable im Matthäus-Effekt Wenn im ersten Kapitel die Bedeutung des frühen Musiklernens angesprochen und mit dem Matthäus-Effekt in Zusammenhang gebracht wurde, kann jetzt nachgetragen werden, dass das durch das Milieu Gewonnene oder Verlorene nicht absolut aufzufassen ist, jedenfalls nicht im Bereich nicht-professioneller Musikpraxis. Anhand der Auswertungen der biografischen In-terviews im Rahmen der obgenannten Studie konnte anhand eines Kategoriensystems eine Variable von hoher Bedeutsamkeit ausgemacht werden: die Erfahrung von Musikwirkungen. Von den insgesamt 35 emergenten Kategorien erwies sie sich als die am höchsten besetzte, will heissen, die befragten Personen kamen insgesamt am häufigsten auf diesen Aspekt in ihrem musikbezogenen Leben zu sprechen.31 Zusammen mit den Fallanalysen, darunter besonders auch das Beispiel von Martha Aschwanden, führte uns dieses Ergebnis zur Gene-rierung der Hypothese,32 dass auf motivationaler Ebene die erlebten Musikwirkungen eine erhebliche Rolle spielen dürften. Wer bei seinen musikalischen Aktivitäten erwünschte Wir-kungen wie positive Emotionen, Anregung, Beruhigung usw. sowie – gemäss der These der epistemischen Valenz des Musikalischen – Verstehen und Einsichten erlebt, wird nach dem bewährten Lerngesetz der Wiederholung erfolgreicher Handlungen die entsprechenden musi-kalischen Handlungen zu wiederholen und zu optimieren versuchen.

Abbildung 5: Theoretisches Modell über Einflussgrössen auf die aktuelle musikalische Erfah-

rung. Ergebnisse aus der Studie Wysser, Hofer, Spychiger und Studierende, 2005.

Aktuelles Milieu, jetzige Lebenssituation

Allg

emei

ne B

efin

dlic

hkei

t, E

insc

hätz

ung

Lebe

nser

folg

gegenwärtige musikalische Aktivität

Motivation für musikalische Aktivität

Musikalische Erfahrung aus Familie und Schule(Milieueinfluss)

1

3

gegenwärtige musikalische Befindlichkeit,

musikbezogenerLebenserfolg

(gemessener „Saldo“)

Qualität und Ausmass der erlebten Musikwirkungen

2 4

aktueller Erfolg, ob subjektiv oder

objektiv, und Zufriedenheit mit

dem Lebensbereich Musik

1

Aktueller Erfolg im und

Zufriedenheit mit dem

Lebensbereich Musik

2

3

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Das Modell enthält (wie in Abschnitt 1.2 ausführlicher erläutert) die drei Faktoren „aktuelle (Bildungs-) Motivation“, „gegenwärtige (Bildungs-) Aktivität“ und „Milieueinfluss“, wie Walberg & Tsai sie aus ihrer Studie als Prädiktoren für den „aktuellen Bildungserfolg“ ablei-teten. Sie gelten in unserem Modell genau gleich für den musikalischen Bildungserfolg, wo-bei wir diesen etwas allgemeiner auch als Zufriedenheit oder Bedeutsamkeit im musikali-schen Lebensbereich fassen und auf Seiten der Einflussfaktoren nun zusätzlich die aufgefun-dene Variable der Musikwirkungen einführen. Dieses Zusammenhangsgefüge betten wir schliesslich noch in eine Klammer ein, die den Einflussfaktoren das gegenwärtige Milieu, die aktuelle Lebenssituation voranstellt, eben weil nicht nur die Vergangenheit eine Rolle spielt, sondern auch die Gegenwart. Aufseiten der Outcomes denken wir an die allgemeine Befind-lichkeit, den allgemeinen Lebenserfolg, als dem musikalischen Lebenserfolg nachgestellt. Damit erhält das Modell neben der lernpsychologischen auch eine deutlicher biografisch-ent-wicklungspsychologische Ausrichtung. 5.4 Das Musikalische als Kapazitätsreserve Das Beispiel von Martha Aschwanden regt aus der Perspektive der lebenslangen Entwicklung noch zu weiteren Überlegungen an. Wenn man sich in Anlehnung an Paul Baltes’ Konzept den Lebenslauf als evolutives Geschehen in einem sich ständig neu mischenden Verhältnis von Gewinnen und Verlusten vorstellt (Baltes, 1990), dann kann aus psychologischer ebenso wie aus pädagogischer Sicht die Position aufgebaut werden, dass Musiklernen und Musizieren als aktive Massnahme zur Vermehrung oder Erhaltung von Gewinnen bzw. zur Kompensation von Verlusten taugt. Baltes’ Modell impliziert nicht nur, dass Entwicklung ein ständiges Ba-lancieren von Gewinnen und Verlusten ist, sondern in der Ontogenese auch eine Richtung hat, nämlich diejenige der zunehmenden Verluste. Empirisch ist diese Hypothese leicht zu stützen, das Älterwerden geht mit dem Abbau körperlicher Kräfte und insbesondere mit Verlusten in den Beziehungen einher. Das Gemeinte hat Baltes wie hier in Abbildung 6 grafisch darge-stellt. Der Vermerk „M“ und seine Position auf der rechten Seite des Bildes, d.h. im fortge-schrittenen Alter im Lebenslauf, verweist nun auf die Idee, dass die Kompensation von Ver-lusten durch musikalische Aktivitäten insbesondere im Alter, bei zunehmenden Verlusten also, bedeutsam werden kann.

