+ All Categories

Paris

Date post: 09-Jan-2017
Category:
Upload: zierer-otto
View: 213 times
Download: 1 times
Share this document with a friend
36
Transcript
Page 1: Paris
Page 2: Paris
Page 3: Paris
Page 4: Paris

K L E I N E B I B L I O T H E K D E S W I S S E N S

LUX-LESEBOGEN N A T U R - U N D K U L T U R K U N D L I C H E H E F T E

O T T O Z I E R E R

PARIS

L E B E N S B I L D E R A U S D E R G E S C H I C H T E D E R

W E L T S T A D T VON C A E S A R BIS N A P O L E O N

V E R L A G S E B A S T I A N L U X

M U R N A U - M Ü N C H E N - I N N S B R I C K - B A S E L

Page 5: Paris

Die Kathedrale .Unserer Lieben Frauen': Notre Dame.

Die Fluchtburg auf der Insel

M itten im Herzen von Paris teilt sich die Seine und umschließt mit ihren Armen zwei Inseln. Die größere der beiden, die ,Ile de la Cite', die ,Stadtinsel', auf der die Kathedrale Notre Dame, der Wunderbau der Sainte Chapelle — der Heiligen Kapelle —, das Krankenhaus ,Hotel Dieu', der Justizpalast und der Dagobertturm aufragen, stellt die historische Keimzelle von Paris dar. Neun Brük-ken verbinden die Insel mit dem nördlichen und südlichen Fluß­ufer.

An dieser Stelle nahm eine sehr alte und reich bewegte Geschich­te ihren Anfang. Aber nichts mehr — auch nicht der ehrwürdige Dagobertturm — hat etwas zu tun mit dem Beginn der Stadt. Der Turm stammt aus dem 15. Jahrhundert.

2

Page 6: Paris

Nur die unter dem Asphalt begrabene Erde, der Strom und der Himmel erzählen von jenen alten Tagen, als Caesars Legionen sich mit erhobenen Adlerstandarten und in blitzenden Panzern von den Höhen herab gegen die Inselburg des keltischen Stammes der Pa-risier wälzten und den Sturm auf das Herz Galliens eröffneten.

Was Caesar und seine Soldaten sahen, war keine Stadt, sondern eine von zwei Flußarmen, von Sumpf und hölzernen Palisaden geschützte Wallburg mit ärmlichen Hütten, die von gewaltigen Baumkronen überwölbt waren. Sie erblickten feil- und leinenbe­kleidete Krieger mit ledernen Ochsenhornhelmen, lederbespannten Schilden und grimmig vorgereckten Speeren. Die Fluchtburg hieß bei den keltischen Galliern .Lutuhezi', ,Wasserwohnung'; Caesar ließ sie als ,Lutetia Parisiorum' — ,Sumpfstadt der Parisier' — in seine Marschkarten eintragen.

Lutetia hatte, lange bevor Caesar sie eroberte, den Kelten als Asyl in Gefahrenzeiten gedient. Hierher brachte man in Notzeiten die Frauen, Greise und Kinder, und hier erwartete man den Feind. Auch hielten auf der Flußinsel die geheimnisvollen, sehr mächtigen Priester und Schiedsrichter der Kelten, die Druiden, ihre Versamm­lungen und die Gerichtstage ab.

Caesar hatte wenig Ehrfurcht vor einem so alten und heiligen Platz und nahm ihn kraft seiner militärischen Überlegenheit. Aber er knüpfte geschickt an alte Traditionen an und hielt auf der In­sel, die jetzt auch Garnisonsplatz eines Regimentes war, im Jahre 54 vor Chr. eine Versammlung der unterworfenen gallischen Völ­ker ab und suchte ihr Bündnis. Als aber zwei Jahre später während der Abwesenheit Caesars der wilde Aufstand des Vercingetorix los­brach, schlössen sich auch die Parisier den Rebellen an; Lutetia ging im Verlauf der Kämpfe in Flammen auf.

Wieder siegte das Feldherrngenie Caesars. Er ließ an Stelle der keltischen Fluchtsiedlung eine tributpflichtige Stadt erbauen. Der zu­nehmende Handel, der über die neugebauten Römerstraßen und auf den Stromschuten zur Insel drängte, machte die Ansiedlung bald wohlhabend und stattlich.

Lutetia wurde Stationierungsort einer römischen Flußflottille, im­mer wieder nahmen römische Kaiser hier ihr Standquartier. Mit den römischen Legionären kam auch der neue Glaube, das Christen-

3

Page 7: Paris

tum, in die Inselstadt. In der Christenverfolgung von 250 n. Chr. ergriff man hier den ersten Bischof, Dionysius, folterte ihn und führte ihn aus der Siedlung hinaus zum Berg des Gerichtes im Norden, wo man ihm das Haupt abschlug. Dieser Berg heißt seit­dem Berg der Märtyrer: Montmatre. Dionysius — Saint Denis — wurde der Stadtheilige von Paris.

Als bei der Reichsneuordnung des Kaisers Diocletian im Jahre 293 das Amt eines ,Unterkaisers des Westens' geschaffen wurde, residierte zu Lutetia Caesar Constantius Chlorus, der sich in der erweiterten Stadt südlich der Insel einen Palast und die dazuge­hörigen Badehallen, /Thermen', erbauen ließ. Wenn man heute von der ,Ile de la Cite' aus nach Süden dem Boulevard Saint Michel folgt, bis zur Kreuzung mit dem Boulevard Saint Germain, trifft man dreihundertfünfzig Meter vom Seineufer entfernt beim Cluny-Museum auf die Ruinen der kaiserlichen Badeanlage.

Auch Konstantin der Große weilte oft auf der Seineinsel, und auch seine Nachfolger Constans und Julian der Abtrünnige residier­ten zeitweilig hier am Ufer der Seine. Der kunstsinnige Julian tat viel für die Entwicklung der römischen Provinzstadt, und er war es auch, der den zweifelhaften Namen Lutetia — ,Sumpfstadt' — gegen den besser klingenden ,Parisia' — ,Paris' — auswechseln ließ. Aber schon Julian, der von Paris aus mit seinen gallischen Truppen zum Staatsstreich gegen Byzanz, das „Neue Rom", auszog, war ein Kaiser am Rande des Abgrunds. Bald nach seinem Tode setzte der Verfall des Römerreiches ein, die Völkerwanderung begann und führte als ihre schrecklichste Erscheinung um 450 n. Chr. die Hunnen ins Herz Europas. In der Marneebene im Osten von Paris kämpfte Europa seine Schicksalsschlacht gegen die asiatischen Eroberer.

Noch bevor der Kampf begann, rüsteten sich die zu Tode geäng­stigten Bewohner von Paris zur Flucht. Ihnen stellte sich die hei­ligmäßig lebende Einsiedlerin Genovefa in den Weg und riet ihnen, die schützende Seineinsel und die Mauern nicht zu verlassen. Sie behielt recht: Attilas Hunnen suchten gerade jene Gegend heim, wo­hin das Volk von Paris zu fliehen gedachte, Insel und Stadt aber blieben unversehrt. Später ist auch Sankt Genovefa Stadtheilige von Paris geworden.

4

Page 8: Paris

Blick auf einen Flügel des ,Wolfsschlosses', des Louvre-Palastes; im Vordergrund der Garten des niedergebrannten Schlosses der Tuilerien.

Page 9: Paris

Aber auch der Sieg über die Hunnen vermochte die römische Herr­schaft nicht mehr zu festigen. Wenige Jahrzehnte später, im Jahre 486, eroberte Chlodwig der Frankenkönig die Stadt ohne Schwert­streich und erhob sie 508 zur Hauptstadt seines neuen fränkisch­christlichen Staates. In das Ruinengemäuer der Thermen baute er eine Burg.

Paris behielt aus Römerzeiten das Flußschiff als Wappensymbol; denn der Warenverkehr auf dem Strom war und blieb die Quelle für den blühenden Wohlstand der Stadt.

Normannen berennen die Stadt Wer heute vom Chateletplatz über den Pont au Change — die

Brücke der Wechsler — zur Cite-Insel hinübergeht, um vor dem Justiz­palast die Aussicht stromab auf den Louvre-Palast zu genießen, er­blickt, sich umwendend, am Nordufer das mächtige Rathaus, das ,H6tel de ville'*). Auch das Haupthospital Hotel Dieu und die Kirche Notre Dame auf der Insel liegen in seinem Gesichtskreis; sicher aber denkt er kaum daran, daß er mit dem Pont au Change — einer 1858/59 neugebauten Brücke, die ihren Namen den höl­zernen Stuben der mittelalterlichen Geldwechsler verdankt — einen der ältesten Verkehrswege von Paris benützt. Die uralte Handels­straße von Nordfrankreich zur Loire führte über diese Brücke, die damals .Große Brücke' oder .Nordbrücke' hieß und durch feste Stein­türme und Wehrgänge geschützt war. Vorüber am Palast der Me-rowinger und der späten Karolinger strebte der Weg der hölzernen Südbrücke zu, der .Kleinbrücke', dem jetzigen Pont St. Michel.

