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Onkologische Erkrankungen in der Hausarztpraxis...2020/03/25  · grafi sche Entwicklung) muss in...

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F. Kaiser H.C. Römer L. Trümper U. Vehling-Kaiser (Hrsg.) Interdisziplinär · praxisorientiert · patientennah Onkologische Erkrankungen in der Hausarztpraxis
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F. Kaiser H.C. Römer L. Trümper U. Vehling-Kaiser (Hrsg.)

Interdisziplinär · praxisorientiert · patientennah

Onkologische Erkrankungen in der Hausarztpraxis

Page 2: Onkologische Erkrankungen in der Hausarztpraxis...2020/03/25  · grafi sche Entwicklung) muss in der Hausarztpraxis immer häufi ger an das Vorliegen von Tumorerkran-kungen gedacht

Inhaltsverzeichnis

1 Der onkologische Patient im Kontext der hausärztlichen Versorgung  . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Hermann C. Römer

1.1 Die Rolle des Hausarztes . . . . . . . . 11.2 Diagnose Krebs – was nun? . . . . . . 51.3 Schnittstellenmanagement

Hausarzt – Facharzt – Patient . . . . 10

2 Was ist Krebs?  . . . . . . . . . . . . . . . 15Konstantin Holzapfel, Silke Kaulfuß, Bruno Neu, Peter Rexrodt, Lorenz Rieger, Ursula Vehling-Kaiser, Vivek Venkataramani

2.1 Ursachen für Krebs . . . . . . . . . . . . . 15Vivek Venkataramani

2.2 Krebs und Vererbung (hereditäre Erkrankungen, humangenetische Beratung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19Silke Kaulfuß

2.2.1 Hereditärer Brust- und Eierstockkrebs . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

2.2.2 Darmkrebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232.2.3 Lynch-Syndrom (HNPCC) . . . . . . . . . 232.2.4 Familiäre adenomatöse

Polyposis (FAP) . . . . . . . . . . . . . . . . 262.2.5 Weitere Tumorsyndrome . . . . . . . . . 282.3 Diagnostik und

Kontrolluntersuchungen . . . . . . . . . 30Peter Rexrodt

2.3.1 Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . 302.3.2 Bildgebende Verfahren bei speziellen

Tumorerkrankungen . . . . . . . . . . . . 332.4 Risikofaktoren für Krebs und

Vermeidungsmöglichkeiten  . . . . . . 362.4.1 Vermeidbare Risikofaktoren . . . . . . . 36

Ursula Vehling-Kaiser2.4.2 Bakterien und Viren . . . . . . . . . . . . . 40

Ursula Vehling-Kaiser, Lorenz Rieger2.4.3 Medikamente mit erhöhtem

Krebsrisiko  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40Ursula Vehling-Kaiser, Lorenz Rieger

2.4.4 Ionisierende Strahlung . . . . . . . . . . . 42Konstantin Holzapfel, Peter Rexrodt

2.4.5 Prävention gastrointestinaler Tumoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43Bruno Neu

3 Wirkung und Nebenwirkung von Krebstherapien  . . . . . . . . . . 51Georg Dechantsreiter, Marcus Hentrich, Ana Hoffmann, Konstantin Holzapfel, Tobias R. Overbeck, Peter Rexrodt, Lorenz Rieger, Stephan Seitz, Ursula Vehling-Kaiser

3.1 Operation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51Georg Dechantsreiter

3.1.1 Kurative Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . 513.1.2 Palliative Chirurgie . . . . . . . . . . . . . 543.2 Strahlentherapie  . . . . . . . . . . . . . . 55

Peter Rexrodt3.3 Interventionell-radiologische,

minimalinvasive Therapieverfahren  . . . . . . . . . . . . . 59Konstantin Holzapfel

3.3.1 Lokal-ablative Verfahren . . . . . . . . . 593.3.2 Intraarterielle Verfahren . . . . . . . . . . 623.4 Systemische Tumortherapien . . . . . 633.4.1 Chemotherapie  . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Ursula Vehling-Kaiser3.4.2 Antikörpertherapie  . . . . . . . . . . . . . 70

Ursula Vehling-Kaiser3.4.3 Angiogenesehemmer  . . . . . . . . . . . 75

Ursula Vehling-Kaiser3.4.4 Immunonkologische Therapien . . . . . 78

Ursula Vehling-Kaiser3.4.5 Orale Tumortherapien  . . . . . . . . . . . 81

Ursula Vehling-Kaiser3.4.6 Endokrine Therapie  . . . . . . . . . . . . . 83

Lorenz Rieger, Stephan Seitz, Ursula Vehling-Kaiser

3.4.7 Small Molecules  . . . . . . . . . . . . . . . 90Tobias R. Overbeck

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XIIIInhaltsverzeichnis

3.4.8 Subkutane Tumortherapien  . . . . . . . 95Ursula Vehling-Kaiser

3.5 Hyperthermie  . . . . . . . . . . . . . . . . . 97Marcus Hentrich

3.6 Der Patient als Studienteilnehmer  . . 99Ana Hoffmann

4 Supportive Maßnahmen   . . . . . . 103Georg Dechantsreiter, Reinhold Eckstein, Marcus Hentrich, Irina Krolzig, Elisabeth Krull, Thomas Kubin

4.1 Infektionsprophylaxe  . . . . . . . . . . . 104Marcus Hentrich

4.1.1 Nicht medikamentöse Infektionsprophylaxe . . . . . . . . . . . . 104

4.1.2 Systemische medikamentöse Infektionsprophylaxe . . . . . . . . . . . . 106

4.2 Übelkeit und Erbrechen, Antiemese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110Marcus Hentrich

4.2.1 Einteilung und Pathophysiologie . . . 1104.2.2 Ursachen und auslösende Faktoren . . 1104.2.3 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114.3 Mukositis und

Geschmacksstörung . . . . . . . . . . . . 115Marcus Hentrich

4.3.1 Mukositis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1154.3.2 Geschmacksstörung . . . . . . . . . . . . 1174.4 Obstipation und Diarrhö . . . . . . . . 118

Marcus Hentrich4.4.1 Obstipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1184.4.2 Diarrhö . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1204.5 Haarausfall  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Elisabeth Krull4.6 Ernährungsbezogene Störungen

und ihre Behandlung  . . . . . . . . . . . 124Irina Krolzig

4.7 Körperliche AktivitätThomas Kubin  . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

4.8 Blut- und Thrombozyten- transfusionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Reinhold Eckstein

4.9 Bisphosphonate  . . . . . . . . . . . . . . . 138Marcus Hentrich

4.10 Wachstumsfaktoren  . . . . . . . . . . . . 142Marcus Hentrich

4.10.1 Granulozyten-Kolonien stimulierende Faktoren (G-CSF) . . . . . . . . . . . . . . . 142

4.10.2 Erythropoese stimulierende Faktoren (ESA) . . . . . . . . . . . . . . . . 144

4.10.3 Thrombopoetin-Rezeptor-Agonisten (TRA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

4.11 Aszites, Pleuraerguss, Perikarderguss – Therapiemöglichkeiten . . . . . . . . . . 145Georg Dechantsreiter

4.11.1 Maligner Aszites . . . . . . . . . . . . . . . 1454.11.2 Maligner Pleuraerguss . . . . . . . . . . . 1474.11.3 Maligner Perikarderguss . . . . . . . . . 1494.12 Portsysteme und

Portkomplikationen  . . . . . . . . . . . . 150Georg Dechantsreiter

5 Onkologische Notfälle  . . . . . . . . 159Peter Hau, Marcus Hentrich, Johannes Rieger, Ursula Vehling-Kaiser

5.1 Atemnot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159Ursula Vehling-Kaiser

5.2 Akutes Abdomen  . . . . . . . . . . . . . . 163Ursula Vehling-Kaiser

5.3 Obere Einfl ussstauungUrsula Vehling-Kaiser  . . . . . . . . . . . 165

5.4 Neurologische Notfälle . . . . . . . . . 1665.4.1 Epileptische Anfälle  . . . . . . . . . . . . . 166

Johannes Rieger5.4.2 Hirndruck  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Johannes Rieger5.4.3 Querschnitt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Peter Hau5.4.4 Delir

Peter Hau  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1745.5 Hyperkalzämie  . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Marcus Hentrich5.6 Tumorlysesyndrom  . . . . . . . . . . . . . 179

Marcus Hentrich5.7 Sepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Marcus Hentrich5.8 Blutungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Ursula Vehling-Kaiser

_21271_Vehling.indb XIII_21271_Vehling.indb XIII 09.03.2020 10:12:5009.03.2020 10:12:50

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XIV Inhaltsverzeichnis

6 Chronische und psychische Belastungsfaktoren   . . . . . . . . . . 189Lorenz Rieger, Michael Sohm, Christina von der Assen

6.1 Psychische Störungen bei Krebserkrankungen  . . . . . . . . . . . . 189Michael Sohm

6.1.1 Akute Belastungsreaktion . . . . . . . . 1906.1.2 Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . 1916.1.3 Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1936.1.4 Somatisierungsstörung . . . . . . . . . . 1946.1.5 Schwere psychische Störungen bei

Tumorerkrankungen . . . . . . . . . . . . 1956.2 Fatigue-Syndrom  . . . . . . . . . . . . . . 196

Michael Sohm6.3 Chemobrain  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Michael Sohm6.4 Polyneuropathie . . . . . . . . . . . . . . . 202

Michael Sohm 6.5 Krebserkrankungen und

Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204Lorenz Rieger, Christina von der Assen

6.6 Kinderwunsch  . . . . . . . . . . . . . . . . 207Lorenz Rieger

7 Die besondere Therapiesituation  . . . . . . . . . . . . 211Alessia Fraccaroli, Florian Kaiser, Elisabeth Krull, Johanna Tischer

7.1 Der knochenmarktransplantierte Patient  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211Alessia Fraccaroli, Johanna Tischer

7.1.1 Allogene und autologe Transplantation . . . . . . . . . . . . . . . . 211

7.1.2 Graft-versus-Host Disease (GvHD) . . 2167.1.3 Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2197.1.4 Impfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2227.2 Der geriatrische Patient  . . . . . . . . . 226

Elisabeth Krull7.3 Polymedikation  . . . . . . . . . . . . . . . 231

Elisabeth Krull7.4 Adhärenzproblematik  . . . . . . . . . . 237

Florian Kaiser

8 Wundmanagement . . . . . . . . . . . 245Elisabeth Krull

8.1 Wunden bei Patienten mit Tumorerkrankungen . . . . . . . . . . . . 245

8.2 Begleitende Symptome bei Tumorwunden . . . . . . . . . . . . . . . . 250

8.3 Anforderungen an den Wundverband . . . . . . . . . . . . . . . . 254

9 Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . 257Michael Rechenmacher, Peter Rexrodt 

9.1 Grundlagen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257Michael Rechenmacher

9.2 Medikamentöse Schmerztherapie  . . 262Michael Rechenmacher

9.2.1 Nichtopioidanalgetika . . . . . . . . . . . 2629.2.2 Opioide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2639.2.3 Koanalgetika . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2649.2.4 Anwendungsprinzipien der

Tumorschmerztherapie . . . . . . . . . . 2669.2.5 Basistherapie in der Praxis . . . . . . . . 2679.2.6 Durchbruchschmerz und

Bedarfsmedikation . . . . . . . . . . . . . 2719.2.7 Adjuvanzien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2739.2.8 Spezielle Verfahren in der

Tumorschmerztherapie . . . . . . . . . . 2749.3 Strahlentherapie bei Schmerzen  . . 275

Peter Rexrodt9.4 Supportive, nicht medikamentöse

Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276Michael Rechenmacher

9.5 Mythos Morphin  . . . . . . . . . . . . . . 278Michael Rechenmacher

9.6 Cannabis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281Michael Rechenmacher

10 Palliative Versorgungsstrukturen   . . . . . . . 285Florian Kaiser, Elisabeth Krull

10.1 Allgemeine ambulante Palliativversorgung (AAPV)  . . . . . . 285Florian Kaiser

10.2 Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) . . . . . . . 291Florian Kaiser

_21271_Vehling.indb XIV_21271_Vehling.indb XIV 09.03.2020 10:12:5009.03.2020 10:12:50

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XVInhaltsverzeichnis

10.3 Palliativdienst  . . . . . . . . . . . . . . . . 300Elisabeth Krull

10.4 Palliativstation  . . . . . . . . . . . . . . . . 301Elisabeth Krull

10.5 Hospiz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303Elisabeth Krull

11 Komplementäre Methoden in der Tumortherapie  . . . . . . . . . 307Sigrun Gabius, Ricarda Krüger, Elisabeth Krull

11.1 Anwendung komplementärer Methoden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307Sigrun Gabius, Ricarda Krüger

11.2 Körperliche Mobilisierung  . . . . . . . 308Sigrun Gabius, Ricarda Krüger

11.3 Entspannungstechniken  . . . . . . . . . 308Sigrun Gabius, Ricarda Krüger

11.4 Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel  . . . . . . 309Sigrun Gabius, Ricarda Krüger

11.5 Musik- und Tanztherapie  . . . . . . . . 309Sigrun Gabius, Ricarda Krüger

11.6 Phytotherapie und Teezubereitungen . . . . . . . . . . . . . . 309Sigrun Gabius, Ricarda Krüger

11.7 Wasser- und Kneipp-Anwendungen  . . . . . . . . . . . . . . . . 310Sigrun Gabius, Ricarda Krüger

11.8 Besondere Therapierichtungen . . . . 311Sigrun Gabius, Ricarda Krüger

11.9 Anwendung ätherischer Öle  . . . . . 313Elisabeth Krull

12 Kommunikation mit Tumor-patienten und Angehörigen  . . . 317Elisabeth Krull, Michael Sohm

12.1 Mitteilung der Krebsdiagnose  . . . . 317Michael Sohm

12.2 Prognosefragen beantworten  . . . . 321Michael Sohm

12.3 Auswirkungen der Diagnose „Krebs“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324Michael Sohm

12.4 Advance Care Planning  . . . . . . . . . 332Elisabeth Krull

12.5 Letzte Hilfe Kurse  . . . . . . . . . . . . . . 337Elisabeth Krull

Farbtafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

_21271_Vehling.indb XV_21271_Vehling.indb XV 09.03.2020 10:12:5109.03.2020 10:12:51

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KAPITEL

1Hermann C. Römer

Der onkologische Patient im Kontext der hausärztlichen Versorgung

1.1 Die Rolle des Hausarztes

Wir Hausärzte erfüllen eine Lotsen- und Filterfunk-tion in der medizinischen Grundversorgung. Wir sind für Patienten die erste Anlaufstelle für die Not-fall-, Akut- und Langzeitbehandlung, d. h. vorüber-gehend erkrankte (gesunde) und dauerhaft erkrank-te Menschen. Es ist unsere Aufgabe, Beschwerden einzuschätzen und alle folgenden Behandlungsan-lässe zu koordinieren. Dies umfasst die präventive, kurative und rehabilitative Versorgung und setzt ein spezifi sches methodisches Vorgehen („hermeneuti-sches Fallverständnis“) voraus.

M E R K EDie Arbeitsweise der Allgemeinmedizin berücksichtigt somatische, psychosoziale, soziokulturelle und ökologi-sche Aspekte. Bei der Interpretation von Symptomen und Befunden ist es von besonderer Bedeutung, den Pa-tienten, sein Krankheitskonzept, sein Umfeld und seine Geschichte zu würdigen (hermeneutisches Fallverständ-nis). (Bahrs 2012)

Prävention, Früherkennung, (Langzeit-)Behandlung

Die haus- und familienärztliche Funktion umfasst insbesondere die Betreuung von Patienten im Kon-text der Familiensituation, der sozialen Gemein-schaft , des häuslichen Umfelds und des Berufs. Haus-ärzte beraten den Patienten in Fragen der Gesundheit

und der Gesundheitsförderung sowie der Prävention und Früherkennung von Erkrankungen, sie koordi-nieren federführend die Zuweisung zu Spezialisten und sind Schnittstelle zwischen den Versorgungsebe-nen und verantwortlich für die Zusammenführung und Bewertung aller Ergebnisse und deren kontinu-ierliche Dokumentation. Eine über einen gewissen Zeitraum bestehende Arzt-Patienten-Beziehung macht für Hausärzte eine erlebte Anamnese mög-lich, eine ausführliche und über die Zeit wachsende Sammlung von Informationen über den Patienten.

PräventionNicht nur bei einer bereits bestehenden Krebs-erkrankung ist die Schnittstellenfunktion des Haus-arztes von großer Bedeutung für die Patienten, son-dern auch bei der Krebsfrüherkennung. So können im Rahmen der angebotenen Vorsorgeuntersuchun-gen mögliche Frühstadien von tumorösen Erkran-kungen diagnostiziert bzw. Risikofaktoren identifi -ziert werden (› Tab. 1.1, › Abb. 1.1, › Kap. 2.4).

Aufgrund der Präventionsmaßnahmen und der ausführlichen Anamnese ist der Hausarzt über das Vorkommen von Tumorerkrankungen in der Fami-lie eines Patienten informiert. Er kann einschätzen, welche genetischen Veränderungen an die Folgege-neration weitergegeben wurden, und die Patienten dementsprechend aufk lären.

Die ganzheitliche Betrachtung des Patienten und die Betreuung über einen langen Zeitraum bieten einen Spielraum bei der Interpretation von Sympto-men und/oder möglichen Veränderungen des Pa-

1.1 Die Rolle des Hausarztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.2 Diagnose Krebs – was nun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1.3 Schnittstellenmanagement Hausarzt – Facharzt – Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

_21271_Vehling.indb 1_21271_Vehling.indb 1 09.03.2020 10:12:5109.03.2020 10:12:51

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2 1 Der onkologische Patient im Kontext der hausärztlichen Versorgung

1

tienten. Der Hausarzt ist darüber informiert, welche Vorstellung der Patient von Krankheit hat, welchen Arbeitsplatz er hat, ob er mit gift igen Substanzen arbeitet, wie sein Lebensstil beschaff en ist, ob Niko-tin- und Alkoholabusus, Übergewicht oder andere Risikofaktoren für akute, chronische und möglicher-weise tumoröse Erkrankungen bestehen.

