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perspektive21 - Heft 37

Date post: 05-Mar-2016
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Energie und Klima
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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 37 APRIL 2008 www.perspektive21.de MATTHIAS PLATZECK: Solidarität heute FRANK DECKER: Missbrauch oder Systemproblem? KLAUS NESS UND TOBIAS DÜRR: Bewegung statt Beharrung HANS JOACHIM SCHELLNHUBER: Global denken, in Brandenburg handeln FRANK-WALTER STEINMEIER: Frieden und Sicherheit statt Kampf um Öl DIETMAR WOIDKE: Wir leben nicht auf einer Insel MATTHIAS MACHNIG: Eine neue soziale Frage REINHARDT HASSA: Mit der Braunkohle in die Zukunft REINHARD HÜTTL: Wie funktioniert das System Erde-Mensch? WIE EINE STRATEGISCHE ENERGIEPOLITIK FÜR BRANDENBURG AUSSEHEN KANN Energie und Klima
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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 37 APRIL 2008 www.perspektive21.de

MATTHIAS PLATZECK: Solidarität heute

FRANK DECKER: Missbrauch oder Systemproblem?

KLAUS NESS UND TOBIAS DÜRR: Bewegung statt Beharrung

HANS JOACHIM SCHELLNHUBER: Global denken, in Brandenburg handeln

FRANK-WALTER STEINMEIER: Frieden und Sicherheit statt Kampf um Öl

DIETMAR WOIDKE: Wir leben nicht auf einer Insel

MATTHIAS MACHNIG: Eine neue soziale Frage

REINHARDT HASSA: Mit der Braunkohle in die Zukunft

REINHARD HÜTTL: Wie funktioniert das System Erde-Mensch?

WIE EINE STRATEGISCHE ENERGIEPOLITIK FÜR BRANDENBURG AUSSEHEN KANN

Energie und Klima

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Energie und KlimaF ast täglich erfährt man in den Nachrichten den Preisstand beim Öl. Immer wie-

der hören wir von Überschwemmungen, Dürre oder Hitzewellen. Und wennman jetzt noch die Nachrichten aus dem Irak dazu nimmt, hat man einen Großteileiner normalen Nachrichtensendung beisammen. Hinter all diesen Meldungen ver-stecken sich Fragen, die für die ganze Welt von großer Wichtigkeit sind: Im Kerngeht es um die Verfügbarkeit von Energie und die damit zusammenhängenden Aus-wirkungen auf unsere Umwelt.

Seit vielen Jahren schon reden wir über die globale Klimaerwärmung, reden wirüber den zu hohen CO2-Ausstoß. Aber erst seit kurzem scheinen diese Themen tief im Bewusststein der Bevölkerung angekommen zu sein. Das gilt auch für Branden-burg, denn unser Land ist keine Insel – wie es Dietmar Woidke im Interview mit derPerspektive 21 so treffend formuliert. Auch Brandenburg befindet sich mitten imKlimawandel – und wir sind keineswegs zu klein, um etwas dagegen zu tun. Gerade,weil das Land eine so große Energietradition hat, kann es auch an der Spitze stehen,wenn es darum geht, die Energieversorgung der Zukunft zu entwickeln oder die Kli-maverträglichkeit zu verbessern. Das Potsdamer Institut für KlimafolgenforschungPIK ist eine der renommiertesten Wissenschaftseinrichtungen auf der Welt. Wir sinddeshalb sehr stolz, dass der Direktor des PIK, Professor Hans Joachim Schellnhuber, inder Perspektive 21 einen Beitrag über Brandenburgs Rolle beim Klimaschutz veröffent-licht. Nicht minder interessant ist der Beitrag unseres Außenministers Frank-WalterSteinmeier, der überzeugend darlegt, wie eine vorausschauende Außen- und Friedens-politik zu größerer Energiesicherheit beitragen kann. Und Matthias Machnig verdeut-licht, wie sehr gerade der Energiepreis zu der sozialen Frage der Zukunft werden kann.

In Brandenburg laufen derzeit drei Volksinitiativen. Die größte Kontroverse gibtes über die Zukunft der Braunkohle. Welche Rolle sie in Zukunft spielen kann, er-läutert Reinhardt Hassa vom Vattenfall-Vorstand. Das Unternehmen ist der größteArbeitgeber in der Lausitz und wichtiger Auftraggeber für viele andere Betriebe inder Region. Wenn wir über die Rolle der Braunkohle reden, geht es also um vieleArbeitsplätze. Es geht aber auch um die strategische Frage, wo Energie und Strom inZukunft herkommen sollen und welchen Preis wir bereit sind dafür zu zahlen.

KLAUS NESS

vorwort

3perspektive21

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inhalt

5perspektive21

Energie und KlimaWIE EINE STRATEGISCHE ENERGIEPOLITIK

FÜR BRANDENBURG AUSSEHEN KANN

MAGAZINMATTHIAS PLATZECK: Solidarität heute ............................................................... 7Eine moderne Sozialdemokratie braucht einen modernen Solidaritätsbegriff

FRANK DECKER: Missbrauch oder Systemproblem?............................................. 17Die Instrumentalisierung der Volksgesetzgebung in der politischenAuseinandersetzung

KLAUS NESS UND TOBIAS DÜRR: Bewegung statt Beharrung ............................. 21Der SPD strömen scharenweise junge Wähler zu. Aber erkennt die Partei die Chance, die darin liegt?

THEMAHANS JOACHIM SCHELLNHUBER: Global denken, in Brandenburg handeln ......... 25Wie das Land zur Modellregion im Klimaschutz werden kann

FRANK-WALTER STEINMEIER: Frieden und Sicherheit statt Kampf um Öl ........... 33Warum eine vorausschauende Außenpolitik in Brandenburg anfängt

DIETMAR WOIDKE: Wir leben nicht auf einer Insel .............................................. 41Mit ihm sprach Thomas Kralinski über das Wetter von morgen, die richtigeEnergiestrategie und die Braunkohle-Volksinitiative

MATTHIAS MACHNIG: Eine neue soziale Frage .................................................... 47Energie und Klimaschutz werfen ganz neue Probleme auf

REINHARDT HASSA: Mit der Braunkohle in die Zukunft .................................... 53Die klimafreundliche Nutzung der Kohle sichert wirtschaftliche Perspektiven in Brandenburg und Deutschland

REINHARD HÜTTL: Wie funktioniert das System Erde-Mensch? .......................... 63Was die Geowissenschaften für Energie und Klima leisten können

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6 dezember 2007 – heft 36

impressum

HERAUSGEBER

n SPD-Landesverband Brandenburgn Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie

in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V.

REDAKTION

Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber,Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Dr. Manja Orlowski, John Siegel

ANSCHRIFT

Alleestraße 914469 PotsdamTelefon 0331 / 730 980 00Telefax 0331/ 730 980 60

E-MAIL

[email protected]

INTERNET

http://www.perspektive21.de

HERSTELLUNG

Layout, Satz: statement WerbeagenturKantstr. 117A, 10627 BerlinDruck: Lewerenz GmbH, Klieken/Buro

BEZUG

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Solidarität heuteEINE MODERNE SOZIALDEMOKRATIE

BRAUCHT EINEN MODERNEN SOLIDARITÄTSBEGRIFF

VON MATTHIAS PLATZECK

W ie steht es heute um die Solidarität? Wie verändert sich, was wir unter Solidaritätverstehen? Weshalb brauchen wir sie auch weiterhin – und vielleicht mehr denn

je? Wie hängen Solidarität und das sozialdemokratische Konzept des vorsorgenden So-zialstaates zusammen? Und warum ist es manchmal richtig, den Begriff der Solidaritätvor einigen seiner lautesten Befürwortern in Schutz zu nehmen, um ihn lebendig undvital zu erhalten? Das sind Fragen, über die es sich tatsächlich nachzudenken lohnt.

Von Soli-Marken bis Godesberg

In dem 1989 untergegangenen Staat, in dem ich aufgewachsen bin, wurde Solida-rität staatsoffiziell als ein zentrales Verhaltensprinzip verstanden, nämlich als „Zu-sammengehörigkeitsgefühl, Übereinstimmung, gegenseitige Unterstützung undVerpflichtung, Hilfs- und Opferbereitschaft“. So steht es – für sich genommen ersteinmal völlig zutreffend – geschrieben in der Neuauflage des legendären Kleinenpolitischen Wörterbuchs der DDR aus dem Jahr 1988, in jenem amtlichen Werk also, das die gültige marxistisch-leninistischen Lehrmeinung der herrschendenPartei des Landes von A bis Z durchbuchstabierte.

Auch im täglichen Leben der DDR war der Begriff der Solidarität fast allgegen-wärtig. Mitglieder von Massenorganisationen klebten „Soli-Marken“. Zu öffentli-chen Veranstaltungen gehörten unweigerlich „Solidaritätsbasare“, im Rundfunkwurden öffentliche „Solidaritätskonzerte“ übertragen, deren Erlöse man dann wie-derum dem „Solidaritätskomitee der DDR“ überwies. Internationale Solidaritätgalt den unterdrückten Völkern in Südafrika und Chile. Und bereits zum Schul-stoff der DDR für die 7. und 8. Klasse gehörte das „Solidaritätslied“ von BertoltBrecht und Hanns Eisler: „Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke be-steht! Beim Hungern und beim Essen, vorwärts und nie vergessen: die Solidarität!... Schwarzer, Weißer, Brauner, Gelber! Endet ihre Schlächterei! Reden erst dieVölker selber, werden sie schnell einig sein ... Proletarier aller Länder, einigt euchund ihr seid frei. Eure großen Regimenter brechen jede Tyrannei!“

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Aber nicht nur im offiziellen Sprachgebrauch der DDR hatte das Wort Solida-rität einen guten Klang. Auch in der Bundesrepublik und bis in die Gegenwart hi-nein gilt „die aus der gemeinsamen Verbundenheit folgende gegenseitige Verpflich-tung“ – so die Definition im Godesberger Programm der SPD – als hoher Wert.Wurden in der DDR „Soli-Marken“ geklebt, so erhob das vereinigte Deutschlandnach 1990 einen „Solidaritätszuschlag“ zur Finanzierung der Inneren Einheit, unddie ostdeutschen Bundesländer erhielten Aufbaumittel aus dem „Solidarpakt“. Imaktuellen Grundsatzprogramm der SPD, beschlossen im Jahr 2007 in Hamburg,heißt es: „Solidarität bedeutet wechselseitige Verbundenheit, Zusammengehörigkeitund Hilfe. Sie ist die Bereitschaft der Menschen, füreinander einzustehen und sichgegenseitig zu helfen.“ Der CDU wiederum ist Solidarität ein so hoher Wert, dasssie ihn gleich 25-fach in ihr ebenfalls im Jahr 2007 entstandenes neues Grundsatz-programm aufgenommen hat – wenn auch mit etwas anderem, auf christliche Tra-dition zurückgehenden Zungenschlag als die SPD: „Solidarität ist ein Gebot derNächstenliebe und entspricht der sozialen Natur des Menschen“, heißt es bei denChristdemokraten. Das klingt ein bisschen nach Mildtätigkeit und Barmherzigkeit,was begrifflich nicht dasselbe ist wie Solidarität.

Eine konkrete Sache mit Inhalt?

Blickt man über Deutschland hinaus, so hat wohl keine politische und soziale Bewe-gung der vergangenen Jahrzehnte eine welthistorisch derartig durchschlagende Wir-kung entfaltet wie die polnische Gewerkschaft mit dem Namen „Solidarnosc“. ImStreiksommer 1980 auf der Danziger Leninwerft gegründet, entwickelte sich dieOrganisation unter der Führung des siebenunddreißigjährigen arbeitslosen Elektri-kers Lech Walesa mit ungeheurer Dynamik zu der mit Abstand mächtigsten Oppo-sitionsbewegung im gesamten sowjetischen Machtbereich. Weder die freiheitlichenRevolutionen des Jahres 1989 in Europa und das Ende des Kalten Krieges, wederder Mauerfall noch die deutsche Vereinigung wären möglich gewesen, hätten nichtdie polnischen Arbeiter von Danzig aus den Aufbruch gewagt. Sie organisierten sichunter dem Banner der Solidarität.

Was für ein Begriff ist das also, auf den sich in den vergangenen Jahrzehntenso völlig unterschiedliche, sogar gegnerische politische Kräfte wie Sozialdemo-kraten und Christdemokraten, Kommunisten und Antikommunisten positivbezogen haben? Ist Solidarität etwa nur eines dieser ungenauen, schwer zu fas-senden „Wieselwörter“, die jeder nach Belieben im Sinne der eigenen Zweckedehnen, uminterpretieren und missbrauchen kann? Und wird der Begriff nicht

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ohnehin so inflationär gebraucht, dass er am Ende alle spezifischen Konturenverliert?

Manche sehen das so. In einer bewusst furiosen Polemik für die GewerkschaftlichenMonatshefte* unter dem Titel „Solidarier aller Parteien – verschont uns!“ warnte derDüsseldorfer Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann vor Jahren schon: „Auf denBegriff Solidarität, so inhaltsleer, wie er derzeit ist, gehört der grüne Punkt. Er kenn-zeichnet bekanntlich Verpackungsmüll – weg damit in die gelbe Tonne. Vielleichtkann man ihn ja recyclen – ich war eine Blechdose der alten Arbeiterbewegung –, oderauch verschiffen in die Dritte Welt. Aber auch die braucht keine entleerten Begriffe,sondern konkrete Sachen mit Inhalt.“

Was man Regine Hildebrandt abnahm

Kein Zweifel, für die Arbeiter der Leninwerft im Sommer 1980 war Solidarität genau dies: „eine konkrete Sache mit Inhalt“. Aber hier und heute? Beschreibt dieKategorie Solidarität womöglich ganz einfach ein – irgendwie – grundlegendesmenschliches Bedürfnis nach sozialem Zusammenhalt und Gemeinschaftlichkeit, so dass letztlich keine politische Bewegung darauf verzichten kann, dem Begriff ihreReferenz zu erweisen, ob pro forma oder ernst gemeint? Ich glaube in der Tat, esgibt dieses grundlegende Bedürfnis nach Zusammenhalt – ebenso wie die Bereit-schaft einer großen Mehrheit der Menschen, einer Politik der Solidarität ihre Zu-stimmung zu erteilen. Wer an die Bereitschaft zu solidarischem Denken und Han-deln appelliert, der darf sich überall und regelmäßig einer hohen Zustimmung sichersein – und der riskiert zugleich, da hat Ulrich von Alemann wohl ganz Recht, denBegriff der Solidarität bei allzu beliebigem Gebrauch zu Tode zu reiten.

Wichtig scheint mir deshalb, dass mit dem Gebrauch des Wortes immer zugleicheine erkennbare innere Haltung einhergehen muss. „Kinder, vergesst nicht: Der wahreSinn des Lebens liegt im Miteinander“ – so lautete das Lebensmotto der 2001 verstor-benen Brandenburger Sozialdemokratin Regine Hildebrandt. Was sie meinte, warnichts anderes als Zusammenhalten und Einstehen füreinander- also Solidarität.Regine Hildebrandt nahm man das ohne Wenn und Aber ab. Niemals ist sie in derÖffentlichkeit mit ihrem stets offensiv vorgetragenen Credo irgendwo auf Ablehnunggestoßen. In der Sache widersprochen haben ihr wahrlich nicht wenige, aber niemandhat dabei jemals ihre solidarische Absicht in Frage gestellt. Ich glaube, der Grund dafürlag schlicht darin, dass sie mit jeder Faser ihres Daseins verkörperte und vorlebte, wassie verkündete. Wer von Solidarität spricht, muss Solidarität ausstrahlen.

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matthias platzeck – soldarität heute

* Jg. 1996, Heft 11/12, S. 756-761

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Die entscheidende Frage ist aber, warum die allgemein so hoch geschätzte Soli-darität – verstanden als Regine Hildebrandts „Miteinander“ oder, im Sinne desSPD-Grundsatzprogramms, als „wechselseitige Verbundenheit, Zusammengehö-rigkeit und Hilfe“ – in der rauen Wirklichkeit des Alltags immer wieder so unend-lich schwer zu verwirklichen scheint. Welche Bedingungen müssen herrschen, da-mit aus der latenten Bereitschaft der allermeisten Menschen zur Solidaritättatsächlich gelebte Solidarität werden kann?

Die marxistisch-leninistischen Ideologen der DDR waren hinsichtlich dieseszentralen Problems von keinem noch so kleinen Zweifel angekränkelt. Ich zitierenoch einmal das Kleine politische Wörterbuch aus dem Jahr 1988: „Dieses Ge-meinschaftsbewusstsein [der Solidarität] entsteht auf der Grundlage der materiellenLebensbedingungen, der objektiven Bedürfnisse und Interessen einer sozialenGruppe, einer Klasse, einer Gemeinschaft. ... Die Arbeiterklasse ist die einzigeKlasse, die auf Grund ihrer gesellschaftlichen Lage, historischen Aufgabenstel-lung, Denkweise, Organisiertheit, Konsequenz und in sich solidarisch ist. Nur infester Solidarität – unter Führung einer marxistisch-leninistischen Partei – ist esder Arbeiterklasse möglich, ihre historische Mission zu erfüllen.“

Die Arbeiter erfinden die Solidarität

So einfach war das also. Man reibt sich noch immer ungläubig die Augen beimLesen dieser Sätze. Schon acht Jahre bevor sie geschrieben wurden, hatten die pol-nischen Arbeiter gleich nebenan in Danzig, Stettin und Posen den Regierenden derDDR demonstriert, wie wenig an ihnen richtig war – und zwanzig Jahre danachwissen wir es umso besser. Zutreffend ist aber zweifellos eines: Eine der entschei-denden Quellen von Solidarität ist historisch gesehen die gemeinsame Erfahrungvon Lohnarbeit und abhängiger Beschäftigung gewesen. Besonders die gemeinsameErfahrung der massenhaften industriellen Fabrikarbeit in der entstehenden Indus-triegesellschaft schuf im 19. Jahrhundert für viele Millionen Menschen gemeinsa-me Interessen, die, wie die Erfahrung schnell lehrte, am besten gemeinsam vertre-ten und durchgesetzt werden konnten: „Alle Räder stehen still, wenn dein starkerArm es will.“ Im Zeitalter der klassischen Industriegesellschaft war tatsächlich kei-ne andere soziale Gruppe von derartig homogenen Interessen und Lebenslagen ge-kennzeichnet wie die industrielle Arbeiterschaft. Man saß im selben Boot, buch-stäblich als Schicksalsgemeinschaft: Das ermöglichte und erleichterte Solidarität.

Exakt das traf aber genauso auch auf die Massen von Arbeitern zu, die imSommer 1980 in Polen die „Solidarnosc“ formierten oder im Herbst 1989 in der

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DDR friedlich die Straßen und Plätze eroberten. Völlig verkehrt war deshalb die fixe Idee der SED-Ideologen, dass „Organisiertheit“ und „Konsequenz“ der indus-triellen Arbeiterschaft nur unter der Führung einer marxistisch-leninistischenPartei möglich seien. Die antikommunistische Gewerkschaft in Polen mit ihrenMillionen von proletarischen Mitgliedern bewies uns in den achtziger Jahren dasglatte Gegenteil. Als Solidarität gegen „die da oben“ konnte sich klassische Arbei-tersolidarität sowohl gegenüber der Obrigkeit in staatssozialistischen wie auch inkapitalistischen Ordnungen als mächtige Waffe erweisen.

Organische Solidarität und ihre Voraussetzungen

Aber die Zeiten, in denen große, vergleichsweise homogene Massen von Menschendieselben oder ähnliche Tätigkeiten ausüben geht zu Ende. Die klassische Ära derindustriellen Massenproduktion ist Geschichte, jedenfalls in Europa. Kaum irgend-wo hat sich der Umbruch von der „arbeiterlichen Gesellschaft“ (Wolfgang Engler)zur viel stärker auf Dienstleistungen, Lernen und Wissen basierenden Gesellschaftso rasend schnell vollzogen wie in Ostdeutschland. Aber auch im Westen der Bun-desrepublik verzeichnen die Gewerkschaften bekanntlich nun schon seit vielenJahren Mitgliederrückgänge – vor allem, weil sie sich schwer damit tun, in den neuen Dienstleistungsbranchen, unter Frauen, Angestellten, hoch qualifiziertenArbeitnehmern oder jungen Leuten neue Mitglieder zu rekrutieren und sich aufneuartige Beschäftigungsverhältnisse einzustellen.

Das alles trifft allerdings nicht nur in Deutschland zu. Überall basierte die alteArbeitersolidarität auf gleichartigen Verhältnissen, homogenen Interessen, Lebens-lagen – die neuen Verhältnisse aber sind unübersichtlich, differenziert, wechselhaft.Natürlich hat das Auswirkungen auf die Solidarität. Den tiefen Wunsch nach demvon Regine Hildebrandt zu Recht auf Schritt und Tritt verteidigten „Miteinander“in der Gesellschaft teilen die Menschen auch heute noch, nur haben sich ihre Le-benslagen in rasendem Tempo ausdifferenziert. Solidarität wird erhofft, ja vielfachgeradezu herbeigesehnt, aber die alten Instrumente, sie zu erlangen, sind oft stumpfgeworden. Und wiederum: Wohl nirgends haben sich diese Prozesse so Hals überKopf und gewissermaßen nachholend vollzogen wie in Ostdeutschland.