So unsicher und stürmisch waren die Zeiten nach dem Hunnenein- I bruch und dem Fall des Römerreiches geworden, daß die Franken- I könige aus den verfallenen Thermen des Constantius Chlorus auf I die besser zu verteidigende Seineinsel übersiedelten, die sie durch | hölzerne Brustwehren und Erdwälle befestigten. Paris wurde der 1 Hauptplatz des Westfrankenstaates, Karl der Große setzte hier ei- I nen Grafen, den ,Grafen von Paris', als Statthalter ein.

Aber mit dem Tod des großen Franken zerbrach das Reich der Karolinger. Neue Drohungen wuchsen über Westeuropa auf. Dies-

*) hötel bezeichnet im Französischen Gasthaus, aber auch großes Gebäude, Bau Palast.

6

Page 10: Paris

mal kam die Gefahr vom Meere her: Die ,Hunnen der See', die Normannen — Dänen, Norweger und Schweden — begannen die Länder zu verheeren. Sie fuhren mit ihren flachgehenden Lang­booten in die europäischen Ströme ein und brandschatzten Klöster, Dörfer und Städte. Nichts schien den Berserkern aus dem Norden gewachsen. Rauch und Brandschein lag über den Ufern der Loire, der Gironde, Scheide, Maas und des Rheins.

In den furchtbaren Jahren 841, 845, 855 und 861 erschienen ihre Bootsflotten auch auf der Seine, und einige Male wagten die Räuber, wenn auch vergebens, den Angriff auf Paris. Meist be­gnügten sie sich mit der leichter zu gewinnenden Beute im offe­nen Land. Die Verwüstungen führten zu entsetzlichen Hungers­nöten, so daß die Stadtleute Rinde und Erde aßen. Die schwach und müde gewordenen späten Karolinger taten kaum etwas, um das Land und seine Bewohner zu schützen.

Zwanzig Jahre lang waren die Normannen nicht mehr in die Seine gerudert, als im Herbst 885 die Schreckenskunde eintraf, eine rie­sige Flotte der Nordleute sei in den Strom eingelaufen und nehme Kurs flußauf. An Bord befänden sich dreißigtausend Krieger.

Der ganze Strom war bedeckt mit Langschiffen und kleineren Booten. Rabenfahnen und Drachenbanner wehten von den Masten. Als die Räuber aus dem Norden sich der Cite-Insel näherten, schick­ten ihre Häuptlinge Botschaft an den Grafen Odo und den Bischof Gauzlin von Paris und forderten sie auf, die Fallgatter an den Sperr­brücken zu öffnen; man möge die Flotte friedlich passieren lassen, niemand wolle der Stadt etwas zuleide tun.

Aber Paris, das schon so vielen Angriffen getrotzt hatte, glaubte auch diesem Feind gewachsen zu sein. Die Bürgerschaft eilte in Waffen auf die Wälle und besetzte die Brückentürme. Von den Wehrgängen wölkte der Rauch siedenden Öls und Bleis auf, das be­reitgestellt war, um die Eindringlinge zu empfangen. Als Graf und Bischof das Angebot der Nordleute ablehnten, schlugen die Nor­mannenhäuptlinge auf den Höhen von St. Denis das Lager auf und begannen den Sturm auf die Stadt. Es war der 30. November des Jahres 885.

Der Kampf war grimmig und gnadenlos. Er dauerte dreizehn Mo­nate lang. Normannische Streifscharen ritten ringsum in das offene

7

Page 11: Paris

Land, brannten, plünderten, mordeten und fingen den Nachschub für die Verteidiger ab. Die Seine herauf folgten immer neue Flot­ten mit zornig brüllenden Kämpfern. Die Schlacht tobte vor allem um die Brückenköpfe; Kähne mit brennender Wolle liefen gegen die hölzernen Pfeiler an. Ein Hochwasser riß die ,Kleinbrücke' fort, ver­loren brannte die aus Balken gefügte Schanze am Südufer.

Aber die steinerne Nordbrücke hielt selbst den Schleudergeschützen und Rammböcken stand. Paris stand als umstürmte Klippe in der von Reims bis zur Loire brandenden Normannenflut.

In diesem Augenblick höchster Gefahr verkaufte der schwächliche Frankenkönig Karl III. der Dicke vom sicheren Italien aus die Stadt Paris gegen siebenhundert Pfund Goldes an die Normannen. Die Stadt schien endgültig verloren. Doch Bischof Gauzlin und Graf Odo zerrissen den Vertrag und verteidigten weiterhin die Stadt und damit die Zukunft Frankreichs.

Endlich gingen die Nordleute an Bord und ließen sich stromab­wärts treiben. Ein neuer, größerer Plan zog sie in Bann: Sie setz­ten sich am Rande Frankreichs — an der Kanalküste und im Mün­dungsgebiet der Seine — fest und gründeten hier den ersten Nor­mannenstaat: die Normandie.

Aus dem Blut der Verteidiger von Paris erwuchs nach dem Tode des letzten Karolingers mit Hugo Capet im Jahre 987 das neue TCönigtum Frankreichs. Paris wurde für immer die Hauptstadt des Landes. Ein königlicher Vogt war in der Stadt fortan Herr der Zi­vil- und Strafgerichtsbarkeit. Der Vorsteher der Kaufmannsdiaft wachte über die öffentlichen Einnahmen und den Seinehandel, es bildeten sich sechs Bruderschaften von Kaufleuten, Freiheiten wur­den verbrieft. Einzig der Adel, die Geistlichkeit und die zu der bischöflichen Kathedralschule drängenden Studenten aus ganz Europa unterstanden nicht dem Spruch der städtischen Behörden. Die auf beide Seine-Ufer übergreifende Stadt erwachte zu neuer Blüte.

Die Kathedrale Notre Dame Im Herzen der Cite-Insel liegt, ein altersgraues Monument in­

mitten des lichterfüllten modernen Lebens, Notre Dame, die Kirche ,Unserer lieben Frauen', der Dom von Paris. Die gotische Bischofs­kirche, deren Bau im Jahre 1163 an dem Platz eines frühchristlichen

8

Page 12: Paris

Gotteshauses begonnen wurde, steht heute an der tiefsten Stelle der gewaltig angeschwollenen Stadt, obwohl sich seit dem frühen Mittelalter der Kulturboden durch Bauschutt mehrmals erhöht hat. Die stumpfen, mächtigen Türme sind unvollendet. Während, der Französischen Revolution wurde die Kirche beschädigt und diente 1793 und 1794 als „Tempel der Vernunft" dem heidnischen Kult

Die .Wartehalle der Guillotine', die Conciergerie

0

Page 13: Paris

der Radikalen. Sie wurde zur Stätte wüster Revolutionsorgien. 1802 gab Napoleon I. sie ihrer christlichen Bestimmung zurück. Notre Dame war wenig später der feierliche Raum seiner Kaiserkrönung durch den Papst. Bei dem Kommunistenaufstand von 1871 gingen noch einmal Plünderung und Brandstiftung über sie hin.

Notre Dame ist steingewordene Geschichte. Der französische Dichter Victor Hugo, der ihr sein berühmtestes Buch „Notre Dame de Paris" gewidmet hat, schreibt darin: „Vom Ursprung der Welt bis zum sechzehnten Jahrhundert ist die Baukunst das Buch der Mensch­heit, der Hauptausdruck der Menschheit in ihren verschiedenen Ent-wicklungszuständen der Kraft und des Geistigen.. . Jede Epoche besiegelte man mit einem B a u . . . " So wollte auch das Paris der gotischen Zeit seine Glaubensgesinnung in seiner Kathedrale be­zeugen.

Jahrhunderte hatte es gedauert, bis der Geist des Christentums ganz von der Seele des Abendlandes Besitz ergriffen hatte. Als das geschehen war, drängte alles Denken, Empfinden und Sehnen dem Himmel entgegen, das Dasein gipfelte in einem einzigen Ge­danken, der Gott hieß, und es gab sich den entsprechenden Aus­druck in der Kunst. Selbst der Stein wurde zur lebendigen Flamme religiöser Inbrunst, der Fels verlor seine Schwere und verästelte sich in Fialen, Rosetten und Maßwerk, Türme waren die Meilenzeiger auf dem Weg zu Gott.

In jenen Tagen des beginnenden neuen Stils der Gotik traten Adel, Geistlichkeit und Bürger von Paris zusammen und beschlos­sen, alle Opfer mißachtend, mit Geld und Gut, mit Handanlegen und freiwilligem Scharwerk das Bild der Stadt durch die neue, un­erhörte Kathedrale zu krönen.

Sie bauten den Rumpf der Kirche, der bis zum Jahre 1182 voll­endet war, aber sie brauchten bis tief ins 13. Jahrhundert, um den reichen Figurenschmuck, die zaubervollen Farbfenster, das Gerank des Maßwerks zu schaffen und den Sockel der Türme aufzu­richten.