Die häufi gsten Tumorerkrankungen in Deutsch-land sind in › Abb. 1.1 dargestellt. Die Tumorlokali-sationen, bezogen auf das Auft reten und die Sterbe-

fälle, unterscheiden sich jedoch in Deutschland bei gewissen Tumorerkrankungen und sind außerdem geschlechterspezifi sch unterschiedlich (› Abb. 1.2, › Abb. 1.3, › Tab. 1.2, › Tab. 1.3).

LangzeitbehandlungAufgrund des Altersanstiegs der Bevölkerung (demo-grafi sche Entwicklung) muss in der Hausarztpraxis immer häufi ger an das Vorliegen von Tumorerkran-kungen gedacht werden. Die Anzahl der Tumorpa-tienten wird ansteigen. Auch langwierige Tumor-erkrankungen, die unter Th erapie nicht fortschreiten oder geheilt wurden, werden immer häufi ger.

Bei Patienten, die in jungen Jahren eine Tumor-therapie durchlaufen haben, gilt es zu bedenken, dass sowohl Zweittumoren aufgrund genetischer Faktoren (› Kap. 2.2) als auch Organschädigungen sowie Zweittumoren aufgrund der Th erapie zu einem späteren Zeitpunkt auft reten können. Gerade bei jungen Tumorpatienten nach abgeschlossener Th erapie und abgeschlossenen Folgeroutineuntersu-chungen spielt dies eine wichtige Rolle (› Tab. 1.4).

Tipps für die Praxis Ein in der frühen Kindheit behandelter Leisten-hoden wird oft in der Anamnese vergessen. Es besteht jedoch für den jungen Mann eine Risiko-erhöhung, an einem Hodentumor zu erkranken. Er sollte auf das Risiko hingewiesen und angewie-sen werden, eine regelmäßige Tastuntersuchung der Hoden durchzuführen (Selbstuntersuchung).

Das Risiko für einen Zweittumor nimmt nach einem Zeit-raum von 15 bis 20 Jahren exponentiell zu. Beispiel: Patient, männlich, 43 Jahre, Auftreten einer akuten mye-loischen Leukämie, bei Behandlung eines Hodentumors vor 20 Jahren mit einer Cisplatin -Chemotherapie.

Tab. 1.1 Risikofaktoren für die Entstehung von Tumorerkrankungen

Faktoren Beispiele

Genetische Faktoren Familiäre adenomatöse Polyposis (FAP), hereditäres nonpolyposes Dickdarmkarzinom, Gebär-mutterkrebs, Brustkrebs, Eierstockkrebs

Toxische Substanzen Nikotin, Asbest, Chrom, Pentachlorphenol (PCP)

Zufällige Mutationen Fahrermutationen, Passagiermutationen und daraus folgend defekte, das Zellwachstum hem-mende oder Zelltod fördernde Gene

Abb. 1.1 Ursachen von Tumorerkrankungen [V492]

Tab. 1.2 Häufi gste Tumorerkrankungen (geschlechter-bezogen)

Mann Frau

Prostata Brust

Lunge Darm

Darm Lunge

Tab. 1.3 Häufi gste Sterbefälle durch Tumorerkrankun-gen (geschlechterbezogen)

Mann Frau

Lunge Brust

Prostata Lunge

Darm Darm

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31.1 Die Rolle des Hausarztes

1

Berufsbedingte Tumorerkrankungen

Ein wichtiges Behandlungsfeld stellen berufsbeding-te Tumorerkrankungen dar. So sollte bei der Diag-nose einer Tumorerkrankung durch den Hausarzt stets zusätzlich eine ausführliche Berufsanamnese erhoben werden, auch wenn der Patient bereits be-rentet ist. Beispielsweise muss geklärt werden, ob der Patient in seinem gesamten Berufsleben oder bei

der Ausübung von Hobbies eine Exposition gegen-über Arbeitsstoff en hatte, welche die Entstehung von Tumorerkrankungen fördern.

M E R K EBerufsbedingte Tumorerkrankungen können durch eine Stoffexposition entstanden sein, die bereits 20 bis 30 Jahre zurückliegt.

Abb. 1.2 Prozentualer Anteil der häufi gsten Tumorlokalisationen an allen Krebsneuerkrankungen in Deutschland 2014 (ohne nicht me-lanotischen Hautkrebs) (Krebsatlas 2014) [V492]

23,013,913,34,74,43,83,73,73,73,43,12,62,21,61,61,4

30,512,38,54,74,53,83,53,22,72,72,42,01,91,81,61,41,4

Abb. 1.3 Prozentualer Anteil der häufi gsten Tumorlokalisationen an allen Krebssterbefällen in Deutsch-land 2014 (Krebsatlas 2014) [V492]

24,411,311,26,84,64,33,43,43,43,22,92,8

1,5

17,415,311,78,25,34,03,52,92,72,42,42,2

1,81,5

2,7 2,01,7 1,9

Tab. 1.4 Mögliche therapiebedingte Spätschäden bei Tumorpatienten

Therapie Spätschäden (Beispiele)

Operation Kosmetische Veränderungen, Schluckstörungen, Störungen des Verdauungsapparats, Narbenbil-dung, Schmerzen

Chemotherapie Kardiotoxizität, Lungentoxizität, Neurotoxizität

Strahlentherapie Störungen des Magen-Darm-Trakts, Hautschäden, Neurotoxizität

Alle Therapien Fatigue-Syndrom, Immundefekte, endokrine Dysfunktionen, Osteoporose, Nierenfunktionsstörungen, Depressionen, Angstzustände, Rezidive, Zweittumoren, Verlust von Lebensqualität

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4 1 Der onkologische Patient im Kontext der hausärztlichen Versorgung

1

In › Tab. 1.5 sind Beispiele für häufi ge berufsbe-dingte Tumorerkrankungen aufgeführt.

M E R K ESollte der Verdacht auf eine Berufskrankheit (BK) be-stehen, also in der Vorgeschichte eine Exposition gegen-über Arbeitsstoffen aufgrund der berufl ichen Tätigkeit vorgelegen haben, die für die Tumorentstehung verant-wortlich sein können, muss eine BK-Meldung an die Be-rufsgenossenschaft gemacht werden (auch gegen den Willen des Patienten).

Jeder chronisch kranke Patient und insbesondere der Tumorpatient benötigt eine zeitintensive und qualifi zierte Betreuung durch den Hausarzt. Dazu gehören ausführliche Gespräche mit Patient und Angehörigen (› Kap.  12), häufi ge Kontakte mit dem Patienten, Gespräche mit den mitbehandeln-den Kollegen und Th erapeuten (Onkologen, Chirur-gen, Strahlentherapeuten, Radiologen, Psychoonko-logen, Physiotherapeuten etc.), die Organisation von Diagnostik und Th erapie sowie im Verlauf der Er-krankung ggf. Hausbesuche.

Die adäquate Betreuung von Tumorpatienten wird jedoch immer schwieriger, weil es immer weni-ger praktizierende Hausärzte gibt und gleichzeitig der Zeitdruck durch hohe Patientenzahlen massiv ansteigt.

II Beispiele

Koloskopie A

Ein 56-jähriger Patient lässt eine Vorsorgekolosko-pie durchführen. Das Ergebnis der Untersuchung zeigt, dass ein Polyp vorliegt, der in toto entfernt werden kann. Die histologische Aufarbeitung des entfernten Polypen zeigt ein Adenom.

Der Hausarzt bespricht den Befund mit dem Pa-tienten und koordiniert eine Kontrolluntersuchung in einem Zeitraum von drei Jahren (ggf. Recall).

Koloskopie B

Ein 46-jähriger Patient stellt sich mit rezidivieren-den Unterbauchbeschwerden bei seinem Hausarzt vor. Die früher erhobenen anamnestischen Daten und Untersuchungsbefunde zeigen keine Auff ällig-keit. Der Hausarzt empfi ehlt die Durchführung einer Koloskopie. Als Ergebnis der Untersuchung zeigt

sich das Vorliegen von sieben großen Polypen, die alle in toto entfernt werden können. Die histologi-sche Aufarbeitung der entfernten Polypen zeigt die Zellstruktur multipler Adenome.

Der Hausarzt bespricht den Befund mit dem Pa-tienten und koordiniert eine Kontrolluntersuchung in einem Zeitraum von drei Jahren (ggf. Recall) für diesen Patienten. Des Weiteren empfi ehlt er eine Untersuchung der Verwandten des Patienten oder die Vorstellung bei einem Onkologen, da eine mög-liche genetische Disposition für die Entstehung eines Kolonkarzioms vorliegt.

Koloskopie C

Ein 52-jähriger Patient lässt bei positivem immuno-logischem Stuhltest (FIT) eine Koloskopie durchfüh-ren. Als Ergebnis der Untersuchung zeigt sich das Vorliegen eines stenosierenden Prozesses. Die histo-logische Aufarbeitung der entfernten Schleimhaut-proben zeigt ein Kolonkarzinom.

Der Hausarzt bespricht den Befund mit dem Pa-tienten und koordiniert mit dem Onkologen bzw. mit der Fachklinik die weiteren Behandlungsschritte (apparative Diagnostik, operative Th erapie, Chemo-therapie etc.). Nach der stationären Behandlung des Patienten organisiert der Hausarzt alle weiteren Maßnahmen (Heilmittel, Reha etc.). II

Die vorgestellten Beispiele verschiedener Ergebnisse einer Koloskopie zeigen, wie vielfältig die sich dar-aus ergebenden Handlungsabläufe sind. Optimaler-weise ist der Hausarzt in solchen Fällen der Begleiter und Organisator des Patienten, der sowohl mit den Fachkollegen als auch mit den Angehörigen das wei-tere Vorgehen bespricht und koordiniert.

Außerdem hat der Hausarzt den Überblick über alle vorliegenden Befunde, zieht daraus die entspre-

Tab. 1.5 Tumorerkrankungen durch mögliche berufl i-che Exposition gegenüber kanzerogenen Substanzen

Bronchialkarzinom Schweißrauche, anorgani-sche Stäube, Asbest

Mesotheliom Asbest

Harnblasenkarzinom Azofarbstoffe, Lösemittel

Larynxkarzinom Schwefelsäure

Plattenepithelkarzinom der Haut

UV-Exposition, Ruß, Teer

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51.2 Diagnose Krebs – was nun?

1

chenden Schlussfolgerungen und leitet die weiteren Schritte ein. In Fall B und C (s. o. „Beispiele“) initi-iert er in Absprache mit dem behandelnden Onko-logen die erneute Erhebung der Familienanamnese , mit der Empfehlung einer frühzeitigen Darmspiege-lung bei Geschwistern und einer weiteren diagnosti-schen Abklärung, um einen möglichen Gendefekt mit der Folge eines frühzeitig entstehenden Kolon-karzinoms und/oder anderer Tumordignitäten und Lokalisationen abzuklären (z. B. Lynch-Syndrom, FAP [› Tab. 1.1, › Kap. 2.2]).

An eine genetische Prädisposition ist bei folgen-den Konstellationen zu denken:• Diagnose < 50 Lebensjahr.• Mehrere Tumoren bei einer Person und/oder

weitere Familienmitglieder sind betroff en.

Verschiedene Krebsarten in der Familie können ggf. einem gemeinsamen Tumorsyndrom zugeordnet werden.

1.2 Diagnose Krebs – was nun?

Die Diagnose einer schweren Erkrankung, insbeson-dere einer Tumorerkrankung, beeinfl usst das Leben des Patienten, seiner Angehörigen und Freunde nachhaltig. Der Patient ist in der Regel erst einmal hilfl os, wenn er das Wort „Krebs“ hört. Halbwissen, Erfahrungen und Informationen von Freunden, Verwandten und aus den Medien können den Pa-tienten in Panik versetzen und zu Verzweifl ung füh-ren. Viele Fragen müssen beantwortet und Entschei-dungen getroff en werden (› Kap. 12.1).

M E R K ENach der Diagnose „Krebs“ steht der Patient plötzlich im Mittelpunkt eines veränderten Lebens und muss sich mit einer Vielzahl neuer Umstände beschäftigen.

Die Aufgabe des Hausarztes (gemeinsam mit den Fachkollegen) in dieser Situation besteht darin, den Patienten und seine Angehörigen zu informieren, zu betreuen und zu begleiten. Ist der Patient alleinste-hend, wird zunächst geklärt, ob es Angehörige (in der nahen Umgebung) gibt. Dabei ist sowohl das Al-

ter des Patienten als auch der Angehörigen zu be-rücksichtigen. So muss geprüft werden, ob die An-gehörigen generell in der Lage sind, den Patienten moralisch, organisatorisch und ggf. fi nanziell zu unterstützen.

Aufklärungsgespräch

Wie der Hausarzt weiter vorgeht (Diagnostik, Th era-pie, Staging, evtl. Abklärung der Überlebensrate), hängt von der Tumorlokalisation und der Benignität bzw. Malignität des Tumors ab. Dafür gibt es klare Richtlinien (› Kap. 2).

Eine große Herausforderung für den Hausarzt ist das Aufk lärungsgespräch mit dem Patienten, nach-dem er ihm die Diagnose mitgeteilt hat (s. a. › Kap. 12.1). Häufi g fragen Patienten „wie stehen meine Chancen, Herr Doktor?“, „ist die Erkrankung heil-bar?“. Der Patient wünscht von seinem Hausarzt eine Einschätzung der Diagnose und Prognose, häu-fi g auch eine Einschätzung bzw. eine Empfehlung für das weitere Vorgehen (› Kap.  12.2). Oder er sucht Hilfe bei der Entscheidung, ob er eine Th erapie machen soll oder nicht. Die Beantwortung der Fra-ge, welche Th erapien sinnvoll und hilfreich erschei-nen, wie erfolgversprechend eine Th erapie ist, aber auch welche Folgen eine Maximaltherapie oder die Verweigerung einer Th erapie haben kann, ist für den Hausarzt oft schwierig. Die häufi g gestellte Fra-ge, wie weit die erwogenen Th erapien das Leben des Patienten beeinfl ussen werden, kann ein Hausarzt kaum beantworten. › Kap. 3 gibt einen Überblick über die Wirkungen und Nebenwirkungen einer Vielzahl von Th erapieansätzen für unterschiedliche Tumorarten. In jedem Fall ist ein Gespräch mit dem behandelnden Onkologen sinnvoll, um dem Patien-ten so viele Details wie möglich mitzugeben.

Tumorpatienten kommen häufi g mit vielen Fra-gen zur Alltagsbewältigung in die Hausarztpraxis (› Tab. 1.6). Dabei geht es oft um die Frage, inwie-weit eine gesunde Lebensweise dazu führen kann, die Erkrankung und die Th erapie besser zu verkraf-ten und ein besseres Outcome zu haben. Oder um die Vorstellung, es sei der Zeitpunkt gekommen, wo für den Patienten alles egal ist, also auch Rauchen und Alkoholkonsum keine Rolle mehr für die Be-handlung und den Th erapieerfolg spielen.

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6 1 Der onkologische Patient im Kontext der hausärztlichen Versorgung

1

M E R K EDie Beratung des Patienten und der Angehörigen kann und sollte immer in Absprache mit dem behandelnden Onkologen bzw. Fachkollegen erfolgen.

Der Hausarzt als Kommunikationsschnitt-stelle

Gemäß den Prinzipien einer gelungenen Kommunika-tion (z. B. SPIKES-Schema zur Überbringung schlech-ter Nachrichten [Bailea et al. 2000]) muss zunächst eine für den Patienten und seine Angehörigen ange-nehme, ungestörte Atmosphäre geschaff en werden.

Im nächsten Schritt wird der aktuelle Wissens-stand geklärt:• Welche Tumorerkrankung ist (als Verdachtsdia-

gnose) diagnostiziert worden?• Welcher Kollege hat die Diagnose „Krebs“ erho-

ben?• Wie weit ist der Patient wirklich über die Diagno-

se und das weitere Vorgehen aufgeklärt?• Müssen weitere diagnostische Maßnahmen

durchgeführt werden, um den Befund zu erhärten und eine optimale Behandlung zu gewährleisten?

• Sind der Patient und seine Angehörigen in der Lage, die bevorstehenden Herausforderungen or-ganisatorisch und fi nanziell zu bewältigen?

• Hat der Patient überhaupt Angehörige?• Inwieweit ist der Patient in der Lage, seinen All-

tag zu meistern?Auf Grundlage der gewonnenen Kenntnisse organi-siert der Hausarzt die Anbindung an und die Kom-munikation mit Spezialisten, Klinik oder dem nie-dergelassenen Onkologen. In der interdisziplinären Zusammenarbeit können weitere Fragen des Patien-ten und seiner Angehörigen abgearbeitet werden. Mithilfe des Formblatts für die Schnittstelle Hausarzt – Onkologe (› Abb. 1.4) kann der Hausarzt anam-

nestische, diagnostische und ggf. therapeutische In-formationen über den Patienten erfassen, die er be-reits erhoben hat und die für das weitere Vorgehen und die onkologische Th erapie von Interesse sind.• Welche Th erapieoptionen gibt es (› Kap. 3)?• Welche neuen Herausforderungen ergeben sich

aus der Th erapie und deren Folgen bzw. Erfolgen?• Für welches weitere Vorgehen entscheidet sich

der Patient und ggf. seine Angehörigen?• Besteht die Möglichkeit einer kurativen Th erapie

oder bleibt aufgrund von Erfahrungen nur eine palliative Th erapie, die den Verlauf der Erkran-kung verlangsamt?

• Hat der Patient noch Hoff nung oder überwiegt Hoff nungslosigkeit angesichts der Möglichkeit eines zeitnahen tödlichen Ausgangs der Erkran-kung?

Tipps für die Praxis Es sollte an die Möglichkeit gedacht werden, den Patienten zu einem Psychoonkologen zu überweisen. Die psychoonkologischen Kollegen können Tumorpatienten und Angehörige meist sehr gut unterstützen (› Kap. 12).

M E R K EDie Entscheidung für die Art der Therapie wird interdiszi-plinär getroffen, die Verantwortung dafür liegt bei allen an der Therapie beteiligten Kollegen. Aber: Der Patient muss selbst entscheiden, ob und welche Therapie durch-geführt werden soll.