Auch für Solidarität gilt Willy Brandts klassischer Satz: „Nichts kommt vonselbst; und nur wenig ist von Dauer.“ Das klingt ein bisschen banal, ist aber wichtig.Solidarität angesichts von Vielfalt ist schwieriger zu machen als Solidarität unterBedingungen der Gleichartigkeit (und auch die war ja niemals eine einfache Sache).Die alte Solidarität war eine Solidarität überwiegend unter Gleichartigen, sie ist des-

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halb verschiedentlich auch als „mechanische“ Solidarität bezeichnet worden. Undsie war zudem historisch in hohem Maße „männlich“ geprägt und ethnisch weitge-hend homogen. Wir leben heute unter Bedingungen vielfach gesteigerter Unter-schiedlichkeit der Lebens- und Arbeitsweisen, der Einstellungen und Vorlieben, der Geschlechterverhältnisse, Kulturen und Hautfarben.

Wo Menschen füreinander einstehen

Wenn wir wollen, dass Solidarität angesichts solcher Verhältnisse auch im 21. Jahr-hundert als ein Prinzip erhalten bleibt, das unsere Gesellschaft kennzeichnet, dannmüssen wir uns etwas einfallen lassen. Wo die herkömmliche „Solidarität unterGleichen“ nicht mehr genügt, müssen wir die Fähigkeit zur „Solidarität unterFremden“ entwickeln, unter Menschen, die sich in vieler Hinsicht unterscheiden.Das ist historisch neu. Nur wenn wir Solidarität nicht als eine statische Größe ver-stehen, als einen vorn vornherein vorgegebenen „Zustand“ also, der sich von selbsteinstellt, werden wir sie in einer umfassend veränderten Welt erhalten können.

Dieses dynamische Verständnis von Solidarität als wichtiger Ressource unserer(und jeder anderen) Gesellschaft, die immer wieder – und gerade angesichts derUmbrüche unserer Zeit – erneuert werden muss, kommt im aktuellen HamburgerProgramm der SPD zu Ausdruck. Dort heißt es: „Solidarität ist eine starke Kraft,die unsere Gesellschaft zusammen hält – in spontaner und individueller Hilfsbe-reitschaft, mit gemeinsamen Regeln und Organisationen, im Sozialstaat als poli-tisch verbürgter und organisierter Solidarität.“

Daher verdient alles – wirklich alles! – Förderung und Unterstützung, was dazubeiträgt, die solidarische Haltung „spontaner und individueller Hilfsbereitschaft“hervorzubringen und zu stärken. Nochmals: Die klassische Solidarität unter Glei-chen, wie wir sie aus der Geschichte der Arbeiterbewegung kennen, ist keineswegsüberflüssig geworden, aber ihre Voraussetzungen schwinden zunehmend. Sie be-darf darum zunehmend der Ergänzung durch neue Formen gelebter Solidaritätüber alte und neue Grenzen hinweg: soziale, kulturelle, religiöse, ethnische und nationale Grenzen und auch die Grenzen zwischen den Geschlechtern.

Was die Zukunft solcher neuer Formen gelebter Solidarität angeht, besteht keinGrund zum Pessimismus, sofern wir vorhandene Potentiale stärken, wo immer wirsie vorfinden. Überall an den „Graswurzeln“ unserer Gesellschaft erleben wir, wieMenschen das alte Prinzip des Einstehens füreinander in unzähligen Vereinen,Initiativen, Selbsthilfeorganisationen oder Nachbarschaftsgruppen mit neuemLeben erfüllen. Hier ist ein unübersehbarer Kosmos unorthodoxer Solidaritätsfor-

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men entstanden, teilweise mit Hilfe der Möglichkeiten moderner Kommunika-tionstechnologie. Jeder private Tauschring, jede Initiative zur Hausaufgabenhilfe,jede Aidshilfe- oder Dritte-Welt-Gruppe ist Bestandteil der schier unüberschauba-ren Vielfalt von Ehrenamtlichkeit und zivilem Engagement, die sich netzwerkartigin unserer Gesellschaft und über deren Grenzen hinaus entwickelt hat. Meine eige-ne Erfahrung in Brandenburg ist, dass alle diese Formen „organisch“ von untenwachsender Solidarität ständig weiter um sich greifen. Dabei stehen sie älterenFormen solidarischer Aktivität – von gewerkschaftlicher Arbeit über das Engage-ment in der Freiwilligen Feuerwehr, in Heimat-, Gesangs- oder Schützenvereinenoder Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Initiativen – nicht etwa als Konkurrenz ent-gegen. Nichts von alledem ist unwichtig, nichts davon darf gegen etwas anderesausgespielt werden. Und heute erleben wir, wie ältere und neuere Formen gesell-schaftlicher Solidarität in oftmals unübersichtlichen Mischungsverhältnissen neuzusammenkommen.

Gewachsene Unübersichtlichkeit sollte nicht als Anzeichen für einen Nieder-gang der Solidaritätspotentiale unserer Gesellschaft gedeutet werden. Sehr vielspricht im Gegenteil dafür, dass die Fähigkeit unserer Gesellschaft zu solidarischerAktivität – spontan, selbstorganisiert und basisverwurzelt – eher zunimmt. Politikund Verwaltung tun gut daran diese Entwicklung mit aller Kraft zu fördern, woimmer dies möglich ist.

Hierzu gehört es unbedingt, das sozialdemokratische Kernversprechen „Bildungfür alle!“ massiv zu erneuern und auf die Höhe unserer Zeit zu bringen. Bildungentscheidet nicht nur über individuelle Lebenschancen und Wohlstand, sondern inhohem Maße auch über die Fähigkeit von Menschen zum solidarischen Miteinan-der mit ihren Zeitgenossen. Und erst recht entscheidet Bildung über die Fähigkeitzum solidarischen Miteinander mit Menschen, die kraft sozialer oder ethnischerHerkunft oder religiösen Glaubens tatsächlich „anders“ oder gar Fremde sind. Nurwenn diese Fähigkeit zur Solidarität auch mit dem zunächst völlig „Anderen“ ge-sellschaftliches Allgemeingut wird, kann das Zusammenleben in unserer Gesell-schaft im 21. Jahrhundert gelingen.

Der Sozialstaat und die Mitte der Gesellschaft

Schließlich muss die Frage nach dem Verhältnis von Solidarität und Sozialstaat be-antwortet werden. Das Hamburger Grundsatzprogramm der SPD beschreibt, wiebereits zitiert, den Sozialstaat als „organisierte Solidarität“. Das verweist auf einezentrale Aufgabe, die der Sozialstaat unbedingt erfüllen muss. Einige Anmerkun-

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gen scheinen dennoch angebracht. Zu warnen ist nämlich vor dem möglichenMissverständnis, die Durchsetzung von Solidarität lasse sich gewissermaßen an dieInstitutionen, Verwaltungsverfahren und Kassen des Sozialstaates delegieren. DieExistenz des Sozialstaates als Institution bietet keine hinreichende Garantie dafür,dass Solidarität als lebendige Haltung und Bereitschaft zum Einstehen füreinandergefördert wird. Ein nur unbefriedigend funktionierender oder von Menschen bloßals kalte Bürokratie erfahrener Sozialstaat kann sogar eine ganze Menge dazu bei-tragen diese gesellschaftliche Bereitschaft zur Solidarität zu untergraben – die dochgerade die Voraussetzung dafür ist, dass der Sozialstaat überhaupt existieren kannund Legitimität genießt.

Es sind in Deutschland vor allem die Angehörigen der breiten erwerbstätigenMittelschichten, die den Sozialstaat tragen. Diese vielen unspektakulären, aber un-verzichtbaren Leistungsträger des Alltags finanzieren den Sozialstaat mit ihren Bei-trägen und Steuerleistungen: Facharbeiter und Angestellte, Techniker und Inge-nieure, Handwerker, Krankenschwestern, Lehrer und viele, viele andere. Auf ihrefortgesetzte Bereitschaft zur gesellschaftlichen Solidarität wird es auch weiterhin an-kommen; ohne die Zustimmung der gesellschaftlichen Mitte – auch an der Wahl-urne – verliert der Sozialstaat auf die Dauer seine Legitimation. Deshalb muss dieseZustimmung immer wieder neu gesichert werden.

Unbefriedigend und teuer

Heute aber erlebt die Mitte unserer Gesellschaft den bestehenden Sozialstaat zu-nehmend nicht mehr als Erfolgsmodell – und zwar gleich in zweifacher Weisenicht. Zum einen hat sich in der erwerbstätigen Mitte – und hier gerade unterArbeitnehmern – der Eindruck ausgebreitet, sie sei so etwas wie der überladeneLastesel der Nation. Wir wissen das aus vielen Alltagsgesprächen, wir wissen esauch aus wissenschaftlichen Untersuchungen, beispielsweise jenen der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Mitte der Gesellschaft finanziert den Sozialstaat zu gutenTeilen, aber sie erlebt ihn nicht mehr in ausreichendem Maße als Erfolgsmodell,von dessen Funktionieren auch sie selbst profitieren würde – etwa aufgrund eineshervorragendes Bildungssystems von der hochwertigen Kindertagesstätte bis zurhervorragenden Universität, aufgrund effizienter Arbeitsvermittlung, aufgrundmoderner soziale Infrastruktur oder einer hervorragenden Familienpolitik, dieFamilie und Beruf miteinander vereinbar macht.

Zum anderen erlebt die gesellschaftliche Mitte, dass die hohen und von ihr wesentlich finanzierten sozialpolitischen Aufwendungen für das untere Drittel

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der Gesellschaft bei weitem nicht so nachhaltig und ergiebig wirken, wie sie wirkenmüssten. Tatsächlich ist der deutsche Sozialstaat keineswegs ein billiger Sozialstaat.Die sozialen Transferleistungen etwa im Fall von Erwerbslosigkeit sind in Deutsch-land im internationalen Vergleich hoch. Dasselbe gilt für die Aufwendungen fürdie Familien oder für die Gesundheitskosten. Und auch das deutsche Bildungs-wesen funktioniert nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – deshalb so unbefriedi-gend, weil wir es uns zu wenig kosten ließen.

Solidarität und vorsorgender Sozialstaat

Tatsächlich wenden wir für das Soziale in Deutschland viel Geld auf – in besterAbsicht, aber leider nicht mit den besten Ergebnissen. Was im Verhältnis zum be-triebenen sozialstaatlichen Aufwand deutlich zurückbleibt, sind positive Resultate;was zurückbleibt, sind Lebens-, Aufstiegs- und Integrationschancen für mehrMenschen. Darunter leidet das Grundgefühl der Bürger, in einem solidarischenGemeinwesen zu leben. Dass sich mit vergleichbarem finanziellem Aufwand weit-aus bessere sozialstaatliche Resultate erzielen lassen, zeigt der internationale Ver-gleich, vor allem der Vergleich mit wirtschaftlich und sozial erfolgreichen StaatenSkandinaviens. Die Qualität eines Sozialstaates, sowohl unter Effizienzgesichts-punkten wie unter Solidaritätskriterien, lässt sich eben nicht in erster Linie an derHöhe der sozialen Transferzahlungen ablesen.

Es kann überhaupt nicht eindringlich genug betont werden, dass von einer erfolg-reichen – und das heißt: aktivierenden und befähigenden – Sozialpolitik für das unte-re Drittel unserer Gesellschaft auch das mittlere und das obere Drittel ganz praktischprofitieren würden. Weniger Dauerarbeitslosigkeit, gelingende Integration von Ein-wanderern, abnehmende Kriminalitätsraten, bessere Bildungs- und Aufstiegsmög-lichkeiten für benachteiligte Gruppen, hervorragend ausgebildete Schüler undArbeitskräfte, bessere Startchancen für junge Leute – das alles wären überzeugendeVorzüge eines funktionierenden, aktivierenden und in die Menschen investierendenvorsorgenden Sozialstaates. Diese Vorzüge würden ganz direkt der gesamten Gesell-schaft zugute kommen und wären zugleich die grundlegende Bedingung dafür, dieBereitschaft der erwerbstätigen Mitte zur Solidarität zu erhalten und zu erneuern.

Oft wird gesagt, nur Reiche könnten sich einen abgemagerten Sozialstaat leisten,nur Reiche seien auf Solidarität nicht angewiesen. Aber das stimmt nicht: Noch derreichste Unternehmer braucht exzellente Fachkräfte, gesunde Mitarbeiter, ein intaktesgesellschaftliches Klima, eine ausgebaute soziale Infrastruktur – und manchmal auchfreundliche Mitbürger, die ihm helfen, wenn er nachts fern von Zuhause mit einer

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matthias platzeck – soldarität heute

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Reifenpanne liegen bleibt. Das alles sind Dinge, die kein Unternehmer selbst, sondernnur intakte gesellschaftliche Solidarität gewährleisten kann. Der funktionierende vor-sorgende Sozialstaat ist deshalb keine wirtschaftliche Belastung, kein Wachstumshin-dernis, sondern eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Produktivkraft.

Der vorsorgende Sozialstaat, der in die Fähigkeiten der Menschen investiert, be-deutet einen dringend notwendigen Paradigmenwechsel und eine handfeste sozial-demokratische Vision für das 21. Jahrhundert. Dieser Sozialstaat soll die Menschenaktivieren, ihr Leben in eigener Verantwortung zu gestalten – und er schafft dieVoraussetzungen dafür, dass sie dies auch wirklich können. Deshalb setzt der vor-sorgende Sozialstaat intensiv auf hochwertige Bildung und Gesundheitsprävention– und zwar von Anfang an. Er fördert Beschäftigungsfähigkeit und Beschäftigung,und er verhindert Armut. Wer immer in den kommenden Jahrzehnten in Deutsch-land eine Rente beziehen will, muss ein dringendes Interesse daran haben, dass wirdas Leitbild des vorsorgenden Sozialstaates Schritt für Schritt, aber sehr energischund systematisch verwirklichen. Der vorsorgender Sozialstaat, eine funktionieren-de Ökonomie und die fortgesetzte Bereitschaft gesellschaftlicher Mehrheiten zurSolidarität sind Erfolgsfaktoren, die sich gegenseitig bedingen.

Genau hier schließt sich der Kreis meiner Argumentation. Der nachweislich leis-tungsfähige vorsorgende Sozialstaat müsste nicht mehr mit Zähnen und Klauen gegenständige Angriffe verteidigt werden. Dieser Sozialstaat hätte keine Akzeptanz- undLegitimitätsprobleme, weil er mehr Lebenschancen für mehr Menschen eröffnen undsich aufgrund seiner Leistungsfähigkeit Tag für Tag selbst legitimieren würde. Die so-ziale Demokratie ist existenziell darauf angewiesen, die Voraussetzungen gesellschaftli-cher Solidarität unter sich verändernden Bedingungen zu erhalten und zu erneuern.Der vorsorgende und in die Fähigkeiten der Menschen investierende Sozialstaat wirdauch deshalb gebraucht, weil er dazu beitragen wird, dass Solidarität vor allem einesbleibt: eine aktive und lebendige Haltung, die aktive und tätige Bereitschaft von Men-schen, füreinander einzustehen. Nur wo diese Bedingung erfüllt ist, nur wo Solidaritätdurch geeignete institutionelle Rahmenbedingungen und ganz praktisches Handelnimmer wieder erfahrbar gemacht und erneuert wird, kann sie eine vitale Kraft bleiben,die unsere Gesellschaft zum Besseren verändert. Eine konkrete Sache mit Inhalt. n

M A T T H I A S P L A T Z E C K

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und SPD-Landesvorsitzender.

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Missbrauch oderSystemproblem? DIE INSTRUMENTALISIERUNG DER VOLKSGESETZGEBUNG

IN DER POLITISCHEN AUSEINANDERSETZUNG

VON FRANK DECKER

In der brandenburgischen Landespolitik findet zurzeit eine Debatte darüberstatt, ob es aus Sicht der parlamentarischen Opposition legitim ist, in der poli-

tischen Auseinandersetzung auf das Instrument der Volksgesetzgebung zurück-zugreifen. Die SPD kritisiert heftig, dass sich die Linkspartei/PDS bei der Aus-übung ihrer Oppositionsfunktion nicht auf den Rahmen beschränke, den ihr dasparlamentarische System vorgibt. Stattdessen nutze und missbrauche sie die vonder Verfassung gewährleistete Möglichkeit, Volksinitiativen und Volksbegehreneinzubringen, um ihre populären Anliegen gleichsam durch die Hintertür durch-zusetzen. Der Linken, so der Vorwurf, gehe es dabei nicht um die Verbesserungder Lebenslagen der Menschen, sondern nur „um möglichst gute Wahlergebnisse“(so SPD-Generalsekretär Klaus Ness).

Wo Demokratie ist, ist auch Populismus

Tatsächlich fällt es nicht schwer, die Initiative der Linken zur Einführung eines So-zialtickets als Wahlkampfpopulismus zu brandmarken, der mit seriöser Politik nichtszu tun hat. Dergleichen ist aber in der politischen Auseinandersetzung gang und gä-be. Wo Demokratie ist, ist immer auch Populismus. Für dessen negative Bewertungmacht es im Prinzip keinen Unterschied, ob er im Kontext des parlamentarischenParteienwettbewerbs oder im Rahmen eines plebiszitären Verfahrens Blüten treibt.Auch im letzteren Falle ist ja keineswegs ausgemacht, dass die Anliegen am Endedurchkommen. Wie die politikwissenschaftliche Forschung gezeigt hat, sind Ent-scheidungen des Volkes aufs Ganze gesehen weder besser noch schlechter als jene dergewählten Repräsentanten. Unter Demokratiegesichtspunkten liegt ihre Problematikvor allem darin, dass sie gut organisierten Minderheiten ein Mittel an die Hand ge-ben, Positionen auf Kosten einer schweigenden Mehrheit zu behaupten.

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Wo die Direktdemokratie als Gesetzgebungsrecht des Volkes ausgestaltet ist,sind die parlamentarischen und plebiszitären Entscheidungsprozesse notwendigmiteinander verwoben. Bei letzteren handelt es sich deshalb keineswegs um einenparteifreien Raum, der ausschließlich außerparlamentarischen Initiativen und denBürgern vorbehalten wäre. Wenn die Parteien an der politischen Willensbildungmitwirken, wie das Grundgesetz sagt, so steht es ihnen frei, auch von den direkt-demokratischen Beteiligungsrechten Gebrauch zu machen. Der Vorwurf der Illegi-timität geht insofern am eigentlichen Kern des Problems vorbei. Das Problem liegtin der Volksgesetzgebung selbst, die in der parlamentarischen Demokratie als po-tenziell systemwidriger Fremdkörper erscheinen muss.

Warum nicht über alles abgestimmt werden kann

Das parlamentarische System beruht bekanntlich auf dem Wechselspiel von regie-render Mehrheit und Opposition. Die Regierungsmehrheit, die in der Bundes-republik zumeist aus einer Koalition von zwei oder mehr Parteien besteht, wirdvom Wähler autorisiert, ihre Gesetzesvorschläge im Parlament einzubringen undzu beschließen. Sie verfügt dazu über einen weitreichenden Handlungsspielraum,weil sie im Prinzip nur auf die Zustimmung in den eigenen Reihen angewiesen ist.Die Opposition bleibt dagegen als parlamentarische Minderheit auf die Funktioneiner „Regierung im Wartestand“ beschränkt. Ihre Aufgabe ist es, die Politik derRegierung zu kritisieren und sich als bessere Alternative dazustellen, um bei dennächsten Wahlen selbst die Mehrheit zu erringen.

Das Prinzip der alternierenden Regierung basiert also auf einer klar festgelegtenRollenteilung zwischen Mehrheit und Minderheit. Diese Rollenteilung würde unterlaufen, wenn man der Opposition das Recht einräumt, selbst mit zu regieren, also die Gesetzesbeschlüsse der Regierung aufzuheben oder im eigenen Sinne zuverändern. Genau darauf läuft jedoch die Volksgesetzgebung hinaus. Sie gibt derOpposition die Chance, den Mehrheitswillen, der in der Regierungspolitik zumAusdruck kommt, durch eigene, am Parlament vorbei lancierte Gesetzesvorhabenzu durchkreuzen. Die Bedeutung der Plebiszite weist damit weit über eine bloßeErgänzungsfunktion hinaus, die ihr von Befürwortern und Kritikern gleicherma-ßen attestiert wird.

Die weitreichenden Folgen, die von einem allgemeinen Gesetzgebungsrecht des Volkes ausgehen, sind dem Verfassungsgesetzgeber natürlich nicht verborgengeblieben. Sie schlagen sich in den zahlreichen Einschränkungen nieder, denen die Anwendbarkeit des Instruments in der Praxis unterliegt. Diese reichen von

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umfänglichen Ausschlussgegenständen über die in den verschiedenen Stadien desVerfahrens festgesetzten Beteiligungs- oder Zustimmungsquoren bis hin zu weite-ren Nutzungsregeln, die verfassungs- oder einfachgesetzlich verankert sind. DieBestimmungen sind insgesamt so restriktiv, dass die Direktdemokratie im politi-schen Leben der Länder bislang nur eine untergeordnete Rolle spielt. Von daher istes verständlich, dass die Befürworter der Plebiszite alles daran setzen, die Anwen-dungsbedingungen zu verbessern. Das Instrument selbst gibt ihnen dazu die Gele-genheit.

Haben die in Brandenburg auch von der PDS unterstützten Initiativen für Verfahrenserleichterungen Erfolg, würde sich der oben beschriebene grundsätz-liche Konflikt zwischen parlamentarischer und plebiszitärer Gesetzgebung freilichweiter verschärfen. Populistische Kampagnen wären dann noch häufiger an derTagesordnung und würden das Regierungsgeschäft in Mitleidenschaft ziehen.Deshalb ist es an der Zeit darüber nachzudenken, ob ein so weireichendes Demo-kratieversprechen, wie es die Volksgesetzgebung enthält, im Rahmen eines parla-mentarischen Systems überhaupt Sinn macht. Womöglich gibt es andere, verträg-lichere Formen, die die Ergänzungsfunktion der Plebiszite genauso gut (oder nochbesser) wahrnehmen könnten. Zu denken wäre hier zum Beispiel an ein Volksvetonach dem Vorbild des schweizerischen fakultativen Referendums, das sich auf dieSanktionierung bereits getroffener Parlamentsentscheidungen beschränkt.