Als sie zu bauen begannen, zählte Paris einschließlich der etwa zehntausend Studenten noch nicht hunderttausend Einwohner, als sie um 1300 von den Baugerüsten stiegen, ohne die Türme abzu­schließen, war die Einwohnerzahl auf zweihunderttausend gestiegen.

10

Page 14: Paris

Wissenschaft, Frömmigkeit, Lebensfreude . .. Die Scholaren aller Nationen lieben diese Stadt Paris. Man sagt,

Paris gleiche einem Schmetterling: die Innenstadt bilde den Körper, die Neustadt und das Hochschulviertel die beiden Schwingen. We­gen der vielen lateinischsprechenden Fremden erhält das Stadtgebiet am Ufer gegenüber der Seineinsel und um den Bauplatz von Notre Dame den Namen Quartier latin — Lateinisches Viertel.

Die Dominsel, die letzte und größte in einer Reihe von Eilan­den, die ursprünglich mit Schilf und Auwald bewachsen waren, hat man mit Faschinenbauten gegen Überflutung durch das Hochwasser der Seine geschützt. Dicht an die Flußarme drängen sich die eng­brüstigen Häuser der Goldschmiede, Wechsler, Tuchhändler, Bäcker, Metzger und der königlichen Diener, hier liegen auch die Wohnun­gen des Klerus und des Adels.

Noch sind die Ufer der Seine mit Resten von Eisschollen bedeckt, die ein strenger Winter zurückgelassen hat. Man ist froh in der Stadt, wenn es dem Frühjahr zugeht. Im Winter sind wie so oft Wolfsrudel in die schmutzigen, verschlammten Gassen eingedrun­gen, haben späte Heimkehrer und Kinder gerissen und unter den Läuferschweinen gewütet, die dem Brauch gemäß auf den Gäß-chen die Rolle der Gesundheitspolizei spielen.

Jetzt hat der warme Märzwind den Strom befreit, breite Waren­schiffe treiben langsam zu Tal; Lustbarken schaukeln mit bunten Se­geln auf den schwarzblauen Wellen. Auf dem Marktplatz erhebt sich seit kurzem das Standbild der heiligen Genovefa. Von der hohen Säule blickt die Patronin der Stadt auf das Gewoge der buntge­kleideten Menschen. Rings um den viereckigen Platz haben Händler ihre fliegenden Stände aufgeschlagen. Landvolk und Städter, Geist­liche und Studenten, wehrhafte Dienstmannen und Ritter mit ihren Damen schlendern an den ausgestellten Waren vorüber. In den Lauben und auf den hölzernen Baikonen der am Seineufer gelege­nen Häuser sitzen Bürgermädchen, drehen den Spinnrocken oder ar­beiten am Stickrahmen. Auf den Altanen blühen die ersten Früh­lingsblumen, aus den Vorgärten dringt der Duft der Küchenkräu­ter und Arzneigewächse.

Die Studenten von St. Victor haben mit ihrem Lehrer die stillen Räume des Klosters verlassen und sitzen auf den riesigen Blök-

11

Page 15: Paris

ken des Lagerplatzes, der sich von der Seinebrücke bis zur Bauhütte von Notre Dame hinüberzieht. Ein Stück stromauf, nahe der gro­ßen Lände, werden roh behauene Steine ausgeladen, die Rufe der Schiffer und der Singsang der Arbeitsleute dringen herüber.

Auf einem der gewaltigen Quader steht aufrecht der Lehrer der Kathedralschule, Magister Abälard. Sein Katheder ist ein hoch­aufgereckter Block, auf dem er die Blätter seines Manuskriptes aus­gebreitet hat. Trotz der ermüdenden Frühjahrssonne und des Ge­töses der Wagen und Karren auf der Brücke lauschen die Schüler aufmerksam der Vorlesung des großen Mannes, dem die Zeitgenos­sen den Titel eines ,Philosophus peripateticus', eines ,Philosophen im Umherwandeln', gegeben haben.

Abälard spricht über Aristoteles, den großen griechischen Denker, dessen Hauptschriften erst kürzlich wiederentdeckt worden sind.

Nur ein einzigesmal unterbricht der- Gelehrte und Lehrer voller Mißmut den Fluß seiner klassischen Rede, als auf dem rechten Seineufer der Lärm einer ausziehenden königlichen Jagdgesellschaft laut wird: Trompetenschall, Rosseschnauben, Hundegebell und der Zuruf fröhlicher Herren. Dort drüben am Ufer hat sich König Phi­lipp August jüngst ein kleines Jagdschlößchen errichtet, man nennt es ,Louverie', Louvre, das heißt Wolfsschloß.

Wissenschaft, Frömmigkeit und Lebensfreude hausen dicht beiein­ander in dieser schönen Stadt Paris.

Sorbonne und „Lateinisches Viertel" Biegt man von dem breiten, südlich der Cite-Insel verlaufen­

den Boulevard Saint Germain etwa auf der Höhe von Notre Dame ab, so ist die nächste Querstraße von einiger Bedeutung die Rue des Ecoles, die ,Straße der Schulen'. Man findet sich schon bald einer wuchtigen, im Stil des frühen Barock erbauten Gebäudegruppe ge­genüber. Die Fassadenfront von zweihundertfünfzig Meter Länge ist durch Kardinal Richelieu umgebaut und 1885 erneuert worden. So bietet sich heute die einstige Unterkunft für arme Theologie­studenten, die .Sorbonne', dar, die große Universität von Paris. Von kaum einem Platz sind mehr geistige Wirkungen ausgegangen als von dieser Kulturstätte.

12

Page 16: Paris

Gegen Ende des 12. Jahrhunderts war Paris nicht nur die Haupt­stadt Frankreichs, die sich eben durch eine neue Kathedrale ge­schmückt hatte. Paris galt auch als die Hauptstadt des europäischen Geistes. Der mittelalterliche Historiker Joinville schrieb zu Recht: „Nur in Paris ist Leben wahrhaft Leben, anderswo kann es nur Dasein heißen!"

Lange schon galt die bischöfliche Schule bei der Kathedrale von Paris als ehrwürdige Bildungsstätte, seitdem Magister Abälard und der heilige Bernhard von Clairvaux dort gelehrt hatten. Um das Jahr 1200 bestätigte der Papst die Vereinigung der verschiedenen Unterrichtsstätten der Stadt zur Forschungsstätte für alle Wissen­schaftszweige und erhob — eine besondere Auszeichnung — die Pa­riser theologisch-philosophische Fakultät zur Ersten des Abendlan­des. Der Geist dieser neuen Universität glich den Bauwerken der Zeit,- die mit hundert Türmchen, Säulen, Spitzen und Strebebogen wie in einem scheinbaren Gewirr himmclstürmend emporwuchsen und. doch nach den strengen Gesetzen der Logik durchdacht und zur harmonischen Einheit gebracht waren.

*

Im Quartier latin, dem Universitätsviertel, stehen erregte Grup­pen beisammen: Franzosen, Engländer, Flamen, Italiener, Nord­länder und Provencalen, junge Männer in der langwallenden Tracht der Studierenden. Überall wird die Frage diskutiert, ob man sich am Abenteuer der neuen Kreuzfahrt beteiligen oder den Wis­senschaften treu bleiben soll. Die Vorlesungsräume sind heute leer; sogar die Mönche — Minderbrüder und Dominikaner —, die um des himmlischen Lohnes willen neben ihrem Studium der Kran­kenpflege im Siechenhaus St. Jacques oder im Hotel Dieu obliegen und die Bresthaften und Aussätzigen betreuen, sind auf die Gasse gelaufen.

Aus dem Kolleg Montague, einem kleinen Haus, das gleich an­deren von frommen Stiftern zu Unterbringung und Verköstigung der studierenden Jugend zur Verfügung gestellt worden ist, tritt eine kleine Gruppe von Scholaren, die einen hochgewachsenen, blon­den Jüngling umschwärmt. Es ist der aus Ilchester in England

13

Page 17: Paris

stammende Roger Bacon, Meisterschüler des Professors Albertus Magnus.

Roger Bacon winkt einige der jüngeren Semester heran, die die krempenlosen, runden Kappen der Bakkalaurei tragen.

Es ist Tradition an der Hohen Schule von Paris, daß die Bakka­laurei den älteren Semestern für kleinere Dienste zur Verfügung stehen. Die Herbeigerufenen nehmen Folianten und kostbare Per­gamentrollen in Empfang. Sie tragen Tintenfässer sorgsam in Leder­futteralen am Gürtel, und gespitzte Federn — pennae — wonach sie auch ,Pennäler' genannt werden. Die Bewohner des Kollegs Mon-tague und des benachbarten Kollegs St. Barbe geben Roger Bacon das Geleit; denn er wird heute, inmitten aller Kreuzzugserregung, vor den Professoren das Examen zum Doktorgrad ablegen.

