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Nicos Poulantzas Staatstheorie - VSA: Verlag...Nicos Poulantzas (1936-1979) lehrte Soziologie in...

Date post: 24-Oct-2020
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Nicos Poulantzas Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus Mit einer Einleitung von Alex Demirovic ´ , Joachim Hirsch und Bob Jessop Staatstheorie VSA:
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  • Nicos Poulantzas

    Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus

    Mit einer Einleitung von Alex Demirović , Joachim Hirsch und Bob Jessop

    Staatstheorie

    VSA

    :

  • Nicos PoulantzasStaatstheorie

  • Nicos Poulantzas (1936-1979) lehrte Soziologie in Paris, vorübergehendauch an der Universität Frankfurt a.M. Sein Text wurde aus dem Fran-zösischen übersetzt von Horst Arenz, Theo Brackmann, Helga Fried-hoff und Rolf Löper.

    Alex Demirovic ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universi-tät Frankfurt, z. Zt. Vertretungsprofessur an der Bergischen Universi-tät/Gesamthochschule Wuppertal

    Joachim Hirsch ist Professor für Politikwissenschaft an der Johann-Wolf-gang-Goethe-Universität in Frankfurt a.M.

    Bob Jessop ist Professor für Soziologie an der Universität Lancaster.

  • Nicos Poulantzas

    StaatstheoriePolitischer Überbau, Ideologie,Autoritärer Etatismus

    Mit einer Einleitung von Alex Demirovic,Joachim Hirsch und Bob Jessop

    VSA-Verlag Hamburg

  • www.vsa-verlag.de

    © der deutschsprachigen Ausgabe:VSA-Verlag 2002 (Erstausgabe 1978), St. Georgs Kirchhof 6, 20099 Hamburg© Presses Universitaires de France, Paris 1977Autorenfoto: Michèle BancilhonAlle Rechte vorbehaltenDruck- und Buchbindearbeiten: Idee, Satz & Druck, HamburgISBN 3-87975-857-3

  • Inhalt

    Einleitung der Herausgeber ......................................................................... 7

    Vorbemerkung ............................................................................................. 37

    Einführung ................................................................................................... 39

    1. Das Problem Staatstheorie .................................................................... 392. Die ideologischen Apparate:Staat = Repression + Ideologie? ............................................................... 573. Machtverhältnisse und Machtkämpfe .................................................. 64

    Teil 1Materialität und Institutionen des Staates ............................................... 76

    1. Die geistige und manuelle Arbeit: das Wissen und die Macht .......... 812. Die Individualisierung .......................................................................... 903. Das Gesetz ............................................................................................1044. Die Nation ............................................................................................123

    Teil 2Die politischen Kämpfe: Der Staat als Verdichtungeines Kräfteverhältnisses ........................................................................154

    1. Der Staat und die herrschenden Klassen ............................................1572. Der Staat und die Volkskämpfe ...........................................................1713. Eine Theorie der Macht? .....................................................................1764. Das Staatspersonal ................................................................................185

    Teil 3Staat und Ökonomie heute .......................................................................192

    1. Die ökonomischen Funktionen des Staates .......................................1942. Ökonomie und Politik .........................................................................2103. Die Grenzen des Ungeheuers .............................................................2214. Vorläufige Schlussfolgerungen ...........................................................226

  • Teil 4Der Verfall der Demokratie: Autoritärer Etatismus ...............................231

    1. Autoritärer Etatismus und Totalitarismus .........................................2312. Die unaufhaltsame Ausdehnung der Bürokratie ..............................2463. Die herrschende Massenpartei ............................................................2624. Die Schwächung des Staates ...............................................................271

    Der Weg zu einem demokratischen Sozialismus ...................................278