M

Abbildung 6: Lebenslange Entwicklung als Balancierung von Gewinnen und Verlusten: Veränderung der Proportionen im Laufe des Lebens, nach Baltes (1990,

S. 9; „M“ für Musik eingefügt durch M.S).

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Es ist ebenfalls die Forschergruppe um Paul Baltes, die im Umfeld ihrer Arbeiten zum Erfolg-reichen Altern ein Konzept entwickelt haben, welches das Phänomen der Kapazitätsreserve (Baltes & Baltes, 1989) anspricht. Kapazitätsreserven sind Leistungspotenziale, die bisher wenig oder gar nicht genutzt, aber entwicklungsfähig sind. Musikalische Aktivitäten, seien sie ausführend (ein Instrument spielen, in einem Chor singen, ev. sogar komponieren etc.) oder rezipierend (an der Musikkultur teilnehmen, Musikwerke hören) zu erhöhen oder überhaupt erst aufzunehmen stehen dann wie oben bereits ausgedrückt als Möglichkeit der Erschliessung und Nutzung einer solchen Kapazitätsreserve.33 Sie ist sicherlich nicht in allen Personen glei-chermassen vorhanden, das Ausmass und die Häufigkeit dürfte aber überraschend hoch sein. Baltes selber hat im Rahmen seines Modells der Entwicklung über die Lebensspanne als stän-diger Balancierungsakt von Gewinnen und Verlusten klar gestellt, dass auch die Zugänglich-keit zu diesen Adaptations- und Kompensationsfähigkeiten im Verlaufe des Älterwerdens ab-nimmt. Tatsächlich trifft dies für viele Fähigkeitsbereiche und Aktivitäten zu. Für das Musi-kalische kann in Anspruch genommen werden, dass es gegenüber Alterseinschränkungen ver-gleichsweise robust ist. Das Beispiel der 87-jährigen Martha Aschwanden ist bereits ein ein-drücklicher Einzelfall, welcher auf die auch im hohen Seniorenalter noch offen stehenden Möglichkeiten musikalischen Lernens verweist.34 Mit diesem Blick auf einen individuellen Verlauf und mit dem Versuch, ihn ein Stück weit nachzuzeichnen und nachzuvollziehen, soll der Reigen der Perspektiven musikalischen Ler-nens abgeschlossen sein. Allerdings nur für die Länge dieses Aufsatzes, weitere Analysen und empirische Forschungen sollen das Dargestellte kritisch überprüfen und womöglich weitere Perspektiven eröffnen, deren Potenzial wiederum zu erschliessen sein wird. Es schliesst sich damit auch noch einmal der Kreis des musikalischen Lernens, in welchem sich die Diszipli-nen der Psychologie und der Pädagogik ebenso wie die Bereiche der Entwicklung und des Lernens begegnen oder sogar verbinden (vgl. dazu Herzog, 2005).