Eine Grundsatzdebatte ist nötig

Eine generelle Abkehr von der Volksgesetzgebung scheint allerdings bis auf weitereskaum vorstellbar. Erstens ist diese in der Bevölkerung populär, weshalb sich keinePartei leisten kann, sie in Frage zu stellen. Und zweitens haben sich in der Bundes-republik nicht nur die Anhänger, sondern auch die Gegner der Plebiszite sämtlich aufdieses – in anderen parlamentarischen Systemen kaum verbreitete – Modell versteift,dessen Ursprünge weit in die deutsche Verfassungsgeschichte zurückreichen. Damitsind auch der Kritik der SPD an der Initiative der brandenburgischen Linken Gren-zen gezogen. Gewiss hat die Regierungspartei gute Gründe, die Kampagne inhaltlichzu attackieren und als plumpes Wahlkampfmanöver hinzustellen. Der Missbrauchs-vorwurf in Bezug auf die Volksgesetzgebung könnte ihr aber als demokratiefeindlichausgelegt werden, was letztlich auf sie selbst zurückfallen würde. Insofern bewegt sichdie SPD mit ihrer Kritik auf einem argumentativ schmalen Grat.

Noch schwieriger wird die Situation, wenn die Linke mit den angekündigtenInitiativen für weitere Verfahrenserleichterungen ernst macht. Hier wäre die SPD

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frank decker – missbrauch oder systemproblem?

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gezwungen, Farbe zu bekennen und sich zwischen der demokratiefreundlichenoder -skeptischen Position zu entscheiden. Es wäre eine Wahl zwischen zweiÜbeln. Auch in der Folge dürfte das Thema die SPD nicht loslassen. Denn hältman am grundsätzlichen Modell der Volksgesetzgebung fest, ist ein andauernderStreit um deren angemessene Ausgestaltung vorprogrammiert. Dies kann sich auflange Sicht kein Gemeinwesen leisten, ohne Schaden zu nehmen. Eine Grundsatz-debatte um die Chancen und Risiken der Direktdemokratie tut daher in der Bun-desrepublik – auch mit Blick auf eine mögliche Aufnahme plebiszitärer Elementeins Grundgesetz – dringend not. Die SPD sollte die Vorgänge in Brandenburg zumAnlass nehmen, sie endlich anzustoßen. n

P R O F. D R. F R A N K D E C K E R

ist Politikwissenschaftler an der Universität Bonn.

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Bewegung stattBeharrungDER SPD STRÖMEN SCHARENWEISE JUNGE WÄHLER ZU.

ABER ERKENNT DIE PARTEI DIE CHANCE, DIE DARIN LIEGT?

VON KLAUS NESS UND TOBIAS DÜRR

D erzeit hat die SPD bis über die Ohren mit ihren internen Debatten über Ko-alitionen und Kandidaturen zu tun. Umfragen und gesunder Menschenver-

stand sprechen dafür, dass solche Selbstbeschäftigung wenig attraktiv nach außenwirkt. Vielmehr trägt sie zum Eindruck von Schwäche bei. Darum sollte sich dieSPD dringend ein Beispiel an Barack Obama nehmen.

Der Hoffnungsträger der amerikanischen Demokraten wendet sich nicht nur an die traditionellen Stammwähler seiner Partei, sondern versucht auch offensiv,Wechselwähler und Anhänger der Republikaner anzusprechen, um so eine neue,erweiterte Wählerkoalition hinter sich zu versammeln. Aber wen könnten dieSozialdemokraten heute überhaupt erreichen? Mit welchen Themen? Und mit welcher Haltung?

Eine neue Mehrheit am Horizont?

Paradoxerweise drängen sich den Sozialdemokraten neue Wähler heute geradezuauf. Bei allen drei Landtagswahlen dieses Winters hat die SPD erstaunliche (undweitgehend unkommentiert gebliebene) Erfolge unter jungen Wählern zwischen18 und 24 Jahren verzeichnet. In Hessen legten die Sozialdemokraten in dieserGruppe um volle 15 Prozentpunkte zu, unter Frauen dieses Alters sogar um sagen-hafte 20 Punkte. In Hamburg belief sich der Zuwachs der SPD in dieser Alters-gruppe auf 9 Prozentpunkte, bei den niedersächsischen Frauen unter 25 Jahren immerhin auf 7 Punkte.

In Hessen und in Hamburg setzt sich der Positivtrend auch in der nächst höhe-ren Altersgruppe fort: plus 15 Prozentpunkte bei den 25- bis 34-jährigen Frauen inHessen, plus 6 Punkte in Hamburg. Unter Schülern, Auszubildenden und Studen-ten verzeichnete die SPD in Hessen einen Zugewinn von 12 Punkten, in Hamburg

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sogar von 17 Punkten. Damit entschied sich in der Hansestadt jeder zweite Wählerin Ausbildung für die SPD. In Brandenburg wiederum würden sich laut Umfragederzeit fast 60 Prozent aller Wählerinnen und Wähler unter 25 für die SPD ent-scheiden.

Die SPD als Partei der Jungen? In der Tat. Und die Sozialdemokraten täten gutdaran, diese Zustimmung zu rechtfertigen und zu pflegen. Offensichtlich ist: Inden jüngeren Gruppen unserer Gesellschaft wächst die Nachfrage nach einer mo-dernen, dynamischen Interpretation sozialer Demokratie für das 21. Jahrhundert.Was fehlt, ist das dazu passende Politikangebot. Denn niemand wird im Ernst be-haupten, die SPD habe in den vergangenen Monaten mit Nachdruck um die Zu-stimmung der Jüngeren geworben oder deren Anliegen ins Zentrum ihrer Überle-gungen gestellt.

Bemüht hat sich die SPD in letzter Zeit zu wenig um die Jüngeren und Bewe-gungsfreudigen, um die Aufstiegswilligen und Bildungshungrigen, um die Taten-durstigen und Zuversichtlichen. Im Zentrum sozialdemokratischer Aufmerksamkeitstehen allzu oft vor allem die Älteren und die Männlichen mit ihren Besitzständenund Verlustängsten. Gewiss, auch um sie müssen sich Sozialdemokraten kümmern -aber eben nicht nur um sie. Kein Zweifel, die SPD wäre erfolgreicher, wenn sie zu-gleich als dynamische Partei des Fortschritts und der Erneuerung agieren würde.

Der Zeigeist weht progressiv

Das Wahlverhalten der Jüngeren zeigt: Der Zeitgeist in Deutschland weht progres-siv – die SPD müsste ihn nur zu fassen bekommen. Eine aktive Politik der Lebens-,Bildungs- und Aufstiegschancen für alle besäße heute beträchtliche Attraktivität,die Idee des vorsorgenden Investierens in Menschen und ihre Fähigkeiten genießtwachsende Zustimmung. Nur: Ob von diesem Zeitgeist die SPD profitieren wird,das hängt vom kreativen Agieren ihrer Parteieliten ab.

Es ist die Aufgabe wacher Politiker, gesellschaftliche Veränderungen zu be-obachten, neue Bedürfnisse aufzuspüren und zu politisieren. Mehrheiten werdenvon Parteien niemals einfach vorgefunden, sondern immer bis zu einem gewissenGrade politisch geschaffen. Nichts anderes tat 1998 Gerhard Schröder, als er mitErfolg die „Neue Mitte“ ausrief, nichts anderes tut Barack Obama derzeit in denUSA.

Auch nur in die Nähe der Mehrheitsfähigkeit wird die SPD erst dann wiederkommen, wenn sie sich Zustimmung jenseits ihrer schrumpfenden Traditions-wählerschaft erarbeitet. Sozialdemokraten profitieren heute nicht mehr davon,

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sich vor allem als defensive Traditionspartei aufzuführen. Je heftiger sie das tut,desto mehr legitimiert die SPD die Linkspartei.

Junge und Aktive dagegen müssen progressive Sozialdemokraten unerschro-cken erklären: „Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Dynamik funktionie-ren heute anders als früher – und wir wissen, wie es gehen könnte. Wir setzenauf Bildung und Vorsorge. Aber ihr alle müsst mithelfen, damit es klappt!“ Istdieses Angebot ernst gemeint, werden sich Wählerinnen und Wähler finden.Gerade die Jüngeren erwarten den sozialdemokratischen Aufbruch nach vornschon längst.

„Yes, we can“

Nötig dafür ist der Mut, eingefahrene Gleise zu verlassen. Nötig ist die Vorstel-lungskraft, neue Ideen und Konzepte für veränderte Verhältnisse zu entwerfen.Nötig wären Neugier und Zuversicht, Öffnung und Zuwendung, statt Abgren-zung, Reihenschließen und Nostalgie. Kurz, nötig wäre Bewegung und nichtBeharrung.

Sucht die SPD ihre Zukunft unentschlossen im vorigen Jahrhundert, statt mitLeidenschaft an der neuen solidarischen Mehrheit für unsere Zeit zu bauen, wirdihr irgendwann niemand mehr folgen. „Yes, we can“ – es ist lange her, seit manBarack Obamas zupackendes Motto so oder ähnlich von deutschen Sozialdemo-kraten gehört hat. Vor allem deshalb ergeht es dieser großen alten Partei heute so,wie es ihr ergeht. Sie könnte auch anders. n

K L A U S N E S S

ist Generalsekretär der SPD Brandenburg.

D R. T O B I A S D Ü R R

ist Chefredakteur der Zeitschrift Berliner Republik.

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klaus ness und tobias dürr – bewegung statt beharrung

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D er Hitzesommer 2003 dürfte vie-len von uns noch lebhaft in Erin-

nerung sein. Selten reihten sich so vieleSommertage mit Höchsttemperaturenüber 25 Grad Celsius aneinander. DieNächte waren drückend warm und überWochen fiel kein Tropfen Regen. Wasmancher zunächst noch als „richtigenSommer“ empfand, wurde mehr undmehr zum klimatischen Ernstfall: InEuropa starben nach Schätzungen biszu 35.000 Menschen an Folgen derHitzebelastung. Landwirte verzeichne-ten erhebliche Ernteausfälle und dieZahl von Waldbränden in Brandenburgstieg deutlich an. Diese Schadensbilanzwird kein Einzelfall bleiben: Projektio-nen der künftigen Klimaentwicklungzeigen uns, dass der Ausnahmesommerzur Regel werden könnte.

Der Klimawandel ist ein globalesPhänomen. Die Entwicklungen im 21. Jahrhundert werden die gesamteMenschheit betreffen und nur durcheine weltweite Kraftanstrengung zu be-wältigen sein. Die Klimafolgen hinge-gen werden von Region zu Region sehrunterschiedlich sein. Im vergangenen

Jahrhundert ist die Durchschnitts-temperatur auf der Erde um fast 0,8Grad Celsius gestiegen. Dabei ist es inÄquatornähe nur wenig wärmer ge-worden, während der Temperaturan-stieg in den gemäßigten Breiten und inder Arktis besonders deutlich ausgefal-len ist.

Weniger Frost, mehr Hitze

Das Klima von Brandenburg ist eingutes Beispiel für den globalen Trendund seine regional so unterschiedli-chen Ausprägungen: Zwischen 1951und 2000 lagen die Jahres-Durch-schnittstemperaturen in Brandenburgzwischen 7,8 und 9,5 Grad Celsius.Dabei sind der Berliner Raum, derSüdwesten und der Südosten wärmerals der zentrale südliche und der nörd-liche Teil des Landes. Die Durch-schnittstemperatur in Brandenburg istin diesem Beobachtungszeitraum um1,2 Grad Celsius und damit stärker alsder globale Mittelwert gestiegen. DieSommer in Brandenburg sind heutemehr als früher durch ausgedehnte,

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thema – energie und klimaand

Global denken, inBrandenburg handeln WIE DAS LAND ZUR MODELLREGION IM KLIMASCHUTZ WERDEN KANN

VON HANS JOACHIM SCHELLNHUBER

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sehr warme Perioden gekennzeichnet.Dagegen hat die Zahl der Frosttage imJahr abgenommen und die Wintersind insgesamt milder geworden. Be-trachtet man den einzelnen Tag, sozeigt sich folgendes Bild: Die Tages-höchsttemperaturen sind weniger ge-stiegen als die nächtlichen Minima:Nachts kühlt es sich nicht mehr sostark ab wie früher. Eine Nacht, in derdie Temperatur nicht unter 20 Gradsinkt, wird in der Meteorologie als„tropische Nacht“ bezeichnet. SolcheAusnahmeerscheinungen sind in dengemäßigten Breiten und auch inBrandenburg häufiger geworden.

Weniger, dafür heftiger Regen

Die Temperaturentwicklung hat signi-fikante Auswirkungen auf die Natur:Viele Pflanzenarten blühen heute mehrals eine Woche früher als noch vor 50Jahren. Auch der Zeitpunkt, zu demBäume ihre Blätter abwerfen undPflanzen ihr Wachstum einstellen, hatsich verschoben: Die so genannte Ve-getationsperiode wurde um knapp eineWoche in den Herbst hinein verlän-gert.

Für Wetterbeobachter und Klima-forscher sind neben der Temperaturvor allem die Niederschlagsverhält-nisse interessant. Allerdings sind dieMuster der Veränderungen im Ver-gleich zur Temperatur komplexer undentsprechend schwieriger zu deuten.

Wann, wo und wie viel Regen fällt,hängt von zahlreichen Faktoren ab.Die Jahressummen des Niederschlagesliegen in Brandenburg je nach Regionzwischen 500 und 600 Millimetern.Damit gehört das Land zu den tro-ckensten Regionen Deutschlands.Über die letzten 50 Jahre hat dieNiederschlagsmenge weiter abgenom-men. Zwar fällt in den Wintermo-naten mehr Regen als noch vor 50Jahren, die Sommer sind aber umsotrockener geworden. Verändert hatsich auch der Charakter des Nieder-schlags im Sommer: Lang anhaltenderund gleichmäßiger „Landregen“ istseltener, kurze, heftige Schauer sinddagegen häufiger geworden. Da derBoden ausgetrocknet ist, versickertweniger Wasser, mehr fließt oberfläch-lich ab. Dies trägt schon heute in eini-gen Landesteilen zum Absinken desGrundwasserspiegels bei.

Doppelt soviele Sommertage

Die beschriebenen Entwicklungen desKlimas werden sich voraussichtlich biszur Mitte des 21. Jahrhunderts fortset-zen, bei ungebremstem Klimawandelsogar verstärken. In Brandenburg istallein in diesem Zeitraum mit einemweiteren Anstieg der jährlichen Durch-schnittstemperatur um zwei GradCelsius zu rechnen. Wiederum wirddie Erwärmung im Süden kräftigerausfallen als im klimatisch eher mari-

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thema – energie und klimaandenburger ............

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tim beeinflussten Norden. Währendsich die Anzahl „echter Sommertage“bis 2050 etwa verdoppeln dürfte, wirdsich die Zahl der Frosttage im Winterwahrscheinlich halbieren.

Wir können uns anpassen

Die Niederschlagsmenge wird vo-raussichtlich weiterhin abnehmen.Nach den Projektionen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung(PIK) dürfte die Zahl der nieder-schlagsfreien Tage um etwa zehn Pro-zent zunehmen – wiederum stärker imSommer als im Winter. Die klimati-sche Wasserbilanz – das heißt Nie-derschlagsmenge abzüglich Verduns-tung und Abfluss – war im Zeitraumvon 1951 bis 2003 bereits negativ. Mitden trockenen und heißen Sommernder kommenden Jahrzehnte dürftesich diese Entwicklung verstärken.Der bisweilen schon heute auftretendeWassermangel in den Sommermona-ten wird sich verschärfen.

Bei alledem sollte man eines wissen:Das beschriebene Zukunftsszenariowurde am PIK mithilfe eines regionalenKlimamodells berechnet. Dieses wie-derum wurde durch ein Szenario fürden globalen Treibhausgasausstoß an-getrieben – und zwar dem Emissions-szenario A1B des IntergovernmentalPanel on Climate Change (IPCC). Miteiner erwarteten globalen Erwärmungvon etwa 2,8 Grad Celsius gehört A1B

noch zu den moderateren „Zukunfts-geschichten“. Ginge man davon aus,dass die Welt business as usual betriebeund der globale Treibhausgasausstoßweiter rasant zunimmt, müsste man fürBrandenburg einen noch viel stärkerenErwärmungstrend projizieren.

Der Klimawandel trifft also nichtnur die Arktis oder ferne Archipele,sondern findet auch vor unserer Haus-tür statt. Er wird Brandenburg vor gro-ße Herausforderungen stellen – undzwar noch größere Herausforderungenals andere Bundesländer. Das bedeutetindes nicht, dass die klimatischen Ver-änderungen das Land auch härter tref-fen müssen. Es bestehen Möglichkei-ten zur Anpassung. Man muss sie nurrechtzeitig nutzen. Der Weg führt übereine genaue Untersuchung der Vulne-rabilität: Welche Systeme werdendurch den Klimawandel besonders inMitleidenschaft gezogen und wie lässtsich dies verhindern? Dazu einige Bei-spiele:n In der Waldwirtschaft muss damit

gerechnet werden, dass das Risikovon Bränden bis zum Jahr 2050 umbis zu 30 Prozent zunimmt – in ei-ner Region, die bereits heute stärkergefährdet ist als andere in Deutsch-land. Entscheidend für das künftigeRisiko ist neben den klimatischenBedingungen die Waldstruktur.Unsere Untersuchungen des Wald-brandrisikos gehen zunächst davonaus, das Brandenburg ein Land der

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hans joachim schellnhuber – global denken, in brandenburg handeln

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Kiefer-Monokulturen bleibt. Bautman die Kiefernforste jedoch zu na-turnahen Mischwäldern um, sinktnicht nur das Waldbrandrisiko,sondern es steigt gleichzeitig derWert der Wälder als Lebensraumfür Pflanzen und Tiere und nichtzuletzt als Erholungsraum für denMenschen.

n Wie die bisherigen Entwicklungenzeigen, sind auch die landwirtschaft-lichen Erträge betroffen. Ernteaus-fällen können Landwirte vorbeugen,indem sie Sorten anbauen, die Hitzeund Trockenheit besser vertragenals herkömmliche. Vergleichsweiseschwierig wird es sein, mit sich häu-fenden Extremniederschlägen um-zugehen. Aber auch hier lassen sichkreative Lösungen ersinnen – wie etwa der gezielte Bewuchs zur Ver-meidung von Erosion.

n Wenn die Niederschlagsmengen abnehmen und der Grundwasser-spiegel sinkt, dürfte Wasser baldzum begrenzenden Faktor für dasWachstum landwirtschaftlicherNutzpflanzen, bewirtschafteterWälder und natürlicher Vegetationwerden – auch deshalb, weil derWasserverbrauch von Industrie,Haushalten, Tourismus und Land-wirtschaft kaum sinken wird. Diesheißt: Wir müssen uns in Branden-burg auf Nutzungskonflikte einstel-len, zum Beispiel zwischen Wasser-wirtschaft und Naturschutz.

Anpassung an die Folgen des Klima-wandels wird in den kommenden Jahr-zehnten nicht nur für Brandenburg unvermeidbar sein. Dabei können dieErfolge unserer Anpassung aber immernur einen Teil der Schäden ausgleichen.Wandelt sich das Klima zu stark und zuschnell, werden unsere Anpassungsmaß-nahmen nichts als Tropfen auf dem heißen Stein sein. An dieser Stelle rücktder erste Teil eines etwas überbean-spruchten, aber immer noch berechtig-ten Slogans ins Blickfeld: „Global den-ken, lokal handeln“. Es geht heutedarum, die letzte Chance zu wahren, eine Destabilisierung des Weltklimasmit ungeahnten Folgen zu verhindern.Der Klimawandel nimmt keine Rück-sicht auf Grenzen, Klimaschutz inBrandenburg muss daher auch im nationalen und globalen Kontext be-trachtet werden.

Brandenburg ist in der Pflicht

Deutschland hat sich verpflichtet, denAusstoß von Treibhausgasen deutlichzu verringern – gemäß dem Ziel derEuropäischen Union, die globale Er-wärmung auf maximal zwei GradCelsius zu begrenzen. EU-Kommissionund Bundesregierung bemühen sichum ein substantielles und weltweitbindendes Post-Kyoto-Regime für denKlimaschutz. Der Erfolg der künftigenVerhandlungen, vor allem der entschei-denden UN-Klimakonferenz 2009 in

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Kopenhagen, wird unter anderem da-von abhängen, wie unsere internatio-nalen Verhandlungspartner die deut-sche Klimapolitik bewerten. UnsereGlaubwürdigkeit und unser Gewichtin den Verhandlungen stehen und fallen mit der Bereitschaft, uns denHerausforderungen vor der eigenenHaustür zu stellen. Für die Verringe-rung des Ausstoßes von Kohlendioxid(CO2) liegen diese vor allem im Ener-giesektor. Hier stehen die Bundeslän-der als wesentliche Akteure besondersin der Pflicht.