Der Hausarzt hält Rücksprache mit den behandeln-den onkologischen Fachkollegen und kann dem Pa-tienten deshalb alle wichtigen Informationen an die Hand geben, auf die sich der Patient (und ggf. die Angehörigen) stützen kann. Das Formblatt in › Abb. 1.5 gibt eine Übersicht über Informationen, die im Behandlungsverlauf einer Tumorerkrankung immer wieder erforderlich sind. Dieses Formular für die Brieft asche dient als Information für den Patien-ten. Sollte der Patient akut erkranken, einen Arzt aufsuchen müssen oder eine Klinikeinweisung er-forderlich sein, erleichtert es die Anamnese und das weitere Vorgehen der Kollegen in der Praxis, in der Klinik bzw. in der Ambulanz.

Tab. 1.6 Fragen zur Bewältigung des Alltags

Ernährung › Kap. 4.6

Körperliche Aktivität › Kap. 4.7

Sexualverhalten, Libido, Kinderwunsch › Kap. 6.5, › Kap. 6.6

Urlaub (Sonne, Kälte, Impfungen, Fliegen) › Kap. 7.1.4 (Impfungen)

Komplementärmedizinische Methoden › Kap. 11

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71.2 Diagnose Krebs – was nun?

1

Hilfreich für den Patienten sind positive, aber ehrliche Aussagen und ggf. die Initiierung und Ko-

ordinierung von Krankengymnastik, Physiothera-pie, Psychotherapie und Psychoonkologie.

Patient

Tumorerkrankung

Stadium der Tumorerkrankung

Therapieempfehlung

Ergebnisse Tumorkonferenz

Geplanter Therapieverlauf

Therapieziel

Staging:

Weitere Verlaufskontrollen

Verlaufsparameter durch Hausarzt

Weitere Therapiemaßnahmen

ungen

Performance Status

Nebendiagnosen

Empfehlung weiterer Maßnahmen

Abb. 1.4 Informationsblatt für die Schnittstelle Hausarzt – Onkologe mit anamnestischen, diagnostischen und ggf. therapeuti-schen Informationen über den Patienten, die der Hausarzt erhoben hat. (© H. C. Römer) [V492]

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8 1 Der onkologische Patient im Kontext der hausärztlichen Versorgung

1

Patient

Tumorerkrankung

Therapie

Geplanter Therapieverlauf

Therapieziel

Nächste Termine

Vorsichtsmaßnahmen

Nebenwirkungen

Weitere Informationen zum Lebensalltag

Weitere Therapiemaßnahmen

Nebendiagnosen

Aktuelle Medikation

Abb. 1.5 Informationsblatt für die Schnittstelle Hausarzt – Patient (Brieftasche) bzw. Hausarzt – weitere Behandler (Radiologie, Reha, Physiotherapie etc.) (© H. C. Römer) [V492]

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KAPITEL

3Georg Dechantsreiter, Marcus Hentrich, Ana Hoffmann, Konstantin Holzapfel,

Tobias R. Overbeck, Peter Rexrodt, Lorenz Rieger, Stephan Seitz,

Ursula Vehling-Kaiser

Wirkung und Nebenwirkung von Krebstherapien

3.1 OperationGeorg Dechantsreiter

Die Operation war vor Einführung moderner Bildge-bungsverfahren und der Endoskopie oft die einzige Diagnose- und Th erapiemöglichkeit bösartiger Er-krankungen, z. B. bei gastrointestinalen und gynäko-logischen Tumoren. Ein operativer Eingriff steht auch heute noch gelegentlich an der ersten Stelle der Behandlung, je nach Tumorart und Stadium gefolgt von einer ergänzenden Strahlentherapie (› Kap. 3.3) und/oder Chemotherapie (› Kap. 3.4.1). Allerdings hat sich in den vergangenen Jahren ein sehr diff eren-

ziertes Vorgehen etabliert mit einer Neubewertung der Chirurgie im Gesamtkonzept der Th erapie malig-ner Erkrankungen. Prinzipiell muss zwischen kurati-ver und palliativer Chirurgie unterschieden werden.

3.1.1 Kurative Chirurgie

Im Idealfall wird durch ein operatives Verfahren eine Heilung von der Tumorerkrankung erzielt. Be-reits vor dem Eingriff ist durch entsprechende Sta-ging-Untersuchungen eine Einschätzung möglich, ob dieses Ziel erreichbar ist.

3.1 Operation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513.1.1 Kurative Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513.1.2 Palliative Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

3.2 Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

3.3 Interventionell-radiologische, minimalinvasive Therapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . 593.3.1 Lokal-ablative Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593.3.2 Intraarterielle Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

3.4 Systemische Tumortherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633.4.1 Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633.4.2 Antikörpertherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703.4.3 Angiogenesehemmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753.4.4 Immunonkologische Therapien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783.4.5 Orale Tumortherapien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813.4.6 Endokrine Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833.4.7 Small Molecules . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903.4.8 Subkutane Tumortherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

3.5 Hyperthermie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

3.6 Der Patient als Studienteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

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52 3 Wirkung und Nebenwirkung von Krebstherapien

3

Staging und Grading

Der erste Schritt nach der Tumordiagnose ist das Staging und Grading auf der Grundlage von Klassi-fi kationssystemen.

Die gemeinsame Sprache aller an der Behandlung von Tumorpatienten Beteiligten orientiert sich an der TNM-Klassifi kation (› Tab. 3.1). International hat sich seit den 1950er Jahren dieses System zur Klassi-fi zierung von Tumoren etabliert, das klinisch-dia-gnostische und histopathologische Kriterien umfasst und sowohl zur Th erapieplanung als auch Prognose-abschätzung dient. Die Hauptkategorien sind:• T= Tumorgröße• N= Nodalstatus (Befall von Lymphknoten)• M= MetastasierungsausmaßDiese Hauptkategorien werden durch zahlreiche Zu-satzkategorien und Symbole ergänzt (› Tab. 3.1).

II Beispiel

Klassifi kation für ein Rektumkarzinom

Eine typische Klassifi kation für ein Rektumkarzinom lautet pT3 pN0 cM0 L1 V0 Pn0 R0 G2. Dies bedeutet: Der Pathologe (p) befundet ein Rektumkarzinom-präparat, der Tumor erreicht die Subserosa (T3), es konnten keine befallenen Lymphknoten (pN0) ge-funden werden, im CT fanden sich keine Fernmetas-tasen (cM0), es hat eine Tumorinvasion in Lymph-gefäße (L1) stattgefunden, allerdings keine Venen-invasion (V0) und keine Peri neural scheiden invasion (Pn0). Der Tumor ist komplett entfernt (R0) und zeigt eine mäßige Diff erenzierung (G2). II

Die Stadieneinteilung nach UICC (Union Interna-tionale Contre le Cancer) berücksichtigt die TNM- Klassifi kation, umfasst Stadien von 0 bis IV und ist

Tab. 3.1 Angaben der TNM-Klassifi kation

Angabe Beschreibung Anmerkung

T Tumorgröße • T0: kein Primärtumor• Tis: Krebszellen nur in der Schleimhaut• T1–T4: Primärtumor von zunehmender Größe bzw. Eindringtiefe

N Nodalstatus (Befall von Lymphknoten) • N0: kein Lymphknotenbefall• N1–N3: zunehmender Lymphknotenbefall in Tumornähe

M Metastasierungsausmaß • M0: keine Fernmetastasen• M1: Fernmetastasen an einem oder mehreren Orten

L0/1 Tumorinvasion in Lymphgefäße • L0: nein• L1: ja

V0/1 Tumorinvasion in Venen • V0: nein• V1: ja

Pn0/1 Perineuralscheideninvasion • P0: nein• P1: ja

R0/1/2 Verbleib von Tumorgewebe im Organis-mus nach einer Therapie

• R0: kein Tumorgewebe mehr im Organismus• R1: mikroskopisch nachweisbare Tumorreste (histopathologisch)• R2: Verbleib (sichtbarer) Tumoranteile

G1–4 Grading: Aussage über die Differenzie-rung von Tumorgewebe

• G1: gut differenziert• G4: entdifferenziert und damit aggressiv wachsend

p Festlegung durch den Pathologen am Präparat ohne vorherige Therapie

y Festlegung durch den Pathologen am Präparat nach (Radio-)Chemotherapie

u Einschätzung vor Beginn der Therapie durch Ultraschall, hier insbesondere die Endosonografi e

c CT-morphologische Einschätzung –

hep Die Leber betreffend Analog: oss = Knochen, pulm = Lunge

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533.1 Operation

3

für jede einzelne Tumorentität defi niert. Daraus ab-geleitet sind Aussagen über die Prognose sowie die Th erapie und Nachsorge.› Tab. 3.2 zeigt die Stadieneinteilung nach UICC

am Beispiel des kolorektalen Karzinoms. Im oben genannten Beispiel ergibt sich für das

Rektumkarzinom ein UICC-Stadium IIA.Eine Sonderform sowohl in der Klassifi kation als

auch in der Th erapie stellt das CUP-Syndrom (can-cer of unknown primary) dar. Hier fi nden sich ledig-lich Metastasen z. B. eines Adenokarzinoms, ohne dass der Primärtumor gefunden werden kann.

Sogenannte Staging-Operationen werden gele-gentlich zur Entnahme von Gewebeproben bei sonst nicht zugänglichen Tumoren notwendig. Diese wer-den nach Möglichkeit minimalinvasiv durchgeführt, z. B. um eine Peritonealkarzinose beim Magenkarzi-nom auszuschließen.

Interdisziplinäres Tumorboard ( Tumorkonferenz)

Entscheidend vor einer Operation ist die Diskussion im interdisziplinären Tumorboard, da viele bösartige Erkrankungen zunehmend neoadjuvant behandelt werden. Dadurch verbessert sich die Prognose, und

einige zum Diagnosezeitpunkt inoperable Tumoren werden sekundär operabel. Es hat sich gezeigt, dass in bis zu 50 Prozent der Fälle das geplante Vorgehen einzelner Fachärzte im interdisziplinären Austausch korrigiert wird (Homayounfar et al. 2014).

In onkologischen Zentren ist eine Vorstellung von Patienten auch „von außen“ möglich, das heißt, dass auch die behandelnden Hausärzte an der Konferenz teilnehmen können und damit eine ganzheitliche Einschätzung der Tumorerkrankung mit Einbezie-hen der individuellen Lebensumstände möglich ist. Die Besprechung des Falls berücksichtigt neben den Staging-Ergebnissen auch das Allgemeinbefi nden des Patienten (Karnofsky-Index) und vorliegende Begleiterkrankungen.

Operationsverfahren

• Kurative Operation: Ein chirurgischer Eingriff sollte nach Abschluss der Voruntersuchungen und Besprechung im Tumorboard idealerweise als kurative Operation erfolgen. Der Tumor wird zusammen mit dem zugehörigen Lymphabfl uss-gebiet komplett entfernt, ggf. auch mit resektablen Metastasen. Nach Erhalt des histopathologischen Befunds wird der Fall erneut im Tumor board be-sprochen und das weitere Vorgehen festgelegt.

• Notfalloperation: Im klinischen Alltag müssen Operationen gelegentlich als Notfalleingriff durchgeführt werden, wenn z. B. Patienten mit einem Ileus oder einer Perforation bei einem ste-nosierenden Kolonkarzinom vorstellig werden. Auch diese Eingriff e werden mit kurativer Ziel-setzung durchgeführt, also als Resektionen nach onkologischen Kriterien unter Mitnahme des entsprechenden Lymphabfl ussgebiets. Die Prog-nose der Tumorerkrankung ist bei Perforationen aufgrund der Ausbreitung der Tumorzellen in die Bauchhöhle deutlich schlechter.

• Die präventive Tumorchirurgie ist bei chroni-schen Erkrankungen wie der Colitis ulcerosa mit ansteigendem Karzinomrisiko im Langzeitverlauf etabliert. Auch die Th yreoidektomie bei multipler endokriner Neoplasie (MEN) mit erblichen me-dullären Schilddrüsenkarzinomen ist hier zu nennen. In der Diskussion steht die präventive Ablatio mammae bei Vorliegen eines BRCA1- oder BRCA2-Gen-Status bei Frauen.

Tab. 3.2 UICC-Klassifi kation des kolorektalen Karzinoms

UICC 2010 T N MStadium 0 Tis N0 M0Stadium I T1/T2 N0 M0Stadium II T3/T4 N0 M0

IIA T3 N0 M0IIB T4a N0 M0IIC T4b N0 M0

Stadium III jedes T N1/N2 M0IIIA T1/T2

T1N1N2a

M0M0

IIIB T3/T4T2/T3T1/T2

N1N2aN2b

M0M0M0

IIIC T4aT3/T4aT4b

N2aN2bN1/N2

M0M0M0

Stadium IV jedes T jedes N M1IVA jedes T jedes N M1aIVB jedes T jedes N M1b

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54 3 Wirkung und Nebenwirkung von Krebstherapien

3

• Das Feld der supportiven Chirurgie umfasst Maßnahmen wie die Portimplantation und Anla-gen von Drainagen bei therapierefraktärem Aszi-tes oder Pleuraerguss (› Kap. 4.12).

• Spezielle chirurgische Verfahren:– HIPEC (hypertherme intraperitoneale Chemo-

therapie): Ein an spezialisierten Zentren durchgeführtes aufwendiges Verfahren bei fortgeschrittenen Tumoren mit Peritonealkar-zinose. Dabei wird zunächst eine chirurgische Entfernung der sichtbaren Tumoren mit kom-pletter oder partieller Entfernung des Perito-neums und befallener Organe mit anschließen-der hyperthermer intraperitonealer Chemothe-rapie durchgeführt. Eine typische Indikation stellen das Pseudomyxoma peritonei dar, aber auch ausgewählte Fälle von Karzinomen mit Befall des Peritoneums.

– HITHOC (hypertherme intrathorakale Che-motherapieperfusion): entsprechend den Prin-zipien der HIPEC angewandtes Verfahren pleural, z. B. bei Pleuramesotheliom.

3.1.2 Palliative Chirurgie

Bei einem nicht unerheblichen Teil der Patienten liegt zum Diagnosezeitpunkt bereits ein fortgeschrittenes Tumorstadium ohne Aussicht auf Heilung vor. Hier dürfen chirurgische Maßnahmen nur nach interdiszi-plinärer Besprechung und nach Risiko-Nutzen-Ab-wägung erfolgen, da mit erheblichen Komplikationen mit langen Krankenhausaufenthalten gerechnet wer-den muss. In diesen Fällen muss der Chirurg unter Umständen auch den Mut haben, dem Wunsch des Patienten nach einer Operation zu widersprechen.

M E R K EPalliative Eingriffe sind Verfahren zur Verlängerung des Überlebens und zur Verbesserung der Lebensqualität in fortgeschrittenen Tumorstadien.

Häufi ge palliative Eingriff e in der Viszeralchirurgie sind Anlagen von Stomata mit und ohne Resektion des Tumors bei Darmverschluss oder therapierefrak-tärer Blutung aus dem Tumor. Eingriff e bei fortge-schrittener Peritonealkarzinose mit Passagestörung müssen sehr kritisch abgewogen werden, da sie mit

einer hohen Morbidität verbunden sind und oft kei-nen wesentlichen Nutzen bringen. Hier ist die palliati-ve Anlage einer perkutanen Ablaufsonde im Sinne einer PEG unter Umständen das bessere Verfahren.› Tab. 3.3 gibt eine Übersicht über häufi ge pal-

liative Eingriff e.

II Beispiele

Primär metastasiertes Kolonkarzinom

Bei einem 60-jährigen Patienten mit histologisch ge-sichertem nicht stenosierendem Karzinom des Co-lon ascendens fi nden sich im CT des Abdomens mehrere Metastasen in der Leber. Nach Bespre-chung des Falls im interdisziplinären Tumorboard wird beschlossen, zunächst eine Chemotherapie durchzuführen. Vor Beginn der Th erapie erfolgt eine Portimplantation. Bei gutem Ansprechen des Pa-tienten auf die Behandlung wird nach einem Re-staging eine sekundäre Operation mit Hemikolekto-mie rechts und Lebermetastasenresektion im Sinne einer R0-Resektion (› Tab. 3.1) durchgeführt.

Große Lymphknotenpakete in der rechten Axilla

Ein 46-jähriger Patient mit seit mehreren Monaten langsam wachsendem Tumor in der rechten Axilla stellt sich zur Planung der Th erapie in der chirurgi-schen Sprechstunde vor. Es fi ndet sich sonografi sch ein Lymphknotenpaket mit einem Durchmesser von 6 cm. Unter der Verdachtsdiagnose eines Lymphoms wird entschieden, eine sonografi sch gesteuerte Stanzbiopsie durchzuführen. Histologisch fi ndet sich eine amelanotische Metastase eines Mela-noms. Nach umfangreichen Staging-Untersuchun-gen mit eingehender dermatologischer Abklärung lassen sich weder ein Primärtumor noch weitere Metastasen fi nden. Nach Besprechung im Tumor-board wird der Entschluss zur Axilladissektion mit Entnahme sämtlicher Lymphknoten zusammen mit der darüber liegenden Haut (R0-Resektion) gefasst. Bei ungestörtem postoperativem Verlauf wird eine Th erapie mit Interferon durchgeführt, die Nach-untersuchungen sind seit mittlerweile drei Jahren ohne Hinweis auf Rezidiv.

Merke: Eine primäre Operation ist bei einem Lymphom eine „Übertherapie“, bei metastasiertem Melanom bei alleiniger Probengewinnung eine „Untertherapie“. II

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553.2 Strahlentherapie

3

Tipps für die Praxis • Nach Diagnosestellung einer Krebserkran-

kung muss eine standardisierte Diagnostik zur Stadieneinteilung erfolgen. Hierzu existieren Leitlinien für fast alle Tumorentitäten.

• Fall in einem interdisziplinären Tumorboard vorstellen.

• Neoadjuvante Th erapiekonzepte werden im-mer wichtiger.

• Auch im metastasierten Stadium ist eine Re-evaluation zusammen mit dem Chirurgen an-gezeigt.

• In Palliativsituationen frühzeitig an supportive, symptomverbessernde Maßnahmen wie eine Portimplantation oder Anlage einer Dauerdrai-nage bei therapierefraktärem Aszites denken.