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Anmerkungen: 1 Im anglo-amerikanischen Raum haben sich für die Unterscheidung von organisiertem und spontanem Lernen die nicht ganz deckungsgleichen Bezeichnungen „formal“ und „informal“ learning etabliert. 2 Das Gleichnis steht im Neuen Testament der Bibel, Matthäus 25, 14-30. Es erzählt von einem Gutsherr, der sein Vermögen auf ungleiche Weise drei Dienern anvertraute, nämlich dem ersten einen grossen, dem zweiten einen mittleren und dem dritten einen kleinen Teil. Im Laufe der Zeit gelang es dem ersten Diener, seinen Teil zu vervielfachen, auch beim zweiten kam es zu einer – zwar weniger ausgeprägten – Vermehrung, während der dritte ängstlich seinen Teil vergrub, um ihn sicher zu bewahren. Die Jahre später erfolgende Abrechnung mit dem Gutsherr, einem ‚harter Mann’, ging dahin, dass dieser dem Untüchtigen sein kleines Vermögen wegnahm und zu demjenigen des erfolgreichsten Dieners schlug. Die Kernaussage der Geschichte steht in Vers 29, beson-ders oft gehört in den Worten von Luther’s Übersetzung: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden“. Bereits weniger bekannt ist der Nachsatz „…und er wird die Fülle haben. Wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ 3 Hier hatte Jacoby einen negativ konnotierten Erziehungsbegriff im Sinn, Erziehen als Korrigieren und Inter-venieren in der Form des damals noch verbreiteten autokratischen Erziehungsstils. 4 Für Literalität, engl. literacy, gibt es z.Zt. viele Möglichkeiten und Arten der Klassifikation, nebst der Eintei-lung in verschiedene Bereiche wie den Sprachlichen oder Numerischen auch unterschiedliche Ausprägungsgrade (vgl. Blake & Blake, 2005, Kap. 1). Vor dem Hintergrund des zeichentheoretischen Ansatzes erscheint es sinn-voll, Bereiche der Literalität entlang der Zeichensysteme wahrzunehmen, nebst dem sprachlich-linguistischen Bereich (Schrift-Sprache) und dem logisch-mathematischen (numerische Schriftzeichen) auch den visuell-räum-lichen (hier ist die Notation in Form von Bildern und Objekten am ältesten), den kinästhetischen (hier ist die Notation noch wenig entwickelt und kaum überindividuell formalisiert, z.B. verwenden Choreografen je ihre eigenen Notationssysteme) sowie den musikalischen (musikalische Notation, „Notenschrift“). Vgl. dazu auch Spychiger, 1995, Kap. 4.1 und 6.1.2.