  • Einleitung der Herausgeber

    1 Vgl. Nicos Poulantzas: Les théoriciens doivent retourner sur terre, in: Les nouvelleslittéraires, 26, Juni 1978.

    Staatstheorie, Nicos Poulantzas’ letztes großes Werk, ist 1978 zuerst infranzösischer Sprache erschienen. Der Originaltitel lautet L’État, Le Pou-voir, Le Socialisme – Der Staat, die Macht, der Sozialismus. Das Buch istein wichtiger und origineller Beitrag zur Theorie des kapitalistischen Typsdes Staates. Er will hier, systematischen Ansprüchen gerecht werdend,vervollständigen, was nach Poulantzas’ eigener Beurteilung bei Marx undEngels und in der materialistischen Tradition trotz aller Bemühungen nurin Ansätzen entwickelt worden war.1 Ob dieser Anspruch gerechtfertigtist oder wie man seine Gültigkeit überprüfen könnte, braucht uns hiernicht zu interessieren. Auf jeden Fall kann die Staatstheorie als mehr oderweniger erfolgreicher Kulminationspunkt von Poulantzas’ Bemühungengelten, eine Theorie des kapitalistischen Staatstyps zu entwickeln, die aufeiner sorgfältigen Lektüre der marxistischen Klassiker beruhten, und imLichte empirischer Entwicklungen und theoretischer Debatten der 1960erund 1970er Jahre versuchten dazu beizutragen, Probleme und Fallen zuvermeiden oder aufzulösen, mit denen andere marxistische und nicht-marxistische Ansätze konfrontiert waren. Wir wollen in dieser Einlei-tung einige Anmerkungen zur Bedeutung der Staatstheorie innerhalb vonPoulantzas’ theoretischer Entwicklung sowie für die marxistische Theo-rie und die Analyse gegenwärtiger kapitalistischer Staaten machen. AuchHinweise darauf möchten wir geben, inwieweit die jüngeren Entwick-lungen der kapitalistischen Ökonomie und ihrer Staatsform Anlass dazugeben, Poulantzas’ Studie zu modifizieren. Doch soll dies nicht bedeu-ten, grundlegende theoretische Einsichten und Begriffe Poulantzas’ auf-zugeben. Im Gegenteil glauben wir, dass zentrale Theoreme von Pou-lantzas gerade heute anregend für die Analyse der Politik und staatlichenEntwicklung sind.

    Staatstheorie ist ein recht komplexer Text, der – in Poulantzas eigenenWorten – Gefahr läuft, zu viel zu versuchen und zu wenig zu bieten.Obwohl er in der Vorbemerkung behauptet, der Versuchung widerstan-den zu haben, zu viele Themenbereiche in einem zu weiten theoretischen

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    Feld abzudecken, handelt es sich dennoch um ein sehr ambitioniertes Werk.Es reicht von Aussagen zum Staat im Allgemeinen über eine Theorie deskapitalistischen Staatstyps bis zu einer konkreteren Theorie des Staatesin der Phase des Kapitalismus der 1970er Jahre. Dies alles wird sorgfältigmit Überlegungen zur kapitalistischen Produktionsweise, mit einer Theo-rie der kapitalistischen gesellschaftlichen Arbeitsteilung und einer Theo-rie der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Kapitalismus verknüpft.

    Poulantzas’ Theorie des Staates ist also weit mehr als eine politischeTheorie oder eine Analyse politischer Institutionen und Politikfelder. Sieist im weiteren Kontext einer von der Kritik der politischen Ökonomiemotivierten materialistischen Theorie der Gesellschaft als eines komple-xen Ganzen, als Totalität zu sehen, zu der sie mit einer Theorie des Staa-tes im Besonderen beitragen will. Staat wird auf der Grundlage der Pro-duktionsverhältnisse neben dem Bereich der Ideologie als autonome Sphä-re der Praxis in einem integralen Ganzen, der kapitalistischen Produkti-onsweise, begriffen. Dieses Ganze lässt sich in seiner Gesamtheit und inseiner Reproduktion und Regulation nicht allein durch ökonomischeAnalysen bestimmen, noch ist der Staat, seine Organisation, seine Funk-tionen und die Praktiken staatlicher Akteure, auf ökononomische Ursa-chen zurückführbar. Die Theorie muss nicht nur Abhängigkeiten des Staa-tes von den Produktionsverhältnissen und seine Aufgaben bei der Siche-rung der Verwertungsbedingungen des Kapitals und der Akkumulationerklären. Ganz im Sinne des von Marx formulierten Anspruchs,2 wonachdie materialistische Methode nicht den irdischen Kern der religiösen Ne-belbildungen, sondern aus den wirklichen Lebensverhältnissen ihre ver-himmelten Formen zu entwickeln habe, bemüht sich Poulantzas darum,die Autonomie des Staates bei der Verfolgung langfristiger gesellschaftli-cher Ziele, der Durchsetzung bestimmter Entwicklungspfade, der Her-stellung von sozialen Allianzen und der Beteiligung verschiedener gesell-schaftlicher Kräfte an der politischen Herrschaft zu bestimmen. Das Fas-zinierende an Poulantzas’ Staatstheorie ist, dass er mehr noch als in sei-nen früheren Büchern bei jedem Schritt der Entwicklung seines ArgumentsKlassenmacht und Klassenkämpfe, also die Praxis der gesellschaftlichenAkteure, ins Zentrum der Analyse der gesellschaftlichen Produktions-verhältnisse und des Staates rückt.