So zieht die Studentenschar lärmend durch die schmutzigen, mit fußhohem Unrat bedeckten Gassen. Eine Herde Gänse flattert schrei­end vor ihnen davon. Weiber schimpfen hinterdrein; ein mit ölge­tränkter Leinwand überspanntes Fensterloch öffnet sich im Fach­werk über ihnen, und eine alte Frau leert einen Kübel Unrat vor ihre Füße. In das Protestgeschrei der Studenten mischen sich die Spottrufe der Gaffer.

Der Zug führt durch winkelige Gäßchen über die Brücke in die Vorstadt St. Jacques, wo stolzierende Rittersleute, vornehme Damen und allerhand Kriegsvolk die Straßen beherrschen. Händler und Bauernkarren, Maultierkolonnen, Planwagen und Lastträger bahnen sich ihren Weg durch das Gewühl.

Die Studenten wählen ein Umweggäßchen, ihr Ziel ist die Sor­bonne, jenes Kollegium, das Herr de Sorbon, einst Kaplan König Ludwigs des Heiligen, vor einiger Zeit, Anno 1253 nämlich, der theologisch-philosophischen Fakultät von Paris vermacht hat.

Das Tor des Kollegiums wird von einem Büttel, dem Pedell, bewacht, der zur Ruhe mahnend den Stock hebt, als er der Schar ansichtig wird. Da niemand das Kollegium bewaffnet betreten darf, geben die Studiosi an der Pforte ihre Stichdegen und Kurzdolche ab.

Die Freunde lagern sich unten in der Eingangshalle auf den gro­ben Holzbänken, während Roger Bacon, sich verabschiedend und

14

Page 18: Paris

nur von einem bücherschleppenden Pennäler gefolgt, die steile Holztreppe hinaufsteigt, die zu den Vorlesungsräumen führt.

Er weiß, wer ihn dort oben erwartet, drei gestrenge Doktores, die im ganzen Abendland hochberühmt sind: der hochgewachsene Albertus Magnus, ein deutscher Dominikanermönch und hervorra­gender Naturwissenschaftler, Philosoph und Theologe, den man spä­ter ,Doctor universalis' nennen wird; neben ihm sein Schüler, der kaum zwanzigjährige ,Doctor angeiicus', der erstaunlich begabte italienische Grafensohn Thomas von Aquino; der dritte im Bunde wird der alte, gelehrte Robert Grosseteste, der Experte für aristo­telische Philosophie, sein.

Das ist das erlauchte Kollegium, vor dessen Augen und Ohren Roger Bacon besteherf muß, um den Magisterhut und die höchste, dem Rang eines Barons gleichgeachtete akademische Würde zu er­langen.

*

Die Sorbonne zu Paris ist wie ein Sternbild des Geistes zu Häupten des Abendlandes, sie ist Stolz und Glanz der Scholastik, sie schenkt Europa die frühesten Erkenntnisse der Naturwissenschaf­ten, der Physik, Botanik, Chemie, Mathematik und Astronomie; in den Tagen des sich neigenden Mittelalters, als alles zur Neuord­nung und Reform drängt, sind die Magister der Sorbonne lange Zeit die anerkannten Ratgeber und Sachverständigen auf den abendländischen Konzilien; auch in politischen Rechtsfragen werden sie gehört. Später, als die Kirche sich in Konfessionen entzweit, ist es die Sorbonne, die zur Vorkämpferin der katholischen Sache wird. Sie kämpft gegen Eiferer und für und gegen die Aufklärer. Was immer auch geschieht: Sie bleibt lebendig, bewegt, vorwärtsdrän­gend und geistig unabhängig.

Gewaltig ist der Kranz berühmter Namen, den die Jahrhunderte um die Pariser Universität schlingen: Hier studierten oder lehrten unter anderem die Dichter Rabelais, Moliere, Racine, Lafontaine und Montaigne; die Philosophen und Naturwissenschaftler Pascal, Descartes, Lavoisier, Berthollet, Cuvier, Arago, Rollin, Bailly und später Jolliot-Curie und Prinz de Broglie; die kirchlichen Vorkämp­fer Calvin und Ignatius von Loyola; die Staatsmänner und Politi-

15

Page 19: Paris

ker Richelieu, Voltaire, Diderot, d'Alembert, Robespierre, Louis Blanc und Auguste Comte.

Und auch in der Gegenwart ist der Ruhm dieser Stätte des euro­päischen Geistes groß. Die Sorbonne hat längst ihre Grenzen ge­sprengt und ist heute Kulturzentrum der Menschheit, das Wort er­füllend, mit dem Rektor Jean Sarraith 1955 ihre Aufgabe kennzeich­nete: „. .. auf 'solchen Wegen wollen wir fortschreiten zur Einheit der Wissenschaft, die einst werden soll zur Freundschaft zwischen allen Menschen der Welt!"

Die Burg der Tempelherren Wir folgen dem unvergleichlichen Bogen der Pariser Boulevards, i!

die im Zuge der alten Bollwerke (frz. boulevard) verlaufen, und " gelangen bei der Porte St. Martin zu einem sich jäh gen Südosten . wendenden Teilstück, das den Namen Boulevard du Temple trägt und sich später zum Platz du Temple erweitert.

Am Platz du Temple stehen wir wieder auf einem Stück geschichts-trächtigem Boden. Dort, wo sich jetzt Blumenanlagen ausbreiten, lag vor Jahrhunderten — damals noch vor den Stadtwällen — ein ver­schilftes Sumpfgelände. Als König Philipp II. August den ersten Ring gemauerter Wälle und Türme um das größer gewordene Paris ziehen ließ, war der kleine Streifen sumpfigen Landes außerhalb der Mauern geblieben, und König Ludwig VII. schenkte ihn dem Ritterorden der Templer.

Gegen Ende des 13. Jahrhunderts begann der reich ausgestat­tete Kreuzfahrerorden hier mit dem Bau einer Niederlassung. Auf eingerammten Pfählen und aufgeschütteten Inseln wuchsen Mauern, Bollwerke und ein mächtiger, viereckiger Hauptturm auf, der 1306 vollendet und nach dem Großmeister der Ritterschaft ,Jean-le-Turc-Turm' genannt wurde. Die Pariser Ordensburg war der Sitz des Generalkapitels und des Großmeisters von Frankreich und zugleich Herberge für viele Hunderte von Tempelherren. Er wurde im Volksmund Le Temple genannt. ,

Kaum war der Turm gebaut, als Frankreichs König, Philipp der Schöne, darin Zuflucht vor einem wütenden Aufstand der Pariser , suchte, die sich über seine ewigen Steuererhöhungen, über die '

16

Page 20: Paris

Geldverschlechterung und seine ständigen Übergriffe ärgerten. Phi­lipp konnte sein Asyl in der Tempelherrenburg bald wieder ver­lassen, da die Ordensritter ihn mit seinem Volke aussöhnten. Aber der große Herr, der mit allen Mitteln die Festigung der königlichen Gewalt erstrebte, hatte nicht nur Einfluß und Macht, sondern wäh­rend seines unfreiwilligen Aufenthaltes auch den unglaublichen Reichtum der Templer kennengelernt.

Nach diesem Reichtum gelüstete es ihn. Am 12. Oktober 1307 meldete sich König Philipp der Schöne mit

seinem gesamten Hofstaat in der Tempelburg als Gast an. Einhun­dertvierzig Tempelritter, darunter mehrere Großwürdenträger, wa­ren zur Begrüßung in die Burg beordert.

Während der König noch freundschaftliche Trinksprüche mit den ehrenwerten Rittern wechselte, zogen bereits seine Gendarmen über Land, die zahlreichen Führer des Ordens zu verhaften und die reichen Güter der Templer einzuziehen. Philipp verließ gegen

Are de Triomphe — Siegesmal für Napoleon I.

17

Page 21: Paris

Morgen, nach der Umarmung des Großmeisters, die Burg, aber schon Stunden später kehrten seine Büttel zurück, die versammelten Rit­ter gefangenzunehmen.

Die Rechtsgrundlage für die Verstaatlichung der Ordensgüter muß­ten jahrelange Verhöre, Folterungen und erkaufte Zeugenaussagen erbringen; aber zu Unrecht warf man den Rittern vor, sie seien He­xenmeister und Gotteslästerer. Der Orden wurde aufgehoben.

Am 12. Mai 1310 wurden vierundfünfzig Ordensbrüder vor der Pforte St. Antoine dem Henker übergeben und starben auf dem Scheiterhaufen; am 11. März 1313 starben auch der Großmeister Jacques de Molay und die Großwürdenträger auf einer kleinen Seineinsel in den Flammen.

Der ,Temple' aber sollte, Jahrhunderte später, zur Stätte des Todes­schicksals der französischen Könige werden. . .