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5 Dabei scheint mir, wie bereits aus Anmerkung 4 hervorgeht, die verbreitete Beschränkung der Bedeutung und des Verständnisses von Schriftlichkeit als Verschriftlichung von Sprache unhaltbar (für Ausführungen vgl. Spy-chiger, 2003, S. 3; Spychiger, 1995, Anmerkung 54, S. 103). Sehr deutlich manifestiert sich die Beschränkung von Schriftlichkeit als verschriftlichte Sprache im Umstand, dass den Historikern die Erfindung der Schrift als Demarkationslinie zur Einteilung der Zeit in „historische“ und „prähistorische“ dient. Dagegen ist geltend zu machen, dass die Bilder der sog. oralen Kulturen auch bereits Symbolcharakter haben und auch als externale Ge-dächtnisse fungieren. Von den Majas weiss man, dass sie ein System von Knoten hatten, die sie in Seile banden, und damit Nachrichten hinterliessen. Schon die Herstellung von Objekten und Instrumenten ist eine Art Schrift-lichkeit, sie sind ebenfalls externale Träger von Wissen und Kultur und haben oft nicht nur Gebrauchs-, sondern auch Symbolcharakter. Musikinstrumente nehmen darunter eine höchst interessante Position ein: Nicht nur sind sie externale Gedächtnisse und Repräsentanten von Musikkultur, sondern auch eine Extension der menschlichen Stimme und Erweiterung der Möglichkeiten zur Schallerzeugung. 6 Es ist z.B. im Sinne von Susanne Langer zu bedenken, dass die Musik ihrem Wesen nach (nicht aber ihrer evolutionsgeschichtlichen Entwicklung nach! – vgl. dazu Spychiger, 2001c, S. 35f., auch Merker, 1999) ein „jüngeres“ Zeichensystem ist als die Sprache: Langer bezeichnet die Musik als „Mythos des inneren Lebens“, „ein jugendlicher, lebenskräftiger, bedeutungsvoller Mythos, (…) noch in einem Stadium ‚vegetativen’ Wachs-tums befindlich“ (1965, S. 240). Ohne den interpretierenden Musiker/innen zu nahe treten zu wollen, kann man doch sagen, dass die Rezeption und Wiedergabe von Schriftstücken in der Musik noch weitgehend den Charak-ter des Deklamierens hat, sei es als Solo oder in der Gemeinschaft, ähnlich wie dies in Kulturen, die an Texte nicht den Anspruch der Reflexion herantragen (z.B. in Koranschulen), auch noch mit verschriftlichter Sprache geschieht. 7 Zur Charakterisierung unserer Zeit, verbreitet als Post- oder Spätmoderne bezeichnet, wird gerne die Metapher „Keine grossen Erzählungen mehr“ verwendet, wenn es um die Diagnose der verbindlichen Inhalte und Normen geht. Es ist damit das Verschwinden grosser gesellschaftlicher Konventionen und Institutionen in der abendlän-dischen Kultur gemeint. In seiner Einleitung zu „Wege aus der Moderne“ verweist Wolfgang Welsch (1994, S. 12) auf den französischen Philosophen Jean-Francois Lyotard, der 1979 als erster vom „Ende der Meta-Erzäh-lungen“ sprach, um die Postmoderne zu beschreiben. Der Kontrast zur Moderne besteht darin, dass hier allge-mein geltende Leitideen bestanden, etwa