    Auf dieser Grundlage entwickelt er eine Reihe von stärker »angewand-ten« theoretisch-strategischen Analysen, in denen er die Möglichkeiten

    2 Vgl. Karl Marx: Das Kapital I, in: MEW, Bd. 23, 393.

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    eines demokratischen Übergangs zu einem demokratischen Sozialismusin den ökonomischen, politischen und ideologischen Konjunkturen deszeitgenössischen Kapitalismus thematisiert. Schließlich finden sich in demBuch zahlreiche wichtige theoretische Anmerkungen, die von der Kritikalternativer theoretischer Positionen über Kommentare zu den Ursachendes Totalitarismus und dem Charakter des Staates in sozialistischen Ge-sellschaften bis hin zu der Bedeutung der Geschlechterverhältnisse alsBasis politischer Mobilisierung in der politischen Situation Frankreichsin den 1970er Jahren reichen.

    Poulantzas bemerkte aber ebenso, dass die Staatstheorie Gefahr lief,zu wenig zu bieten. So finden sich in dem Buch keine synchronen kom-parativen Analysen des kapitalistischen Staates noch solche der besonde-ren Phasen seiner Entwicklung. Ebenso wenig untersuchte er die unmit-telbare politische Konjunktur in einem einzelnen Staat – nicht einmal inden beiden Ländern, die ihm und seinen politischen Aktivitäten am näch-sten lagen, seinem griechischen Mutterland und Frankreich, seiner Wahl-heimat. Dennoch wäre Poulantzas kaum zu den Erkenntnissen der Staats-theorie gelangt, hätte er sich lediglich auf die Lektüre der marxistischenKlassiker und deren Kommentierung beschränkt. Statt dessen wissen wiraus seinem literarischen Nachlass sowie aus seinen eigenen Anmerkun-gen, dass sein Werk umfangreiche Studien zu einer Vielzahl von Proble-men und Themen, die für den Kapitalismus und den kapitalistischen Staats-typ relevant sind, zur Grundlage hatte. Dies wird auch deutlich, wennman die intensive Arbeit bedenkt, die der Staatstheorie vorangegangen istund in wenigen Jahren zur Veröffentlichung zahlreicher Bücher geführthat: sein erstes, noch sehr an Althusser orientiertes staatstheoretischesBuch Politische Macht und gesellschaftliche Klassen (1968, dt. 1974), sei-ne theoretisch informierte historische Analyse Faschismus und Diktatur(1970, dt. 1973), Klassen im Kapitalismus – heute (1974, dt. 1975), DieKrise der Diktaturen (1975, dt. 1977), die Poulantzas’ Überlegungen imFaschismusbuch zu Formen des bürgerlichen Ausnahmestaats mit aktu-ellen Fragestellungen fortsetzten. Staatstheorie, so wissen wir aber auch,hätte nicht geschrieben werden können ohne sein politisches Engagementin politischen Kämpfen in Griechenland und Frankreich und ohne diedamit verbundenen Erfahrungen.