Calvin und Ignatius Im Oktober 1533 holt König Franz I. in Marseille die Braut seines

Sohnes Heinrich, Katharina von Medici, ab. Der Tag der Hochzeit wird in allen Städten des Landes gefeiert. Auch über dem spitzgiebe-ligen Dächergewirr von Paris schwingen die Glocken. Dem dumpfen Dröhnen von Notre Dame gesellt sich auch die ferne, zage Stimme des Glöckchens der Montmartre-Kirche.

Die Grande Rue de Saint Jacques ist erfüllt vom Gewühl der fest­täglich gekleideten Bürger. Selbst die Scharwerker und Maurer auf dem rechten Seineufer, wo Meister Lescot an der Riesenbaustelle des erneuerten Louvrepalastes arbeitet, haben heute frei. Verlassen stehen die zum Teil schon abgebrochenen Türmchen und Mauern der alten ,Louverie', während sich die weitläufigen Grundlinien des neuen Kö­nigsschlosses bereits abzuzeichnen beginnen.

König Franz ist bedenkenlos in seiner Verschwendung. Daß ihm der alte, finstere, im Herzen von Paris gelegene Palast Tournelles nicht mehr genügt, begreift das Volk. Aber er baut an einem Dutzend Stellen zugleich: Es entstehen die Schlösser Chambord, Amboise und Fontainebleau,- überall wird gemauert, gemalt, gemeißelt und ge­schmiedet.

Zum Willkommen des Brautzuges donnern von den Wällen der Tem­pelburg die Kanonen, auf der Seine fahren überladene Kähne mit

18

Page 22: Paris

Studenten. Guitarren und Geigen erklingen, und aus der Kaserne der Gendarmen schmettern Trompeten. Die Seinekais entlang traben mit schmucken Federbaretten die Herren Kavaliere.

Entsetzt über so viel weltliches Treiben und solch unchristliche Lust­barkeit flieht in diesen Tagen ein junger Gelehrter aus dem Kolleg St. Barbe. Es ist der sechsundzwanzigjährige Jean Cauvin aus Noyon in der Picardie, Calvin genannt. Ihn schreckt nicht nur die Ausge­lassenheit, sondern auch der Fanatismus der Bevölkerung. Erst vor wenigen Tagen hat man unter dem Geschrei der Massen für einige Ketzer die Scheiterhaufen angezündet. Calvin geht zuerst nach Basel, später nach Genf, um dort eine allem weltlichen Getriebe abgewandte Christengemeinde zu gründen.

Das Kollegienhaus St. Barbe liegt auf der Seine-Insel. Um die gleiche Zeit, da der Reformator Calvin sich in St. Barbe noch seinen Studien widmet, sind in einem der Nachbarhäuser sechs Studenten der Sorbonne versammelt, vorwiegend Spanier. Sie treffen sich in den Abendstunden in der schmucklosen Kammer, die der ehemalige spani­sche Hauptmann Ignatius von Loyola mit dem savoyardischen Bauern­jungen Peter Faber teilt. Dazu kommen der vornehme spanisdie Ade­lige Franz Xavier, die Spanier Lainez und Salmeron, der Portugiese Rodriguez und der Edelmann Bobadilla. Während Paris auf allen Gas­sen und Plätzen tanzt, lacht und trinkt, die adlige Jugend Ringel­stechen, Umzüge und Turniere veranstaltet und die Schänken am Flußufer überquellen von lärmendem Volk, gründen die Sieben eine religiöse Vereinigung zur Missionierung des Heiligen Landes. Ignatius ist die Seele der kleinen Gruppe.

Einige Zeit später, als Katharina von Medici längst unter gewalti­ger Prachtentfaltung in Paris eingezogen ist und König Franz mit sei­nem Jagdgefolge durch die Frühlingswälder zwischen St. Germain und Fontainebleau streift, am Himmelfahrtstag des Jahres 1534, zieht Ig­natius von Loyola mit seinen Gefährten vor die Tore von Paris. Sie nehmen den ausgetretenen Fußpfad zum Montmartre, hinauf zu der von Buchen umrauschten Höhe und zur Kapelle der schmerzensrei­chen Madonna.

Sie treten in das dunkle, spitzbogige Heiligtum, dessen hohe, schmale Fenster mit den in Glas gemalten biblischen Bildern die Welt draußen nur noch ahnen lassen: jene Welt, die Notre Dame nicht mehr

19

Page 23: Paris

zu vollenden imstande ist und die sich nur noch mit prunkenden Rat­häusern und Königsschlössern schmückt.

Vor dem Bilde der Gottesmutter sinken die Sieben nieder. Ignatius spricht von dem Weg und dem Ziel, das sie sich gewählt haben. Sie werden die erste Zelle einer neuen Gemeinschaft sein, die den Kampf mit der verweltlichten und abtrünnigen Zeit aufnimmt. Sie begründen die ,Compania Jesu', die Gesellschaft Jesu. Sie wollen Kreuzfahrer des Glaubens sein, eine Elitetruppe der Kirche.

Der Montmartre, wo sich heute der leuchtende Kuppelbau der Sacre-Coeur-Kirche erhebt, ist die Geburtsstätte des Ordens der Je­suiten.

Die „Bartholomäusnacht" Schon Franz I. hatte damit begonnen, im neugebauten Louvre-

Schloß eine Galerie italienischer Meister anzulegen, die zu einem der glanzvollsten Museen der Welt werden sollte. Nach seinem Tode ent­stand am rechten Seine-Ufer ein neues, prachtvolles Stadthaus im Stil der Renaissance. Etwa eine Meile weiter stromab, wurden die mittel­alterlichen Ziegeleien — die ,tuileries' — abgerissen, um Platz für einen prächtigen Palast zu schaffen, den sich die heimliche Regentin des Landes, die Königinmutter Katharina von Medici, erbauen lassen wollte.

Bald aber erstarrte alles, die Bauplätze verödeten. Die seit längerer Zeit in ganz Frankreich tobenden Religionskämpfe griffen mehr und mehr auf Paris über; das Land ging einer schrecklichen Katastrophe entgegen. Denn der nach Genf geflohene Calvin, der zum geistigen Vater der reformierten Kirche geworden war, hatte mit seiner reli­giösen Bewegung auch weite Teile Frankreichs erfaßt. Seine .Eidge­nossen' — im Französischen Hugenotten genannt — hatten im katholi­schen Frankreich mehr als zweitausend kalvinistische Gemeinden ge­gründet. Sie waren dabei auf den leidenschaftlichen Widerstand der Gegenreformation gestoßen, deren politische Häupter die lothringi­schen Guisen-Herzöge und deren geistliche Führer die Gefolgsleute des Ignatius von Loyola waren. Die um Admiral Coligny, um den Prinzen Conde und den jungen Prinzen Heinrich von Bourbon, den Erben von Navarra, gruppierten Hugenotten und die fest um die Guisen gescharten Katholiken standen sich wie feindliche Heere kampfbereit gegenüber.

20

Page 24: Paris

Sacre Coeur —• die Sühnekirche auf dem Berg der Märtyrer, dem Montmartre.

Um die Konfessionen zu versöhnen, entschloß sich der jugendliche König Karl IX., seine Schwester Margarete, eine Katholikin, mit dem Führer der Hugenotten, Heinrich von Navarra, zu vermählen. Ob­wohl Margarete von Valois den Führer der katholischen Partei, den Herzog von Guise, liebte, wurde unter riesigem Pomp und unter Zu­lauf tausender hugenottischer Adeliger die Hochzeit zu Paris gefeiert, die später unter dem Namen der ,Pariser Bluthochzeit' oder Bartho­lomäusnacht' in die Geschichte eingehen sollte.

Am 18. August 1572 fand die Vermählung statt. Als Admiral Co-ligny am Vormittag des 22. August nach einer Besprechung den

21

Page 25: Paris

Louvre verließ, wurde auf ihn ein Mordanschlag verübt. Der Mann, der den tückischen Schuß abfeuerte, entkam auf einem bereitstehen­den Pferd, das Zaumzeug und Schabracke aus dem Stalle der Katha­rina von Medici trug. So ahnte man, daß die Königinmutter, die eine Schmälerung ihres Einflusses durch Coligny befürchtete, hinter dem Attentat stand. Die Hugenotten forderten leidenschaftlich Rache und Bestrafung der Schuldigen. Beide Parteien rüsteten fieberhaft, Paris glich einem grollenden Vulkan. Katharina von Medici aber war zum Äußersten entschlossen. Wer klug war, verließ noch vor Einbruch der Nacht die Tore und wandte der schrecklichen Stadt den Rücken.

Nur wenige waren klug. Gegen zwei Uhr in der Nacht zum Bartholomäustag, dem 24. August

1572, begannen die Sturmglocken von Paris zu läuten. Brennende Fackeln wurden aus den Fenstern gesteckt, und in Scharen erschienen bewaffnete Fanatiker aus den Reihen der katholischen Partei auf den Gassen. Ihr verabredetes Kennzeichnen war eine weiße Binde am Arm oder ein weißes Kreuz auf dem Hute.