die Emanzipation des Menschen in der Aufklärung, das Ideal der Gleichheit im Kommunismus, das Glück durch Reichtum im Kapitalismus usw. Wenn aber die Referenz auf eine grosse Rahmenerzählung wegfällt, dann können in der Folge viele kleine Erzählungen nebeneinander aufkom-men, alle mit ihren eigenen Ansprüchen an Geltungsbereiche und Möglichkeiten zur Umsetzung. Für den gesell-schaftlichen Bereich der Wissenschaft versinnbildlicht diese neue Situation etwa Paul Feyerabends Prämisse des „Anything goes“ (1976) für methodisches Vorgehen zur Generierung neuen Wissens. 8 Es ist das Konzept der Audiation, welches Gordons Theorie die grosse Bedeutung verschafft hat. Dagegen sind m.E. die sog. Lernsequenzen oder die didaktischen Elemente des Musiklernens, im Original rhythmic und melo-dic patterns genannt, auf welche in den Darstellungen von Gordons Theorie immer sehr viel Wert gelegt wird, nicht von besonderer Originalität. 9 „Audiation: hearing and understanding music without physical sound“. Zit. nach Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Bd. 7, Spalte 1356 (Beitrag von Almuth Tappert-Süberkrüb; vgl. auch den Beitrag der-selben Autorin in Diskussion Musikpädagogik, 2/99, S. 75-98). 10 Ausgedrückt in Jean Piagets Terminologie der kognitiven Entwicklung hat die Fähigkeit zur Audiation den Charakter des formal-operatorischen Stadiums, d.h. der Fähigkeit, in Möglichkeiten zu denken und im Geiste zu operieren. Das Erreichen dieses Stadiums ist in einer konstruktivistischen Auffassung des Musiklernens auch die Basis eines selbständig handelnden und urteilenden Umgangs mit Musik. 11 Für den semiotischen Aspekt des Modells hat sich Lang an einer triadischen Semiotik in der Tradition von Peirce und Morris orientiert bzw. diese für die Psychologie weiter entwickelt (Lang, 1993). Im Gegensatz zu einer dyadischen Semiotik (etwa in der Tradition von de Saussure) wird eine triadische Semiotik dem Umstand gerecht, dass Semiosen sich in der Zeit ereignen und ständig Veränderungen, im weitesten Sinne Evolutionen, herbeiführen. Lang bezeichnet seine Semiotik als „evolutiv“ oder „generativ“. Auf den Funktionskreis bezogen muss man sich das so vorstellen, dass die IntrO-Semiosen gleichermassen wie die ExtrO-Semiosen strukturbil-dend wirken. Diesen Vorgang erfasst Lang mit dem Begriff „Anaformation“. Im ersten Fall ereignet sich diese im Individuum und findet sich als mentale Repräsentationen oder Gedächtnis einer Person, im zweiten Fall in der Welt, als Kultur mit all ihren Manifestationen. 12 Erste Entwicklungen und Darstellungen des musikalischen semiotischen Funktionskreises finden sich in Spychiger, 1997 (Anmerkung 16); 2000; 2001b. Für eine Darstellung in umfassenderem Kontext vgl. Allesch & Krakauer, im Druck. 13 Angesprochen sind hier Ansätze musikalischen Lernens für den allgemeinbildenden Bereich, nicht für die Berufsausbildung.