Über eigene Ziele hinausgehen

Es ist zu begrüßen, dass sich Branden-burg mit dem Entwurf der Energie-strategie 2020 zu den Klimaschutz-zielen der Bundesregierung und derEuropäischen Union bekennt und dieInnovationspotentiale des Landes zu-nehmend erschließen will. Der ener-giebedingte CO2-Ausstoß soll bis zumJahr 2020 auf 60 Prozent des Aus-stoßes von 1990 und bis zum Jahr2030 um weitere 35 Prozent gedros-selt werden – ein Weg, der nicht nuraus klimapolitischer Sicht alternativlosist. Wenn sich Brandenburg, wie es imEntwurf heißt, „zu einem internatio-nal führenden Standort für die Erfor-schung, Produktion, Anwendung sowie den Export zukunftsfähiger Ener-gietechnologien“ entwickeln soll, müs-sen die selbst gesteckten Ziele über

ohnehin bestehende politische Ver-pflichtungen hinausgehen. DiesenWeg will die Landesregierung gehenund das ist uneingeschränkt begrü-ßenswert.

Auf eines muss die Wissenschaft allerdings hinweisen: Bei der Energie-strategie 2020 handelt es sich um einBündel von Absichtserklärungen –und die guten Absichten sind nichtneu: Im Jahr 2002 wurde die Ener-giestrategie 2010 präsentiert. Dama-lige Zielsetzung war es, den energie-bedingten CO2-Ausstoß bis 2010 auf55 Millionen Tonnen zu senken, be-zogen auf den Stand des Jahres 1990also um fast 60 Prozent. Die Ziel-setzung für 2020 liegt nun bei einerSenkung des Gesamtausstoßes auf 53Millionen Tonnen. Diese Reduktionsollte nach den bisherigen Plänen be-reits im Jahr 2010 annähernd erreichtsein. Davon sind wir bislang jedochweit entfernt.

Neue Technologie als Schlüssel

Die Landesregierung spricht sich da-für aus, den Anteil der Braunkohle-verstromung am gesamtdeutschenEnergiemix beizubehalten. Angesichtsder Entwicklungen des europäischenEmissionshandels ist jedoch nicht si-cher, ob dieser fossile Brennstoff inDeutschland künftig überhaupt nochwirtschaftlich genutzt werden kann.Die einzige Möglichkeit, Braunkohle

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klimafreundlich zu verstromen, be-steht darin, das bei der Verbrennunganfallende CO2 abzuscheiden und zuspeichern. In der Wissenschaft werdengroße Hoffnungen in das so genannte„Carbon Capture and Sequestration“(CCS) gesetzt – nicht nur mit Blickauf unsere regionalen Klimaschutzbe-mühungen. Diese Technik könnte einwichtiger Baustein des globalen Kli-maschutzes werden.

An der Spitze der Bewegung

Man wird Braunkohle auch inSchwellenländern wie China undIndien weiterhin in großem Maßstabverstromen und wir müssen alles dafür tun, dass dies so klimaschonendwie möglich geschieht. An die Spitzedieser Bewegung sollten wir uns nichtnur aus ökologischen, sondern auchaus ökonomischen Gründen setzen.CCS kann zum Exportschlager wer-den. Es ist wichtig, die CCS-For-schung intensiv voranzutreiben. InBrandenburg ist zu klären, ob genü-gend geeignete und kraftwerksnahegeologische Lagerstätten vorhandensind. Sollte das nicht der Fall sein,müssten die brandenburgischen Kraft-werksstandorte über ein Pipelinenetzmit den Lagerstätten verbunden wer-den.

Eine vorausschauende Energiepoli-tik kann aber nicht allein auf CCS set-zen: Die Nutzung erneuerbarer Res-

sourcen, vor allem der Solarenergie,muss langfristig zur tragenden Säuleder Energieversorgung werden.Gerade im relativ sonnigen Flächen-land Brandenburg dürfen wir diesePerspektive nicht vernachlässigen.

Neues „zu Hause“ testen

Den Willen, das Land als Standort zukunftsfähiger Energietechnologienauszubauen, unterstütze ich ausdrück-lich. Die Potentiale sind erkennbar:Das Land verfügt einerseits über qua-litativ exzellente, international be-achtete und weiterhin ausbaufähigeForschungskapazitäten in den Nach-haltigkeitswissenschaften. Andererseitssollten Klimaschutzmaßnahmen auf-grund der besonderen regionalenVulnerabilität leichter durchsetzbarsein als in weniger gefährdeten Regio-nen. So sollte die Chance bestehen,Brandenburger Innovationen „zuHause“ zu testen. Das Land könntezur Modellregion im Klimaschutzwerden und sich damit einen Wettbe-werbsvorsprung auf einem der wich-tigsten Zukunftsmärkte verschaffen.Den Klimawandel nur als Risiko undden Klimaschutz nur als Last zu be-trachten, wäre ein folgenschwererFehler. Denn dabei übersähe man diese Chancen, die sich jetzt bieten.Meines Erachtens gibt es zur Neu-erfindung unserer Industriegesell-schaft und zum nachhaltigen Wirt-

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schaften keine Alternative. Branden-burg kann sich heute positionieren,um morgen zu den Gewinnern des

globalen Wandels zu gehören. Die Ge-legenheit wird nie wieder so günstigsein, wie jetzt. n

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hans joachim schellnhuber – global denken, in brandenburg handeln

P R O F. D R. H A N S J O A C H I M S C H E L L N H U B E R

ist Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).

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Energie ist das Lebenselixier jedermodernen Volkswirtschaft. Noch

sind Wohlstand und Wachstum ohneeine gesicherte Versorgung mit Öl undGas undenkbar. Energie ist von strategi-scher Bedeutung – für uns in Deutsch-land und Europa, aber auch für die in-ternationalen Beziehungen insgesamt.Denn die stetig wachsende globaleNachfrage nach endlichen und damitknappen Energierohstoffen wirkt sichnicht nur auf die Zahlungsbilanzen vonKonsumenten- und Abnehmerstaatenaus. Auch das internationale Macht-gefüge wird maßgeblich durch Angebotund Nachfrage auf den globalen Ener-giemärkten bestimmt. Schon heutezeigt das selbstbewusste AuftretenVenezuelas auf internationaler Bühneoder das neu erwachte EngagementChinas in den afrikanischen Ölstaatendie Verbindung von Energieinteressenmit der Außen- und Sicherheitspolitik.

Dieser Trend wird sich verstärken,denn in den nächsten Jahrzehnten steigtnach Schätzungen der InternationalenEnergieagentur der globale Energie-

verbrauch um weitere 50-60 Prozent.Gleichzeitig steigt unsere Importab-hängigkeit und die großen Öl- undGasvorkommen konzentrieren sichmehr und mehr in außen- und sicher-heitspolitischen Risikoregionen, vor allem im Nahen und Mittleren Osten.Wenn die Versorgungslage sich weiterverengt, steigt die Gefahr von Vertei-lungskonflikten. Energie könnte ver-stärkt als Machtwährung in der inter-nationalen Politik eingesetzt werdenund ist damit schon heute ein Faktorglobaler Sicherheit und Stabilität.

Neue Risiken entstehen

Gleichzeitig ist der weltweit steigendeEnergieverbrauch Haupttreiber der kli-maschädlichen CO2-Emissionen. Undist damit nicht nur schädlich für Naturund Umwelt, sondern erzeugt neue au-ßen- und sicherheitspolitische Risiken.Der jüngst aufgebrochene Streit umZugriffsrechte auf die Bodenschätze derArktis, die durch den Klimawandel erstzugänglich werden, geben hiervon einen

Frieden und Sicherheitstatt Kampf um Öl WARUM EINE VORAUSSCHAUENDE AUßENPOLITIK

IN BRANDENBURG ANFÄNGT

VON FRANK-WALTER STEINMEIER

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Vorgeschmack. Gleiches gilt für die zu-nehmende globale Wasserknappheit,die durch den Klimawandel verstärktwird. Krisenanfällige Regionen wie dassüdliche Afrika, der Nahe und MittlereOsten oder Zentralasien spüren denwachsenden Druck durch permanenteWasserknappheit schon heute, politi-sche und wirtschaftliche Fortschrittesind bedroht. Nicht ohne Grund warntder Generalsekretär der Vereinten Na-tionen vor möglichen Wasserkriegen im21. Jahrhundert.

Das Beispiel Brandenburg

Mögliche Verteilungskonflikte, Energieals Machtwährung, Klimawandel alsSicherheitsrisiko - all das zeigt: eine vo-rausschauende Außenpolitik muss dieThemen Energie und Klima verstärktins Zentrum ihrer Analysen und Hand-lungsstrategien stellen. Sie muss mögli-che Konflikte um knappe Ressourcenfrühzeitig erkennen. Und sie zielt aufglobale Zusammenarbeit, um durch ei-ne kluge Klimapolitik den weltweitenEmissionsanstieg zu bremsen. Ist sie er-folgreich und auf Kooperation angelegt,kann Energie- und Klimapolitik zu ei-nem neuen Motor internationaler undregionaler Zusammenarbeit werden.Und zu einem Motor wirtschaftlichenWachstums bei uns in Deutschland.

Brandenburg ist hierfür das besteBeispiel. Wichtige Unternehmens-ansiedlungen wie die Vestas AG in

Lauchhammer oder First Solar inFrankfurt (Oder) zeigen: „GrüneTechnologie“ aus Brandenburg kannbeitragen, drohende Verteilungskon-flikte um fossile Energie zu verhindern.Denn sie stellt intelligente Alternativenzu den fossilen Energieträgern bereitund nimmt somit den Druck aus demglobalen Wettlauf um Ressourcen. Undsie kann zu einem echten Jobmotorwerden. In der Region Berlin-Branden-burg ist inzwischen ein Solar-Clusterauf Weltniveau entstanden, das amschnellsten wachsende in ganz Deutsch-land. Unternehmen wie Aleo Solar,Johanna Solar oder Odersun stehen fürdiese Erfolgsgeschichte. 35 Prozent allerin Deutschland hergestellten Photovol-taik-Module kommen aus der RegionBerlin-Brandenburg. Insgesamt sind inDeutschland weit über 200.000 Ar-beitsplätze in der Branche der erneuer-baren Energien entstanden, darunter ca.10.000 im Solarcluster Brandenburg.Selbst die Washington Post hat jüngstanerkannt, dass im nicht immer son-nendurchfluteten „Germany“ eine blü-hende Solarlandschaft entstanden ist,die sich vor Aufträgen nicht rettenkann.

Die Welt schaut auf Deutschland,von den US-Präsidentschaftskandidatenbis hin zu den Bürgermeistern aus asia-tischen Megacities, denn wir gelten alsModell bei der Energie- und Klima-politik. Über 40 Staaten weltweit habenunser Energie-Einspeisegesetz kopiert,

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um ihren Energiemix umweltfreundli-cher zu machen und ihre Importab-hängigkeit zu verringern. Immer mehrStaaten wollen mit Deutschland undder EU bei der Energie- und Klima-politik kooperieren. Von Brasilien bisnach Vietnam steigt die Nachfrage nachdeutschen und europäischen Lösungs-angeboten.

Gute Position für Europa

Die Bundesregierung hat im letztenJahr die Energie- und Klimapolitik insZentrum ihrer EU- und G8-Präsident-schaften gestellt. Die Bilanz kann sichsehen lassen und wir werden weiter da-für eintreten, dass die europäische Ener-gie- und Klimapolitik im Zieldreieckvon Versorgungssicherheit, Wirtschaft-lichkeit und Nachhaltigkeit in die rich-tige Richtung geht.

Zahlreiche Reisen in wichtige Liefer-und Transitländer wie Norwegen, Russ-land, Türkei, die Golfstaaten, oder inden Kaukasus und nach Zentralasienhaben mir gezeigt, dass Deutschlandund die EU bevorzugte Abnehmer undEnergiepartner sind. Europa ist durchdie Nachbarschaft zu den großen Vor-kommen, vor allem beim Gas, in einerguten Position. Wir wollen auf dieserGrundlage langjährige Energiepartner-schaften wie mit Norwegen und Russ-land weiter ausbauen und neue begrün-den. Denn vertrauensvolle Kooperationund kluge Diversifizierung im Sinne ei-

ner erhöhten Vielfalt bei Energiepart-nern und Transportwegen sind die bes-ten Strategien zur Steigerung der Ener-giesicherheit. Neue, aufstrebendeEnergieproduzenten in Zentralasienoder West- und Nordafrika werden wirdaher möglichst eng an den europäi-schen Energiemarkt heranführen, euro-päische Unternehmen bei ihren Inves-titionen unterstützen und den Ausbauder Transportinfrastruktur fördern.

Weitere Diversifizierung bedeutetauch, den Einsatz erneuerbarer Ener-gien in Deutschland und Europa nochweiter zu steigern um damit den Ener-giemix ausgeglichener und umwelt-freundlicher zu gestalten. Der ehrgeizi-ge Vorschlag der EU-Kommission, denAnteil der erneuerbaren Energien bis2020 EU-weit auf 20 Prozent zu stei-gern, legt die Messlatte auch fürDeutschland ziemlich hoch. Aber wirwerden diese Herausforderung anneh-men, denn wir sind gut gerüstet – auchdank grüner Technologie aus Branden-burg.

Die „grüne Revolution“

Erneuerbare, saubere Energien sind einSchlüsselelement für eine zukunftsfähi-ge Energiepolitik und das beste Mittelzur Einhaltung der Klimaschutz-Ziele,die sich die EU unter deutscher Rats-präsidentschaft gegeben hat. Die EUwill Vorreiter bleiben, auch um denKlimaverhandlungen für die Zeit nach

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frank-walter steinmeier – frieden und sicherheit statt kampf um öl

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2012 genügend Schwung zu geben. InDeutschland und Europa wissen wir:Globaler Klimaschutz ist ein Gebot derökologischen, aber auch wirtschaftli-chen und sicherheitspolitischen Ver-nunft.

Auch im transatlantischen Verhältnissteht die Energie- und Klimapolitik da-her ganz oben auf der Agenda. Wir wol-len mit den USA im Technologiebe-reich enger zusammenarbeiten, ohneunsere Forderung nach bindendenMinderungszielen für alle Industrielän-der abzuschwächen. Die Forschungsan-strengungen der USA und der EU kön-nen, intelligent miteinander verknüpftund der Welt eine „grüne Revolution“bescheren. Sie hätte das Zeug für ein gemeinsames, transatlantisches „Man toMoon“-Projekt. Die Chancen sind gut,denn schon heute geht der Löwenanteildes amerikanischen Wagniskapitals indiesen Bereich – grüne Technologieboomt auf beiden Seiten des Atlantiks.

Warum mehr Zusammenarbeit?

Gemeinsam mit den klimafreundlichenBundesstaaten in den USA ebnen wirden Weg für einen globalen Emissions-handel. Bei meinen Gesprächen Mitte2007 in Kalifornien habe ich mitGouverneur Schwarzenegger verabre-det, eine globale Partnerschaft für denEmissionshandel zu gründen. Mit tat-kräftiger Unterstützung aus Branden-burg, denn die wissenschaftliche Exper-

tise für unseren Vorschlag kommt vomPotsdam Institut für Klimafolgenfor-schung, mit dem wir auch weiter eng zusammenarbeiten. Ende 2007 ist dieInternational Carbon Action Partnership,kurz ICAP, ins Leben gerufen worden.ICAP ist bereits wenige Monate nachGründung die zentrale Plattform fürbestehende und aktuell entstehendeEmissionshandelssysteme – von der EU über die kanadische Provinz BritishColumbia bis hin zu Neuseeland. Wei-tere Staaten werden folgen, sowohlAustralien als auch Mexiko haben be-reits Interesse bekundet.

Auch mit den Schwellenländern – allen voran China und Indien – sindKlima- und Energiethemen festeGrößen im außen- und sicherheitspo-litischen Geschäft. Energiesicherheitspielt für diese rasant wachsendenVolkswirtschaften eine zentrale Rolle.Ihre gewaltige Nachfrage auf den globa-len Rohstoffmärkten zeigt besondersdeutlich die Neuvermessung der ener-giepolitischen Weltkarte. Mit Japan,China, Südkorea, Taiwan und Indienkommen fünf der zehn wichtigsten Öl-importeure aus Asien. Und der Ener-giehunger vor allem der Schwellenlän-der steigt weiter. Umso wichtiger ist es,für die aufstrebenden Staaten ein attrak-tives Angebot zu entwickeln und sie inglobale, kooperative Strukturen ge-meinsamer Klima- und Energiesicher-heit einzubinden. Gelingt uns das – unddazu gibt es keine bessere Alternative –

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bedeutet dies auch frischen Wind fürden von der EU und Deutschland ver-folgten effektiven Multilateralismus.Wir werben für einen kooperativenAnsatz, in der internationalen Energie-politik genauso wie in den eher klassi-schen Feldern der Außen- und Sicher-heitspolitik

So sieht Energieaußenpolitik aus

Die Welt muss hier enger zusammen-rücken. Klima- und Energiepolitik machen besonders deutlich, dass wiruns in einem globalen Zeitalter befin-den. Grundlegende Probleme für dieSicherheit und das Wohlergehen derMenschheit sind im 21. Jahrhundertnur noch gemeinsam zu lösen – übernationale Grenzen, unterschiedlichekulturelle Traditionen und historischeErfahrungen hinweg.

Damit wird Energieaußen- und Kli-mapolitik zu einem Schlüsselfeld für dieglobalen Entscheidungsstrukturen undfür das politische Miteinander im Welt-maßstab. Denn Energiesicherheit so wiewir sie verstehen, zielt auf kooperativeSicherheit für Produzenten, Transit-staaten und Konsumenten gleicherma-ßen. Statt des Rechts des Stärkerenkämpfen wir für die Stärke des Rechts,für Kooperation statt Konfrontation.

Die EU hat mit dem größten Bin-nenmarkt der Welt, der auch im Ener-giebereich große Fortschritte macht,viel an guter Politik und Kooperations-

feldern anzubieten. Die Nachbarstaatender EU interessieren sich für unsereRegeln und Gesetze und arbeiten zuweiten Teilen bereits im Rahmen derEnergiegemeinschaft eng mit uns zu-sammen. Denn sie wissen: Diese Zu-sammenarbeit fördert bei ihnen dieInvestitionssicherheit, hilft dem Um-weltschutz und macht den Energie-transit in die EU für Produzenten,Transitstaaten und Verbraucher einfa-cher.

Russland ist ein Partner

Auch mit Russland, dem wichtigstenEnergiepartner der EU, wollen wir aufGrundlage eines erneuerten Partner-schafts- und Kooperationsabkommensnoch enger als bisher zusammenarbei-ten. Wir stehen bereit, Russland bei derweiteren Modernisierung der Energie-wirtschaft und der Steigerung der Ener-gieeffizienz – zum Beispiel im Gebäu-debereich – zu unterstützen. DennEnergie, die in Russland gespart wird,kann nach Europa exportiert werden.Ein gutes Geschäft für beide Seiten.Wir wollen eine zukunftsgerichtete, vertrauensvolle Energiepartnerschaftmit Russland, die auf langjährigen, gu-ten Erfahrungen aufbaut und damit ei-ne weitere Verflechtung zwischen Russ-land und der EU ermöglichen kann –zum gegenseitigen Vorteil und auf derGrundlage eines verlässlichen rechtli-chen Rahmens.

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frank-walter steinmeier – frieden und sicherheit statt kampf um öl

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Energieeffizienz ist ein wichtigesZukunftsthema weit über Russland hi-naus. So haben wir während unsererG8-Präsidentschaft eine längerfristigeZusammenarbeit bei der Energieeffi-zienz mit den fünf wichtigsten Schwel-lenstaaten China, Indien, Brasilien,Mexiko und Südafrika begonnen. Mitdiesem so genannten Heiligendamm-Prozess haben wir Neuland bei der glo-balen Partnerschaft zwischen Industrie-und Schwellenstaaten betreten. Auchauf der Ebene der Außenpolitik. Dennals Ergänzung zu Heiligendamm fandim Dezember 2007 in Berlin die ersteinternationale Konferenz zu kooperati-ver Energiesicherheit von Verbraucher-,Transit- und Produzentenländern statt.Die Konferenz in Berlin hat gezeigt:Energie- und Klimapolitik kann einestabile Brücke für internationale Zu-sammenarbeit bilden, gerade bei denZukunftsthemen, die wir nur gemein-sam angehen können.

Viele schauen auf Deutschland

Auch die internationale Technologie-zusammenarbeit ist ein Zukunftsfeld in-ternationaler Kooperation. Wir wissen:Die doppelte Herausforderung vonEnergiesicherheit und Klimaschutz istnur mit modernster Technologie zumeistern. Deutschland spielt hier in derChampions League. Wir haben viel an-zubieten. So wollen wir mit unserenasiatischen Partnern verstärkt über

Nachhaltigkeit und Urbanisierung spre-chen, denn die Städte von morgenschaffen den Energiehunger von über-morgen. Investitionsentscheidungen inEnergieproduktion und Infrastrukturlegen Verbrauchs- und Emissionspfadefür Generationen fest. Auch hier mussEnergieaußenpolitik ansetzen und intel-ligente deutsche und europäische Lö-sungen ins Spiel bringen. SaubereTechnologie und Expertise „Made inBrandenburg“ sind auch hier einTrumpf, der stechen kann. Deshalbnehme ich auch immer wieder Unter-nehmer und Wissenschaftler aus Bran-denburg auf meine Auslandsreisen mit.

Zuhause eine solide Basis

Deutschland ist gut aufgestellt, sowohlbei der Energieaußenpolitik als auch beider Klimapolitik, das stelle ich bei mei-nen Gesprächen im Ausland immerwieder fest. Ob in Afrika, wo die Nach-frage nach deutscher Energietechnikspürbar wächst, ob in Asien, wo immermehr Staaten unsere Förderpolitik fürerneuerbare Energien zum Vorbild neh-men. Oder in den USA, wo alle Favo-riten der anstehenden Präsidentschafts-wahlen ihre Energie- und Klimapolitikeng mit Deutschland und der EU ab-stimmen wollen.