Die Hugenotten in ihren verstreuten Quartieren waren unschlüssig, was zu tun sei. Der jähe und rasche Losbruch der Kämpfe überraschte sie meist einzeln und ungerüstet. Die Verschwörer drangen mit blan­ken Waffen in die Häuser, rammten die Türen ein, und die Rasenden taten ihr blutiges Werk. Mehrere Hundert hugenottische Adelige kämpften sich den Weg zum Louvre-Schloß frei und scharten sich um den Bräutigam dieser tragischen Hochzeit, um Heinrich von Bourbon-Navarra. Aber die Verfolger holten sie ein, überschwemmten das Schloß des Königs und machten nieder, wer ihnen in den Weg trat. Heinrich von Navarra entging auf Bitten Katharina von Medicis dem Blutbad, aber er war Gefangener in seinen Räumen.

Anderntags bot Paris einen grauenvollen Anblick. Noch immer zogen Mörderscharen umher, Geschrei und Jammer wurden von den Schüs­sen übertönt. Gegen Mittag kamen die ,Gugelmänner' mit den Kar­ren, luden die Leichen auf und fuhren sie zur Seine, um die Nackten und Ausgeplünderten den barmherzigen Fluten zu übergeben. Man sprach von fast zweitausend Ermordeten in einer einzigen Nacht.

Von Paris sprang das Feuer ins Land über, die blutigen Hugenotten­kriege, die nach dem Eingreifen Spaniens zum Kampf um die poli­tische Macht geworden waren, nahmen ihren Fortgang.

22

Page 26: Paris

Die Fuchtel des rächenden Schicksals kam auch über Paris. Pest und Hungersnot überfielen die Stadt. Am ,Tag der Barrikaden' — dem 12. Mai 1588 — verjagte das Volk von Paris den entarteten, letzten König aus dem Hause Valois, Heinrich III., Heere und Rachescha­ren beider Parteien belagerten, mit- oder gegeneinander kämpfend, die Stadt. Allein im Jahre 1593 starben dreizehntausend Pariser an Hunger.

Heinrich von Bourbon-Navarra ermöglichte noch im gleichen Jahre auf Anraten seines Freundes Sully durch den Übertritt zum Katholi­zismus den Frieden und nahm zu St. Denis an einer katholischen Messe teil. Paris öffnete dem neuen König Heinrich IV. — dem ersten Bourbonen auf dem französischen Thron — die Tore.

Der Religionsfriede ward geschlossen. Heinrich IV. war es, der den unterbrochenen Bau der Tuilerien fortsetzte, das Rathaus vollenden und die älteste der heute noch stehenden Pariser Brücken, den ,Pont NeuP, über die Seine schlagen ließ. Ihr mittlerer Bogen trägt das schöne Reiterstandbild des Königs.

Katharina von Medici, die sich ihren Witwensitz in dem neuen Schloß vor den Mauern einrichten wollte, erlebte die Fertigstellung nicht mehr. Heinrich IV. baute an den Tuilerien weiter, die in der Geschichte der Bourbonen noch eine tragische Rolle spielen sollten . . .

Die Medizeerin und der Kardinal Nördlich des Tuilerienschlosses, auf dem rechten Seineufer, breitet

sich das Viertel des ,Palais Royal' in den Häusermassen der Innen­stadt aus. Sein architektonischer und politischer Gegenpol ist auf dem anderen Ufer, genau südlich der Tuilerien, das Luxembourg-Palais. Zwischen diesen beiden gewaltigen Palästen und auf dieser Nord-Südachse, die auch den Louvre-Palast einbezieht, vollzogen sich seit dem 17. Jahrhundert Entscheidungen von oft weltbewegender Wir­kung.

König Heinrich IV. wurde am Tage nach der Krönung seiner zwei­ten Gemahlin Marie, die ebenfalls aus dem Hause der Medici stammte, ermordet, und die Königswitwe führte von diesem Tage an, im ständigen Kampf gegen die Übergriffe des französischen Hochadels, die Regentschaft für ihren Sohn Ludwig XIII . Im Jahre 1614 ließ sie Ludwig — der sie nicht liebte — mündig erklären und berief zur Neu-

23

Page 27: Paris

Ordnung der Staats- und Finanzverwaltung das Parlament nach Paris. Einer der Parlamentsräte war der neunundzwanzigjährige Herzog Ar-man Jean du Plessis, Bischof von Lucon, der nachmalige Kardinal und Staatskanzler Richelieu.. Seine offensichtliche staatsmännische Klugheit verschaffte diesem Manne schon bald hohen Rang in der Ver­sammlung der Räte, er wurde die rechte Hand der Maria von Medici. 1617, als die Partei der Medizeerin ihren Einfluß verloren hatte und ihr Hauptgünstling, Marschall d'Ancre, im Hof des Louvre enthauptet worden war, kehrte Richelieu nach Lucon zurück.

Wieder drei Jahre später, als die Adelsherrschaft zur tödlichen Ge­fahr für das Königtum zu werden drohte, holte die Königswitwe den jungen Diplomaten erneut nach Paris. Richelieu brachte eine Art poli­tische Waffenruhe zustande und faßte endgültig Fuß in der Haupt­stadt. Er schüttelte den Einfluß der Maria von Medici von sich ab, be­gann selber die Geschicke Frankreichs zu bestimmen und begeisterte den jungen König für seine Ziele. Ludwig XIII . ließ ihn gewähren.

Maria von Medici wurde Richelieus erbitterte Gegnerin, trat auf die Seite der Adelsopposition und baute ihren Palast zu einem Stütz­punkt des politischen Widerstandes aus. Im Jahre 1612 hatte sie das Anwesen des Herzogs von Luxembourg erworben und den dort gele­genen Wohnsitz durch den Architekten Debrosse im italienisch-franzö­sischen Renaissancestil großzügig umbauen lassen. Der Palazzo Pitti in ihrer Heimatstadt Florenz diente dem Baumeister als Vorbild. Mehr als ein Jahrzehnt zogen sich die Bauarbeiten hin. Der Garten wurde einer der anmutigsten der Stadt, und ist es auch heute noch.

Im Jahre 1622 berie? Maria einen berühmten Maler aus Antwerpen nach Paris, Peter Paul Rubens. Rubens entwarf für den Luxembourg-Palast die Skizzen zu der großartigen Gemäldefolge über das Leben der Maria von Medici. Die Gemälde wurden bis zum Jahre 1625 von seinen Schülern in den Niederlanden ausgeführt und von ihm selber in einer Wagenkarawane nach Paris gebracht. Heute hängen die auf große Leinwandflächen gemalten Bilder in den Sälen des Louvre-Museums.

Kaum minder mächtig und prächtig wurde das Palais, das etwa um die gleiche Zeit ihr Gegner, Staatsrat Richelieu, am nördlichen Seine­ufer erbauen ließ. Er hatte sich vorgenommen, die Macht der Krone und des Staates gegenüber Maria und dem in der ,Fronde' zusam-

24

Page 28: Paris

mengeschlossenen Adel durchzusetzen; das ,Palais Cardinal', später ,Palais Royal' genannt, sollte sichtbares Zeichen seines politischen Wil­lens sein. Um König Ludwig XIII . und der ihm wenig wohlgesinnten Königin Anna nahe zu sein oder vielmehr um ihr Tun und Lassen zu überwachen, wählte Richelieu einen Platz, der dem Königsschloß Louvre direkt gegenüber lag.

Während immer noch in den Parks und Gassen von Paris sich die Klingen der Richelieu-Garden mit denen der Edelleute kreuzten, mauerte Richelieu unbeirrbar an dem neuen Staate und legte die Fun­damente zu der europäischen Machtstellung Frankreichs, die schon bald — im Zeitalter Ludwigs XIV. — aller Welt offenbar wurde.

Die Position, die sich Richelieu gesichert hatte, fand Ausdruck auch in den anderen Unternehmungen zur Verschönerung und Vergröße­rung der Hauptstadt Paris: Der große Jardin des Plantes — einer der ersten botanischen und zoologischen Gärten Europas — wurde am Seineufer, östlich des Palais Luxembourg, eine Sehenswürdigkeit; Ri­chelieu gründete die Academie Francaise, eine wissenschaftlich-künst­lerische Gesellschaft, der auch die bedeutendsten ausländischen Köpfe angehören sollten; er legte den neuen vornehmen Stadtteil St. Ger­main an, und er bestimmte ihn ausdrücklich für die Herren des Adels; denn Richelieu begann den widerspenstigen und machtgierigen Hoch­adel dadurch zu lähmen und unter Aufsicht zu nehmen, daß er ihn veranlaßte, sich ,H6tels' in der Hauptstadt zu bauen und diese Stadt­paläste die längste Zeit des Jahres zu bewohnen. Die vor den mittel­alterlichen Mauerringen gelegenen Dörfer St. Jacques und St. An­tonie wurden eingemeindet und durch die langgezogene Rue St. Jacques verbunden. Und doch wogten die letzten Gefechte der Adels­opposition noch 1640, als Maria von Medici längst ins Ausland ent­flohen war, bis in die Vorstädte von Paris, bis endlich die Zentral­gewalt gesiegt hatte und der Thron festgefügt stand.