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14 Frisius hat das Konzept der auditiven Wahrnehmungserziehung in seinen sehr berühmt gewordenen Unterrichtswerken („Sequenzen“) didaktisch umgesetzt. 15 Elliott entwickelte seine handlungsorientierte oder „praxial“ Philosophy of Music Education (vgl. Alperson, 1991) im Anschluss an die Arbeiten des kanadischen Musikphilosophen Francis Sparshott, der Musik als soziale Praxis neu definiert hatte, nämlich als etwas, „was Menschen tun“, („Music is something people do“, Sparshott, 1986). Sparshotts musikphilosophischer Beitrag findet sich in einem von Philip Alperson editierten Werk mit dem Titel „What Is Music“. Elliott hat den handlungsorientierten Ansatz anfänglich in Zusammenarbeit mit Alperson aufgebaut, in völliger Ignoranz der Entwicklungen in Europa, die da schon früher stattgefunden haben. 16 Im Aufsatz “Aesthetic and Praxial Philosophy of Music Education in Comparison: A Semiotic Consideration“ (Spychiger, 1997) habe ich aufgezeigt, dass die Positionen nie so gegensätzlich sind wie es auf den ersten Blick oder im Schulenstreit erscheinen mag. 17 Zum semiotischen Funktionskreis sei noch festgehalten, dass er als Modell des Person-Welt-Bezugs einfach und selbstverständlich aussieht. Dies ist aber mitnichten der Fall, die Sozialwissenschaften funktionieren nicht so, dass sie alle Stationen in ihrem Denken integriert haben. Gerade die Psychologie war über Jahrzehnte derart persönlichkeitsorientiert, dass der Anteil der „Welt“, die ExtrA-Seite des Modells also, fast gar nicht zur Sprache kam. Erst mit der Kontextwende und dem sozialen Konstruktivismus wurde die Bedeutung dieser „Seite“ zu-nehmend erkannt. In unserem Kontext ist sie genau das, was eingangs des Aufsatzes als Milieu behandelt wurde und jetzt also mit den Begriffen Kontext, Welt, oder Situation bezeichnet ist. Die Kontextwende hat sich, um es gerade noch einmal zu sagen, in vielen Wissenschaftlerköpfen nicht wirklich vollzogen. Die Interaktivität von Person und Welt als ständig ablaufendes, evolutives Geschehen ist in den Untersuchungsdesigns nur selten ge-nügend berücksichtigt. Es kompliziert ja auch unsere Forschung so sehr! 18 Zur Unterscheidung zwischen langfristigen und kurzfristigen Wirkungen von Musik und für eine umfassende Darstellung der methodischen Probleme bei Studien über die langfristigen Wirkungen von Musik und musikali-scher Aktivität vgl. Spychiger, 2001a. 19 Bei der Zusammenstellung der Themen für diesen ersten Bereich wird wiederum deutlich, dass die Gegen-stände der Lernforschung sich niemals scharf von denjenigen der Entwicklungsthematik trennen lassen. 20 Angesprochen ist die Publikation von Ericsson, Krampe & Tesch-Römer (1993), in welcher die erstaunlichen Ergebnisse zum Übeaufwand von Musikern der Weltklasse (im Vergleich zu „gewöhnlichen“ Berufsmusikern sowie Musiklehrern) vorgestellt und kommentiert werden. 21 Der Vortrag im Rahmen der Tagung der DGM (in Fussnote „i“ S. 1 erwähnt) hatte den Titel Musikalisches Lernen in der Vielfalt von Auffassungen und Forschungsbemühungen - Zukunftsweisend oder ‚Behind the Game‘?, womit die Frage nach der Situierung der musikbezogenen Lernforschung zum Aufhänger für die Dar-stellung des Forschungsfeldes gemacht wurde. 22 Eine ähnliche Terminologie habe ich bisher erst bei Walter Herzog (2002, S. 76, Hervorhebung M.S.) gefun-den; er erläutert die Qualitäten der Musik in Verbindung mit den Emotionen und verweist darauf, wie dies auch Cassirer und Goodman (auch Langer, Anm. M.S.) tun, dass Musik Emotionen nicht evoziert, sondern nur – und hier kommt die Terminologie – beim Hörer zum Aufbau epistemischer Schemata geführt hat, die Gefühlen ent-sprechen und den Hörer diese verstehen lassen. Diese Zusammenhänge habe ich selber an mehreren Stellen ausführlich besprochen, vgl. Spychiger, 1995; 1996). 23 Der theoretische Bezug ist die soziologisch-philosophische Kommunikations- und Entwicklungstheorie, wie sie im Anschluss an George H. Mead mit dem Begriff des Symbolischen Interaktionismus belegt wurde. Diese historische Anleihe will vorab auf die Beziehungs- und Kommunikationsdimension verweisen, in welche ich Lernen und Lehren überhaupt stelle, um dann im grossen Bogen zur heutigen Terminologie des sozialen Kon-struktivismus und zur Situationsbezogenheit zu kommen. 24 In Hogrebes Formulierung (1996, S. 10): „In Gefühlen existieren wir schon interpretiert und interpretierend zugleich, sind wir uns selbst, ist uns alles schon wortlos bedeutungsvoll. An diese vorsprachliche, existenziale Semantik gilt es in der Theorie natürlicher Erkenntnis Anschluss zu halten, denn wir beginnen schon zu erken-nen, wenn wir nur sind; dunkel zwar und impressiv, aber erstfündig und vorsprünglich“. 25 Als Beispiel sei etwa die visuelle Anthropologie genannt. Auch im Bereich der Schriftlichkeit entwickelt sich ständig noch Neues, z.B. Notationssysteme für Klangwelten, die mit der traditionellen Notenschrift nicht mehr aufgenommen werden können, oder sich etablierende Notationssysteme für die menschliche Bewegung. 26 Es lässt sich auch anhand dieser Begrifflichkeiten – Selbstkonzept und Identiät – eine Zuordnung zu den traditionellen Disziplinen machen: In der Psychologie wird sehr viel seltener als in der Pädagogik von Identität gesprochen. 27 Eriksons Darstellung von Identität „…als ein Gefühl der Identität, d.h. der Kontinuität und Einigkeit mit sich selber“ ist schon einige Jahrzehnte alt. Mehr empirisch ausgerichtete Forscher/innen haben in jüngerer Zeit die