LITERATURHomayounfar K, Lordick F, Ghadimi M. Qualitätssicherung:

Multidisziplinäre Tumorboards – trotz Problemen unver-zichtbar. DtschArztebl, 2014;111(22): A-998, B-852, C-806.

3.2 StrahlentherapiePeter Rexrodt

Grundlagen

Von den verschiedenen Möglichkeiten der Strahlen-erzeugung und der Strahlenarten hat in der tägli-chen Praxis der Linearbeschleuniger mit Photonen und Elektronen die größte Bedeutung. Wichtig sind außerdem das Aft erloading (temporäres Einführen einer radioaktiven Quelle), das vorwiegend bei gynä-kologischen Tumoren eingesetzt wird, sowie die LDR-Brachytherapie (permanentes Einbringen eines radioaktiven Strahlers, i. d. R. Jod-125) beim Prostatakarzinom.

Basis aller Strahlenwirkung auf Zellen ist die Energieübertragung auf biologische Moleküle. Es gibt zwei Wirkungsmechanismen:• Direkte Veränderungen von Zellbestandteilen,

v. a. der DNA.• Indirekte Wirkung durch Radiolyse von Wasser.

Der Zellschaden entsteht durch Hydroxyradikale.

Tab. 3.3 Häufi ge palliative Eingriffe bei TumorerkrankungenTumorart Palliativer EingriffKolorektale Karzinome • Stomaanlage

• Palliative Tumorresektion• Enterales Bypassverfahren

Leber-Gallengangstumoren • Biliodigestive Anastomose• Perkutane Galleableitung• Endoskopische Gallengangsschienung

Pankreaskarzinom mit Duodenalstenose und Ikterus

• Palliative Whipple-Operation• Bypass vom Magen zum Dünndarm mit biliodigestiver Anastomose

Neuroendokrine Tumoren • (partielle) Tumorresektion v. a. der Leber im Sinne eines DebulkingMagenkarzinom • Palliative (sub-)totale Magenresektion

• Bypass zum Dünndarm bei AusgangsstenosePeritonealkarzinose mit Passagestörung ( maligne intestinale Obstruktion)

• Kritische Indikationsstellung für Operation• PEG erwägen

Pleuraerguss • Palliative Tumorresektion• Pleurodese (Verödung des Pleuraspalts)• Dauerdrainage

Aszites • Anlage einer DauerdrainagePerikarderguss • Perikardpunktion mit Drainage

• PerikardfensterungExulzerierendes Tumorwachstum • Palliative Exzision, Blutstillung

• Vakuumverbände• Chirurgischer Verbandswechsel

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56 3 Wirkung und Nebenwirkung von Krebstherapien

3

Da ionisierende Strahlung auch Bestandteil der na-türlichen Umgebung ist, können Zellen solche Schä-den zum Teil reparieren. Falls der Reparaturmecha-nismus überfordert ist, führt dies zum Zelltod. Ge-sunde Zellen haben i. d. R. einen leistungsfähigeren Reparaturmechanimus als Tumorzellen. Dies wird durch eine Fraktionierung der Strahlentherapie (Auft eilung der Strahlendosis in kleine Portionen) unterstützt. Die gesunden Zellen können diese Zeit besser als die Tumorzellen zur Reparatur nutzen. Da dies nicht zu 100 Prozent gelingt, entstehen die so-genannten späten Nebenwirkungen.

Bestrahlungsziele

Die wichtigsten Zielsetzungen sind in › Tab. 3.4 zusammengefasst.

Radiochemotherapie

Bei vielen Tumoren ist die Kombination von Strah-lentherapie und Chemotherapie wirksamer als eine Monotherapie. In der Regel treten Nebenwirkungen dadurch gehäuft auf, wie z. B. bei HNO-Karzinomen oder beim Rektumkarzinom.

Behandlungsbeispiele

Am Beispiel von Prostata-, Mamma-, Rektum-, kleinzelligem Bronchialkarzinom sowie Schmerzen und Frakturgefahr bei Knochenmetastasen werden im Folgenden die unterschiedlichen Ziele der Strah-lentherapie vorgestellt (› Tab. 3.4).

Prostatakarzinom Für die defi nitive Bestrahlung des lokal begrenzten Prostatakarzinoms mit einem Linearbeschleuniger wird derzeit eine Gesamtdosis zwischen 74 bis 80 Gy empfohlen.

Bei einer Einzeldosis von 1,8 bis 2,0 Gy dauert die Gesamtbehandlung zwischen 37 und 45  Tagen. Da die Behandlung täglich (von Montag bis Freitag) er-folgt, sind dies zwischen 7,4 und 9 Wochen.

Das lokal begrenzte Prostatakarzinom wird in drei Risikogruppen unterteilt. In der Gruppe mit einem niedrigen Risiko erfolgt die Bestrahlung ohne begleitende Antihormontherapie. Im Fall eines mitt-leren Risikos wird eine Antihormontherapie (› Kap. 3.4.6) über vier bis sechs Monate, bei ho-hem Risiko über zwei bis drei Jahre empfohlen, die bis zu sechs Monate vor der Strahlentherapie einge-leitet werden kann.

Eine Hypofraktionierung (Verkürzung der Be-handlungsdauer durch Erhöhung der Einzeldosis) wird derzeit nicht empfohlen.

Mammakarzinom Die adjuvante Bestrahlung der Brust ist die eff ek-tivste, postoperative Maßnahme, um das Risiko für ein lokales Rezidiv zu reduzieren. In den Studien profi tierten alle Subgruppen. Abhängig vom Tumor-stadium werden entweder nur die Brust oder auch die lokalen Lymphabfl usswege bestrahlt.

Eine Gesamtdosis von 50 bis 50,4  Gy und eine Einzeldosis von 1,8 bis 2 Gy galt lange Zeit als Stan-dard. Die Dauer der Behandlung liegt bei 25 bis 28  Tagen und somit bei 5 bis 5,6  Wochen. Eine i. d. R. notwendige Boostbestrahlung (Dosiserhö-hung im Tumorbett) verlängert die Th erapie noch einmal um 5 bis 8 Tage, falls sequenziell behandelt wird.

Nachdem vier große randomisierte Studien die Gleichwertigkeit einer Hypofraktionierung zeigen konnten, wird dieses Schema in der aktuellen Mam-makarzinom-Leitlinie primär empfohlen. Die Ge-samtdosis beträgt ca. 40 Gy in 15 bis 16 Fraktionen. Damit verkürzt sich die Behandlung auf 3 Wochen, falls keine Boostbestrahlung notwendig ist.

Rektumkarzinom Die neoadjuvante Radiochemotherapie des Rek-tumkarzinoms hatte in Studien im Vergleich zur ad-

Tab. 3.4 Die wichtigsten Ziele der Bestrahlungstherapie

Defi nitiv • Heilung durch Bestrahlung ohne Operation• Beispiel: Prostatakarzinom

Adjuvant • Bestrahlung nach kurativer Operation• Beispiel: Mammakarzinom

Neo-adjuvant

• Bestrahlung vor kurativer Operation• Beispiel: Rektumkarzinom

Prophy-laktisch

• Vorbeugende Bestrahlung ohne Tumor-nachweis

• Beispiel: Cerebrum beim kleinzelligen Bronchialkarzinom

Palliativ • Verbesserung der Lebensqualität• Beispiel: Schmerzen und Frakturge-

fahr bei Knochenmetastasen

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573.2 Strahlentherapie

3

juvanten Radiochemotherapie weniger Lokalrezidi-ve und auch eine geringere akute sowie chronische Toxizität gezeigt, bei vergleichbaren postoperativen Komplikationen. Eine Behandlungsindikation be-steht in den Stadien UICC II und III im unteren und mittleren Rektumdrittel.

Es haben sich zwei gleichwertige Behandlungsre-gime gezeigt:• Konventionell fraktionierte Radiochemotherapie

mit einer Gesamtdosis von 45 bis 50,4 Gy, einer Einzeldosis von 1,8 bis 2 Gy und einer Behand-lungsdauer 4,5 bis 5,6 Wochen. Die Operation erfolgt im Anschluss nach einem Intervall von 6 bis 8 Wochen. Der Tumor hat durch das Intervall Zeit zu schrumpfen. Bei T4-Tumoren, Tumoren in Sphinkternähe und bei Nähe zur mesorektalen Faszie ist dieses Verfahren vorteilhaft .

• Kurzzeitbestrahlung mit einer Gesamtdosis von 25 Gy und einer Einzeldosis von 5 Gy, mit einer Behandlungsdauer von einer Woche. Die Opera-tion erfolgt sofort nach Abschluss der Bestrah-lung. Wenn eine Tumorschrumpfung keine Rolle spielt, ist dieses Verfahren gleichwertig.

Kleinzelliges Bronchialkarzinom Eine prophylaktische Schädelbestrahlung wird für alle Patienten mit einer Remission des Primärtu-mors nach Abschluss der Radiochemotherapie emp-fohlen. In Studien reduzierte sich die Wahrschein-lichkeit von Hirnmetastasen von 37 % auf 20 %.

Empfohlen werden eine Gesamtdosis von 30  Gy und eine Einzeldosis von 1,8 bis 2 Gy. Die Behand-lungsdauer liegt damit bei ca. 3 Wochen.

Schmerzen und Frakturgefahr bei Knochenmetastasen Abhängig vom Allgemeinzustand des Patienten, der Lebenserwartung und dem Behandlungsziel (reine Schmerzlinderung oder Remineralisierung bei Frak-turgefahr) gibt es ganz unterschiedliche Bestrah-lungskonzepte:• Konventionell fraktionierte Strahlentherapie mit

einer Gesamtdosis von 40 Gy und einer Einzeldo-sis von 2 Gy mit einer Behandlungsdauer von 4 Wochen. Dieses Verfahren wird gewählt, wenn eine Remineralisierung im Vordergrund steht.

• Kurzzeitbestrahlung z. B. mit einer Gesamtdosis von 30 Gy und einer Einzeldosis von 3 Gy oder

mit einer Gesamtdosis von 20 Gy und einer Ein-zeldosis von 5 Gy. Die Behandlungsdauer redu-ziert sich auf 2 bzw. 1 Woche. Die Schmerzfrei-heit ist jedoch kürzer.

• Einzeitbestrahlung mit einer einmaligen Bestrah-lung von 8 Gy für Patienten in sehr reduziertem Allgemeinzustand.

Nebenwirkungen und deren Behandlungsmöglichkeiten

Die Strahlentherapie ist eine lokale Behandlungsme-thode. Wirkung und auch Nebenwirkungen treten somit nur im Bestrahlungsfeld auf. Abhängig vom Bestrahlungsvolumen kommt es zu sehr unter-schiedlichen unerwünschten Reaktionen. Unter-schieden wird zwischen akuten Nebenwirkungen (Tag 1 bis 90) und chronischen Nebenwirkungen (ab Tag 90).• Die akuten Nebenwirkungen treten meist in der

zweiten Hälft e der Strahlentherapie auf und klin-gen in der Regel in den Wochen nach Abschluss der Th erapie ab. Sie können einen erheblichen Leidensdruck erzeugen und bedürfen der Zusam-menarbeit zwischen Strahlentherapeuten, medi-zinischen Onkologen und Hausarzt.

• Die chronischen Nebenwirkungen sind von der Gesamtdosis, der Einzeldosis sowie von der Wahl des Bestrahlungsvolumens abhängig und können vom Strahlentherapeuten entsprechend beein-fl usst werden.

Die S3-Leitlinie „Supportive Th erapie bei onkologi-schen PatientInnen“ aus dem Jahr 2017 widmet ein ganzes Kapitel den supportiven Maßnahmen in der Radioonkologie. Auf der Suche nach geeigneten Mit-teln zur Linderung von Symptomen wurden viele Th erapieansätze verfolgt. Leider ist bei einem gro-ßen Teil dieser Medikamente die Datenlage negativ oder zumindest unklar. › Tab. 3.5 zeigt einen kur-sorischen Überblick über die angegebenen Möglich-keiten. Die negativ bewerteten Medikamente sind nicht wiedergegeben.

LITERATURLeitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft,

Deutsche Krebshilfe, AWMF). Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur Früherkennung, Diagnose und Thera-pie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms (Langversion 5.1, 2019). Aus: www.leitlinienprogramm-

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58 3 Wirkung und Nebenwirkung von Krebstherapien

3

onkologie.de/fi leadmin/user_upload/Downloads/Leitlinien/Prostata_5_0/LL_Prostatakarzinom_Langversion_5.1.pdf (letzter Zugriff: 24. Oktober 2019).

Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF). Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms (Langver-sion 1.0, Februar 2018). Aus: www.leitlinienprogramm-

onkologie.de/fi leadmin/user_upload/Downloads/Leitlinien/Lungenkarzinom/LL_Lungenkarzinom_Langversion_1.0.pdf (letzter Zugriff: 24. Oktober 2018).

Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF). S3-Leitlinie Früherkennung, Diagnose, Therapie und Nachsorge des Mammakarzi-noms, (Langversion 4.2, August 2018). Aus: www.

Tab. 3.5 Supportive Maßnahmen bei strahlentherapiebedingten Nebenwirkungen

Prophylaxe, Therapie

Maßnahme

Diarrhö

Prophylaxe • Sulfasalazin, Amifostin (Off-Label-Einsatz)• Probiotika, Psyllium, Triamcinolon (unklare Datenlage)

Therapie • Loperamid, Tinctura opii (bei Therapieversagen von Loperamid)• Octreotid (Off-Label-Einsatz)

Akute Proktitis

Prophylaxe Amifostinklysmen (Off-Label-Einsatz), Butyrat (unklare Datenlage)

Therapie Topisches Steroid oder Anästhetikum, Butyrat (unklare Datenlage)

Späte Proktitis

Prophylaxe Beclomethason-Diproprionat rektal (Off-Label-Einsatz)

Therapie • Hyperbare Sauerstofftherapie (24 bis 30 Sitzungen)• Argon-Plasma-Laser bei hämoglobinrelevanten Blutungen• Metronidazol oral, Sucralfat, Steroide, Butyrat rektal• Vitamin A, C, E (unklare Datenlage)

Radiodermatitis

Prophylaxe • Haut und Haare waschen, Deodorant, Creme und Lotion erlauben• Weite, luftdurchlässige Kleidung• Silbersulfadiazin-Creme, Calendula-Creme• Mometasonfuroat 0,1 % Creme, silberhaltige NylonverbändeDas früher verhängte Waschverbot führt zu keiner Verbesserung der Radiodermatitis.

Therapie • Feuchte Umschläge/antiseptische Lösungen 2- bis 3-mal täglich für 20 Minuten• Steroidhaltige CremesFeuchte Desquamation und Strahlenulkus sollten nach den allgemeinen Regeln der Wundversor-gung behandelt werden (› Kap. 8).

Mukositis

Prophylaxe • Mundspülungen, Pfl ege mit weicher Zahnbürste/Zahnseide• Vermeidung von Noxen (Alkohol, Tabak, scharfe/heiße Speisen etc.)• Fluoridierung der Zähne, Benzydamin, Zink oral

Therapie • Topische Schmerzmittel• Mundspülung mit Morphin (0,2 %, Rezeptur)• Mundspülung mit Doxepin (0,5 %, Rezeptur)• Fortsetzung der intensiven Schleimhautpfl ege

Übelkeit/Erbrechen

Prophylaxe 5-HT3-Rezeptorantagonisten, ggf. Dexamethason

Übelkeit/Erbrechen trotz Antiemese

Therapie • Neuroleptika (Haloperidol), Metoclopramid, Levomepromazin, Alizaprid• Benzodiazepine (Lorazepam, Alprazolam)• H1-Blocker (Dimenhydrinat)

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593.3 Interventionell-radiologische, minimalinvasive Therapieverfahren

3

leitlinienprogramm-onkologie.de/fi leadmin/user_upload/Downloads/Leitlinien/Mammakarzinom_4_0/Version_4.2/LL_Mammakarzinom_Langversion_4.2.pdf (letzter Zu-griff: 24. Oktober 2019).

Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF). S3-Leitlinie Kolorektales Karzinom (Langversion 2.1, Januar 2019). Aus: www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/kolorektales- karzinom (letzter Zugriff: 24. Oktober 2019).

Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF). Supportive Therapie bei on-kologischen PatientInnen (Langversion 1.1, April 2017). Aus: www.leitlinienprogramm-onkologie.de/fi leadmin/user_upload/Downloads/Leitlinien/Supportivtherapie/LL_Supportiv_Langversion_1.1.pdf (letzter Zugriff: 24. Okto-ber 2018).

Wannenmacher M, Wenz F, Debus J. Strahlentherapie. 2. A. Berlin Heidelberg: Springer, 2013.

3.3 Interventionell-radiologische, minimalinvasive TherapieverfahrenKonstantin Holzapfel

Die interventionelle Radiologie hat mit ihren vielfäl-tigen Möglichkeiten, Tumoren zu therapieren, in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung in der Versorgung von Tumorpatienten gewonnen und ergänzt die klassischen Säulen der Tumorthera-pie (Chirurgie, Onkologie, Strahlentherapie). Inter-ventionell-radiologische Verfahren kommen entwe-der als eigenständige Th erapie zum Einsatz oder in Kombination mit weiteren Eingriff en oder Behand-lungen. Abhängig von der Tumorentität und dem Ausmaß der Erkrankung können Patienten in kura-tiver oder palliativer Intention behandelt werden. Das Spektrum an interventionell-radiologischen Verfahren hat sich in den vergangenen Jahren im-mer weiter vergrößert. Um im individuellen Fall die Entscheidung treff en zu können, welche therapeuti-sche Modalität am besten geeignet ist, sind Kennt-nisse über die zur Verfügung stehenden Th erapie-formen sowie deren Limitationen unabdingbar. Zu-dem sollte die Entscheidung für oder gegen eine in-terventionell-radiologische Th erapie immer im Rahmen eines interdisziplinären Tumorboards er-folgen.

Im Folgenden werden einige der etablierteren bzw. häufi ger eingesetzten therapeutischen Verfah-ren vorgestellt: die lokal-ablativen und die intraarte-riellen Verfahren (› Tab. 3.6).