* Das Palais Royal, der Sitz des revolutionären und reformeifrigen

Staatsmannes Richelieu und die Hochburg seiner Garden, behielt auch in der Folge den Charakter eines hochpolitischen Brennpunktes. Ri­chelieu vermachte das Schloß bei seinem Tode 1642 König Ludwig XIII. , von dem es auf die Prinzen überging. Es wurde der Sitz der Herzöge von Orleans und zugleich die Brutstätte heimlicher Rivalität.

25

Page 29: Paris

Die Kerkerburg Als der Sohn Ludwigs XIII. , der Sonnenkönig Ludwig XIV., das

Zepter übernahm, hatte er nicht vergessen, daß die große Stadt während seiner Minderjährigkeit Hauptschauplatz erbitterter Partei­enkämpfe gewesen war. Ein Gefühl dafür, daß sich Zusammenballung der Masse und ein Königtum mit unbeschränkter Machtausübung wi­dersprechen, ließ den Hof hinaus in die freie Landschaft fliehen. Im fünfzehn Kilometer entfernten Versailles erbaute sich Ludwig XIV. im Jahre 1661 ein neues königliches Zentrum.

Trotzdem versuchte der Sonnenkönig, gute Nachbarschaft mit der alten Hauptstadt zu halten. Er befahl achtzig neue Straßen anzulegen, ließ die mittelalterlichen beengenden Bollwerke, die Boulevards, nie­derlegen und an ihrer Stelle den Ring der inneren Boulevards schaf­fen, die in einer Breite von dreißig Metern die erweiterte Stadt­grenze bildeten. An Stelle der finsteren Torwerke traten die symbo­lischen Triumphpforten St. Denis, St. Martin, St. Antoine und St. Bernard, von denen freilich nur zwei die Revolution überdauert ha­ben.

Der König schmückte die Stadt mit den Malen seiner Siege — mit dem Platz Victoire und dem Platz Vendome, auf dem eine große, der Trajan-Säule in Rom nachgebildete Triumphsäule errichtet wurde. Die Tuilerien wurden vollendet, die elysäischen Felder in den Park der Champs-Elysees verwandelt, ein Invalidenhaus, ein Hospital und ein Findelhaus gebaut, die Straßenbeleuchtung eingeführt und eine An­zahl neuer prächtiger Steinbrücken geschlagen.

Auch in der Folgezeit huldigten Königtum und Adel der Riesenstadt stets durch neue Bauwerke. Es entstanden Sternwarten, Akademien, neue Kollegienhäuser. Ein großes Opernhaus und das Theätre Fran­cais wuchsen empor, in hundert Salons wurden die Werke der literari­schen und wissenschaftlichen Größen gelesen und diskutiert: Corneille, Racine, Moliere, Voltaire, Michel de Montaigne, Montesquieu und Rousseau.

Aber während Paris nach wie vor geistiger und auch gesellschaftli­cher Mittelpunkt Frankreichs blieb, während das Leben durch die sich

26

Page 30: Paris

immer mehr dehnende und gärende Stadt wogte, warf noch immer eine mittelalterliche Zwingburg ihre Schatten über die Dächer: die Bastille.

Diese Festung, 1371 bis 1383 erbaut, beherrschte mit ihren Kano­nen von vier hohen Rundtürmen herab das unruhige Arbeiterviertel St. Antoine und diente seit alters als Staatsgefängnis. In den tiefen Ge­wölben der Bastille vertrauerten zahlreiche Gegner des Staates und des Königs ihr Leben: Verschwörer, persönliche Feinde, freidenkende Gelehrte, Ketzer, unbequeme Mahner, säumige Schuldner, lästige Ehemänner, freiheitlich gesinnte Politiker und Volksfreunde. Eine ,Lettre de Cachet' — ein oft erlisteter Verhaftungsbefehl mit der Un­terschrift des Königs — genügte, um einen Unbequemen hinter den Mauern der Bastille verschwinden zu lassen.

So war die Bastille für das Volk von Paris zum Symbol der Will­kürherrschaft und der absolutistischen Gewalt geworden, eine täglich mahnende Erinnerung an dunkle Vergangenheit, ein Block, der den Weg in eine freie Zukunft versperrte.

La Bastille war die Faust im Nacken von Paris. Fast dreiviertel Mil­lion hungernder, entrechteter Menschen wohnten 1789 im Bannkreis der Festung und sahen in ihr nur noch das Sinnbild eines Systems, das sie haßten.

*

Wir wollen noch einmal zum ,Palais Royal' zurückkehren, das von König Ludwig XIII . den Herzögen von Orleans als Wohnsitz ange­wiesen worden war, und finden es gegen Ende der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts weithin verwandelt. Der damalige Hausherr, Philipp Egalite von Orleans, der die Sache des Volkes vertrat, hatte den Park der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Um die Blumenbeete zog sich ein Viereck von Wohn- und Geschäftsgebäuden hin, das sich nach dem Garten zu in Arkaden öffnete. In diesen halbdunklen über­dachten Gängen betrieben zahlreiche Gastwirte, Modewarenhändler, Juweliere und andere Kaufleute ihre Geschäfte. Zu jeder Tages- und Abendstunde fand man hier um das Jahr 1789 debattierende junge Kaufleute, Advokaten und Studenten; selbst unter den Kastanien­bäumen des Parks saßen die Gruppen der Weltverbesserer, die sich über die neuesten Gerüchte, die letzten Flugblätter und die neuer-

27

Page 31: Paris

schienenen politischen Streitschriften unterhielten. Hier entflammte der Advokat Camille Desmoulines am 14. Juli 1789 die Gemüter zum Sturm auf die Bastille.

*

Zwischen der Straße St. Antoine und dem Boulevard Henry IV. be­zeichnet eine ins Pflaster eingravierte Linie die Stelle, an der die Ba­stille gestanden hat. An einem Fenster gegenüber der Zwingburg stand der kluge Monsieur Beaumarchais, der Dichter des ,Figaro', und sah an jenem denkwürdigen 14. Juli 1789 zu, wie sich die aufbe­gehrenden Massen auf den Platz ergossen. Waghalsige Bürger durch­schnitten die Ketten der Zugbrücke, aber im ersten Hof wurde der Sturm zurückgeworfen.

Stundenlang wölkte der Rauch der Geschütze und knatterte das Kleingewehrfeuer um die klafterdicken Mauern. Die Bastille war nur mit hundertneununddreißig Mann, der Schweizer Garde und Invali­den, besetzt. Der Königshof zu Versailles tat nichts zum Entsatz, Lud­wig XVI. war-auf der Hirschjagd.

Der Kommandant des Kerkerbaus, de Launay, verhinderte die Sprengung der Bastille und ergab sich nach erbitterter Abwehr. Doch der Zorn der Massen war zu groß — eine halbe Stunde nach der •Übergabe stak de Launays abgeschnittenes Haupt auf der Spitze einer Pike, seine Schweizer und Invaliden wurden gelyncht. Die Revolution hatte begonnen. Das verhaßte Bauwerk wurde geschleift und dem Erdboden gleichgemacht.

Noch einmal: Die Burg der Tempelherren Unter dem Druck der Straße sah sich drei Monate später König Lud­

wig XVI. gezwungen, den königlichen Hof von Versailles nach Paris — mitten unter' das revolutionierende Volk — zurückzuführen. Von Nationalgarden, Frauenscharen und Volksmassen eskortiert, setzten sich die Karossen des Königs in Bewegung. Als grausige Wahrzeichen des Machtwandels schwankten die blutigen Häupter gemordeter Gar­disten vor dem Wagen des Königs. Aufs tiefste gedemütigt, hielt Lud­wig XVI. Einzug in die Tuilerien. Die Revolutionsversammlung, der Konvent, ließ sich in der ,Salle du manege', gleich gegenüber den Tuileriengärten, nieder.

28

Page 32: Paris

Da de König aller Macht beraubt war und sein Leben bedroht sah, bereitete er in der Verborgenheit des Schlosses mit wenigen Getreuen die Flucht vor. Am 21. Juni 1791 verließ Ludwig XVI. mit seiner Fa­milie heimlich die Tuilerien und gelangte ohne Schwierigkeiten bis Varennes. Eine Tagesreise noch, und die Majestäten wären auf dem von treuen Truppen beherrschten Gebiet gewesen. Aber in Varennes hielten die Revolutionsgarden die Kutsche an, erkannten den König und zwangen ihn zur Rückkehr nach Paris.