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    Leben und Werk von Nicos Poulantzas

    Nicos Poulantzas, 1936 in Athen geboren, ging Anfang der 1960er Jahrenach Frankreich, wo er bis zu seinem frühen Freitod Ende 1979 lehrteund forschte. Er war ein innovativer Denker, der immer wieder mit neu-en Erkenntnissen über den Staat und Verschiebungen seiner politischenHaltung überraschte. An zentralen Einsichten der marxistischen Theoriefesthaltend, versuchte er doch, sie im Lichte grundlegender Transforma-tionen des kapitalistischen Produktionsweise, aktueller Konjunkturen desKlassenkampfes und neuer theoretischer Einsichten weiter zu entwickeln.Dies spiegelt sich in seiner intellektuellen und politischen Biographiewährend der viel zu kurzen zwanzig Jahre seines theoretischen und poli-tischen Engagements wider.

    Seine intellektuelle Laufbahn begann mit Arbeiten zur marxistischenRechtsphilosophie und zur Rechtstheorie.3 In dieser Zeit Mitte der 1960erJahre war er noch stark von marxistischen Theoretikern wie Jean PaulSartre und Lucien Goldmann beinflusst. Ganz offensichtlich stark ge-prägt von den Arbeiten Louis Althussers,4 wandte er sich ab Mitte der1960er Jahre der politischen Theorie zu und begann eine Sicht des kapita-listischen Staatstyps zu entwickeln. Die von ihm 1968 vorgelegte Theoriedes Staates war sehr streng antiempiristisch und arbeitete mit AlthussersBegriff eines strukturalen Ganzen, in dem das Ökonomische, das Politi-sche und das Ideologische spezifische Ebenen darstellen. Daraus ergabensich zunächst auch noch erhebliche Vorbehalte gegenüber Gramsci, diesich gegen das richteten, was Poulantzas – gleichfalls angelehnt an Althu-sser – Historizismus nannte. Damit ist gemeint, dass der Staat so aufge-fasst wird, als repräsentiere er als Teil der Gesellschaft die Totalität derGesellschaft und als fasse er als das Allgemeinen der Gesellschaft derenEntwicklung zusammen. Auf diese Weise erscheint die Gesellschaft alsgespaltene Einheit: als Einheit, weil es innerhalb des Staates keine Wider-sprüche gibt, als gespalten, weil der Staat zur Gesellschaft gehört undüber ihr steht. Gerade die relative Autonomie der verschiedenen gesell-

    3 Poulantzas legte zwei rechtsphilosophische Arbeiten über Fragen des Naturrechtsvor, vor allem seine 1965 veröffentlichte These: Nature des Choses et Droit. Essai sur ladialectique du fait et de la valeur. Vgl. auch seinen Aufsatz: Aus Anlass der marxistischenRechtstheorie, in: Norbert Reich (Hrsg.), Marxistische und sozialistische Rechtstheorie(Frankfurt am Main 1972).

    4 Vgl. Louis Althusser: Für Marx, Frankfurt am Main 1968; Louis Althusser/EtienneBalibar: Das Kapital lesen, Reinbek bei Hamburg 1972.

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    schaftlichen Bereiche, die Besonderheit ihrer Widersprüche, die jeweili-gen Formen der sozialen Auseinandersetzungen, ihres unterschiedlichenzeitlichen Rhythmus und ihrer Ungleichzeitigkeiten sind nicht erkenn-bar. Trotz dieser Einwände stützt sich Poulantzas nachdrücklich aufGramsci, insbesondere auf seinen Begriff der Hegemonie. Dieser Begriffgalt ihm als wichtig, weil er die politischen Praxisformen der Bourgeoisieund den Machtblock zu analysieren erlaubt, in dem mehrere politischherrschende Klassen oder Klassenfraktionen zu einer Einheit finden.Staatsapparate, so konnte er anknüpfend an Gramsci argumentieren, ver-mitteln und organisieren die Hegemonie des Blocks an der Macht, gleich-zeitig desorganisieren sie die subalternen Klassen und fassen sie zu einemVolk-als-Nation zusammen. Offensichtlich unter dem Eindruck von Ar-gumenten Gramscis und durch den Mai ‘68 ausgelösten Diskussionen löstesich Poulantzas zunehmend von Aspekten der Konzeption Althussersund befasste sich verstärkt mit strategisch wichtigen theoretischen Fra-gen – mit dem Charakter des Faschismus und der Militärdiktatur, denVeränderungen des Imperialismus und der Klassenverhältnisse sowie mitder Rolle von Parteien und sozialen Bewegungen im modernen Kapita-lismus. In seinen späteren Studien behandelte er zunehmend Probleme,die die offensichtliche Krise des Marxismus als Gesellschaftstheorie undals Richtschnur für die Praxis mit sich brachte. Insbesondere aufgrund derErfahrungen der portugiesischen Revolution und seines Engagements inGriechenland nach dem Zerfall der Militärdiktatur setzte er sich intensivermit Fragen des demokratischen Sozialismus auseinander.