3.3.1 Lokal-ablative Verfahren

Die derzeit am häufi gsten eingesetzten lokal-ablati-ven Verfahren sind die Radiofrequenzablation (RFA) und die Mikrowellenablation (MWA). Ziel dieser Verfahren ist, einen oder wenige Tumoren so-wie einen umgebenden Sicherheitssaum peritumo-ralen Gewebes durch lokale Applikation von Energie bzw. Hitze zu zerstören. Eine mögliche Indikation ist beispielsweise die Ablation einer begrenzten An-zahl (n = 1–5) hepatischer Metastasen (max. Durch-messer ≤  5 cm) beim kolorektalen Karzinom. RFA und MWA werden meist perkutan CT-gesteuert, seltener auch ultraschallgesteuert durchgeführt. Bei-de Verfahren sind vergleichsweise schonend, kos-tengünstig und mit geringen Nebenwirkungen ver-bunden. Seltene Nebenwirkungen sind Blutungen, Infektionen (Cholangitis, Leberabszess) und die Ausbildung von Gallengangsstrikturen. Die Patien-ten werden nach der Ablation in der Regel für 48 Stunden stationär überwacht. Lokal-ablative Ver-fahren werden sowohl in kurativer als auch palliati-ver Intention eingesetzt.

Radiofrequenzablation (RFA)

Derzeit ist die RFA das am häufi gsten eingesetzte, lokal-ablative Th erapieverfahren. Die Hitzeproduk-tion erfolgt bei der RFA durch die biophysikalische Interaktion von Ionen in vitalem Gewebe. Über Elektroden wird ein hochfrequenter (450–500 kHz) Wechselstrom in das Gewebe eingebracht und zwi-schen der aktiven Elektrode und einer Erdungselekt-rode ein elektrisches Feld aufgebaut, das synchron zur eingebrachten Frequenz oszilliert. Die hierbei entstehende Agitation von Ionen generiert Frik-tionswärme und führt zur Ausbildung einer Koagu-lationsnekrose des Gewebes um die Elektrode. Die Ausbreitung der Hitze im Gewebe erfolgt durch Konvektion und Konduktion. Das Ausmaß der ent-stehenden Nekrose hängt von der Höhe der erreich-

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60 3 Wirkung und Nebenwirkung von Krebstherapien

3

ten Temperatur sowie der Einwirkzeit dieser Tem-peratur auf das Gewebe ab:• Eine Erhitzung des Gewebes auf 50 bis 60 °C über

mehrere Minuten führt zu einer irreversiblen Zellschädigung.

• Bei einer Erhitzung auf 60 bis 100 °C kommt es zur einer annähernd sofortigen, irreversiblen Zellschädigung und Ausbildung einer Koagula-tionsnekrose.

• Temperaturen deutlich über 100 °C sind unter anderem deshalb kontraproduktiv, weil die ein-setzende Gasbildung und Karbonisation die Wär-meleitfähigkeit des Gewebes reduzieren und so-mit die Eff ektivität der RFA verringern.

Die Platzierung der Elektroden erfolgt meist perkutan unter CT-Steuerung (› Abb. 3.1), Ziel ist eine voll-ständige Ablation des Tumorgewebes sowie ein Si-cherheitssaum von ca. 10 mm um den Tumor. Der Si-cherheitssaum reduziert die Rate von Lokalrezidiven, etwa bei der Ablation von Leberfi liae, signifi kant.

Problematisch sind bei diesem Verfahren größere Blutgefäße in der Nachbarschaft des Ablationsbe-reichs, da es durch den Blutfl uss mitunter zu einem Kühlungseff ekt (heat sink eff ect) kommt und somit die erforderliche, zu einem irreversiblen Zellunter-gang führende Temperatur möglicherweise nicht er-reicht werden kann. Die Folge ist eine inkomplette Ablation mit Ausbildung eines frühen Lokalrezidivs.

Die RFA wird in der Regel in Vollnarkose oder Analgosedierung durchgeführt, da sie schmerzhaft sein kann und, etwa bei Ablation größerer oder

mehrerer Tumoren, mitunter längere Zeit dauert. Die Ablationszeiten liegen je nach Größe und An-zahl der behandelten Tumoren zwischen 30 und 120 Minuten.

Typische Indikationen der RFA sind die Behand-lung von Lebermetastasen, etwa beim kolorektalen Karzinom, oder bestimmter Tumorstadien beim he-patozellulären Karzinom (HCC). Andere Indikatio-nen für eine RFA sind kleine Nierenzellkarzinome oder kleine Lungentumoren, z. B. Lungenmetasta-sen oder auch kleine Bronchialkarzinome. Entschei-dend ist jeweils die interdisziplinäre Indikationsstel-lung in einem Tumorboard. So kann z. B. die RFA bei einem kleinen Nierenzellkarzinom unter Um-ständen sinnvoll sein, wenn dem Patienten aufgrund erheblicher Komorbiditäten ein – eigentlich indi-zierter – operativer Eingriff nicht zugemutet werden kann. Zur Linderung der Schmerzen bei Osteoidos-teomen (gutartiger, häufi g mit Schmerzen einherge-hender Knochentumor) kann eine RFA des „Nidus“ dieser Tumoren erfolgen.

II Beispiel

RFA bei metastasiertem Kolonkarzinom

Die CT-Untersuchung eines 71-jährigen Kolonkarzi-nom-Patienten in der Tumornachsorge zeigt eine singuläre, metachrone Metastase im rechten Leber-lappen (› Abb. 3.1a). Der Durchmesser der Läsion beträgt ca. 25 mm. Im interdisziplinären Tumor-board wird aufgrund erheblicher Komorbidität die

Tab. 3.6 Die häufi gsten interventionell-radiologischen Verfahren

Lokal- ablative Verfahren

Radiofrequenz-ablation (RFA)

• Einbringung von hochfrequentem (450–500 kHz) Wechselstrom in das Gewebe über Elektroden

• Friktion von Ionen

Mikrowellen-ablation (MWA)

• Einbringung hochfrequenter Wellen (bis 2,5 GHz) in das Gewebe über Antennen• Friktion von Wassermolekülen

Irreversible Elektroporation (IRE)

• Nicht thermisches Ablationsverfahren• Aussendung von Hochspannungsimpulsen zwischen zwei perkutan platzierten Elektroden• Zerstörung des Membranpotenzials, Desintegration der Zellwand, Absterben der Zelle

Intra-arterielle Verfahren

Transarterielle Chemoemboli-sation (TACE)

• Gezielte Infusion von Chemotherapeutika in Kombination mit einem embolisch wir-kenden Trägermaterial

• Variante DEB-TACE: Beladung von Embolisationspartikeln mit Chemotherapeutika

Selektive interne Radio-therapie (SIRT)

• Nach Platzierung eines Katheters im arteriellen Stromgebiet der Leber Injektion von mit Yttrium-90 beladenen Mikropartikeln (Glas- oder Resinharzpartikel) in den Tumor

• Hohe Strahlendosen im Tumor (ca. 200 Gy) bei mäßiger Strahlendosis im umgebenden Lebergewebe (um 15 Gy)

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613.3 Interventionell-radiologische, minimalinvasive Therapieverfahren

3

Entscheidung zur CT-gesteuerten Radiofrequenzab-lation (RFA) der Metastase gestellt. Die CT-Unter-suchung während der Intervention (› Abb. 3.1b) zeigt die Position der Ablationsnadel zentral in der Metastase. Bei technisch erfolgreich durchgeführter RFA befi ndet sich der Patient derzeit in der Tumor-nachsorge. Die zuletzt durchgeführte CT-Untersu-chung, mittlerweile 18 Monate nach RFA, zeigt den hypodensen Ablationsdefekt (› Abb. 3.1c), der einen Durchmesser von ca. 50 mm aufweist. Es er-gibt sich kein Anhalt für ein lokales Tumorrezidiv, auch sonst sind weiterhin keine Metastasen erkenn-bar. II

Mikrowellenablation (MWA)

Dieses lokal-ablative Verfahren kommt immer häu-fi ger zum Einsatz und wurde entwickelt, um Limita-tionen der RFA entgegenzutreten bzw. das Indika-tionsspektrum zu erweitern. Bei der MWA werden hochfrequente Wellen (bis 2,5 GHz) über Antennen in das Gewebe eingebracht. Es kommt zu einer Os-zillation von Wasserdipolen, was zu einer Erhitzung des Gewebes, ebenfalls durch Friktion (jedoch hier von Wassermolekülen und nicht von Ionen wie bei der RFA) führt. Die schnelle Applikation deutlich größerer Energiemengen ermöglicht im Vergleich zur RFA die Ablation größerer Areale in vergleichs-weise kurzer Zeit.

Durch die höheren Temperaturen, die innerhalb einer Läsion erzielt werden, spielt zudem der Hitze-abtransport durch benachbarte Blutgefäße eine ge-ringere Rolle, es können Ablationen über Gefäß-grenzen hinweg durchgeführt werden. Zu beachten

ist jedoch, dass es zu einer Koagulation dieser Gefä-ße kommen kann, was etwa im Bereich der Leber zu einem Funktionsverlust des betroff enen Segments führen kann.

Auch die MWA sollte unter Vollnarkose oder Analgosedierung durchgeführt werden.

Irreversible Elektroporation (IRE)

Die IRE ist ein vergleichsweise neues, nicht thermi-sches Ablationsverfahren. Zwischen zwei perkutan platzierten Elektroden werden Hochspannungsim-pulse ausgesandt, die durch Zerstörung des Memb-ranpotenzials zu einer Desintegration der Zellwand und konsekutiv zu einem Absterben der Zelle füh-ren. Durch Verwendung mehrerer Elektrodenpaare lassen sich mit dieser Methode auch größere Areale abladieren. Benachbarte Gefäßstrukturen werden bei diesem Verfahren verschont, sodass auch Tumo-ren behandelt werden können, die einer chirurgi-schen Resektion nicht ohne Weiteres zugänglich sind, oder bei denen aufgrund der Nachbarschaft zu großen Gefäßen eine RFA (heat sink eff ect) und eine MWA (Zerstörung der Gefäße unerwünscht) nicht möglich ist, etwa im Bereich des Leberhilus.

Das derzeit noch recht aufwendige Verfahren wird in Intubationsnarkose durchgeführt und erfor-dert eine tiefe Muskelrelaxation.

M E R K EBei sorgfältig selektionierten Patienten lässt sich mittels lokal-ablativer Verfahren eine der chirurgischen Resek-tion vergleichbare lokale Tumorkontrolle erzielen, bei im Vergleich meist deutlich geringerer Morbidität.

a b c

Abb. 3.1 Die CT-Untersuchungen eines 71-jährigen Kolonkarzinom-Patienten in der Tumornachsorge .a) Singuläre, metachrone Metastase im rechten Leberlappen (Pfeil), Durchmesser ca. 25 mmb) Während der RFA zentral in der Metastase positionierte Ablationsnadel (Pfeil)c) CT-Kontrolluntersuchung 18 Monate nach RFA: hypodenser Ablationsdefekt (Pfeil), Durchmesser ca. 50 mm; kein Anhalt für ein lokales Tumorrezidiv oder für Metastasen [M857]

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62 3 Wirkung und Nebenwirkung von Krebstherapien

3

3.3.2 Intraarterielle Verfahren

Tumoren der Leber werden, anders als gesundes Le-bergewebe, überwiegend nicht über die V.  portae, sondern arteriell (A.  hepatica) mit Blut versorgt. Dies eröff net die Möglichkeit, diese Tumoren mittels interventionell-radiologischer Methoden sehr selek-tiv und eff ektiv zu behandeln. Bei diesen Verfahren wird, meist über einen transfemoralen Zugang (A. femoralis communis), mit einem speziellen Ka-theter selektiv die A.  hepatica propria sondiert. Je nach Verfahren erfolgt dann mittels Mikrokatheter die superselektive Sondierung von Segmentästen der Leber bzw. ihrer die Tumoren versorgenden, ar-teriellen Äste. Dies ermöglicht die Applikation ho-her Dosen eines Chemotherapeutikums bzw. hoher Strahlendosen (s. u. SIRT), wobei sich gezeigt hat, dass der gleichzeitige Verschluss der tumorversor-genden Gefäße (Embolisation) die Eff ektivität der Verfahren deutlich steigert. Die Verfahren, die der-zeit am häufi gsten angewendet werden, sind die transarterielle Chemoembolisation (TACE) und die selektive interne Radiotherapie (SIRT).

Die Verfahren werden am wachen Patienten unter adäquater analgetischer und antiemetischer Medikation durchgeführt. Die Dauer des Kranken-hausaufenthalts beträgt meist zwei bis fünf Tage. Nach den Eingriff en kann es zu Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen (Postembolisationssyn-drom) kommen, selten ist eine meist reversible Stö-rung der Leberfunktion zu beobachten.

Die im Folgenden dargestellten Verfahren kom-men, trotz ihrer häufi g zumindest temporär hohen Wirksamkeit, aktuell überwiegend in der palliativen Situation zum Einsatz, etwa wenn operative oder lo-kal-ablative Methoden nicht mehr eingesetzt wer-den können, wenn dem Patienten eine Th erapiepau-se verschafft werden soll oder wenn beispielsweise versucht wird, primär nicht resektable bzw. abla-dierbare Metastasen zu verkleinern, um diese se-kundär resezieren bzw. lokal-ablativ behandeln zu können.

Transarterielle Chemoembolisation (TACE)

Die gezielte Infusion von Chemotherapeutika (z. B. Doxorubicin, Mitomycin C, Epirubicin), kombiniert mit einem embolisch wirkenden Trägermaterial

(z. B. Lipiodol), das einen Verschluss der arteriellen Versorgung des Tumors bewirkt, ermöglicht eine hohe intratumorale Chemotoxizität bei vergleichs-weise niedriger systemischer Toxizität. In bestimm-ten Stadien des hepatozellulären Karzinoms (HCC) kommt dieses Verfahren häufi g zum Einsatz.

Eine neuere Variante dieser Methode sind die Drug-Eluting Beads (DEB-TACE), die Beladung von Embolisationspartikeln mit Chemotherapeuti-ka. Die DEB-TACE ermöglicht eine besser steuerba-re und länger anhaltende Chemotherapie im Tu-morgefäßbett und somit eine Erhöhung der intratu-moralen Zytotoxizität bei gleichzeitig geringeren systemischen Nebenwirkungen.

Eine Thrombosierung der V. portae stellt eine Kontraindi-kation zur Durchführung einer TACE dar.

Selektive interne Radiotherapie (SIRT)

Bei der SIRT erfolgt wie bei der TACE (s. o.) zu-nächst die selektive oder superselektive Platzierung eines Katheters im arteriellen Stromgebiet der Le-ber. Bei passender Katheterposition werden mit Ytt-rium-90 (einem β-Strahler mit 64-stündiger Halb-wertszeit) beladene, sphärische Mikropartikel in den Tumor injiziert. Die Reichweite der emittierten Strahlung im Gewebe beträgt lediglich ca. 3 mm. Es lassen sich sehr hohe Strahlendosen im Tumor er-reichen (ca. 200 Gy) bei mäßig hoher Strahlendosis im umgebenden Lebergewebe (um 15  Gy). Durch die embolisierende Wirkung der Mikropartikel wird zudem eine Reduktion der Durchblutung der Tumo-ren erreicht. Auf dem Markt sind derzeit zwei unter-schiedliche Typen von Mikropartikeln verfügbar: Glaspartikel und Resinharzpartikel.

Die SIRT ist ein sehr aufwendiges, nuklearmedizi-nisch-radiologisches Verfahren. Im Vorfeld der tat-sächlichen Th erapie muss mittels einer „Testangio-grafi e“ überprüft werden, ob es z. B. durch aberrie-rende Gefäße zu einem extrahepatischen Abfl uss zum Magen-Darm-Trakt, Pankreas oder zur Gallen-blase kommt, um durch die SIRT bedingte Strahlen-schäden an diesen Organen zu vermeiden. Die Gefä-ße, etwa die A. gastroduodenalis, werden dann mit-tels kleiner Metallspiralen (Coils) verschlossen. Zu-dem werden im Rahmen dieser vorbereitenden

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63

3

3.4 Systemische Tumortherapien/Chemotherapie

Sitzung 99mTechnetium(Tc)-markierte makroag-gregierte Albuminpartikel (MAA) injiziert. In einer anschließend durchgeführten Szintigrafi e inkl. Sing-le-Photon-Emissionstomografi e (SPECT) wird zum einen die Partikelanreicherung in den Lebertumo-ren dargestellt und zum anderen ggf. eine un-erwünschte extrahepatische Partikelablagerung dia-gnostiziert. Aufgrund arteriovenöser Shuntverbin-dungen, etwa im Bereich der Tumoren, gelangen zudem Partikel in das nachgeschaltete Kapillarbett der Lunge. In der Regel beträgt dieses Leber-Lun-gen-Shuntvolumen unter 10 %, sollte es jedoch zwi-schen 15 und 20 % liegen, ist eine Dosisreduktion erforderlich, ein Shuntvolumen von über 20 % gilt als Kontraindikation.

M E R K ETACE und SIRT kommen meist in der palliativen Situation zum Einsatz, etwa wenn Resektion oder lokal-ablative Maßnahmen nicht mehr sinnvoll sind, oder um dem Pa-tienten eine Therapiepause zu verschaffen. Insbesondere bei Patienten mit HCC haben sich diese Verfahren in be-stimmten Stadien als Standardtherapie etabliert, kom-men jedoch auch bei anderen Tumorentitäten in der pal-liativen Situation zunehmend zum Einsatz.

Tipps für die Praxis Die Anzahl der interventionell-radiologischen Verfahren sowie deren Indikationen nehmen stetig zu und unterliegen einem kontinuierli-chen Wandel. Ob und welches Verfahren für einen bestimmten Patienten sinnvoll ist, sollte immer in einem interdisziplinären Tumorboard entschieden werden, in dem Experten aller Dis-ziplinen und somit auch ein interventionell ver-sierter Radiologe vertreten sind.

LITERATURDuan H, Hoffmann M. Selektive interne Radiotherapie (SIRT)

von Lebertumoren. Der Radiologe, 2015;55: 48–52.Hoffmann R. Lebermetastasen kolorektaler Karzinome. Der

Radiologe, 2017; 57:90–96.Hoffmann R, Rempp H, Clasen S. Mikrowellenablation –

Neue Systeme, neue Einsatzgebiete? Der Radiologe 2012;52: 22–28.