Ein Jahr später, am 10. August 1792, stürmte das Volk die Tuile­rien. Schon beim Anmarsch der Massen flüchtete Ludwig XVI. mit sei­ner Familie in den Schutz des Konvents. Bis zum letzten Blutstropfen kämpfend, verteidigte die Schweizergarde das leere Schloß. Am Abend dieses Tages wurde die königliche Familie verhaftet und in den Turm des .Temple' gebracht. Ludwig XVI. verließ den Temple, in dem die Tempelherren unter den Schwertern seines Vorfahren verblutet wa­ren, am 21. Januar 1793, als man ihn zur Richtstätte brachte. Marie Antoinette verließ den Kerker ein halbes Jahr später, auch ihr Weg führte, nachdem man sie lange Zeit in der ,Conciergerie' gefangen gehalten hatte, zum Blutgerüst. Der Thronfolger, Ludwig XVII., aber verkümmerte unter den Händen eines Revolutionsschergen. Seine Spuren verlieren sich im Gemäuer der alten Tempelritterburg.

Zwischen Triumphbogen und Kaisergruft Rasch wechselte nach dem blutigen Auftritt der Revolution die Sze­

nerie. Zurückgekehrt vom mißglückten Ägyptenfeldzug wagte Napoleon

am 9. November 1799 draußen vor den Toren von Paris im Schlöß­chen St. Cloud den Staatsstreich. Bald kehrte er als Sieger und Tri-umphator, als Überwinder der Revolution und Konsul des neuen Zeitalters wieder.

Der Eroberer Ägyptens und Europas füllte die Säle des Louvre-Palastes mit geraubten Kunstschätzen, mit ägyptischen Altertümern, italienischen, deutschen, spanischen und niederländischen Bildern, Go­belins, Plastiken und Zeugnissen des Kunsthandwerks. Der Friede auf dem Gebiet des Rechtswesens wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch des ,Code Napoleon' und der Friede mit der Kirche in einem Kon­kordat geschlossen. Die Dokumente zu beiden Rechtsakten verlas man

29

Page 33: Paris

in der wiederhergestellten Kirche Notre Dame, bevor sie Krönungs­dom des neuen Kaisers wurde.

Napoleon I. bändigte und besänftigte das noch immer grollende Paris, indem er Pläne in Angriff nehmen ließ, die es zur würdigen Hauptstadt eines französischen Europas machen sollten.

Freilich gaben die zahlreichen Feldzüge dem Kaiser nur wenig Zeit, all diese Pläne in die Wirklichkeit umzusetzen. Doch wurden die Kais längs der Seine verlängert und ausgebaut, Wasserleitungen, Markt­hallen und Märkte wurden gesdiaffen, der Tuileriengarten erweitert und gegen den Louvre mit einem Triumphbogen abgeschlossen. Da der Louvre auf die Dauer zu klein war für die Fülle der herangebrach­ten Kunstschätze, erhielt er einen neuen Galerieflügel. Napoleon legte auch den Grund zur Börse und ließ die in der Revolution be­schädigten Kirchen und Adelspaläste erneuern.

Den Plan zu einem Gesamtumbau von Paris konnte Napoleon nicht mehr verwirklichen. Weit draußen auf der sanft sich erhebenden Höhe der Champs Elysees begann zwar sein Architekt Chalgrin jenen Stern­platz — die ,Place d'Etoile' — anzulegen, von dem aus die Strahlen neuer, gewaltiger Prachtstraßen ausgehen sollten, Chalgrin entwarf audi den größten Triumphbogen der Welt — den Are de Triomphe — mit fünfzig Meter Höhe und fünfundvierzig Meter Breite. Aber der Kaiser erlebte die Vollendung dieses Bauwerks, das den Ruhm seiner Siege von 1805/06 verkünden sollte, nicht mehr. 1814 zogen die Alli­ierten — Deutsche, Russen, Engländer und Schweden — in Paris ein, der Niedersturz des Kaiserreichs begann. Napoleonische Triumph­bögen waren sinnlos geworden.

Fern von Frankreich, auf der Insel St. Helena starb Napoleon am 5. Mai 1821, und erst Jahrzehnte später wurde sein Sarg nach Paris überführt. Jetzt erst, im Jahre 1840, war der Are de Triomphe mit den Reliefs der großen Siege, den Namen der hundertzweiundsiebzig Schlachten und dreihundertsechsundachtzig Helden der Nation fertig­gestellt. Der tote Kaiser zog in den Invalidendom — den Bau Har-douin-Mansarts aus den Tagen Ludwig XIV. — ein und fand sein Grab unter einem dreizehnhundert Zentner schweren Block aus sibi-risdiem Porphyr, in dem innersten von sechs ineinandergestellten Särgen.

*

30

Page 34: Paris

Nur zwei Meilen entfernt vom Invalidendom, jenseits der Seine, erhebt sich der Are de Triomphe. Zwei Meilen Raum liegen zwischen Triumph und Gruft: Ein Zeitalter größter Erschütterungen und menschlicher Leiden ist ausgebreitet zwischen diesen beiden Polen.

Verwehte Vergangenheit Aus der Zeit der französischen Revolution ragen kaum noch unver­

änderte Denkmäler in unsere Zeit hinüber. Einzig die ,Conciergerie', einstmals ,Wartehalle der Guillotine' genannt, steht beinahe unver-wandelt. Heute zeigt man hier die niedrigen Kerkerräume der be­rühmten Gefangenen der Revolution, vor allem die fast lichtlosen Steinzellen, in denen Marie Antoinette den Tod erwartete. Das Haus des Schreckens und der Todesangst ist Museum für Touristen gewor­den.

Schemenhaft schweben die Erinnerungen auch um die einstigen Tui-lerien. Bis in die Tage des Dritten Napoleon war das Schloß Sitz der Regierung geblieben. Aber mit dem Sturz der letzten Krone, als die Kommunisten im belagerten Paris den roten Totentanz aufführten, sank auch das Tuilerien-Schloß in Trümmer. Am 22. Mai 1871 warfen Pöbelhorden Feuerbrände in den Palast und zerstörten ihn mit solch wütender Gründlichkeit, daß er gänzlich abgetragen werden mußte. Nur Reste der Flügelbauten, der ,Pavillon de Marsau' und der .Pa­villon de Flore', blieben erhalten, doch auch sie sind zum großen Teil erneuert. Im Tuileriengarten flüstern die von Grün umsponnenen Denkmäler noch vom Gestern: von hugenottischen Kavalieren, Höf­lingen in Allongeperücken, Aufständischen in Jakobinermützen, Kö­nigsgarden im Dreispitz, von grollenden, lärmenden, revoltierenden Massen, von Napoleon und den Königen, die ihm folgten; verweht sind Sturmsignale, Rachegeschrei, Flintengeknall und Kanonendon­ner, verweht ist das Lachen der Hofdamen, das Scherzen der Cheva­liers und das Getrappel der Pferde vor den königlichen Kutschen.

Mit dem französischen Königstum ist auch der .Temple' dahingesun-ken. Der Kaiser der neuen Zeit, Napoleon I., ließ den Turm abtra­gen; sein später Nachfolger Napoleon III. befahl 1860 die Beseitigung der noch verbliebenen Reste. Heute blühen Blumen auch an dieser Stätte. Der Verkehr der Boulevards flutet über den Platz, der so

31

Page 35: Paris

viele Schreie gehört, so viele Qual geschaut und dem so vielfaches Un­recht sein feuriges Brandmal aufgedrückt hat.

Verändert liegen heute auch der Greve- und der Revolutionsplatz, der Rathaus-Platz und der Platz de la Concorde —, wo die Guillotine tausende Opfer verschlungen hat. Die Massengräber der Hingemorde­ten sind verschollen oder vergessen. Das Rathaus, das der Fremde heute am Greve-Platz sieht, ist der 1876 bis 1884 nach den Plänen von Ballu und Deperthes im nachgeahmten Renaissancestil wieder­errichtete Bau — eine vergrößerte und reichere Wiederholung des al­ten Stadthauses von Paris. Die Chronik des Hauses erinnert daran, daß auf dem Balkon des alten ,Hotel de ville' König Ludwig XVI. gezwungen wurde, sich mit der dreifarbigen Kokarde der Revolution dem Volk zu präsentieren; daß droben im ersten Stockwerk Robes­pierre, das Haupt der Schreckensherrschaft, die letzte Nacht verbrachte und seine Jakobinerfreunde auf den Gängen und Treppen verende­ten. Die Chronik des alten Hauses endet mit jenem Maitag des Jahres 1871, als die wütende Kommune das Stadthaus besetzt hielt, das ihre Hochburg war. Als die Belagerten zu unterliegen drohten, zündeten sie das Rathaus an allen vier Ecken an, um ihm ein würdiges revolu­tionäres Grab zu bereiten.

Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky.

L u x - L e s e b o g e n 3 4 6 (Geschichte) H e f t p r e i s 3 0 P f g . Natur- und kulturkundllehe Hefte - Bestellungen (vlerteljährl. 6 Heute DM 1.80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vor­rätig. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux.

Page 36: Paris

Recommended