Wir sind Wunschpartner, Impuls-geber und Schrittmacher. Denn unserglobales Eintreten für eine zukunftsfähi-ge Energie- und Klimapolitik hat eine

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solide Basis bei uns zu Hause, sie ist er-probt und glaubwürdig. Wir verfügen inDeutschland über modernste Techno-logie und leistungsfähige Unternehmen,vor allem bei den erneuerbaren Ener-gien. Wir bringen den globalen Struk-turwandel täglich ein kleines Stück vo-

ran – auch Dank grüner Technologieaus Brandenburg. Das erhöht unsereEnergiesicherheit und schützt dasKlima, bei uns in Deutschland und weitdarüber hinaus. Und ist damit ein wich-tiger Beitrag für Frieden und Sicherheitweltweit, heute und in Zukunft. n

F R A N K-W A L T E R S T E I N M E I E R

ist Bundesaußenminister und stellvertretender Vorsitzender der SPD.

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rger ............

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PERSPEKTIVE 21: Lassen Sie uns mal überdas Wetter reden. Wie sind die Aussichtenfür morgen?DIETMAR WOIDKE: Da gilt der alte Spruch:Kräht der Hahn auf dem Mist, ändertsich das Wetter oder es bleibt wie’s ist.Aber Spaß beiseite. Die globalen Klima-veränderungen müssen uns Sorge ma-chen. Zwar klingt „global“ immer sehrweit weg. Die Wahrheit ist aber: Wir ste-cken auch in Brandenburg mittendrin imKlimawandel.

Und wie äußert sich das? WOIDKE: Mir ist vor ein paar Tagen ein30 Jahre alter Atlas in die Hände gefallen.Dort war abgebildet, wann der Frühlingim Durchschnitt beginnt. Wenn Sie eineKarte von heute daneben legen, kannman sehen: Vor dreißig Jahren begannder Frühling in Brandenburg knapp zweiWochen später als heute.

Und wie sieht es in Zukunft aus? WOIDKE: Die Extreme werden sich ver-stärken. Wir werden wahrscheinlich

heißere Sommer und feuchtere Winterhaben. Insgesamt wird es wärmer undtrockener. Es gibt Klimamodelle, diegehen davon aus, dass in Brandenburgdie Sommerniederschläge um 30 Pro-zent zurückgehen und die Jahresdurch-schnittstemperatur um 2,5 Grad steigt.Das ist zum Beispiel für den Wasser-haushalt nicht gut, da wir ohnehin alswasserarmes Land gelten. Dürreperio-den und Starkregen treffen die Land-wirtschaft und ziehen Notprogrammenach sich oder fordern einen immensenAufwand beim Deichbau. In den ver-gangenen Jahren haben wir mit den hei-ßen Sommern, mit starken Gewitternoder sehr trockenen Phasen schon einenVorgeschmack bekommen, auf das waskommt. Der Kampf gegen den Klima-wandel geht uns also direkt an – und da-mit auch die Frage, wie wir CO2 einspa-ren. Denn das ist der Klimakiller Nr. 1.

Brandenburg gilt jedoch als CO2-Sünder. WOIDKE: Brandenburg ist Energieex-porteur. Das heißt, wir produzieren den

„Wir leben nicht auf einer Insel“ÜBER DAS WETTER VON MORGEN, DIE RICHTIGE ENERGIESTRATEGIE

UND DIE BRAUNKOHLE-VOLKSINITIATIVE SPRACH THOMAS KRALINSKI

MIT DIETMAR WOIDKE

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Strom nicht nur für uns, sondern auchfür Berlin und weit darüber hinaus. Ja,wir wissen: Bei der Verstromung vonBraunkohle wird derzeit viel CO2 pro-duziert. Wenn man ehrlich wäre, müss-te man also den CO2-Ausstoß vonBrandenburg auch auf die Länder umle-gen, die von uns Strom abnehmen. Vielentscheidender ist aber die Frage, wiewir den CO2-Ausstoß reduzieren undgleichzeitig die Energiesicherheit garan-tieren.

Die Landesregierung arbeitet derzeit aneiner Energiestrategie für 2020. Was sindderen Ziele? WOIDKE: Es geht hauptsächlich um vierwichtige Ziele. Die energiebedingtenCO2-Emissionen sollen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 sinken, bis2030 um weitere 35 Prozent. Statt 90Millionen Tonnen CO2 sollen es 2030nur noch gut 20 Millionen sein. Zwei-tens muss es gelingen, das Wirtschafts-wachstum – das wir weiter brauchen –vom Energieverbrauch abzukoppelnund die Energieeffizienz zu verbessern.Drittens soll der Anteil erneuerbarerEnergien beim Primärenergieverbrauchauf 20 Prozent steigen. Das ist fast eineVerdreifachung. Und viertens ist eineverbrauchernahe, bedarfsgerechte undwettbewerbsfähige Energieversorgungs-struktur unser Ziel.

Geht es in der Strategie nur um Energieoder auch um das Klima?

WOIDKE: Beide Themen sind heutenicht mehr voneinander zu trennen.Aber zu viele glauben immer noch, dassder Strom aus der Steckdose kommt.Wenn wir heute über Energie reden,müssen wir uns verständigen über dieArt und Weise, wie wir den Strom pro-duzieren. Wir müssen über Versor-gungssicherheit, Energieeinsparung und den Umweltaspekt reden. Das sindauch die vier Säulen der Energiestrate-gie. Und alle vier Säulen hängen mit-einander zusammen.

Wir wollen keine Kernkraft

Dann fangen wir mal mit der Strom-produktion an. Wo kommt der Strom inZukunft her? WOIDKE: Zuerst: Es gibt einen breitenKonsens im Land, dass wir keine Kern-kraft wollen – schlicht weil sie gefähr-lich ist und heute nach wie vor keinerweiß, wo der hochgiftige Müll hin soll.Bei den erneuerbaren Energien geht esin Brandenburg hauptsächlich umWind, Sonne, Biomasse und Geother-mie. Wasser ist aufgrund des geringenGefälles im Land nur in Ausnahme-fällen eine Option. Die Energiege-winnung aus Erdwärme steckt noch inden Kinderschuhen, aber wir sind inBrandenburg im Vergleich zu anderengerade bei der Erforschung schon ziem-lich weit. In allen Bereich der erneuer-baren Energien gibt es noch großeWachstumspotentiale. Aber es gibt

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auch Grenzen. Bei der Biomasse wird esam deutlichsten: Um nur 1 Prozent desKraftwerks Schwarze Pumpe zu erset-zen, bräuchte man die Biomasse einesganzen Jahres aus halb Brandenburg.

Die Akzeptanz der Windkraft ist in etli-chen Regionen an Grenzen gestoßen. WOIDKE: Brandenburg steht bei derErzeugung von Windenergie an zweiterStelle in der Bundesrepublik nach Nie-dersachsen. Es ist richtig, dass es zuneh-mend auch Diskussionen über dieWindkraftanlagen gibt, wenn sie zu nahan bewohnte Regionen rücken. Aberdiese Diskussion ist notwendig, Ener-gieerzeugung geht nicht ohne Kon-flikte. Wenn wir die Windenergie aus-bauen wollen, bin ich dafür, dass wirbisher ungenutzte Flächen für dieWindkraft gewinnen – wie ehemaligeMilitärflächen oder Kohlegruben. Dagibt es noch viele Flächen, die wir nut-zen können, ohne dass viele Menschendabei gestört werden. Auch bei derSonnenenergie lässt sich noch viel ma-chen. Warum zum Beispiel lassen sichStraßenbeläge nicht mit Solarzellen her-stellen?

Ohne Konflikte geht es nicht

Energie wird also immer mehr von einerrein technischen zu einer politischen Frage?WOIDKE: Ja, denn wir leben nicht auf ei-ner Insel. Nochmal: Ohne Konfliktewird es nicht gehen. Grüne und Linke

engagieren sich ja gerade in einer Volks-initiative gegen die Braunkohle. Sie sindauch gegen die Atomkraft. Ich habe abernoch keine Antwort gehört, wo dennder Strom oder die nötige Energie her-kommen soll. Nur mit erneuerbarenEnergien wird es nicht gehen – übrigensist Brandenburg da bereits bundesweitan der Spitze. Polemisch formuliert:Was machen wir, wenn es dunkel istund gerade kein Wind weht? Und wie es mit Öl aus dem Nahen Osten aus-sieht, weiß auch kein Mensch. Da wirdzu kurz gedacht. Ich habe Verständnisdafür, dass Menschen wegen der Kohlenicht umgesiedelt werden wollen. Hei-mat und Heimatgefühl sind sehr wichtigfür den Zusammenhalt unserer Gesell-schaft.

Billiger Populismus hilft nicht

Heimat lässt sich auch nicht ersetzen. WOIDKE: So ist es. Die Folgen des Braun-kohleabbaus kann man nur mildern. DasLand wird deshalb sehr genau daraufachten, dass Vattenfall seine Zusagen füreine sozial verträgliche Umsiedlung wahrmacht. Aber noch ein Wort zur Volks-initiative: Was da gemacht wird, ist billi-ger Populismus, der zur Aufklärungnicht beiträgt. Damit eine moderne Ge-sellschaft funktioniert, braucht sie Ener-gie. Und wir müssen klären, wie dennunser Energiebedarf gedeckt werden soll.Aber ich gebe zu, dass wir mit den Leu-ten mehr über die Energieversorgung

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dietmar woidke – wir leben nicht auf einer insel

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von morgen reden müssen. Brandenburgist und bleibt Energieland. Gerade des-halb brauchen wir im Land auch eine in-tensive Debatte über Energieversorgungund Klimaschutz.

Ist es realistisch, dass wir bis 2050 unserenEnergieverbrauch aus 50 Prozent erneuer-baren Energien decken, wie das Bundes-umweltamt schreibt? WOIDKE: Ja – und ich hoffe, dass es bisdahin sogar noch mehr wird. In Bran-denburg stecken wir uns bis 2020 dasZiel von 20 Prozent. Das heißt aber auch,dass der Rest aus fossilen Energieträgernkommen muss, also aus Kohle, Gas oderÖl – trotz des Booms der erneubarenEnergien. Und da sind wir schon bei derFrage der Versorgungssicherheit undImportabhängigkeit. Öl und Gas kom-men in vielen Fällen aus politisch sensi-blen Ländern. Das heißt, Energiever-sorgung wird mehr und mehr auch einFall für die Außenpolitik.

Neben den erneuerbaren Energien ist dieeinzige heimische Energiequelle dieBraunkohle. WOIDKE: Und auf die können wir des-halb nicht verzichten. Denn wir müssenuns nicht nur die Frage der Versorgungs-sicherheit sondern auch der Verfügbar-keit stellen.

Das Problem ist nur, dass die heimischeBraunkohle eine so schlechte Klimabilanzhat.

WOIDKE: Das stimmt, aber nur derzeit.In Brandenburg wird es in ZukunftAbbau und Verstromung der Kohle nurgeben, wenn die Abscheidung des CO2

gelingt.

Energie sichert Jobs

Das heißt, keine neuen Tagebaue ohneCO2-Abscheidung? WOIDKE: Ja, so wird es sein. Die vonVattenfall beantragten neuen Tagebauein Welzow-Süd, Jänschwalde-Nord,Bagenz-Ost und Spremberg-Ost wird esnur geben, wenn die CO2-arme Kraft-werkstechnologie funktioniert. Daswird ein Bestandteil der Energiestrate-gie sein. Das heißt, die Kohle wird ver-brannt, das Kohlendioxid abgetrenntund unterirdisch gelagert. Somit ge-langt es nicht in die Atmosphäre. Einsolches CO2-armes Kraftwerk mit diesersogenannten CCS-Technologie ent-steht derzeit als Pilotanlage in SchwarzePumpe – es ist das erste weltweit. Damitsteht Brandenburg weltweit an derSpitze der Technologieentwicklung.Das kann ein großer Exportschlagerwerden. Und Brandenburg kann an derSpitze der Bewegung stehen, wenn esdarum geht, innovative Technologienzu entwickeln, die dem Klimaschutzdienen und gleichzeitig die umweltbe-wusste Energieversorgung für dieZukunft ermöglichen. Das schafft undsichert Arbeitsplätze. In der Solar-industrie gibt es in Brandenburg heute

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thema – energie und klimaandenburger ............

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über 500 Beschäftigte – und fast täglichwerden es mehr ... ... unter anderem durch die Ansiedlungender Solarfabriken in Frankfurt/ Oder. WOIDKE: Nicht nur dort, auch Fürsten-walde, Brandenburg an der Havel undPrenzlau profitieren vom Aufschwungder Solarindustrie. Die Windkraftnut-zung sichert uns in Brandenburg 1.500Arbeitsplätze. In der Land- und Forst-wirtschaft sind seit 2000 in Brandenburg1.100 neue Arbeitsplätze im Energiebe-reich entstanden. Der Landwirt wirdmehr und mehr zum Energiewirt. Und in der Lausitz hängen etwa 12.000 Jobsvon der Energieerzeugung ab.

Preis wird nicht mehr sinken

Wird der Strom dann mit dieser neuenund wahrscheinlich teuren CO2-Ab-scheidetechnologie teurer? WOIDKE: Richtig ist, dass der Preis zunehmend in den Mittelpunkt desInteresses rückt. Das Energiewirt-schaftliche Institut der Uni Kölnschätzt, dass sich die realen Import-preise für Erdöl und Erdgas bis 2030gegenüber den neunziger Jahren ver-doppeln werden. Der Preis für Stein-kohle wird demnach real viel langsamersteigen, für Braunkohle real konstantbleiben. Wo genau die Preise in 20Jahren liegen, weiß keiner. Richtig istaber auch, dass der Energiepreis nichtnur durch die Verstromung von Kohlebestimmt wird. Ich bin mir jedoch si-

cher, dass der Preis auf lange Sicht gese-hen nicht sinken wird. Das hat etwasmit Versorgungssicherheit und Verfüg-barkeit von Energie zu tun. Die Förde-rung von Öl und Gas wird in Zukunftabnehmen, weil die Vorräte abnehmen,gleichzeitig steigt die Nachfrage vonenergiehungrigen Staaten wie Chinaoder Indien. Die Folge kann sich jederan den Fingern abzählen: Der Preis fürÖl und Gas wird weiter steigen. Das istein weiteres Argument dafür, dass wirauch auf einheimische Energiequellensetzen müssen. Die Braunkohle wirdimmerhin subventionsfrei gefördert.

Kann die Politik überhaupt den Preis be-stimmen? WOIDKE: Ja. Wir können uns überlegen,wie wir den Wettbewerb und die Ener-gieversorgung organisieren. MüssenNetz und Betrieb getrennt werden? Wasmachen die Kommunen, die heute nochvielfach über die Verteilernetze in denStädten verfügen? Die Vor- und Nach-teile einer Rekommunalisierung müssenwir vorurteilsfrei diskutieren. Wer dasNetz hat, hat auch das Sagen und könn-te zum Beispiel Vorgaben zum Einsatzerneuerbarer Energien machen.

Energieeffizienz wird wichtig

Energie- und Kraftstoffpreise werden zu-nehmend zu einer sozialen Frage. WOIDKE: Das ist richtig. Energiepolitikwird zunehmend auch eine Frage der

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dietmar woidke – wir leben nicht auf einer insel

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Gerechtigkeit. Und deshalb ist eine zu-kunftsfähige Energiepolitik auch einwichtiges Anliegen der SPD. Denn einwichtiges Ziel von Sozialdemokraten istes auch, dass Energie für alle erschwing-lich bleibt. Auch Geringverdiener müs-sen sich Autos leisten können und sol-len nicht in einer dunklen und kaltenWohnung sitzen. Deshalb muss dieSPD auch die Rolle des Staates in derEnergiewirtschaft und auf dem Energie-markt neu bestimmen.

Bleibt noch die vierte Säule der Energie-strategie: die Einsparung. Ist das wirklichrealistisch? WOIDKE: Ja. Energieeffizienz wird dasExportgut Nr. 1. Wir müssen die deutsche Vorreiterrolle als Industrie-nation behaupten. Die Nachfrage nachenergiesparenden Technologien wirdweltweit steigen. Wir sind da in Bran-denburg zum Beispiel mit unseren

Hochschulen und Universitäten gutaufgestellt was die Erforschung, Ent-wicklung und Breitenanwendung vonEnergieeffizienztechnologien und -ver-fahren angeht. Bei den Energietechno-logien spielt die Zukunftsmusik. DasLand wird die Vernetzung von Wirt-schaft und Wissenschaft weiter unter-stützen. Wir brauchen den permanen-ten Erfahrungsaustausch, damit neueErkenntnisse schnell in neue Produkteund Verfahren münden. Die Landes-regierung wird die klima- und klima-folgenrelevanten Forschungspotentialein einer Forschungsplattform bündeln.Dabei werden die Grundlagenforschungund die Entwicklung von Handlungs-strategien einen Schwerpunkt bilden.Mit dem Potsdam-Institut für Klimafol-genabschätzung haben wir bereits heuteein weltweit anerkanntes Forschungs-institut, mit dem das Land in engemKontakt steht. n

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D R . D I E T M A R W O I D K E

ist Minister für ländliche Entwicklung, Umwelt und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg.

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A lle Menschen haben ein Recht aufVersorgung mit Energie zu bezahl-

baren Preisen. Gleichzeitig bedroht unse-re Art der Energieversorgung das globaleKlima und droht, eine Erderwärmungmit möglicherweise katastrophalen Fol-gen mit sich zu bringen.

Dadurch stellt sich in mehrfacherHinsicht eine neue soziale Frage:n Der wachsende Energiebedarf, unter

anderem ausgelöst durch das berech-tigte Streben der Schwellenländernach wirtschaftlichem Wohlstand,macht Energie auf den globalenEnergiemärkten immer teurer. InDeutschland sind Industrie undHaushalte bereits jetzt mit stetig stei-genden Energiekosten konfrontiert.Nach einer jüngst veröffentlichtenStudie der Deutschen Postbank ha-ben die Verbraucher in Deutschlandim Jahr 2007 für Kraftstoffe, Erdgas,Heizöl und Strom gut 100 MilliardenEuro aufgewendet. Die Wohnneben-kosten haben sich für viele Bürger zueiner „zweiten Miete“ entwickelt, diezu erheblichen Belastungen führt.

n Der Klimawandel ist in vollemGange, die Auswirkungen sind be-reits spürbar: Aufgrund der Erder-

wärmung nehmen Extremwetter-ereignisse wie Stürme, Dürren undFluten zu und bringen Menschenden Tod, zerstören Häuser undInfrastrukturen – wie jüngst inBangladesh. Hauptleidtragende hin-gegen sind zumeist diejenigen, dienur vergleichsweise geringe Mengenklimaschädliche Treibhausgase aus-gestoßen haben – allen voran dieBewohner Afrikas. Damit stellt sicheine globale Gerechtigkeitsfrage.

Ökonomie und Ökologie wachsenimmer stärker zusammen, die Ökologiemuss zur Ökonomie des 21. Jahrhun-derts werden. Das Tandem Ökologieund Ökonomie muss zudem sozialpoli-tisch flankiert werden.

Der Energiebedarf wächst weiter

Mehr als 1,8 Milliarden Menschen ver-fügen über keinen Zugang zu einer ge-regelten Energieversorgung. Heute be-völkern 6,5 Milliarden Menschen denPlaneten. Die Vereinten Nationen ge-hen davon aus, dass im Jahr 2050 be-reits rund 9,2 Milliarden Menschen aufder Erde leben. Wir erleben gegenwär-

Eine neue soziale Frage ENERGIE UND KLIMASCHUTZ WERFEN GANZ NEUE PROBLEME AUF

VON MATTHIAS MACHNIG

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tig einen gewaltigen Weltwirtschafts-schub. Mit der Öffnung des Welthan-dels werden sich vor allem Märkte derSchwellen- und Entwicklungsländerimmer mehr integrieren. Anders als inden neunziger Jahren sind es nicht mehrdie USA, Japan und die EU, die sich dasWirtschaftswachstum aufteilen, son-dern Länder wie China, Indien, Bra-silien, aber auch Indonesien. Mobilitätwird weiter anwachsen. Prognosen ge-hen davon aus, dass sich allein derLuftverkehr im Vergleich zum Jahr2003 bis 2020 mehr als verdoppelnwird. Auch die Verkehrsleistung in denheutigen Schwellenländern und derweltweite Bestand an Kraftfahrzeugenwerden rapide zunehmen. China wird2025 mit mehr als 250 Millionen Fahr-zeugen der größte Automobilmarkt derWelt sein und die USA ablösen.

Ressourcen werden knapper

Mit diesen Megatrends droht eineenorm steigende Energienachfrage ein-herzugehen. Mit 443 Exajoule ist derheutige Weltenergieverbrauch bereitsdoppelt so hoch wie zu Beginn der sieb-ziger Jahre. Das Jahr 2004 war ein Re-kordjahr: Es wurde das größte je gemes-sene Jahreswachstum an weltweitemPrimärenergiekonsum festgestellt. Pro-gnosen der Internationalen Energie-agentur IEA gehen davon aus, dass biszum Jahr 2030 der Energiebedarf um50 Prozent gestiegen sein wird.

Ressourcen werden knapper. Schonseit Jahren wird mehr Öl verbraucht, alsneue Vorkommen erschlossen werden.Insbesondere bei den Industrierohstoffenwie Rohöl, Steinkohle, Stahl, Alumi-nium oder Kupfer hat in den vergange-nen Jahren eine sich stark beschleuni-gende Verbrauchsdynamik eingesetzt.Die Verknappung und Verteuerung derRohstoffe wird zu verschärften Vertei-lungskonflikten führen. Energie- undRessourcenfragen werden damit zuSicherheitsfragen.