Kosiek O, Strach K, Ricke J, Pech M. Irreversible Elektro-poration – „a new kid on the block?“ Der Radiologe, 2012;52: 38–43.

Radeleff BA et al. Transvaskuläre Ablation des hepatozellu-lären Karzinoms. Der Radiologe, 2012;52: 44–55.

Waneck F. Radiologisch gezielte Therapie von Lebertumo-ren. Der Radiologe, 2015;55: 43–47.

Wiggermann P, Jung EM, Stroszczynski C. Radiofrequenz-ablation – ist eine Technik am Ende? Der Radiologe 2012;52: 9–14.

3.4 Systemische Tumortherapien

3.4.1 ChemotherapieUrsula Vehling-Kaiser

Grundlagen

Der Begriff „Chemotherapie“ beinhaltet zu Recht das Wort „Chemie“, denn es handelt sich hierbei, ähnlich wie bei der Behandlung mit Antibiotika, um eine Th erapie mit chemischen Substanzen. Syno-nym fi ndet häufi g der Terminus „zytostatische Th e-rapie“ Verwendung, der das Ziel dieser Th erapie-form, die Wachstumshemmung (lat. stare = stehen) von bösartigen Zellen (griech. kytos =  Zelle) be-schreibt. Die ersten Berichte über Chemotherapie wurden 1865 in den Darstellungen von Max Lissauer über den Einsatz von Arsen bei Leukämiekranken erwähnt. 1947 setzte der Pathologe Sidney Faber Aminopterin erstmals zur systemischen Th erapie leukämiekranker Kinder ein und wird heute als „Va-ter der Chemotherapie“ bezeichnet. Seit dieser Zeit wurde diese Th erapieform ständig weiterentwickelt, bis hin zu Kombinationsprodukten aus Chemothe-rapeutika und Antikörpern (› Kap. 3.4.2).

Zytostatika greifen in die Zellteilung aller – auch der gesunden Zellen – ein. Schnell teilende Zellen, also Tumoren oder maligne hämatologische System-erkrankungen mit hohem Proliferationsindex, wer-den dabei besonders geschädigt. Das trifft aber auch für gesunde schnell teilende Zellen zu, wie sie insbe-sondere im Knochenmark, in Schleimhäuten oder Haar vorkommen. Die daraus resultierenden Neben-wirkungen, die vor allem in der Laienpresse immer wieder in drastischen Farben geschildert werden, haben nicht nur dieser Th erapieform einen sehr ne-gativen Anstrich gegeben, sondern häufi g zu Verun-

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KAPITEL

10Florian Kaiser, Elisabeth Krull

Palliative Versorgungsstrukturen

10.1 Allgemeine ambulante Palliativversorgung (AAPV)Florian Kaiser

Grundlagen

Palliativmedizin wird von vielen Patienten und de-ren Angehörigen, aber auch von der Bevölkerung, als „Sterbemedizin“ eingestuft , d. h. als ein Fachge-biet der Medizin, das ganz zuletzt, wenn nichts an-deres mehr hilft , zum Einsatz kommt. Obwohl die Bedeutung und der Nutzen eines frühen Einsatzes von Palliativmedizin in der Th erapie maligner Er-krankungen mittlerweile unbestritten sind, und sie in den vergangenen Jahren Einzug in die Versor-gungsrealität gehalten hat, hat die Palliativmedizin dennoch weiterhin diesen Ruf. Nach wie vor lehnen einige Patienten die Einweisung oder Verlegung auf eine Palliativstation ab, aus Furcht, dass keine onko-logischen Th erapien mehr durchgeführt werden. Palliativmedizin und Tumortherapie schließen sich aber nicht zwangsweise aus. Palliativmedizin be-ginnt mit Auft reten einer Metastasierung bzw. der Unheilbarkeit einer (malignen) Erkrankung und nimmt im Krankheits- und Th erapieverlauf einen immer größeren Stellenwert ein. Anschaulich zeigt dies das Onkologie-Palliativ-Diagramm, das auch gut im Gespräch mit Patienten und Angehörigen ge-

nutzt werden kann (› Abb. 10.1, › Abb. 10.2, › Abb. 10.3).

Das folgende Patientenbeispiel verdeutlicht den engen Zusammenhang zwischen onkologischer und palliativmedizinischer Th erapie.

II Beispiel

Ambulante und stationäre Palliativversorgung

Eine 74-jährige, noch selbstständig tätige Geschäft s-frau, ist seit fünf Jahren an einem myelodysplasti-schen Syndrom erkrankt, als bei ihr ein Übergang der Erkrankung in eine akute Leukämie diagnosti-ziert wird. Da aufgrund ihres Alters und bestehen-der Komorbiditäten eine Knochenmarktransplanta-tion nicht mehr infrage kommt, beginnt eine ambu-lante Th erapie mit Vidaza®. Damit liegt für die Pa-tientin eine palliative Th erapiesituation mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von wenigen

10.1 Allgemeine ambulante Palliativversorgung (AAPV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

10.2 Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

10.3 Palliativdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

10.4 Palliativstation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

10.5 Hospiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Lebenszeit

AnteilPalliativ-medizin

AnteilOnko-logie O

P

Abb. 10.1 Onkologie-Palliativ-Diagramm [V492; M1016]

_21271_Vehling.indb 285_21271_Vehling.indb 285 09.03.2020 10:13:3509.03.2020 10:13:35

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286 10 Palliative Versorgungsstrukturen

10

Monaten vor. Die Patientin erreicht jedoch glückli-cherweise eine Remission der akuten Leukämie und kann ihr Geschäft weiterführen.

Acht Monate später treten so starke Rücken-schmerzen auf, dass sie ihr Geschäft kurzfristig schließen muss und eine adäquate Schmerztherapie benötigt. Eine Untersuchung des Liquors zeigt keine Leukämiezellen, ein MRT der Wirbelsäule aber den Nachweis mehrerer Chlorome – Tumoren, die aus Leukämiezellen bestehen und den Liquorraum ein-engen. Nach ausführlichen Gesprächen mit den be-handelnden Ärzten über ihre Prognose und Th era-piesituation entscheidet sich die Patientin für eine Bestrahlung der Wirbelsäule. Die Chlorome sprechen an, die Schmerztherapie kann beendet werden. Die Patientin nimmt ihre Geschäft stätigkeit wieder auf.

Weitere fünf Monate später sucht die Patientin ihren Hämatologen wegen retrobulbärer Schmerzen und Augenbrennen auf. Im MRT zeigen sich Chloro-

me hinter beiden Augen. Die Patientin stimmt einer weiteren Strahlen- und Schmerztherapie zu. Die Au-gensymptomatik bildet sich weitgehend zurück. Der Allgemeinzustand der Patientin verschlechtert sich jedoch immer mehr, sodass eine Einweisung auf die Palliativstation erforderlich wird, da sie alleine wohnt und eine ambulante Palliativversorgung nicht ausreicht.

Während des stationären Aufenthalts entwickelt die Patientin ein systemisches Rezidiv der akuten Leukämie. Nach ausführlichen Gesprächen ent-scheidet sie sich gegen eine weitere onkologische Th erapie und für eine schwerpunkmäßige palliativ-medizinische Versorgung. Sie regelt ihre letzten Dinge bei vollem Bewusstsein und verstirbt wenige Tage später.

Merke: Onkologische und palliativmedizinische Th erapien schließen sich nicht gegenseitig aus. Viel-mehr sollte der sinnvolle Einsatz der Behandlungs-möglichkeiten für jeden einzelnen Patienten indivi-duell abgewogen werden. II

Bedarf für eine ambulante Palliativ-versorgung

Laut DAK-Report aus dem Jahr 2016 möchten 60 % der Patienten zu Hause sterben. Dennoch versterben zwei Drittel der Menschen in Deutschland entweder in Krankenhäusern oder Pfl egeheimen, d. h., zwei von drei Menschen verbringen ihre letzten Tage und Stunden nicht an dem Ort, den sie sich wünschen. Zu ähnlichen Zahlen kommt eine Umfrage, die die Ber-telsmann Stift ung im November 2015 unter dem Ti-tel „Palliativversorgung – Faktencheck Gesundheit“ durchgeführt hat: 76 % der Bevölkerung äußerten den Wunsch, zu Hause zu sterben, aber nur bei 20 % der betroff enen Patienten war dies möglich. Nur 6 % äußerten den Wunsch, im Krankenhaus zu sterben, tatsächlich traf dies aber bei 46 % letztlich zu.

Lebenszeit

AnteilPalliativ-medizin

AnteilOnko-logie

1 = adjuvante Situation (kurativer Ansatz) (nur onkologische Therapie/keine Palliativthearpie)2 = Auftreten von Metastasen Systemtherapie (hoher Anteil) Beginn Palliativmedizin (palliative Therapiesituation, keine kurative Therapie mehr möglich)3 = Progress Metastasen Zunahme der palliativen Therapiesituation (Systemtherapie noch sinnvoll)4 = weiterer Progress (Resistenz auf Systemtherpaie, aber bestimmte Therapieformen, z. B. Strahlentherapie bei Skelettmetastasen oder Chemotherapie bei Meningeosis carcinomatosa sinnvoll)5 = keine onkologische Therapie mehr sinnvoll (reine Palliativsituation)

1 2 3 4 5

O

P

Abb. 10.3  Anteil onkologische/palliativmedizinische Therapie im Verlauf eines metastasierten Tumorleidens [V492; M1016]

Abb. 10.2  Onkologie-Pallia-tiv-Diagramm bei Ansprechen einer antiproliferativen Therapie [V492; M1016]

Lebenszeit

Bei Ansprechen der Systemtherapie

AnteilPalliativ-medizin

AnteilOnko-logie O

P

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28710.1 Allgemeine ambulante Palliativversorgung (AAPV)

10

Eine palliativmedizinische Versorgung benötigen nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Pal-liativmedizin (DGP) bis zu 90 % der Versterbenden in Deutschland. Von diesen bedürfen ca. 10 % einer spe-zialisierten Palliativversorgung (› Kap.  10.2). Sollte diese (noch) nicht benötigt werden, ist die allgemeine Palliativversorgung von Bedeutung, was auf etwa 90 % der schwer kranken und sterbenden Patienten zutrifft .

Strukturen der ambulanten palliativ-medizinischen Versorgung

Grundsätzlich ist die ambulante palliativmedizini-sche Versorgung in Deutschland in zwei Bereiche gegliedert: die allgemeine ambulante Palliativversor-gung (AAPV) und die spezialisierte ambulante Pal-liativversorgung (SAPV). Die AAPV ist wiederum in zwei Versorgungsmöglichkeiten untergliedert, so-dass die ambulante Palliativversorgung insgesamt in drei Stufen erfolgt. Alle Bereiche sollen eng zusam-menarbeiten und können ineinander übergehen. Die Abrechnung erfolgt allerdings separat. Die am-bulanten palliativmedizinischen Versorgungsstruk-turen sind aktuell wie folgt gegliedert:• Allgemeine ambulante palliativmedizinische

Versorgung (AAPV)– AAPV Stufe I: Basisversorgung– AAPV Stufe II: Besonders qualifi zierte und ko-

ordinierte palliativmedizinische Versorgung (BQKPMV)

• Spezialisierte ambulante Versorgung (SAPV) für besonders aufwendigen Versorgungsbedarf

Eine orientierende Übersicht zu palliativen Versor-gungsstrukturen gibt › Abb. 10.4. Vertiefende In-formationen sind in den „Erläuterungen zu Rege-lungen der ambulanten Palliativversorgung“ der DGP nachzulesen (DGP 2018).

Defi nition AAPV

Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) defi niert die allgemeine ambulante palliativ-medizinische Versorgung wie folgt:

Die allgemeine ambulante Palliativversorgung (AAPV) dient dem Ziel, die Lebensqualität und die Selbstbestimmung von Palliativpatienten so weit wie möglich zu erhalten, zu fördern und zu verbessern

und ihnen ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod in ihrer gewohnten Umgebung, in stationären Pfl ege-einrichtungen bzw. stationären Hospizen zu ermögli-chen. AAPV beinhaltet die Palliativversorgung, die von Leistungserbringern der Primärversorgung (in erster Linie den niedergelassenen Haus- und Fachärz-ten sowie den ambulanten Pfl egediensten) mit pallia-tivmedizinischer Basisqualifi kation erbracht werden kann. Der Großteil der Palliativpatienten, die medizi-nische und pfl egerische Versorgung benötigen, kann auf diese Weise ausreichend versorgt werden. Die Leistungserbringer in der AAPV sind in der Regel nur zu einem kleinen Teil ihrer Zeit mit der Versorgung von Palliativpatienten beschäft igt. Die Versorgung richtet sich an palliativmedizinischen Th erapiezielen und -inhalten aus. Geschulte ehrenamtliche Hospiz-mitarbeiter werden je nach Bedarf aktiv eingebun-den. Reichen die therapeutischen Möglichkeiten nicht aus, um den Bedürfnissen der Betroff enen gerecht zu werden, sind die Strukturen der spezialisierten Pallia-tivversorgung einzubeziehen.

(DGP, Januar 2009)

In den Strukturen der palliativmedizinischen Basis-versorgung im Sinne einer AAPV spielen die Haus-ärzte eine wichtige Rolle. Viele Patienten werden am Lebensende durch ihren Hausarzt, der sie in der Re-gel über Jahre kennt, versorgt und betreut. Eine Kontinuität in der Betreuung, die gerade für schwer kranke und sterbende Patienten wichtig ist, kann so gewährleistet werden. Problematisch ist allerdings, dass es durch die – insbesondere in ländlichen Ge-bieten – abnehmende Anzahl der Hausärzte und durch die steigende Zahl der zu versorgenden Pa-tienten zu einer zunehmenden Arbeitsverdichtung in allgemeinmedizinischen Praxen kommt (› Kap.  1). Zeit für Gespräche mit Patienten und Angehörigen im Sinne eines Advance Care Plan-nings (› Kap.  12.4) oder für die teils aufwendige Organisation von ambulanten Pfl egediensten fehlt den Hausärzten daher oft . Hinzu kommen die stei-genden Anforderungen der palliativmedizinischen Betreuung wie Schmerzmedikation, Wundmanage-ment, Ernährungstherapie und Psychoonkologie oder zeitaufwendige palliativmedizinische Fortbil-dungen. Hilfreich kann die Zusammenarbeit mit lo-kalen Anbietern spezialisierter palliativmedizini-scher Leistungen sein. Diese können unterstützend

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288 10 Palliative Versorgungsstrukturen

10

und beratend tätig werden und den Hausarzt in sei-ner alltäglichen Arbeit oft entlasten.

M E R K EDie Netzwerkarbeit mit allen an der Versorgung von Pal-liativpatienten beteiligten Einrichtungen ist entscheidend für das Gelingen einer AAPV.

Im Folgenden werden die o. g. AAPV-Versorgungs-formen (AAPV Stufe I und II) vorgestellt und die Ab-rechnungsmöglichkeiten für den Hausarzt erläutert.

AAPV Stufe I (Basisversorgung)

Die palliativmedizinische Basisversorgung erfolgt nach § 27 SGB V. Grundlage dieser Versorgung ist der generelle Anspruch eines Patienten, dass zur Be-

treuung auch die palliative Versorgung gehört. Die palliativmedizinische Behandlung erfolgt im Rah-men der allgemeinen Patientenversorgung. Über die berufl iche Grundqualifi kation hinaus sind für die Basisversorgung keine speziellen Fortbildungs-nachweise bzw. Qualitätsnachweise erforderlich. Al-lerdings werden von der DGP und anderen Institu-tionen gute Kenntnisse der regionalen palliativme-dizinischen Versorgungsstrukturen (z. B. Palliativ-station, SAPV, Hospize, Pfl egedienste) empfohlen.

Hausärzte erhalten für die Basisversorgung eine entsprechende Vergütung. Zur Ersterhebung und Weiterbetreuung von schwerstkranken und sterben-den Patienten können Hausärzte bzw. Kinder- und Jugendärzte die Gebührenordnungspositionen (GOP) 03370 bis 03373 bzw. 04370 bis 04373 ab-rechnen. Sie kommen – unabhängig vom Alter – bei

Patient mit palliativmedizinischem

Behandlungsbedarf

häusliche Versorgung ist möglich und

gewünscht

häusliche Versorgung ist nicht möglich oder

nicht gewünscht

stationäre Aufnahme

AAPV Stufe I – Basisversorgung ist ausreichend

allgemeine palliative Leistungen

AAPV Stufe I – Basisversorgung

ist nicht ausreichend

AAPV Stufe II: Besonders qualifizierte

und koordinierte palliativ-medizinische

Versorgung (BQKPMV)

SAPV ist nicht indiziert SAPV ist indiziert

Einleitung einer SAPV

Abb. 10.4 Übersicht über die palliativen Versorgungsstrukturen [V492; M1016]

_21271_Vehling.indb 288_21271_Vehling.indb 288 09.03.2020 10:13:3609.03.2020 10:13:36

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28910.1 Allgemeine ambulante Palliativversorgung (AAPV)

10

allen Patienten zur Anwendung, die an einer nicht heilbaren, progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung leiden und deren Lebenserwartung da-durch auf Tage, Wochen oder Monate gesunken ist. Abrechenbar sind:• Palliativmedizinische Ersterhebung und Erstel-

lung eines Behandlungsplans (GOP 03370 für Hausärzte)

• Zuschlag zur palliativmedizinischen Betreuung in der Arztpraxis (GOP 03371 für Hausärzte)

• Zuschlag zur palliativmedizinischen Betreuung für reguläre Hausbesuche (GOP 03372 für Haus-ärzte)

• Zuschlag zur palliativmedizinischen Betreuung für dringende Hausbesuche (GOP 03373 für Hausärzte)

Die oben genannten Ziff ern können auch dann ab-gerechnet werden, wenn gleichzeitig eine Versor-gung durch die SAPV erfolgt. Die beiden einzigen Ausnahmen sind eine Vollversorgung durch die SAPV, die allerdings nur selten durchgeführt wird, und eine gleichzeitige Betreuung desselben Patien-ten in einer SAPV durch den behandelnden bzw. ab-rechnenden Arzt – eine Doppeltabrechnung ist da-mit nicht möglich.