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Eriksonsche Definition der Identität um die Komponente der „Selbstdefinitionen, die jene Ziele, Werte und Überzeugungen enthalten, die eine Person für sich als persönlich wichtig erachtet“ (Waterman, 1985, zit. nach Flammer & Alsaker, 2002, S. 157) ergänzt. Weitere Auseinandersetzungen setzen den Akzent nochmals etwas anders und fokussieren auf den Aspekt der ständigen Auseinandersetzung, etwa Lothar Krappmann (1969/2000), der Identität als anhaltende Integrationsaufgabe und als Problem definiert nämlich „das Problem, sich mit konfli-gierenden Identifikationen (von aussen, Anm. M.S.) in Interaktionen zu behaupten“ (a.a.O., S. 19). Ausserhalb der pädagogisch-psychologischen oder soziologischen Auseinandersetzungen ist in unserem Kulturkreis und der Generation, der ich zugehöre, für viele der Schriftsteller Max Frisch eine prägende Instanz des Identitätsthemas gewesen. Mit seinen Figuren – Stiller, Andri, Gantenbein, Faber und etlichen mehr – haben wir gelitten und gerungen und nie gedacht, dass Identität etwas sei, das mit eindeutigen Selbstdefinitionen oder gar Einigkeit mit sich selbst zu tun habe – nein, schon bei Frisch ist Identität immer verbunden mit Suche; Identität ist Arbeit, ist ein Konstruktionsprozess. 28 Der volle Titel der Studie lautet „Musikalische Biografie. Eine Studie zur Untersuchung der Einflüsse auf die Entwicklung des Musikalischen im Lebenslauf, unter besonderer Berücksichtigung des schulischen Musikunter-richtes“. Das Projekt wird finanziell von der Bernischen Lehrerinnen- und Lehrerbildung getragen und zu-sammen mit zwei Musikfachdidaktikern am Institut für Lehrerinnen- und Lehrerbildung Bern-Marzili durch-geführt. Zwei Gruppen von Studierenden sind unter dem Ansatz „Partizipierendes Forschen“ (Spychiger, Wysser & Hofer, in Vorb.) aktiv an der Durchführung der Untersuchungen beteiligt. 29 Tatsächlich hat sich die musikpsychologische Forschung bisher kaum mit den Lebensläufen von Nicht-Musi-ker/innen befasst, sondern vom traditionellen Feld der Musikerbiografien ausgehend mit professionellen Musi-ker/innen, Soloisten und/oder Lehrpersonen. Erste interessante Hinweise auf die reichhaltigen Informationen, die auch Nicht-Musiker/innen über ihr musikalisches Leben abgeben können, liegen bereits aus einer Untersuchung von Heiner Gembris (1997) vor. Seine Analyse erfolgte vor dem Hintergrund der Frage, welche generationen-spezifischen und zeitgeschichtlichen Einflüsse sich im Musikleben einer Kultur finden, in diesem Fall derjenigen Deutschlands. 30 Es ist an dieser Stelle nützlich, sich an David Hargreaves’ (2000) Unterscheidung von „generalists“ und „specialists“ zu orientieren. Selbstverständlich ist meine Darstellung auf die erste Kategorie und damit auf Laien bezogen; es geht nicht darum, zu behaupten, es könnte zu jedem Zeitpunkt im Leben noch musikalische Exzel-lenz erworben werden. Mit dieser Dimensionierung („specialist-generalist“) sowie einer weiteren, nämlich dem Ausmass der Kontrolle anhand der Pole „autonomy“ und „control“ ist Hargreaves ausserdem eine interessante Klassifikation für teaching methods in music education gelungen: In einer Vierfeldertafel lassen sich die Typen (1) traditional oder conservatory training (control/specialist), (2) ausgewählte Schulen wie Orff, Paynter oder Schafer (specialist/autonomy), (3) Avant-garde (autonomy/generalist) sowie (4) classroom curriculum (genera-list/control) einordnen (a.a.O., S. 148, Abbildung 6.1). 31 Die Methodik der Studie „Musikalische Biografie“ war überwiegend qualitativ ausgerichtet. Das explorative Vorgehen führte zur Entdeckung der Variable „Musikwirkungen“ als herausragende Grösse im musikalischen Leben Nicht-Professioneller und führte in Anlehnung an das Verfahren der Grounded Theory nach Glaser & Strauss (dt. 1998; für eine Kurzfassung vgl. Corbin, 2003) zur Erstellung des in Abbildung 5 gezeigten theoreti-schen Modells. 32 Zur Unterscheidung von Forschungsanlagen als hypothesentestend („context of justification“) oder aber hypo-thesengenerierend („context of discovery“) vgl. bereits Reichenbach, 1938. 33 Die Idee, das Beispiel von Martha Aschwanden und die Möglichkeit musikalischen Lernens im Alter mit Bal-tes Konzept der Kapazitätsreserve in Verbindung zu bringen, verdanke ich einem informellen Gespräch mit Heiner Gembris während der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie im September 2004 in Paderborn. 34 20 Monate nach Abschluss des Interviews kann berichtet werden, dass sich die Erfolgsgeschichte fortgesetzt hat. Die Gruppe besteht in gleicher Formation, hat bereits mehrere Auftritte in der Öffentlichkeit hinter sich und spielt demnächst wieder im Altersheim zu einem sehr besonderen Ereignis: Die Heimleiterin, die gleichzeitig auch die Zithergruppenleiterin ist, geht jetzt selber in Rente. Zum Abschied wird einiges aus dem unterdessen 102 Stücke umfassenden Repertoire sowie unter strenger Geheimhaltung etwas besonderes Neues gespielt, näm-lich ein Stück, das die scheidende Heimleiterin selber komponiert hat. Das berichtet Frau Aschwanden auf Nach-frage.

Fribourg (Schweiz), im September 2005


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