Warum wir handeln müssen

Wachsender Energiehunger, wachsen-der Verkehr und Industriealisierungwerden bei Beibehaltung der gegen-wärtigen technologischen Basis zu einem verheerenden Anstieg des Aus-stoßes von klimaschädlichen Treib-hausgasen führen. Nach Schätzung der IEA wird sich dieser bis zum Jahr2050 auf jährlich knapp 60 Gigaton-nen verdoppeln – sofern wir nichtheute entgegensteuern!

Die Folgen des Klimawandels sindbekannt: Ein Anstieg des Meeresspie-gels, eine Zunahme von Hurrikanenund Stürmen und eine Ausbreitung derWüste. Es sind die Entwicklungsländer,die hier besonders schwer betroffensind. Und dies gilt nicht nur von derZunahme extremer Witterungslagen.Die Folgen des Klimawandels erschwe-ren mancherorts den Zugang zu Trink-

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wasser, begünstigen die Verbreitungvon Infektionskrankheiten und min-dern die landwirtschaftliche Ertragslage.Bereits heute bedingt der Klimawandelweltweit eine größere Anzahl vonFlüchtlingen als Kriege.

Der Klimawandel ist eine ökonomi-sche Bedrohung: Der Stern-Report vonSir Nicolas Stern kommt zu dem Ergeb-nis, dass Schäden zwischen 5 Prozentund 20 Prozent des globalen Bruttoin-landsprodukts im Falle eines unge-bremsten Klimawandels drohen. Wennwir nicht heute handeln, wird uns dasteuer zu stehen kommen.

Gerechtigkeit und Energie

Wie lassen sich ökologische und öko-nomische Gerechtigkeit im Kampf gegen den Klimawandel auf internatio-naler Ebene herstellen? Dass die Haupt-verursacher die Hauptlast für denKampf gegen den Klimawandel schul-tern, erscheint gerecht. Dafür müssenauf internationaler Ebene bindendeVereinbarungen getroffen werden. Diesist aber nicht ausreichend. Wer dieFrage der Gerechtigkeit im Klimaschutzdurch eine bloße unterschiedliche Las-tenverteilung zwischen Nord und Südbeantwortet, denkt zu kurz. Wachstumvon Wirtschaft und Bevölkerung müs-sen von der Emission klimaschädlicherGase entkoppelt werden. Nur wennEnergie- und Ressourcenverbrauch vomWachstum getrennt werden, haben wir

eine Chance, der Klimafalle zu entge-hen. Dafür müssen gerade die aufstre-benden Regionen dieser Welt in dieLage versetzt werden, ökonomische Ant-worten auf die ökologische Frage zu lie-fern.

Die internationale Energiepolitikmuss konsequent auf die Ziele einernachhaltigen Energieversorgung ausge-richtet sein: Mehr Energieeffizienz undmehr erneuerbare Energien, um Wachs-tum vom Energieverbrauch unabhängigzu machen. Nur so können eine globaleEnergieversorgung langfristig wirt-schaftlich gesichert und zugleich dieverheerenden Folgen des Klimawandelswirksam bekämpft werden. Auf Ener-gieeffizienz und erneuerbare Energiensetzen heißt, sich für die Zukunft rüs-ten. Dies ist gerade auch für Entwick-lungs- und Schwellenländer von Bedeu-tung. Mit Investitionen in diesemBereich können die Leitmärkte derZukunft gesichert werden. Zugleichwerden Investitionen jetzt vorgenom-men, zu denen die Politik Wettbewer-ber später zwingen wird. Der interna-tionale politische Druck in RichtungKlimaschutz, Effizienz und erneuerbareEnergien nimmt stetig zu. Vor diesemHintergrund müssen Bestrebungen vonLändern wie Indien und China, ver-stärkt in Umwelttechnologien zu inves-tieren, gefördert werden. Es ist die Auf-gabe der internationalen Energiepolitikdazu beizutragen, dass aufstrebendeEntwicklungs- und Schwellenländer

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matthias machnig – eine neue soziale frage

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mit einer ökologischen Industriepolitiklangfristig wettbewerbsfähig werdenund dabei zugleich einen Beitrag zurBekämpfung des Klimawandels leisten.Soziale Gerechtigkeit und Bewahrungdes Weltfriedens sind ohne eine nach-haltige Energieversorgung auf interna-tionaler Ebene nicht denkbar.

Energiekosten steigen

Um der ökonomischen Bedrohungdurch den Klimawandel wirksam zu begegnen, brauchen wir revolutionäreTechnologiesprünge. Ist es mit der ers-ten industriellen Revolution gelungen,Holz als Brenn- und Baustoff zu erset-zen und verdanken wir der zweiten industriellen Revolution die Elektrifi-zierung, so muss mit der „dritten indus-triellen Revolution“ die Abhängigkeitvon fossilen Rohstoffen überwundenwerden. Deutschland hat mit seinenTechnologien im Bereich der erneuer-baren Energien einen Exportschlager ge-landet und muss weiterhin als Vorreiterim Klimaschutz vorangehen. Dies istnicht nur unsere Aufgabe als Industrie-nation und Mitverursacher des Klima-wandels, es ist auch eine ganz klareChance, die wir nicht verpassen dürfen.Es obliegt dem Staat als Pionier mit ei-ner ökologischen Industriepolitik dieRahmenbedingungen für die Heraus-forderungen der Zukunft zu schaffen.Mit dem integrierten Energie- undKlimaprogramm hat die Bundesregie-

rung ein äußerst ehrgeiziges Maßnah-menpaket beschlossen, das hier die rich-tigen Impulse setzt: n Maßnahmen für eine Erneuerung

des Kraftwerksparks durch effizienteKraftwerke,

n Maßnahmen für die Verdoppelungvon effizienter Nutzung von Kraft-Wärme-Kopplung,

n Maßnahmen zur Steigerung erneu-erbaren Energien bei Stromerzeu-gung sowie

n zur Einführung von erneuerbarenEnergien im Wärmesektor.

Der Verbraucherpreisindex inDeutschland ist im Jahresdurchschnitt2007 gegenüber 2006 um 2,2 Prozentgestiegen. Dies ist die höchste Jahres-teuerungsrate seit 1994. Für die Be-schleunigung der Preisentwicklung2007 sind – neben der Erhöhung derMehrwert- und Versicherungssteuer zuBeginn des Jahres – vor allem die Ener-giepreise verantwortlich. Energiepro-dukte (Haushaltsenergie und Kraft-stoffe) verteuerten sich 2007 um 3,9Prozent. Unter allen Energiepreisenstiegen die Preise für Strom am stärks-ten (+ 6,8 Prozent). Ohne Berücksich-tigung der Energiepreise hätte die jah-resdurchschnittliche Teuerung 1,9Prozent betragen. Vor allem Durch-schnittsverdiener in Deutschland müs-sen einen immer größeren Anteil ihresverfügbaren Haushaltsbudgets fürStrom, Heizung und Sprit ausgeben.

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thema – energie und klimaandenburger ............

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Die jährliche Jahresenergierechnung ei-nes dreiköpfigen Haushalts ist seit demJahr 2000 von etwa 1.300 Euro aufüber 2.200 Euro gestiegen. Das durch-schnittliche Nettogehalt zum Beispieleiner Krankenschwester liegt bei mo-natlich 1.440 Euro. Eine Alleinerzie-hende Krankenschwester mit 2 Kindernmuss ca. 13 Prozent ihres Jahresnetto-einkommens zur Deckung der Energie-kosten verwenden. Wie können wir ver-hindern, dass für Mitbürgerinnen undMitbürger Energieversorgung zu einemLuxusgut wird?

Wer nichts verbraucht, zahlt nicht

Die günstigste Kilowattstunde Strom –für den Geldbeutel und für die Umwelt– ist die, die wir nicht verbrauchen.Jeder kann von sich aus ohne großenAufwand Energiekosten dadurch sen-ken, dass er Energie einspart. EffizienteEnergiesparlampen sind nur ein Bei-spiel. Enormes Potenzial steckt auch inStand-by Verlusten. Mit einer abschalt-baren Steckerleiste lassen sich hier aufeinfache Weise Energie und Kosten spa-ren. Wer bei der Anschaffung von elek-trischen Geräten auf den Energiever-brauch achtet, wird belohnt. Durch denKauf eines Kühlschranks der Effizienz-klasse A++ können gegenüber der Ver-wendung eines durchschnittlich effi-zienten Gerätes die klimaschädlichenTreibhausgasemissionen auf ein Drittelreduziert und zwei Drittel des Strom-

verbrauchs eingespart werden. Durcheinfache Maßnahmen zur energetischenSanierung, wie etwa Wärmedämmungoder den Ersatz alter Fenster, kann biszur Hälfte des Wärmebedarfs einesHauses eingespart werden. Was auf derinternationalen Ebene gilt, trifft auch inDeutschland zu: Mit der Senkung desEnergieverbrauchs tragen wir zumKlimaschutz und zur wirtschaftlichenEnergieversorgung bei. Energieeinspar-maßnahmen sind ein wirksames undeinfaches Mittel, um sich von steigen-den Energiekosten zu entlasten.

Die Einsparpotenziale bei der Nach-frage sind immens: Bis 2020 können beiStrom über 20 Prozent, beim Wärme-bedarf für Gebäude über 15 Prozentund beim Verkehr über 20 Prozent desVerbrauchs gespart werden. Es ist dieAufgabe der Politik, Maßnahmen aufden Weg zu bringen, um dieses Poten-zial zu realisieren. Im Rahmen des inte-grierten Energie- und Klimaprogrammssoll mit der Liberalisierung des Mess-wesens ein Beitrag dafür geleistet wer-den, dass Verbraucher über die Kostenihres Energieverbrauchs besser infor-miert werden und insbesondere durchVerbrauchssteuerung Einsparungen rea-lisieren können.

Im Zeitraum von 1995 bis 2000 sind durch die Liberalisierung der eu-ropäischen Strom- und Gasmärkte dieStrompreise gefallen. Danach sind siewieder deutlich gestiegen. Der Durch-schnittshaushalt zahlt heute fast die

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Hälfte mehr für den Strom als noch imJahr 2000. Bei der Debatte um steigen-de Preise verweisen Unternehmen oft-mals auf staatliche Belastungen, wie et-wa die Förderung der erneuerbarenEnergien oder der Kraft-Wärme-Kopp-lung. Darauf können aber nur etwa 5 Prozent des Strompreises der Privat-haushalte zurückgeführt werden, undsomit können diese Kostenanteile nichtzu den Preistreibern gehören. Vielmehrresultiert sowohl der Fall der Stromprei-se vor 2000 als auch ihr danach stattge-fundener Anstieg vor allem auf demKostenblock „Stromerzeugung, Strom-transport und Stromvertrieb“ – die urei-gene Angelegenheit der Stromkonzerne.

Die Rekordgewinne der marktbe-herrschenden Konzerne sprechen fürsich: E.ON und RWE konnten ihrenGewinn von Januar bis September ummehr als 10 bzw. um 20 Prozent stei-gern und einen Überschuss von 5 Mil-liarden bzw. 5,7 Milliarden Euro erzie-len. Es ist Aufgabe der Politik, dieBedingungen für die Förderung vonWettbewerb zu verbessern, um An-bietervielfalt und wettbewerbsfähigePreise zu erreichen. Derzeit teilen sichdie vier großen Energieversorgungs-unternehmen 80 Prozent der Erzeu-gungskapazitäten. Die Unternehmensind hingegen aufgefordert, ihre soziale

Verantwortung zu übernehmen. Dasflächendeckende Angebot von Sozial-tarifen für einkommensschwache Haus-halte und eine kostenlose Energiebe-ratung sind mögliche Instrumente, mitdenen sich Unternehmen ihrer sozialenund ökologischen Verantwortung ge-genüber Verbrauchern stellen könnenund sollten.

Die soziale Frage und die Energie-und Klimapolitik sind miteinander engverwoben. Energie ist zu einer neuen so-zialen Frage geworden – global wie na-tional. Eine neue Energiepolitik zu be-treiben, die auf erneuerbaren Energienund Energieeffizienz basiert, dient letzt-lich nicht nur dem Klima, sondern auchdem Ausgleich sozialer Interessen zwi-schen Nord und Süd sowie innerhalbunserer Gesellschaft.

Umgekehrt gilt auch: Die sozialeFrage hat eine Energie-Komponente.Intelligente Sozialpolitik muss berück-sichtigen, dass Energiepreise in Zukunftweiter steigen werden. Die Förderungder Stromeinsparung und der Energie-effizienz, gerade bei sozialtransferbe-rechtigten Haushalten, ist insofern un-erlässlich, damit steigende Energiepreisekeine unerträglichen sozialen Folgenmit sich bringen und im Gefolge die öf-fentlichen Sozialausgaben immer weiternach oben treiben. n

M A T T H I A S M A C H N I G

ist Staatssekretär im Bundesumweltministerium.

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W äre im vergangenen Jahr eine„Zahl des Jahres“ gewählt worden,

so hätten die Juroren vermutlich ohneZögern die „450“ auf den Schild geho-ben. Rund 450 Teile auf eine MillionTeile Luft ist nach bekannter Überzeu-gung der Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler des IntergovernmentalPanel on Climate Change die Grenze, diedas CO2 nicht überschreiten darf, solldie Klimaerwärmung im Mittel zweiGrad Celsius nicht übersteigen.

Das Ziel selbst ist weitgehend unstrit-tig. Heftig wird darüber diskutiert, wiees zu erreichen sei. Im Mittelpunkt ste-hen meist die Instrumente selbst. Dazuzählen neben dem großflächigen Ausbauerneuerbarer Energien etwa das Sparenbeim Stromverbrauch, der umsichtigeUmgang mit Heizenergie oder eine bes-sere Gebäude-Dämmung, aber auchmehr Sparsamkeit der Automobile sowiemehr Effizienz im Kraftwerksbereich.

Wie Vattenfall dazu beitragen kann,dieses ambitionierte Ziel im Klima-schutz zu erreichen und die Klimaerwär-

mung langfristig auf zwei Grad Celsius zu begrenzen, hat Lars G. Josefsson,Präsident und CEO der schwedischenVattenfall AB, aufgezeigt und mit derInitiative „Combat Climate Change“Lenker internationaler Konzerne inSachen Klimaschutz an einen Tisch ge-bracht. Doch solche Initiativen alleinesichern noch keinen Erfolg. DerTheorie müssen Taten folgen. DassVattenfall es ernst meint, zeigt das kon-zernweite Ziel der Vattenfall-Gruppe,den Kohlendioxid-Ausstoß der Erzeu-gungsanlagen bis 2030 im Vergleich zu1990 um die Hälfte zu senken.*

Die Zeit drängt zum Handeln. Da-bei müssen wir uns jedoch fragen, wiewir als Volkswirtschaft das CO2 amgünstigsten vermeiden können. Nur solassen sich negative Effekte auf Konsumund Wachstum möglichst gering hal-ten. Eine Aufstellung der Vermeidungs-kosten nach Maßnahmen hat Vattenfallbereits vorgelegt.

Mit der Braunkohle in die ZukunftDIE KLIMAFREUNDLICHE NUTZUNG DER KOHLE SICHERT

WIRTSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN IN BRANDENBURG UND DEUTSCHLAND

VON REINHARDT HASSA

* Weitere Informationen unter www.vattenfall.com/climate

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Hierbei wird deutlich: Maßnahmenwie bessere Isolierung oder energieeffi-ziente Beleuchtung oder Raumkühlungbedeuten bei Realisierung sogar negati-ve Kosten, also gespartes Geld. Hinge-gen ist die spezifische CO2-Einsparungdurch andere Maßnahmen – darunterAusbau der Solarenergie, aber auch dieNachrüstung vorhandener Kraftwerke –vergleichsweise teuer, aber nicht mindernotwendig. Dass die Optionen günsti-ger CO2-Vermeidung häufig nicht inDeutschland oder Europa, sondern inEntwicklungs- und Schwellenländernliegen, ist aufgrund der globalen Di-mension des Problems unerheblich. Es zählt dabei nicht wo, sondern ob die Einsparung des Klimagases erfolgt.Dieser simplen Erkenntnis folgend, hatVattenfall im Januar 2007 seine „Welt-karte des Klimaschutzes“ vorgestellt.Darin finden sich die CO2-Minderungs-potenziale aufgeschlüsselt sowohl nachWirtschaftssektoren als auch nach Welt-regionen.*

Kraftwerke erhalten

Dass aus Sicht des Vattenfall-Konzernsin diesem Gesamtkonzept auch dielangfristige Nutzung der Braunkohleihren Platz behält, ist deutlich gewor-den, als Vattenfall Europe Mining &Generation – im deutschen Vattenfall-Konzern zuständig für Bergbau und

stromgeführte Kraftwerke – im Herbstvergangenen Jahres seine Tagebaupla-nung der kommenden Jahrzehnte fürBrandenburg der Öffentlichkeit vorge-stellt hat.

Diese Vorhaben beinhalten für Bran-denburg zusätzlich zur Weiterführungdes Tagebaus Welzow-Süd Anträge fürdrei neue Tagebaue: Noch in diesem Jahrsollen die Unterlagen für ein Braun-kohlenplanverfahren für das Feld Jänsch-walde-Nord eingereicht werden. Ab derzweiten Hälfte des nächsten Jahrzehntssollen die Anträge für die Felder Sprem-berg-Ost und Bagenz-Ost folgen.

Mit diesen Maßnahmen soll es unsgelingen, die Kraftwerksstandorte Jän-schwalde und Schwarze Pumpe langfris-tig zu erhalten und zu entwickeln. InSachsen ist – vorausgesetzt das Vorrang-gebiet nördlich des Tagebaus Nochtenwird zum Abbau genehmigt – die Roh-kohleversorgung der Boxberger 500-Megawatt-Blöcke sowie der KraftwerkeQ und R durch die Tagebaue Reichwal-de und Nochten für die voraussichtlicheKraftwerkslaufzeit von 40 Jahren gesi-chert.

In die während der Folgemonate ent-standene und bis heute andauernde öf-fentliche Debatte um die Zukunft derBraunkohlenutzung hat sich Vattenfallmit seinen Argumenten engagiert betei-ligt. Denn, so unsere Überzeugung, dieNutzung der Braunkohle in Branden-burg ist auf lange Sicht unverzichtbar –und dies aus mehreren Gründen.

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* Weitere Informationen unter www.vattenfall.com/climatemap

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Hier in Brandenburg (und dies an-gesichts des ausgeprägten Umweltbe-wusstseins in Deutschland sicherlicheher als anderswo sonst auf der Welt)sind unter anderem die Wissenschaftlerder Brandenburgischen TechnischenUniversität in Cottbus gemeinsam mitden Ingenieuren von Vattenfall dabei,technologisches Neuland zu betreten.

Wie CO2 abgetrennt wird

Im Zentrum der Arbeit steht die Ent-wicklung der klimafreundlichen Strom-erzeugung aus Braunkohle. Aus den ver-schiedenen Verfahren zum Auffangen,Anreichern und dauerhaften Einlagernvon CO2 – auf Englisch: Carbon Captureand Storage (CCS) – hat sich Vattenfallzur Erprobung des so genannten Oxy-fuel-Verfahrens entschieden.

Im Kern geht es hierbei um die Ver-brennung der Braunkohle in einerAtmosphäre aus Sauerstoff und rezirku-liertem Rauchgas. Erste Schritte mit einer 500-Kilowatt-Testanlage des Centrums für Energietechnologie Bran-denburg (CEBra) am Standort Jän-schwalde sind getan – die erreichtenCO2-Konzentrationen von über 90Prozent im Rauchgas sind mehr als zu-frieden stellend. Im Sommer 2008 wirdeine Pilotanlage in Schwarze Pumpe miteiner thermischen Leistung von rund 30Megawatt in Betrieb gehen.

Parallel hierzu erprobt eine Gruppevon Wissenschaftlern, unter anderem des

GeoForschungsZentrums (GFZ) Pots-dam, gemeinsam mit Ingenieuren ver-schiedener Firmen im Rahmen desProjektes CO2SINK die Möglichkeitder Speicherung des CO2 in einem po-rösen Salzgestein, einem so genanntensalinen Aquifer. Dieses Verfahren könntedas bekannte und im Ausland bereits erfolgreich praktizierte Verpressen vonCO2 in leere und teilentleerte Öl- undErdgaslagerstätten ergänzen. NachSchätzungen liegen die Speichervolu-mina in Erdgasspeichern bei rund 2,7Milliarden Tonnen, die salinen Aquiferehaben Kapazitäten von 20 bis 30 Mil-liarden Tonnen CO2 und könnten da-mit über 40 bis 60 Jahre das CO2 aus derdeutschen Stromerzeugung aufnehmen.

Planungen weit vorangeschritten

Darüber hinaus soll im Rahmen einesvom Bundesforschungsministerium begleiteten Projekts zur erhöhten Aus-beute von Erdgasvorkommen (kurzEGR, Enhanced Gas Recovery) in ei-nem Erdgasspeicher in der Altmark abvoraussichtlich 2009 dauerhaft CO2

verpresst werden. Die Leitung des Pro-gramms liegt wiederum beim GFZPotsdam, Projektpartner sind Vattenfallund das Förderunternehmen Gaz deFrance – Produktion ExplorationDeutschland GmbH (GdF PEG) mitSitz in Lingen. Das CO2 hierfür soll ausder Pilotanlage in Schwarze Pumpestammen.