AAPV Stufe II (Besonders qualifi zierte und koordinierte palliativmedizinische Versorgung, BQKPMV)

Infolge des Gesetzes zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland (Hospiz- und Palliativgesetz) vom 1. Dezember 2015 wurden die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der Spitzenverband der Krankenkassen beauft ragt, die allgemeine ambulante Palliativversorgung aus-zubauen. Zusätzlich bestand die Forderung, ein ent-sprechendes Versorgungsangebot in das System der gesetzlichen Krankenversicherungen zu etablieren. Die daraus entstandene „Besonders qualifi zierte und koordinierte palliativmedizinische Versorgung“ (BQKPMV) ist ein neuer Teil der AAPV. Rechtliche Grundlage bildet § 87 Abs. 1b SGB V in Verbindung mit der Anlage 30 des BMÄ. Diese Form der Pallia-tivversorgung stellt eine Zwischenstufe zwischen hausärztlicher und spezialisierter ambulanter Pallia-tivversorgung (SAPV) dar. In die BQKPMV können – wie in der Basisversorgung – alle Patienten einge-

schlossen werden, die an einer nicht heilbaren, pro-gredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung leiden und deren Lebenserwartung dadurch auf Ta-ge, Wochen oder Monate gesunken ist. Es liegt ein größerer und besonderer palliativmedizinischer Versorgungsaufwand vor, der über die Basisversor-gung hinausreicht, jedoch noch nicht die Indikation für eine SAPV erreicht (einzige Ausnahme sind Be-ratungsleistungen der SAPV). Beispielsweise kann ein stark reduzierter Allgemeinzustand vorliegen, der einer regelmäßigen ärztlichen Behandlung v. a. in der Häuslichkeit bedarf.

Der Versorgungsauft rag des teilnehmenden (Haus-)Arztes liegt in der fachübergreifenden, qua-lifi zierten palliativmedizinischen Patientenbehand-lung und der koordinierten, interdisziplinären Ver-sorgungssteuerung. Die BQKPMV soll die ambulan-te Palliativversorgung durch gesteigerte Qualifi ka-tion und Koordination intensivieren und den Patienten ein würdevolles Sterben in der Häuslich-keit ermöglichen.

Grundsätzlich sind alle Hausärzte und Fachärzte der unmittelbaren Patientenversorgung zur Teil-nahme an der BQKPMV berechtig. Allerdings müs-sen, im Gegensatz zur Basisversorgung (s. o.), einige fachliche und strukturelle Voraussetzungen erfüllt sein. Die Teilnahme muss bei der zuständigen Kas-senärztlichen Vereinigung (KV) beantragt werden.

Der teilnehmende Arzt muss jeweils eine der fol-genden Voraussetzungen in Th eorie und Praxis er-füllen:• Praktische Erfahrungen können nachgewiesen

werden durch:– Mindestens zweiwöchige Hospitation in einer

Einrichtung der Palliativversorgung oder einem SAPV-Team oder

– Betreuung von mindestens 15 Palliativpatien-ten innerhalb der vergangenen drei Jahre.

• Th eoretische Kenntnisse können nachgewiesen werden durch– 40-stündige Kursweiterbildung Palliativmedi-

zin oder– Bei Vorliegen bestimmter Fortbildungen/Zu-

satzqualifi kationen sind lediglich bestimmte Th emenkomplexe der Kursweiterbildung Pal-liativmedizin erforderlich:– Th emenkomplex 2 „Behandlung von Schmerzen und anderen belastenden Sympto-

_21271_Vehling.indb 289_21271_Vehling.indb 289 09.03.2020 10:13:3709.03.2020 10:13:37

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290 10 Palliative Versorgungsstrukturen

10

men (Symptomkontrolle – 20 Stunden)“ bei Vorliegen der Fortbildungen „Geriatrische Grundversorgung“ (60 Stunden) und „Psycho-somatische Grundversorgung“ (80 Stunden) oder– Th emenkomplexe 3, 4, 5 und 6 („Psychoso-ziale und spirituelle Aspekte“, „Ethische und rechtliche Fragestellungen“, „Kommunikation und Teamarbeit“ und „Selbstrefl exion“ – ins-gesamt 18 Stunden) bei Vorliegen der Zusatz-qualifi kation „Spezielle Schmerztherapie“ (80 Stunden).

II Beispiel

Basiskurs Palliativmedizin

Der Basiskurs als Grundlage der geforderten theore-tischen Kenntnisse (s. o.) umfasst 40  Stunden und kann deutschlandweit an verschiedenen palliativ-medizinischen Einrichtungen belegt werden. Der Zeitaufwand beträgt mehrere Tage und zieht daher für niedergelassene Ärzte die Notwendigkeit nach sich, Vertreter einzustellen oder die Praxis tageweise zu schließen. Berücksichtigt man zusätzlich die Kursgebühren, stellt dies oft eine hohe fi nanzielle Belastung dar.

Eine neue praxisfreundliche Fortbildungsmög-lichkeit sind E-Learning-Modelle, wie sie z. B. von der KV Bayern in Zusammenarbeit mit dem Bayeri-schen Hausärzteverband und der DGP entwickelt wurden. Sie beinhalten E-Learning-Module, Prä-senzveranstaltungen und eine Hospitation in einer SAPV. Die drei Präsenztage fi nden an Samstagen statt, sodass der Praxisalltag nicht belastet wird. II

Die strukturellen Anforderungen sind umfang-reich und beinhalten u. a.:• Anwendung evidenzbasierter Leitlinien (z. B.

S3-Leitlinie „Palliativmedizin“)• Regelmäßiger Fortbildungsnachweis im Bereich

Palliativmedizin (8 Fortbildungspunkte/Jahr) inkl. Teilnahme an Qualitätszirkeln/Fallkonfe-renzen

• Vorhalten gültiger BtM-Rezepte• Schrift licher Kooperationsnachweis mit anderen,

in der palliativmedizinischen Versorgung tätigen Leistungserbringern (z. B. SAPV, Palliativstation, Hospiz)

Insbesondere der Kooperationsnachweis ist für die teilnehmenden Ärzte eine Herausforderung. So müssen Regelungen zum gegenseitigen Informa-tionsaustausch, zur Organisation gemeinsamer, pa-tientenorientierter Fallbesprechungen und zur Durchführung von Konsilen getroff en werden. Be-sonders anspruchsvoll ist die Sicherstellung der pal-liativmedizinischen Versorgung während der sprechstundenfreien Zeiten, an Wochenenden und Feiertagen, was eine 24-stündige Rufb ereitschaft nach sich zieht.

Abrechnungsmöglichkeit für niedergelassene Ärzte

Die neuen Leistungen sind nur bei schwerstkranken und sterbenden Patienten berechnungsfähig und be-dürfen der vorangehenden Zulassung des Arztes zur BQKPMV durch die zuständige KV. Im Gegensatz zur Basisversorgung kann die Abrechnung nicht er-folgen, wenn der Patient geleichzeitig durch eine SAPV betreut wird. Einzige Ausnahme sind Bera-tungsleistungen der SAPV. Abrechenbar sind:• Palliativmedizinische Ersterhebung inkl. Behand-

lungspläne (GOP 37300)• Zuschlag zur Grundpauschale für den koordinie-

renden Vertragsarzt (GOP 37302)• Zuschlag zur den GOP 01410 und 01413 für die

BQKPMV in der Häuslichkeit (GOP 37305)• Zuschlag zur den GOP 01411, 01412 und 01415 für

die BQKPMV in der Häuslichkeit (GOP 37306)• Pauschale für konsiliarische Erörterung/Beurtei-

lung komplexer medizinischer Fragestellungen durch einen Arzt mit Zusatzweiterbildung Pallia-tivmedizin im Rahmen der BQKPMV (GOP 37314; cave: kann nur durch Ärzte mit der kom-pletten Weiterbildung Palliativmedizin abgerech-net werden)

• Zuschlag zu der GOP 37302 für die Erreichbar-keit/Besuchsbereitschaft in kritischen Phasen (GOP 37317)

• Telefonische Beratung (mind. 5 Minuten) in der BQKPMV außerhalb der Sprechstundenzeit (nachts, Wochenende, Feiertage etc.) (GOP 37318)

• Fallkonferenzen (GOP 37320)Der für die Teilnahme an der BQKPMV erforderli-che zeitliche Aufwand ist sowohl für die Patienten-

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29110.2 Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV)

10

versorgung als auch für Fortbildungen hoch. Für Hausärzte und Fachärzte, die eine große Zahl an Pal-liativpatienten betreuen, ist die BQKPMV aber emp-fehlenswert. Dies trifft vor allem für Ärzte zu, die in die Betreuung von Hospizpatienten eingebunden sind.

Tipps für die Praxis • Abrechnen von genehmigungsfreien Palliativ-

ziff ern ist auch bei gleichzeitiger SAPV-Ver-sorgung möglich.

• Teilnahme am Basiskurs Palliativmedizin ist äußerst empfehlenswert.

• E-Learning-Kurse sparen Zeit und ermögli-chen eine stressfreie Fortbildung.

• AAPV Stufe II-Versorgung (BQKPMV) bei ausreichender Patientenzahl anstreben, SAPV als Beratung mit hinzuzuziehen ist möglich.

LITERATURBertelsmann Stiftung. Faktencheck Gesundheit. Palliativver-

sorgung (2015). Aus: https://faktencheck-gesundheit.de/de/faktenchecks/faktencheck-palliativversorgung/ergebnis- ueberblick (letzter Zugriff: 22. November 2019).

Bertelsmann Stiftung. Palliativversorgung in der letzten Lebens phase (2015). Aus: www.weisse-liste.de/export/sites/weisseliste/pdf/Palliativversorgung.pdf (letzter Zu-griff: 25. Oktober 2019).

Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Allgemeine ambulante Palliativmedizin. Aus: www.dgpalliativmedizin.de/allgemein/allgemeine-ambulante-palliativversorgung- aapv.html (letzter Zugriff: 22. November 2019).

Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und Bun-desarbeitsgemeinschaft SAPV (BAG-SAPV): Erläuterungen zu Regelungen der ambulanten Palliativversorgung (2018). Aus: www.bag-sapv.de/informatives/aapv (letzter Zugriff: 22. November 2019).

Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF). Erweiterte S3-Leitlinie Pal-liativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung (Langversion 2.0, August 2019). Aus: www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/128-001OLl_S3_Palliativmedizin_2019-09.pdf (letzter Zugriff: 22. Novem-ber 2019).

Lodders S, Nüßlein. Basiskurs „Palliativmedizin“, KVB Fo-rum 10/2018, S. 31. Aus: www.kvb.de/fi leadmin/kvb/dokumente/Presse/Publikation/KVB-FORUM/FORUM-2018-10/FORUM/KVB-FORUM-10-2018.pdf (letzter Zugriff: 22. November 2019).

Vehling-Kaiser U et al. E-learning; palliative medicine. A Bavarian alternative to improve the general out-patient palliative provision, Poster Leipzig, DGHO 2016.

10.2 Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV)Florian Kaiser

Grundlagen

Ein Blick auf die Geschichte der Palliativmedizin in Deutschland hilft dabei, die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) in der medizinischen Versorgungslandschaft einzuordnen.• 1969: Erstmals nehmen Ärzte und Seelsorger aus

Deutschland Kontakt zu britischen Hospizen auf.• 1983: Gründung und Eröff nung der ersten Pallia-

tivstation in der Chirurgischen Universitätsklinik Köln mit Unterstützung der Deutschen Krebshil-fe.

• 1986: Eröff nung des ersten (kirchlichen) Hospi-zes auf der Hörn in Aachen.

• 1994: Gründung eines neuen palliativmedizini-schen Netzwerks, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), der heute über 5 800 Mitglieder angehören. Gemäß ihrer Satzung hat die DGP die Aufgabe, Ärzte und andere Berufs-gruppen zur gemeinsamen Arbeit am Aufb au und Fortschritt der Palliativmedizin zu vereinen und auf diesem Gebiet die bestmögliche Versor-gung der Patienten zu fördern. Der erste Kon-gress der DGP – und damit der erste Palliativkon-gress in Deutschland – fand 1996 in Köln statt.

• 1997: Das erste deutschsprachige Lehrbuch für Palliativmedizin erscheint.

• 1999: An der Universität Bonn wird durch die Schmerzmittelfi rma Mundipharma Limburg eine Stift ungsprofessur für Palliativmedizin eingerich-tet. Aktuell verfügen die Universitätskliniken Köln, Aachen, Göttingen, München, Erlangen und Bonn über je einen Lehrstuhl für Palliativ-medizin, mit wegweisender Unterstützung der Deutschen Krebshilfe durch Stift ungslehrstühle und Erstausstattungen.

• 2004: Medizinische Fakultäten beginnen, Pallia-tivmedizin zum verpfl ichtenden Lehr-und Prü-fungsfach zu ernennen und räumen der Palliativ-medizin damit erstmals einen Stellenwert in der Ausbildung zum Arzt ein. Gleichzeitig wird die Teilgebietsbezeichnung „Palliativmedizin“ einge-führt, sodass eine Spezialisierung von Fachärzten in Palliativmedizin möglich wird.

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KAPITEL

12Elisabeth Krull, Michael Sohm

Kommunikation mit Tumor-patienten und Angehörigen

12.1 Mitteilung der KrebsdiagnoseMichael Sohm

Aus der Psychoonkologie ist bekannt, wie bedeut-sam die Art und Weise ist, wie eine einschneidende Diagnose übermittelt wird. „Sie haben Krebs“ kommt oft mals einem verheerenden Urteil gleich, und häufi g wird gerade der Moment der Diagnose-übermittlung auch Monate danach zum Gegenstand vieler psychoonkologischer Gespräche.

Kommunikation in dieser vulnerablen Phase be-stimmt also entscheidend das Befi nden des Patien-ten und seiner Angehörigen und ist damit auch von wesentlicher Bedeutung für das weitere therapeuti-sche Arzt-Patienten-Verhältnis. Bei vielen Betroff e-nen brennt sich der Wortlaut des Gesprächs anläss-lich der Diagnoseübermittlung unabänderlich in die Erinnerung ein und hallt immer wieder nach. Ist man also bestrebt, den Patienten von Beginn seiner Krebserkrankung an in einem engen, vertrauensvol-len Verhältnis zu begleiten und für ihn da zu sein, sollte man sich bereits zum Zeitpunkt der Diagnose-eröff nung um die richtigen Worte bemühen und frühzeitig die Bedürfnisse des Patienten und seiner Angehörigen thematisieren.

Die Diagnose „Krebs“ konfrontiert den Patienten mit einer Information, die in ungünstiger und schwerwiegender Weise seine Sicht auf Zukünft iges beeinfl usst. Demnach handelt es sich ohne Zweifel um eine Nachricht, deren Übermittlung niemandem leichtfällt. Dazu kommt, dass derjenige, dem diese Aufgabe zufällt, als erster mit den emotionalen Re-aktionen konfrontiert wird, die auf die Übermitt-lung einer solchen Nachricht folgen können. Diese Aufgabe kann sich für den Arzt ungut anfühlen, ihn vielleicht sogar hilfl os machen oder überfordern. Möglicherweise werden auch Erfahrungen mit frü-heren Patienten reaktiviert. Kommt aufgrund der Tumorausdehnung kein kuratives Th erapiekonzept infrage und lautet die Diagnose „unheilbar“, kommt das manchmal dem Eingeständnis gleich, dass ärzt-liches Tun trotz aller Fortschritte in der Wissen-schaft an seine Grenzen gekommen ist. Tatsache ist aber auch, dass der Arzt gegenüber seinem Patien-ten einen erheblichen Wissensvorsprung bezüglich Prognose und Verlauf einer malignen Erkrankung hat.

Schwierige Gespräche in Situationen, die existen-ziell bedrohlich sind, müssen also unter dem Ein-fl uss von Unsicherheit und Bedenken auf beiden Seiten geführt werden. Nicht selten verunsichern den Behandler die entgegengebrachten Erwartun-gen seiner Gesprächspartner, aber auch die eigene

12.1 Mitteilung der Krebsdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

12.2 Prognosefragen beantworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

12.3 Auswirkungen der Diagnose „Krebs“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

12.4 Advance Care Planning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

12.5 Letzte Hilfe Kurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

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318 12 Kommunikation mit Tumorpatienten und Angehörigen

12

Angst, Hoff nungen zu zerstören. Die besondere Her-ausforderung solcher intensiver Gespräche liegt dar-in, den Patienten trotz aller das Gespräch belasten-den Faktoren in die Lage zu versetzen, therapeuti-sche Entscheidungen zu treff en und ärztlichen Emp-fehlungen Folge zu leisten.

Im Folgenden werden Rahmenbedingungen und Gesprächsstrategien besprochen, die sich bei der Übermittlung der Diagnose an den Patienten als hilfreich erwiesen haben.

Gesprächsbedingungen

In der Regel geht der Diagnosestellung eine manch-mal aufwendige klinische und apparative Diagnostik voraus. Für den Patienten ist dies eine besonders be-lastende Zeit der Ungewissheit und des Wartens. Es ist immer lohnenswert, diese Leistung lobend anzu-erkennen, z. B. folgendermaßen: „Ich weiß durchaus um die enorme Belastung, der Sie derzeit standhal-ten müssen, und kann mir vorstellen, dass das War-ten auf den Befund viel abverlangt“. Diese Würdi-gung kann neue Kraft geben und den Patienten mo-tivieren.

Im eigentlichen Befundgespräch ist den meisten Patienten, oft begleitet von Angehörigen, die An-spannung und Nervosität deutlich anzumerken. Der Händedruck ist feucht, Stillsitzen schwierig. Manch-mal wird hinterher berichtet: „Wissen Sie, ich habe es Ihnen gleich angesehen, dass der Befund nicht günstig ist. Sie haben schon bei der Begrüßung so ein besorgtes Gesicht gemacht“. Dies zeigt, dass die nonverbale Aufk lärung durchaus eine wichtige Rolle spielt. Aufgrund der vielen bewussten und un-bewussten nonverbalen Signale, die das therapeuti-sche Umfeld aussendet, erahnen und erkennen Pa-tienten bereits vor dem eigentlichen Befundgespräch ihre Situation.

Das Teilhabenlassen von Angehörigen am Ge-spräch ist für den Betroff enen, gerade wenn es sich um ältere Patienten handelt, häufi g hilfreich. Die Be-gleitpersonen kennen die in der Familie verwendete Sprache und können unter Umständen für den Pa-tienten „übersetzen“. Voraussetzung für die Beglei-tung ist das Einverständnis des Patienten.

Wichtig ist außerdem, dass sich der Behandler vor Einleitung des Gesprächs zunächst selbst ausrei-chend in Kenntnis der Befunde setzt. Es verunsi-

chert den Patienten, wenn der Gesprächspartner während der Unterhaltung wiederholt in den Unter-lagen blättern muss.

Zum Thema hinführen

In der Regel kommen Patienten mit einer großen Ungewissheit, manchmal auch mit einer Vorahnung auf das, was sie erwarten mag, in das Befundge-spräch. Deshalb sollten zunächst die Vorkenntnisse des Patienten und seiner Begleiter abgefragt wer-den: Hat bereits jemand über die vorliegenden Untersuchungsergebnisse gesprochen? Was ist be-reits bekannt?

Unter Umständen bietet es sich an, in wenigen Sätzen zunächst die durchgeführte Diagnostik zu-sammenzufassen mit dem Hinweis, dass nun eine Diagnose vorliegt. Damit lassen sich die Gesprächs-partner gut an das bevorstehende Gespräch heran-führen und das Gesprächsanliegen formulieren: „Wir haben uns heute getroff en, um abschließend über Ihre Untersuchungsbefunde der vergangenen Tage und Wochen zu sprechen. Das war sicher sehr belastend für Sie. Es liegt uns jetzt eine Diagnose vor“.

Gesprächsbereitschaft kann durch direkten Blickkontakt und eine off ene Körperhaltung sig-nalisiert werden. Bei manifesten körperlichen Sym-ptomen sollte nachgefragt werden, ob dem Patien-ten ein Gespräch überhaupt möglich ist. Unnötige Unterbrechungen durch Telefonate oder Störungen der Sprechstunde durch Mitarbeiter sind zu vermei-den.

Bei der Übermittlung der Diagnose ist es wichtig, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Eine zu knappe, sachliche und wenig einfühlsame Vorgehensweise in der Gesprächsgestaltung in diesem äußerst belasten-den Moment wird von Patienten in psychoonkologi-schen Gesprächen immer wieder thematisiert. Ad-äquater ist es, in wenigen Worten zunächst auf die ungünstige Befundlage hinzuweisen und dem Pa-tienten und seinen Begleitpersonen die Möglichkeit zu geben, noch einmal Luft zu holen und sich zu wappnen: „Jetzt liegen uns alle erforderlichen Be-funde vor, sodass wir zu einer Diagnose kommen können. Leider fällt der Befund nicht so günstig aus, wie wir vielleicht erhofft haben“. Oder: „Es wäre mir

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31912.1 Mitteilung der Krebsdiagnose

12

leichter gefallen, einen erfreulicheren Befund mit Ih-nen zu besprechen als den vorliegenden“.

M E R K EIn einer emotional belastenden Situation wie der Diagno-seeröffnung ist das Aufnahmevermögen auf ein Mini-mum reduziert. Der Gesprächsteilnehmer kann nur sehr wenig von dem aufnehmen, was gesprochen wird. Des-halb immer wieder rückversichern, was überhaupt ange-kommen ist.

Das Mitteilen der Diagnose

Das Mitteilen einer Krebsdiagnose bedeutet, schlechte Nachrichten zu überbringen. Deshalb soll-te an die Möglichkeit gedacht werden, noch vor der Diagnoseeröff nung die gewünschte Informationstie-fe zu klären. Damit wird der Patient eingeladen, die Intensität des Gesprächs selbst zu steuern. Mit be-hutsamen Fragen sollte geklärt werden, wie viel er wissen möchte und welche Details. Es geht aber auch darum, was der Patient wissen muss, um überhaupt Th erapieentscheidungen fällen zu können. Die Frage nach der gewünschten Informationstiefe kann man z. B. folgendermaßen formulieren: „Möchten Sie in schwierigen Situationen möglichst viele Informatio-nen oder sind Sie ein Mensch, der ungünstige Unter-suchungsbefunde nicht so genau kennen möchte?“

Bei der Übermittlung schwieriger Botschaft en und Informationen geht es keinesfalls um das bloße Abladen von Sachverhalten, sondern um das Finden eines konstruktiven Rahmens zur Bewältigung der neuen Situation. Die ärztliche Aufgabe und das Ziel bei der Übermittlung schwieriger Nachrichten be-stehen darin, dem Betroff enen beim Verstehen und Verarbeiten seiner Diagnose Unterstützung zu bie-ten, die bei ihm ausgelösten Reaktionen und Co-pingstrategien nicht zu durchbrechen und ihn damit möglicherweise über die Grenze des Erträglichen hinaus zu belasten.

Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann – nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.

(Max Frisch)

Wenn es darum geht, den Patienten in Kenntnis seiner Diagnose zu setzen, ist unbedingt darauf zu achten, die Informationen dem Wissen des Be-

troff enen anzupassen, indem z. B. medizinische Fachbegriff e vermieden werden. Die Verständnis- und Aufnahmefähigkeit des Patienten bestimmt die Wort- und Begriff swahl bei der situativ angepassten Vermittlung von Untersuchungsbefunden. Von entscheidender Bedeutung für den Gesprächsver-lauf ist es außerdem, Pausen zu lassen, die entste-hende Stille und das Schweigen zu ertragen. Es ist durchaus legitim, sich für einige Augenblicke zu-rückzunehmen und das Gesagte wirken zu lassen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Gesprächsfüh-rung besteht darin, auf die psychische Verfassung des Patienten zu achten und die entstehenden Emo-tionen aufzuspüren und wahrzunehmen. Es ist nicht unprofessionell, Gefühlserleben in solchen Momen-ten zuzulassen und zu thematisieren: „Es ist ver-ständlich, dass es Ihnen im wahrsten Sinne des Wor-tes die Sprache verschlägt, vielleicht zum Weinen zumute ist. Was beschäft igt Sie gerade am meisten?“ Durch das Benennen und Respektieren von Gefüh-len und durch nachvollziehbares Verstehen des an-deren kann Vertrauen entstehen, sodass auch die nachfolgenden Schritte in der Th erapiephase erleich-tert werden. Die Technik des Spiegelns, also des Wahrnehmens und Ansprechens erlebter Emotio-nen, ist eine wichtige und einfach umzusetzende Hil-fe für den Arzt. Verbunden mit der Haltung des akti-ven Zuhörens kann er dem Patienten wiedergeben, was er gehört und verstanden hat. Es bedeutet, nicht nur die Fakten zu erfassen, sondern auch die Hinter-gründe, die leisen Zwischentöne und die subjektive Bedeutung der Erkrankung für den Betroff enen.

Zu Fragen ermutigen

Zur Mitteilung der Diagnose gehört auch, den Pa-tienten zu Fragen zu ermutigen. Die Fragen sollten ehrlich und wahrheitsgemäß beantwortet werden, ohne den Patienten mit reinen Fakten zu überfor-dern. Die Erfahrung zeigt, dass der Patient solche Nachrichten oft wesentlich besser bewältigt, als der Arzt vielleicht erwartet. Dies bedeutet jedoch nicht, die komplette Sachinformation schonungslos und mit allen Folgen auf direktestem Weg zu übermit-teln. Der Arzt hat das Recht und die Pfl icht, nach seinem eigenen Ermessen zu sondieren, welche In-formationen für den Patienten und für den Ent-scheidungsprozess bezüglich der Th erapie unver-

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320 12 Kommunikation mit Tumorpatienten und Angehörigen

12

zichtbar sind. Es zahlt sich nicht aus, eine unwahre Information im Sinne einer Notlüge zu geben. Spä-ter als falsch erkannte Informationen gefährden das Vertrauen des Patienten in die Glaubwürdigkeit des Arztes. Wenn der Patient keine Fragen stellt, muss das die Aufmerksamkeit des Behandlers wecken. Gründe dafür kann es viele geben. Es ist z. B. mög-lich, dass das Gespräch nicht das eigentliche Prob-lem des Patienten aufgreift , der Arzt möglicherweise unverständlich spricht und der Patient mit derart gravierenden Sachverhalten konfrontiert wurde, dass es ihm „die Sprache verschlagen hat“. Signali-siert der Gesprächspartner darüber hinaus Zeit-druck, beispielsweise durch wiederholte Blicke zur Uhr, kann es sein, dass der Patient gar nicht erst zu fragen wagt.

Tipps für die Praxis • Im Gespräch ausreichend Raum für Pausen

lassen.• Das emotionale Erleben des Patienten wahr-

nehmen und thematisieren.• Nicht-annehmen-können, Nur-teilweise-ver-

stehen und Sich-unbeteiligt-fühlen sind mög-liche und immer wieder erlebte Bewältigungs-strategien von Betroff enen und keineswegs pathologisch. Solche Verhaltensweisen dienen dem Schutz des Betroff enen, helfen ihm, sich zu stabilisieren, sind aber gleichzeitig immer auch Ursache von Missverständnissen, wenn seitens der Patienten ein Mangel an Aufk lä-rung angegeben wird oder sich die betroff e-nen Ärzte unbegründet angegriff en und in ihrer Kompetenz beschnitten fühlen.

II Beispiele

„Dazu kann ich jetzt nichts sagen“

Ein 50-jähriger Patient stellt sich kurz nach der Dia-gnosestellung eines fortgeschrittenen Glioblastoms in der psychoonkologischen Sprechstunde vor. Wie empfohlen, sei er am Vormittag nach der Entlassung aus einem längeren und beschwerlichen stationären Aufenthalt mit vielen Untersuchungen beim nieder-gelassenen Onkologen zur Planung der weiteren Th erapie gewesen. Im psychoonkologischen Ge-spräch ist der Patient stark verunsichert und hat vie-

le Fragen. Er berichtet, dass der Onkologe zunächst den achtseitigen Entlassbrief der Klinik durchge-blättert und wenig interessiert studiert habe. Auf seine Fragen habe er nur knapp geantwortet, dass er im Moment nichts dazu sagen und aus Zeitgründen unmöglich den ganzen Brief lesen könne. Der Pa-tient solle am besten in den nächsten Tagen noch einmal kommen.

Merke: Nur gut vorbereitet und informiert in ein schwieriges Diagnosegespräch gehen.

„Leider nicht so günstig“

Eine 73-jährige Patientin mit bekanntem metasta-siertem cholangiozellulärem Karzinom unter pallia-tiver Drittlinientherapie muss sich erneut einer Schichtbildgebung zur Verlaufskontrolle unterzie-hen. Im Befundbericht ist zu lesen: „[…] zeigt sich erneut ein massiver Progress“. Zur Befundbespre-chung kommt sie mit ihrem Ehemann (A = Arzt, P = Patientin, E = Ehemann).

E: „Jetzt hoff en wir, dass Sie uns etwas Gutes zu sagen haben, Herr Doktor.“

A: „Wir haben uns heute getroff en, um gemein-sam den Befund der Computertomografi e zu bespre-chen. Hat denn vielleicht schon jemand in der Ra-diologie mit Ihnen darüber geredet?“

P: „Nein, die junge Ärztin hat gemeint, den Be-fund würden Sie mit uns durchgehen. Da war auch so viel los, da habe ich mich nicht mehr zu fragen getraut.“

E: „Sie müssten doch den schrift lichen Befund be-kommen haben. Haben Sie den denn nicht?“

A: „Doch. Der endgültige Befund liegt uns vor. [Pause] Leider ist das Ergebnis nicht so günstig, wie wir uns für Sie erhofft hatten.“

E: „Nicht so günstig?“A: „Ja. Der Tumor hat weiter gestreut. Auch unter

der Chemotherapie.“E: „Aber was heißt das für meine Frau?“A: „Leider konnten die zurückliegenden Th era-

pien die Erkrankung nicht längerfristig einbremsen. Gleichzeitig wurden schon sämtliche als wirksam geltende Substanzen angeboten. Dennoch ist der Krebs mehr geworden. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem eine Fortsetzung der Che-motherapie kritisch abgewogen werden muss. Ver-glichen mit den zu erwartenden Nebenwirkungen

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32112.2 Prognosefragen beantworten

12

fällt der anzunehmende Nutzen weiterer Chemo-substanzen enorm ab.“

P: „Sie können also nichts mehr für mich tun?“A: „So sollte das keinesfalls verstanden werden.

Auch wenn ich Ihre Gedanken sehr gut nachvollzie-hen kann. Vielmehr ist es so, dass wir uns auch wei-terhin um bestmögliche Lebensqualität bemühen wollen. Mit allen Mitteln, die dazu dienlich sind. Mittel, die das nicht sind, müssen kritisch hinter-fragt werden. Dazu gehört auch eine weitere Chemo-therapie.“

Merke: Ungünstige Befunde ankündigen. Unter-stützung signalisieren. II

LITERATURBergert F, Bergert W, Braun M et al. Hausärztliche Leitlinie:

Hausärztliche Gesprächsführung. Berlin: Ärztliches Zen-trum für Qualität in der Medizin, 2008.

Emmerling P. Ärztliche Kommunikation. Stuttgart: Thieme, 2019.

Hamm C, Freyberger H, Hamm A. Psychoonkologie in der Nachsorge. Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Ma-nual. Stuttgart: Schattauer, 2016.

Weyland P. Das psychoonkologische Gespräch. 2. A. Stutt-gart: Schattauer, 2017.

12.2 Prognosefragen beantwortenMichael Sohm

Früher oder später wird der Arzt im Gespräch mit einem Tumorpatienten mit Prognosefragen kon-frontiert. Oft kommen sie ohne Vorwarnung, bei-spielsweise beiläufi g am Ende eines Gesprächs oder vermeintlich heimlich, wenn die anderen weghören.

Patienten legen Wert auf ein ehrliches Wort. Die Erfahrung lehrt, dass off en und ehrlich geführte Ge-spräche bei der Diagnosemitteilung (› Kap. 12.1), auch wenn sie als sehr belastend empfunden wer-den, meistens eine viel bessere Nachwirkung hinter-lassen, als man es zunächst für möglich hält: „End-lich jemand, der mit uns Klartext redet“. „Ich hätte es nicht geglaubt, wenn es der Arzt nicht gesagt hät-te“. „Sie sind der Erste, der uns gesagt hat, wie es wirklich um mich steht.“

Prognosegespräche in der Onkologie und Pallia-tivmedizin bedeuten häufi g, dass mit einer Einschät-zung der noch verbleibenden Lebenszeit gerechnet wird. Wenn der Patient und sein Umfeld keine ehr-liche, professionelle Einschätzung der verbleibenden gemeinsamen Lebenszeit erhalten, wird die verblie-bene Autonomie des Patienten entscheidend be-schnitten. Eine nicht ehrlich und aufrichtig kommu-nizierte Prognose kann verhindern, dass der Patient ihm wichtige Anliegen, vielleicht auch off ene Prob-leme, nicht mehr abschließen kann

Im Folgenden wird auf einige wichtige Aspekte im Hinblick auf eine gelungene Gesprächsführung hin-gewiesen.

Abwehr

Begriff e wie „Morphin“, „palliativ“ und „Hospiz“ ha-ben die Gemeinsamkeit, dass sie in eine bestimmte Richtung weisen, die Unheilbarkeit einer Erkran-kung evident machen, das Unausweichliche in den Vordergrund rücken. Dadurch sind sie eine Art Trigger für Fragen, die sich mit der Endlichkeit des Lebens und der verbleibenden Lebenszeit sowie mit der Prognose beschäft igen. Dies ist einer der Haupt-gründe dafür, dass solche Begriff e häufi g zunächst auf Abwehr beim Patienten und seinem Umfeld sto-ßen: „So weit ist es doch noch gar nicht […], oder?“ In dieser Gesprächssituation ist es wichtig, Abwehr-mechanismen, mit denen sich Menschen in emotio-nal stark belastenden Situationen um Stabilisierung bemühen, zu respektieren und nicht mit Nachdruck durchbrechen zu wollen. Trotzdem lassen sich mit solchen Vokabeln im Gespräch neue Impulse und Denkanreize setzen. Das ist oft zunächst völlig aus-reichend. Es geht nicht um die Off enlegung der blan-ken Wahrheit auf Biegen und Brechen, sondern dar-um, etwas gedanklich in Bewegung zu setzen. Das kann in Folgegesprächen spürbar werden, und zwar meist nicht auf vorwurfsvolle, sondern eher auf dankbare Weise: „Das letzte Gespräch war gut. Es ist uns gelungen, danach in der Familie off en über unsere Sorgen und Ängste zu reden“.

Bewusstsein schaffen

Ein wichtiges Grundprinzip der Kommunikation mit schwer kranken Menschen besteht darin, die ak-

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Onkologische Erkrankungen in der Hausarztpraxis 2020. 352x S., 50 farb. Abb., kt. ISBN: 978-3-437-21271-0 | € [D] 49,- / € [A] 50,40

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„Habe ich eine Chance? Soll ich diese Therapie machen?" Hausärzte stehen an der Schnittstelle zwischen behandelnden Fachärzten und onkologischen Patienten und müssen sich mit solchen Fragen beschäftigen. Sie sind für ihre Patienten die wichtigsten Unterstützer und Lotsen durch die Phasen von Diagnose, Therapie und Nachsorge einer Krebserkrankung. Das Buch behandelt unter anderem folgende Themen:

• Genetische Grundlagen einer Tumorerkrankung • Risikofaktoren für Krebs und Vermeidungsmöglichkeiten • Die wichtigsten Diagnoseverfahren • Behandlung der häufigsten Nebenwirkungen von Tumortherapien wie Infektionen, Übelkeit

und Schmerzen • Onkologische Notfälle wie Atemnot, Blutungen, Sepsis und Tumorlysesyndrom • Extra Kapitel zum knochenmarktransplantierten Patienten • Schmerztherapie und Wundmanagement sowie Lösungsansätze zur Adärenzproblematik • Palliative Versorgungsstrukturen • Gesprächsstrategien im Umgang mit Tumorpatienten und ihren Angehörigen


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