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reinhardt hassa – mit der braunkohle in die zukunft

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In einem nächsten Schritt soll eineDemo-Anlage mit einer Leistung von250 bis 300 Megawatt am Kraftwerks-standort Jänschwalde Erkenntnisse fürdie großtechnische Anwendung liefernund ab 2015 in Betrieb gehen. Nachden aktuellen Planungen soll dabei einbestehender Block des KraftwerksJänschwalde um einen Oxyfuel-Kesselerweitert werden. Die Planungen hier-für haben unlängst begonnen. Zugleichwird geprüft – und dies ist vor allem fürdie mögliche Nachrüstung vorhandenerKraftwerke bedeutend – ob an einembestehenden Kessel das Post-Combus-tion-Verfahren, also eine CO2-Wäsche,demonstriert werden kann. Die Ergeb-nisse dieser Demonstrationsphase sindder Grundstein für den kommerziellenSerieneinsatz der Oxyfuel-Technik inregulären Großkraftwerken.

Wirkungsgrad muss größer werden

Eine weitere Herausforderung der CO2-Abscheidung ist der mit ihr verbundeneVerlust an Wirkungsgrad. Expertenrechnen mit einer Effizienzminderungvon 8 bis 10 Prozentpunkten. Um denBrennstoffeinsatz möglichst gering zuhalten und die Wirtschaftlichkeit desVerfahrens zu sichern, arbeitet Vatten-fall intensiv daran, den Effizienzverlustdurch die CO2-Abscheidung durchneue Technik auszugleichen.

Die eine Hälfte des Wirkungsgrad-verlustes soll eine energiesparende Vor-

trocknung der Rohbraunkohle kompen-sieren. Das neue Verfahren soll denWirkungsgrad von Braunkohlenkraft-werken um 4 bis 5 Prozentpunkte aufzukünftig mehr als 48 Prozent anheben– und damit auf die Effizienz von Stein-kohlenkraftwerken anheben. Eine Versuchsanlage zur so genannten„Druckaufgeladenen Dampf-Wirbel-schicht-Trocknung“ (DDWT) geht inwenigen Monaten in Betrieb. Die ande-re Hälfte des Wirkungsgradverlustes sol-len höherer Dampfdruck und Dampf-temperaturen von 700 Grad Celsius imKraftwerksbetrieb kompensieren.

Eine universelle Technologie

Angesichts der globalen Dimension der Klima-Problematik und des Hand-lungsbedarfs nicht nur der Kyoto-Staaten wird deutlich, welche Chancendie Technik „Made in Brandenburg“bietet: als wichtiges Element im welt-weiten Umweltschutz und als Exportfür die Region. Dies gilt umso mehr, alssich CCS-Technologien prinzipiell fürden Einsatz bei allen fossil befeuertenKraftwerken eignen.

Vattenfall arbeitet intensiv an dertechnischen Umsetzung und der notwen-digen Wirtschaftlichkeit der Abschei-dung und unterirdischen Einlagerung desKohlendioxids. Als Voraussetzung derAnwendung solcher Verfahren gilt es indes, die rechtlichen Rahmenbedingun-gen eindeutig zu klären.

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thema – energie und klimaandenburger ............

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Unstrittig ist, dass nur eine Kombi-nation aller zur Verfügung stehendenMöglichkeiten zum hoch gestecktenKlimaschutzziel führen kann. Was inder engagierten Debatte allerdings au-ßer acht bleibt, ist die Tatsache, dass dieEnergiewirtschaft nicht unabhängigvom gesellschaftlichen Gesamtgefügeist. Und Auswirkungen auf den Ener-giesektor haben wiederum direkte undindirekte Rückwirkungen auf dieVolkswirtschaft. Das heißt: Nicht nurder drohende Klimawandel, auch derWeg zur Begrenzung seiner Auswir-kungen betrifft die Unternehmen, dieMenschen und nicht zuletzt den Staatals Ganzes unmittelbar. Deshalb ist eineganzheitliche Betrachtung das Gebotder Stunde.

Nur noch 42 Jahre Öl

Entscheidend für die Bewertung einesRohstoffes, dies gilt für Erz, Öl als auchdie Braunkohle, ist die Menge, die da-von noch gefördert werden kann. DieBundesanstalt für Geowissenschaftenund Rohstoffe hat aus den bekanntenVorräten Zeiträume ermittelt, wie langeverschiedene fossile Energieträger beiangenommen gleich bleibendemKonsum noch zur Verfügung stehen.Während beim Erdöl die bekanntenkonventionellen Reserven, also die zuheutigen Preisen und mit heutigerTechnik wirtschaftlich gewinnbarenVorkommen theoretisch noch 42 Jahre

reichen, sind es beim konventionellenErdgas 62 Jahre. Die heute bekanntenSteinkohlenreserven könnten – beigleich bleibender Förderung – für wei-tere knapp 140 Jahre reichen. Bei derBraunkohle sind es sogar mehr als 300Jahre.*

Auch bei der geografischen Vertei-lung spricht einiges für den festenBrennstoff. Beim konventionellenErdöl entfallen rund drei Viertel undbeim konventionellen Erdgas rund dieHälfte aller Reserven auf OPEC-Staa-ten. Damit liegen die Vorräte an Ölund Gas zu erheblichen Teilen in poli-tisch weniger stabilen Regionen derWelt. Darüber hinaus liegen die Ortevon Hauptförderung und Hauptver-brauch weit auseinander, was zusätz-liche Unsicherheiten aufgrund langerTransportwege per Schiff oder Pipelineerzeugt. Nicht so im Bereich derKohlen: Während die Steinkohlen-reserven gut verteilt zu großen Teilen inAustralien, Nordamerika und Russlandliegen, entfällt bei den Braunkohlen-vorräten sogar rund ein Sechstel allerBraunkohlenvorräte auf die Europä-ische Union.

Hieraus – sowie aus der Struktur desVerbrauchs – entstehen Importabhän-gigkeiten. Im vergangenen Jahr habenwir in Deutschland mit 97 Prozent na-hezu den kompletten Erdölverbrauch

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reinhardt hassa – mit der braunkohle in die zukunft

* Siehe dazu: Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, Reserven, Ressourcen und Verfügbarkeit von Energierohstoffen 2006.Kurzstudie, Fassung vom 23.11.2007 unter www.bgr.bund.de

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durch Importe gedeckt. Ähnlich sieht esbei Erdgas und Steinkohle aus, wo wirzu 82 Prozent sowie 67 Prozent vonAuslandslieferungen abhängig sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich dieFrage, in wie weit wir uns nicht nur inDeutschland sondern in ganz Mittel-europa abhängig machen wollen vonausländischen Primärenergielieferun-gen. Die Nachfrage nach Braunkohlejedenfalls wird mit einem Importanteilvon 0,2 Prozent nahezu ausschließlichaus inländischer Förderung bedient.*

Wenn Kritiker angesichts dieser bis-lang isolierten Betrachtung fossilerPrimärenergieträger einwenden, dieZukunft der Energielieferung gehöreohnehin den erneuerbaren Quellen,dann haben sie damit sicher Recht. DieFrage ist nur, wann wir realistisch in derLage sein werden, unseren Primärener-gieverbrauch, weit überwiegend ausWind, Sonne und ähnlichem decken zukönnen. Immerhin stammt aktuell jedevierte erzeugte Kilowattstunde Stromaus Braunkohle. Zudem sichert dieBraunkohle zusammen mit der Kern-kraft nahezu ausschließlich die sichereRund-um-die-Uhr-Versorgung mitElektrizität in der Grundlast.

Eines darf auch bei der aktuell soemotional geführten Debatte um denKlimaschutz nicht vergessen werden:Die Braunkohle, wie auch die weltweit

noch bedeutendere Steinkohle, werdenals Energieträger bei der Stromversor-gung auch morgen ihren Beitrag leistenmüssen. Alle seriösen Studien bestäti-gen dies.

Kohle bleibt unverzichtbar

Auch wenn sich in Deutschland seit einigen Jahren eine Entkopplung vonBruttoinlandsprodukt und Primär-energieverbrauch zeigt und Prognosensogar einen leichten Rückgang derEnergienachfrage erwarten, ist dies mitder weltweiten Entwicklung keinesfallsvergleichbar. Ohne entschiedene poli-tische Intervention rechnet die Interna-tionale Energieagentur (IEA) damit,dass sich der weltweite Primärenergie-verbrauch zwischen heute und 2030 um rund die Hälfte erhöht. Nur mitentschlossenen Maßnahmen von Re-gierungen rund um die Welt könnte der Primärenergieverbrauch 2030 ge-genüber dem Laissez-faire-Fall um zehnProzent geringer ausfallen. Weltweit,und dies bestätigen beide Szenarien derIEA, werden fossile Rohstoffe denGroßteil des Energiebedarfs decken.

Eine anhaltende Bedeutung derBraunkohle erwarten auch die Autorendes im Auftrag des Bundesministeriumsfür Wirtschaft und Arbeit erstelltenEnergiereports. In ihrer Referenzpro-gnose kommen die Wissenschaftler desKölner EnergiewissenschaftlichenInstituts und der Prognos AG zu dem

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thema – energie und klimaandenburger ............

* Für Angaben zu Energieverbrauch und Importquoten siehe:www.ag-energiebilanzen.de

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Schluss, dass der Anteil der Braunkohleam Primärenergieverbrauch von 2000bis 2030 von 10,8 Prozent auf 12,3Prozent sogar ansteigen wird. Ähnlicheserwarten die Experten bei der Brutto-stromerzeugung: Hier sagen die Auto-ren ein Wachstum des Braunkohlen-anteils von 25,8 Prozent (2000) auf29,3 Prozent (2030) voraus.*

Dass die Braunkohle während dernächsten Jahrzehnte im Energiemixunverzichtbar bleibt, das räumengleichsam die Verfasser der energie-wirtschaftlichen Leitstudie 2007** ein.Auch unter der Annahme umfangrei-cher klimaschutzpolitischer Maßnah-men gehen sie davon aus, dass sich derAnteil der Braunkohle an der Primär-energienutzung bis 2030 bestenfallshalbieren lässt.

Diese Leitstudie im Auftrag desBundesministeriums für Umwelt, Na-turschutz und Reaktorsicherheit zeigtdabei nur eines von vielen denkbarenSzenarien zur Limitierung der CO2-Konzentration auf 450 ppm in der Luft.Sie übernimmt hierfür die ökonomi-schen und demografischen Eckdatendes Energiereports IV weitestgehend,definiert aber zur Erreichung der Kli-maziele unter anderem einen wesentlichstärkeren Ausbau der erneuerbaren

Energien sowie eine stärkere Senkungdes Primärenergiebedarfs.

Doch nicht nur im globalpolitischenWeitwinkel betrachtet, spricht einigesfür die Braunkohle. Auch der Blick aufBrandenburg macht die Bedeutung desEnergieträgers deutlich. Die Förderungder Braunkohle hat in der Lausitz Tra-dition. Seit knapp 100 Jahren wird derBrennstoff in der Region industriell ab-gebaut und sorgt hier für Arbeit undWertschöpfung.

Arbeit für 12.000 Menschen

Mit der politischen Wende stand – wiein der Glas- und Textilindustrie – dieZukunft der Energiewirtschaft mit ih-ren Tausenden Beschäftigten auf derKippe. Nur ein eiserner Sanierungskurs,verbunden mit der Stilllegung von8.750 Megawatt Kraftwerksleistungund schwerwiegendem Personalabbaukonnte die Tagebaue und Kraftwerke in der Region wirtschaftlich erhalten.

Dieser Entwicklung, aber auch einem Milliarden schweren Erneue-rungsprogramm unter anderem in dieModernisierung der acht 500-Mega-watt-Blöcke in Jänschwalde undBoxberg sowie den Neubau von rund3.400 Megawatt Braunkohlenleistungist es geschuldet, dass der jährlicheCO2-Ausstoß zwischen 1990 und2006 von rund 111 Millionen aufrund 60 Millionen Tonnen CO2 be-reits um fast die Hälfte gesunken ist.

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reinhardt hassa – mit der braunkohle in die zukunft

* Siehe dazu Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zuKöln (Hg.), Die Entwicklung der Energiemärkte bis zum Jahr2030. Energiewirtschaftliche Referenzprognose, Essen 2005, S.XIII

** Vgl. Dr. Joachim Nitsch, Leitstudie 2007 „AusbaustrategieErneuerbare Energien“, Stuttgart 2007, S. 20ff

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Heute fördern die Lausitzer Tage-baue jedes Jahr subventionsfrei rund 60Millionen Tonnen Rohbraunkohle fürKraftwerke und Veredlung. Der Stromaus Lausitzer Braunkohlenkraftwerkenist – dies zeigt die Leipziger Strombörsetäglich – als günstiger Grundlaststromvoll konkurrenzfähig.

So stabil und verlässlich die Strom-lieferung des Energieträgers Braun-kohle, so beständig ist der Ertrag diesesWirtschaftszweiges für die Lausitz.Vattenfall steuert aus Cottbus herausein Geschäft mit insgesamt 7.500 Be-schäftigten. Der größte Teil, rund5.000, davon arbeiten in der branden-burgischen Lausitz. Dazu kommenmehr als 500 Lehrlinge, die an Bran-denburger Standorten in 13 verschiede-nen Berufen ausgebildet werden.

Doch – und auch dies gilt es immerwieder ins Bewusstsein zu rufen – nichtnur die direkt bei Vattenfall EuropeMining & Generation Beschäftigtenprofitieren von Bergbau und Strom-erzeugung in der Lausitz. Die PrognosAG hat 2005 in einem Gutachten zur„Energie- und regionalwirtschaftlichenBedeutung der Braunkohle in Ost-deutschland“* festgestellt, dass durchdie Konsumausgaben der unmittelbarBeschäftigten sowie Aufträge an Liefe-ranten und Dienstleister durch jeden eigenen Beschäftigten zusätzlich 1,3

weitere Arbeitsplätze gesichert werden.Nimmt man also zur direkten auch dieindirekte und induzierte Beschäftigunghinzu, stehen allein in Brandenburgdurch die Braunkohle weit mehr als12.000 Menschen in Lohn und Brot.

Partner für die Region

Wo immer wirtschaftlich und rechtlichmöglich, achtet Vattenfall darauf, seineAufträge an Drittunternehmen derRegion zu vergeben. Von den 2007 ins-gesamt durch Vattenfall Europe Mining& Generation vergebenen Aufträgen imWert von mehr als 1,2 Milliarden Eurogingen 533,3 Millionen – und damitrund 44 Prozent – an weit mehr als1.000 Lieferanten aus Brandenburg.Darunter sind Dienstleister im Bereichder Wartung von Kraftwerks- und Tage-bautechnik ebenso wie Dienstleistungenim Bereich des Gebäudemanagements.Wichtigen finanziellen Spielraum fürdie Kommunen in der Region eröffnenzudem die Gewerbesteuern, die Vaten-fall jährlich an die Standortgemeindenzahlt.

Über das Kerngeschäft hinaus emp-findet sich Vattenfall als Partner derRegion. Der Personalvorstand vonVattenfall, Dr. Hermann Borghorst, hatdas regionale Netzwerk Lausitz im Rah-men der bundesweiten Initiative fürBeschäftigung initiiert und setzt sich damit persönlich für bessere Zukunfts-chancen junger Menschen in Branden-

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* Siehe Prognos AG, Energie- und regionalwirtschaftlicheBedeutung der Braunkohle in Ostdeutschland. Endbericht, Berlin2005, S. X

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burg ein. Wichtiges Projekt in diesemZusammenhang ist sicherlich der Lau-sitzer Existenzgründer Wettbewerb, derin diesem Jahr zum fünften Mal ange-hende Unternehmer beim Schritt in dieSelbstständigkeit begleitet.

Ein weiteres wichtiges Element desEngagements ist die Stiftung LausitzerBraunkohle. Mit den Erträgen aus 4,3Millionen Euro Stiftungsmitteln wer-den insbesondere Projekte gefördert, diemit Standorten der Braunkohlennut-zung in Verbindung stehen und sichmit Kinder- und Jugendarbeit sowieBildung und Erziehung beschäftigen.Seit ihrer Gründung Ende 2004 hat dieStiftung 26 gemeinnützige Initiativenund Projekte mit insgesamt 123.000Euro unterstützt.

Wie die Kohle Zukunft gestaltet

Darüber hinaus fördert Vattenfall kul-turelle Veranstaltungen sowie Breiten-und Spitzensport in der Region. Wich-tige Projekte im Kulturbereich sind diePartnerschaft mit dem Filmfestival inCottbus, der Vattenfall-Kunstpreis„Energie“ und das Kulturforum GutGeisendorf mit seinem abwechslungs-reichen Veranstaltungsprogramm. ImBereich des Breitensports veranstaltetund unterstützt Vattenfall unter ande-rem Läufe und Radsportevents im Re-vier. Zu Vattenfalls wichtigsten Akti-vitäten für den brandenburgischenSpitzensport gehört die Förderung des

Olympiastützpunktes in Cottbus sowiedas Sponsoring des FC Energie Cottbus.

Wie die vorangegangenen Ausführun-gen zeigen, nutzt die Braunkohlenwirt-schaft der Lausitz auf vielfältigste Weise.Wichtig ist hierbei aber vor allem: DieWertschöpfung und damit die Finanz-kraft der Braunkohlennutzung gibt derRegion Spielraum. Spielraum, ihre Zu-kunft zu gestalten. Um langfristig wirt-schaftlich erfolgreich zu sein, gilt es, dieLausitz nachhaltig zu entwickeln. Diesgelingt am einfachsten mit und durchdie Braunkohle. Unseres Erachtens mussdies auf vier Handlungsfeldern erfolgen: n Wir müssen die Braunkohle als Ener-

gieträger klimapolitisch zukunfts-sicher machen. Darüber hinaus giltes, das energiewirtschaftliche Know-how in der Lausitz zu stärken.

n Wenn es uns gelingt, für den Ener-giesektor wichtige Forschungsvor-haben in der Lausitz zu etablieren,macht dies den Standort attraktiv fürUnternehmen der Branche. Das trägtwiederum dazu bei, jungen Men-schen vor Ort eine Perspektive zubieten und so die Abwanderung ausder Region zu begrenzen.

n Darüber hinaus soll die Lausitz alsEnergieregion dauerhaft nicht alleinmit der Braunkohle verknüpft blei-ben. Wir sind willens, künftig ver-stärkt erneuerbare Energiequellen zunutzen und damit den Energiemixim Unternehmen wie auch in derLausitz zu verbreitern.

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reinhardt hassa – mit der braunkohle in die zukunft

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n Schlussendlich gilt es, vorhandeneSynergien zwischen energienahenUnternehmen der Region zu nutzen,Netzwerke zu stärken sowie die An-siedlung von Firmen aus dem Ener-giesektor oder solchen mit energie-intensiver Produktion zu forcieren.

Heute werden die Weichen für dieZukunft gestellt. Dies gilt in klimapoli-tischer Hinsicht wie auch in Bezug auf

die Prosperität der Region. Die Gestal-tung dieser Zukunft ist die immer nochgrößte Herausforderung für die Lausitzseit der Wende. Sie zu meistern ist mög-lich, denn die Braunkohle sichert derRegion auf lange Sicht ein stabiles wirt-schaftliches Rückgrat. Wie dieser Wegbegangen werden soll – und wie letztlichdie Lausitz von morgen aussieht – dasmüssen die hier lebenden Menschenund wir gemeinsam entscheiden. n

R E I N H A R D T H A S S A

ist Sprecher des Vorstandes von Vattenfall Europe Mining & Generation mit Sitz in Cottbus.

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Unbestreitbar ist, dass sich die mitt-lere Atmosphärentemperatur un-

seres Planeten erhöht hat, ein Tempera-turanstieg um 0,8 °C seit 130 Jahrengilt derzeit als sicherer Messwert. Wennsich Geowissenschaftler um dieses The-ma kümmern, gibt es zwei Blickwinkel,die auf sehr unterschiedlichen Zeitska-len beruhen. Die erste Sichtweise ist dieder Atmosphärenwissenschaftler: Kli-matologen sind – mit Recht – sehr stolzdarauf, die Mitteltemperatur über einenZeitraum von einem Jahrtausend zu-treffend beschreiben zu können. DieBetrachtung der Geowissenschaftleraber, die sich mit der festen Erde be-schäftigen, verweist auf die Zeitskala derErdgeschichte: Viereinhalb MilliardenJahre alt ist die Erde, und selbst wennwir überschaubarere Zeiträume nehmenwie etwa die Existenz von Europa in un-gefähr den Umrissen von heute, liegtman bei fünfzig, siebzig Millionen ver-gangenen Jahren. Schaut man sich dieebenfalls mit hinreichender Genauig-keit rekonstruierten Temperaturver-läufe über derartige Zeitskalen an, stellt

man fest, dass der Kurvenverlauf einrecht wildes Auf und Ab darstellt mitganz wenigen Ausnahmesituationen, indenen das Klima vergleichsweise stabilwar. Und: Die Klimaumschwünge derErdgeschichte waren fast durchwegebenso schnell wie drastisch.

Eine solche Ausnahmesituation stelltder Zeitraum seit dem Ende der letztenKaltphase vor rund elftausend Jahrendar. Diese von den Geologen Holozängetaufte Periode der Erdgeschichtezeichnet sich durch einen ziemlich sta-bilen Verlauf der Temperaturkurve aus.Das bedeutet nicht, dass hier nichts passiert wäre: Einerseits erlaubte das Römische Klimaoptimum noch in Süd-schottland den Anbau von Wein, an-dererseits führte ein paar Jahrhundertespäter die Kleine Eiszeit zu Hunger undMangelerscheinungen in ganz Europa.Aber, und das sei hier hervorgehoben,die dahinter steckenden Klimaän-derungen sind sehr klein im Vergleichzu dem, was das System Erde im „nor-malen“ Verlauf seiner Geschichte vor-zuweisen hat. Die Natur gibt uns also

Wie funktioniert dasSystem Erde-Mensch?WAS DIE GEOWISSENSCHAFTEN FÜR ENERGIE UND KLIMA LEISTEN KÖNNEN

VON REINHARD HÜTTL

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keine Garantie dafür, dass der seit11.700 Jahren andauernde stabileZustand für immer so bleiben wird.

Vor diesem Hintergrund erscheintdie Annahme, wir könnten das Klimabis 2050 stabilisieren, wenn wir uns nurkräftig anstrengen und entsprechendCO2 reduzieren, ziemlich gewagt.

Eindeutige Signale

Andererseits gilt aber auch: Mit den heu-tigen wissenschaftlichen Methoden stel-len wir seit spätestens den siebzigerJahren ein Signal in der Temperatur-änderung der Erde fest, das wir uns nichtanders erklären können als durch men-schliche Tätigkeit. Erdgeschichtlich gese-hen ist der Mensch ein äußerst erfolgrei-ches Resultat der natürlichen Evolution,der seinen Lebensraum in allen Regionender Erde etabliert hat. Zu diesem Erfolgs-konzept gehört, auch heute noch, einenormer Ressourcenverbrauch. Umwelt-freundlich hat der Mensch dabei auch infrühen Gesellschaften nie agiert, wie et-wa die Siedlungsgeschichte der Nieder-lausitz in der Eisenzeit zeigt. Spätestensdie Klimadebatte zeigt uns, dass der ho-mo sapiens sapiens ein geologischer Faktorgeworden ist. Klimawirksam wird derMensch mit seinen Aktivitäten übrigensnicht nur durch den CO2-Ausstoß, son-dern ebenso durch die Veränderung derErdoberfläche. Kurz: durch sein gesam-tes Dasein in derzeit 6 Milliarden Exem-plaren.

Aus dem bisher gesagten folgt dieNotwendigkeit zum Handeln. Es ist offensichtlich, dass der heutige unge-bremste Rohstoff- und Energiever-brauch langfristig ebenso unmöglich ist wie das sorglose Wegwerfen vonMüll, sei es als Hausmüll auf die Depo-nie, sei es als Kohlendioxid in die Lager-stätte Atmosphäre.

Wir müssen uns also Wege einfallenlassen, die sowohl Minderungsstrate-gien für den Ausstoß von Treibhaus-gasen eröffnen als auch die Anpassungan eine sich ohnehin ändernde natürli-che Umgebung.

Nur 3 Prozent aus Deutschland

Auch wenn viele es nicht gern hören:Das CO2 -Problem lässt sich allein inDeutschland nicht lösen. Selbst wennwir unseren gesamten Ausstoß anKohlendioxid schlagartig herunterfah-ren könnten, würde diese Minderungvon 3 Prozent am globalen Ausstoß demKlima recht egal sein. Die Zukunfts-szenarien für die Weltwirtschaft zeigenuns drastisch, wohin die Reise geht: InChina geht wöchentlich ein 500 MW-Kohlekraftwerk ans Netz, Indien willauch wachsen, mit Afrika wird ein gan-zer Kontinent gern vergessen... DerRohstoff- und Energiehunger der Men-scheit wird auf absehbare Zeit wachsen.Hinzu kommt noch das Wachstum derWeltbevölkerung auf neun MilliardenMenschen bis zum Jahr 2050.

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thema – energie und klimaandenburger ............

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Natürlich muss auch in Deutschlandder Ausstoß an Treibhausgasen gemin-dert werden, jedoch wird die direkteWirkung auf die Atmosphäre eher ge-ring sein. Aber Deutschland kann alsHochtechnologieland die Verfahrenund Techniken entwickeln, die denÖkonomien der Schwellen- und Ent-wicklungsländer das Potential gibt,Energie und Rohstoffe mit höhererEffizienz und geringeren Folgewirkun-gen zu nutzen.

Ein Blick auf die Energiebilanzen al-ler Industrieländer zeigt, welch unge-heure Energieverschwendung sich dieseNationen bis heute noch leisten. Effi-zientere Verwendung der Energie istimmer noch die beste Möglichkeit,Energie zu sparen.

Das beginnt bereits bei der Förde-rung: Erdöl und Erdgas altern sowohlchemisch als auch mikrobiell. Die Ent-deckung der tiefen Biosphäre, also vonLebewesen kilometertief unter der Erd-oberfläche, die sich ohne Sonnenenergieund Sauerstoff entwickelt haben, warvor noch wenigen Jahren für die Geo-wissenschaften eine völlige Überra-schung. Heute schätzt man, dass die unterirdische Biomasse in der gleichenGrößenordnung liegt wie das oberirdi-sche Leben. Wissenschaftler des Geofor-schungszentrums fanden heraus, dass einige dieser Bakterien im Erdgas lebenund sich davon sehr zweckmäßig ernäh-ren. Aus dem hier entdeckten Reakti-onsmechanismus der Mikroben können

sich neue synthetische Ansätze zur ge-zielten Entwicklung chemischer Pro-dukte aus Kohlenwasserstoffen ergeben.

Von Mikroben und brennendem Eis

Darüber hinaus eröffnen die Geowis-senschaften neue Prognosemöglich-keiten von Erdölqualität ohne teuresBohren. Erdöl kommt in Beckenstruk-turen vor. Integriert man Geochemieund Mikrobiologie mit Verfahren derBeckenmodellierung, lassen sich gege-benfalls die Auswirkungen der Biode-gradation von Erdöl im Untergrundvorhersagen, eine Voraussetzung zuroptimalen Nutzung von Kohlenwasser-stoff-Lagerstätten.

Neuere Schätzungen gehen davonaus, dass „brennendes Eis“, also Gas-hydrate, eine zukünftige Energiequellesein könnte, die quantitativ noch ent-schieden größer ist als alles Erdöl zu-sammen. Diese Methanhydrate bildensich bei hohem Druck und niedrigenTemperaturen vor allem in den Sedi-menten an den Kontinenthängen. Wasgeschieht aber bei ihrer Förderung? DieKontinentabhänge sind potenziell insta-bil. Es besteht also durchaus die Mög-lichkeit, dass bei extensiver Förderungso ein Abhang rutscht. Die Folgewir-kungen könnten beträchtlich sein, daszeigt die aufgrund natürlicher Prozesseabgegangene Storegga-Rutschung amKontinentalschelf von Norwegen vor8.000 Jahren, die einen gewaltigen Tsu-

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reinhard hüttl – wie funktioniert das system erde-mensch?

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nami erzeugte. Die Geowissenschaftenuntersuchen derzeit diese Zusammen-hänge, um eine mögliche Risikoab-schätzung vornehmen zu können.

Nach allen seriösen Schätzungenwerden fossile Brennstoffe auch in ab-sehbarer Zukunft noch einen wesentli-chen Bestandteil der Weltenergiever-sorgung darstellen. Daher ist es nötig,schon vor dem Abbau Effizienzab-schätzungen ebenso zu kalkulieren wieRisikoabwägungen.

Neue Option für Asien

Unvermeidlich jedoch ist, dass bei derVerbrennung dieser Stoffe das Treib-hausgas CO2 entsteht. Dieses weiter un-geregelt in der Atmosphäre abzulagern,verbietet sich. Man kann das Kohlen-dioxid aber aus dem Rauchgas derKraftwerke und Fabriken abtrennen.Damit wiederum gibt es den klassischenWeg, es zurück in die Erde zu bringen,wo es auch herkommt, oder aber es zurecyclen, das heißt chemisch weiter zuverarbeiten.

Bereits jetzt wird an einigen Erdöl-und -gasförderungen in der Nordsee dasKohlendioxid wieder an den Entnah-meort hinuntergepumpt, allerdings we-niger zur Entsorgung als eher zu demZweck, mit dem Gasdruck das Reser-voir besser ausbeuten zu können. Imbrandenburgischen Ketzin untersuchtdas EU-Leitprojekt CO2SINK in einem Langzeitvorhaben, wie sich

CO2 in einem salzwasserführendenSandstein in etwa 700 Metern Tiefeverhält. Dort werden experimentellrund 60.000 Tonnen CO2 in denUntergrund gepumpt, um in der Folgedas Verhalten des eingespeisten Gasesmit dem gesamten Instrumentenarsenalder Geowissenschaften zu untersuchen.Sollte sich dieser Weg als gangbar erwei-sen, wäre damit ein Reservoir gefunden,in dem sich gewaltige Mengen diesesTreibhausgases speichern ließen, undzwar weltweit. Diese in Deutschlandentwickelte Technologie könnte damitauch eine Option für die sich entwi-ckelnden Volkswirtschaften Asiens undAfrikas eröffnen.

CO2 weiter nutzen?

Kohlendioxid zurück in die Erde zu be-fördern, kann uns nur helfen, die Zeitzu überbrücken, bis wir zu einer ver-träglicheren Energieversorgung kom-men. Die bessere Möglichkeit lautet:Recycling. Galt über Jahrzehnte dasDogma, dass CO2 nicht weiter zu be-handeln sei, weil es bereits oxidiert ist,so geht man heute davon aus, dass dasim Rahmen von Abscheidungstechno-logien gewonnene CO2 als Rohstofffür weitere chemische Prozesse als re-levanter Kohlenstoffträger eingesetztwerden kann. Diese Nutzung von CO2

könnte ebenfalls einen wichtigen Bei-trag zur Substitution fossiler Rohstoffeleisten.

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thema – energie und klimaandenburger ............

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Die Zukunft auf längere Sicht gehörtnicht den fossilen Brennstoffen. Ma-chen wir uns erneut die Zeitskala be-wusst: Erdöl ist nchts anderes als inPflanzen gespeicherte Sonnenenergie,die rund 100 Millionen Jahre braucht,bis aus dieser Biomasse Öl wurde.Einen großen Teil dieses Energievorratshaben wir in etwa 100 Jahren, also ei-nem Millionstel dieser Zeit verbrannt.Und wir wissen nicht, wie die Erde dasverträgt. Fest steht aber auch, dass sichdas Klima in jedem Fall ändert, eineMinderungsstrategie für CO2 allein alsonicht ausreichen wird. An den sich vorunseren Augen ändernden Zustandmüssen wir uns anpassen.

Die üblicherweise als regenerativ bezeichneten Medien Wind, Sonne,Biomasse, Erdwärme und Gezeiten stel-len uns sozusagen im Alltagsbetrieb desSystems Erde Energie zur Verfügung.Ihr Anteil an der PrimärenergieDeutschlands liegt unter 5 Prozent. Dasist deutlich zu niedrig, vor allem wennman aufstrebenden Nationen derSchwellen- und Entwicklungsländer zukunftsträchtige Technologien zurVerfügung stellen will, die sie aus eige-ner Kraft nicht entwickeln können.

Unsere Erde ist ein Feuerball. ImErdkern, 6.370 Kilometer unter unse-ren Füßen, beträgt die Temperatur über5.000 °C, an der Kern-/Mantelgrenzein 2.900 Kilometern Tiefe sind es im-mer noch 3.000 °C. Von den extremenTemperaturen im Erdmantel trennt uns

nur die im Schnitt 40 Kilometer mäch-tige Kruste. Das entspricht dem Film ei-ner Seifenblase. Diese dünne Schicht istunser Lebensraum. Anders ausgedrücktbedeutet das: unser Planet bietet uns fürmenschliche Maßstäbe unendlich vielEnergie an, nur wir Menschen denkenzu umständlich und nutzen als Haupt-energiequelle seltsame Steine, Flüssig-keiten und Gase aus Kohlenwasserstoff-verbindungen, die zum Verbrenneneigentlich viel zu schade sind und derenrein energetische Nutzung zudem nochklimatische Kollateralschäden erzeugt,die für uns Menschen durchaus bedenk-lich sind.

Island ist schon weiter

Die Nutzung der Geothermie als Wär-mequelle findet sich an vielen Stellenunseres Planeten, vor allem da, wo dieErde sie uns als oberflächennahe Ener-gie geradezu aufdrängt. Mehr als dieHälfte von Islands Bedarf an Nutz-energie wird aus Erdwärme gespeist,dort ist auch die Stromerzeugung ausGeothermie durchaus normal.

Deutschland hat nicht so günstigegeologischen Bedingungen, aber auchhier offeriert die Erde uns nutzbareWärme. In Deutschland gibt es über200 Standorte mit Geothermienutzung,traditionell dominieren hier die Ther-malbäder mit 150 Standorten. Projektemit Fernwärme (19) und Stromerzeu-gung (7) sind erst in geringem Umfang

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reinhard hüttl – wie funktioniert das system erde-mensch?

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vorhanden oder im Bau. Lediglich 1 Prozent der Endenergie aus erneu-erbaren Energie in unserem Landstammt aus der Geothermie. Das istdeutlich zu wenig.

Geothermie aus Brandenburg

Im Geothermie-Forschungslabor desGeoforschungszentrums im branden-burgischen Groß Schönebeck wurdenzwei Löcher mit jeweils über 4.300Metern Tiefe gebohrt. Ziel ist nachzu-weisen, dass die Erdwärme auch bei ver-gleichsweise niedrigen Temperaturenvon 150 °C neben der Nutzung alsHeizwärme auch bei uns als Quelle zurStromerzeugung genutzt werden kann.Da die dazu nötige Wandlung derNiedertemperaturwärme aus der Erdein elektrischen Strom nur bedingt effi-zient ist, kann eine Kombination vonErdwärme und Biomasse eine möglicheVariante zur Steigerung der Ergiebig-keit und damit der Kostenoptimierungsein. Vorteile des Standortes GroßSchönebeck sind einmal die möglicheBiomasseproduktion und zum anderendie Lage im Norddeutschen Becken.Das ist eine geologische Struktur, dievon Polen bis Belgien reicht und diesich ähnlich an vielen Stellen auf demGlobus findet. Funktioniert die geo-thermische Nutzung hier, dann lässtsich dieses Verfahren von Warschau bisAmsterdam einsetzen. Zugleich läge da-mit eine Technologie vor, die an vielen

Stellen auf der Erde eingesetzt werdenkann. Die dazu gehörigen Zahlen sagenuns, dass in Deutschland alleine in tie-fen Heißwasseraquiferen mit Tempe-raturen über 100 °C ein Potenzial von3.000 TWh gespeichert ist. Man könn-te damit 100 Jahre 30 TWh pro Jahrnutzen. Das entspricht einem Drittelder heutigen Wärmebereitstellung ausallen erneuerbaren Energien zusammen.Die oberflächennäheren Ressourcen(mit Temperaturen unter 100 °C) bie-ten noch weitere 150 TWh pro Jahr.

Was wir nicht wissen

Wir Menschen tun gern so, als ob wirim wesentlichen den Wirkungsmecha-nismus unseres Planeten kennen undschenken den Klimamodellen (dieSzenarien produzieren und nicht Vor-hersagen) recht viel Glauben. Die denModellergebnissen zugrunde liegendenAnnahmen sind durchaus tauglich alsMittel für Handlungsoptionen, aber wirsollten nicht vergessen, wieviel Un-sicherheit in diesen Modellen steckt.Das System Erde mit all seinen Wech-selwirkungen zwischen Geosphäre,Atmosphäre, Hydrosphäre, Biosphäreoder Anthroposphäre ist prinzipiellnicht verstehbar, was aber nicht heisst,dass man rat- und tatenlos zuschauenmuss, wie das System funktioniert.

Nennen wir einige ungelöste Proble-me, deren Lösungen durchaus nochgroße Überraschungen mit sich bringen

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thema – energie und klimaandenburger ............

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könnten. Kohlendioxid ist Bestandteildes globalen Kohlenstoff-Kreislaufs. Esexistieren aber noch grundsätzlicheLücken im Verständnis des Kohlen-stoffhaushalts der terrestrischen Öko-systeme, welche die globale Gesamt-CO2-Bilanz erheblich verändern kön-nen. Ein weiteres Problem ist der in kei-nem Klimamodell geschlossene Wasser-kreislauf. Erst seit kurzem gibt es durchdie Messungen des GFZ-SatellitenGRACE erste Abschätzungen der jährli-chen Variation des Wasserhaushalts derKontinente. Überhaupt noch gar nichtverstanden ist die Abkühlung der Hoch-atmosphäre, die sich aus Satellitenmes-sungen ergibt, und die anscheinend da-mit gekoppelte Wolkenbildung zwei,drei Atmosphärenstockwerke tiefer.

Die Erdgeschichte zeigt uns, dass dieTreibhausgase Methan und Kohlendio-xid verstärkt ausgasen, wenn es wärmerwird, weil dadurch zum Beispiel die mi-krobielle Aktivität der Böden zunimmt.In vielen Phasen der Erdgeschichtenahm daher erst die Temperatur unddann die Konzentration der Treibhaus-gase in der Atmosphäre zu.

Und schließlich, in geologischenZeitskalen: Auch die in Millionen vonJahren ablaufende Plattentektonik hatihre Wechselwirkungen mit dem Kli-ma. Die Anden, der Himalaya, dieRocky Mountains sind starke Faktorenim globalen Klimageschehen, man denkenur an das Klimaphänomen Monsun.Aber umgekehrt zeigen uns auch For-

schungsergebnisse der UniversitätPotsdam und des GFZ, dass das Klimadie Tektonik beeinflusst: Durch die nie-derschlagsgesteuerte Erosion der Andenwird viel Sediment in den Pazifik vorden Anden transportiert. Die Auflastdieser riesigen Sand- und Gesteinsmas-sen in den Tiefseegräben führt dort zuErdbeben, ein Zusammenhang, an dennoch vor einigen Jahrzehnten niemandgedacht hätte.

Ohne Reserve

Man sieht, es gibt zum Verständnis derErde noch viel zu forschen. Das entbin-det uns nun nicht von der Verpflichtungzum Handeln. Menschen können alseinzige Spezies des Planeten Erde ver-nunftgesteuert agieren. Sie haben daherauch das Potenzial, nicht nur die Erdezu nutzen, sondern die Folgewirkungenzu minimieren – im eigenen Interesse.

Es ist nicht nur der Verbrennungs-abfall namens CO2 in der Atmosphäre,der den menschlichen Lebensraum be-einträchtigt. Auch die direkten Folgender Energie- und Rohstoffgewinnungsind eine Bedrohung für das menschli-che Leben. Bei uns in Deutschland mitseiner Umweltgesetzgebung ist diesesinzwischen gut geregelt und wird ent-sprechend umgesetzt, aber die Umwelt-probleme bei der Erdgasförderung inRussland, der Kupfergewinnung inChile oder der Ölsandbearbeitung inKanada sind mit großen ökologischen

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reinhard hüttl – wie funktioniert das system erde-mensch?

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Schadwirkungen verbunden. Es istnicht gut bekannt, aber in der Wieder-herstellung zerstörter Landschaftennimmt Deutschland eine Spitzenstel-lung in der Welt ein. Hier existiertForschungs- und Technologie-Know-How, das weltweit benötigt wird, weildie Landnutzung durch den MenschenFolgewirkungen katastrophaler Art mitsich gebracht hat, die längst nationaleGrenzen überschreiten.

Im terrestrischen Bereich sind zumBeispiel die Ströme von Stickstoff undKohlenstoff durchaus nicht vollständigbekannt. Diese muss man aber kennen,wenn man durch intelligente Land-nutzung diese Stoffe wieder einbindenwill. Auch dafür sind Geowissenschaf-ten nötig.

Krieg, Terrorismus und Gewalt be-drohen Millionen von Menschen, jetztund in diesem Augenblick. Die Beseiti-gung dieser Menschheitsgefahren hat si-cherlich die höchste Priorität. Es darfaber auch nicht übersehen werden, dassdie ungebremste und unkontrollierteNutzung der Schätze unseres Planeten

gerade die Gefahr von neuer Gewalt insich birgt. Man denke nur daran, wasfür ein Konfliktpotential der RohstoffWasser in weiten Regionen der Welthat. Welche Verwerfungen in der Welt-ökonomie rapide Preiswechsel bei Roh-stoffen bedeuten können, erfahren wirgerade ansatzweise beim Preis für Rohöl.

Insofern ist es keine Überschätzung,wenn man formuliert, dass die Geofor-schung und ihre Anwendung eineSchlüsselwissenschaft für das zukünftigeÜberleben der Menschheit darstellt.Das Verständnis von Wissenschaft unddas Verständnis für Wissenschaft in derBevölkerung ist von zentraler Wich-tigkeit nicht nur für unsere Gesellschaft,die von Hochtechnologie lebt, also denResultaten von Wissenschaft undForschung. Die Geowissenschaft, dasVerständnis des Systems Erde-Mensch,sind Leitdisziplinen für die Zukunft.Wir haben keinen Reserveplaneten imKofferraum, also sollten wir sorgfältigmit unserer Erde umgehen. Und dazumuss man sie möglichst gut kennen undverstehen. n

P R O F. D R. D R.H.C . R E I N H A R D H Ü T T L

ist Vorstandsvorsitzender des GeoForschungsZentrums Potsdam.

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Wie werden wir im 21. Jahrhundert leben? Die alten Lösungen taugen nicht mehr, die neuen

kommen nicht von selbst. Die Berliner Republik ist der Ort für die wichtigen Debatten unserer

Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältereExemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auchauf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigner KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: Wissen.Heft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in KöpfeHeft 32 Auf dem Weg ins 21. JahrhundertHeft 33 Der Vorsorgende SozialstaatHeft 34 Brandenburg in BewegungHeft 35 10 Jahre Perspektive 21Heft 36 Den Rechten keine Chance

SPD-Landesverband Brandenburg, Alleestraße 9, 14469 PotsdamPVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

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