    Seine staatstheoretischen Überlegungen in den 1960er Jahren wareneng mit strategischen Überlegungen verbunden, in deren Zentrum dieBedeutung einer Partei der Arbeiterklasse und der Volksklassen stand.Der Staat organisiert in der Gesamtheit seiner Staatsapparate die verschie-denen herrschenden Klassen und Klassenfraktionen als Einheit einesMachtblocks; demgegenüber werden die beherrschten Klassen in eine Viel-zahl von individualisierten Staatsbürgern pulverisiert und in der Staats-gemeinschaft des Volkes-als-Nation zusammengefasst. Damit die be-herrschten Klassen als solche ihre Interessen formulieren und organisie-ren konnten, bedurften sie für die politischen Kämpfe einer Partei, dieauch in der Lage sein würde, die Trennung von Ökonomie und Politik zuüberwinden. Diese Parteiorientierung findet sich bei Poulantzas auchwährend der 1970er Jahre noch in seiner aktiven Unterstützung der eu-rokommunistischen Partei in Griechenland. Doch suchte er nach Kon-zepten, die die Partei mit anderen Formen der popularen Befreiung wieRäte und soziale Bewegungen verknüpfen konnte. In diesem Sinn sym-

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    pathisierte er mit einer radikaldemokratischen Politik, die auf partei- undklassenübergreifende Allianzen zielte. Diese Orientierung wird in derStaatstheorie besonders deutlich. Die Motive für diese politische wie theo-retische Entwicklung eines politisch so engagierten, theoretisch interes-sierten und offenen Intellektuellen wie Poulantzas sind zahlreich. Es istdas Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen und damit verbundenneuer Themen und Probleme; es sind die Fragen einer neuen Strategie derLinken, die sich mit dem Eurokommunismus und der Linksunion inFrankreich stellten; es ist der Zerfall der Militärdiktaturen in Griechen-land, Spanien und Portugal und die Probleme eines demokratischen Über-gangs – und insbesondere die Erfahrung mit der friedlichen portugiesi-schen Revolution mit ihrer Aufbruchstimmung, den Massenbewegungen,den Landenteignungen, der Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten; dierepressive, autoritär-staatliche Entwicklung in Nordwesteuropa, die ihnschon Ende der 1960er Jahre dazu veranlasst hatte, zu der seinerzeit vieldiskutierten Frage, ob ein neuer Faschismus zu erwarten sei, mit einerStudie beizutragen – mit einer differenzierten negativen Antwort; schließ-lich auch seine Auseinandersetzung mit den autoritären Traditionen desStaatssozialismus, dessen aufkommender Krise und der Wiederentdeckungder Totalitarismustheorie durch zahlreiche französische Intellektuelle.Poulantzas bemühte sich, diese Vorgänge als Hinweise auf Veränderun-gen des Imperialismus zu begreifen, die die nationalen Staaten und dieKlassenkämpfe in Europa beeinflussten.

    Poulantzas’ Arbeiten wurden in den 1970er Jahren vielfach rezipiertund hatten eine erkennbare Wirkung in der seinerzeit geführten staats-theoretischen Diskussion.5 Einflussreich war sicherlich sein Plädoyerdafür, den kapitalistischen Staat, Politik und Demokratie als ein eigenestheoretisches Arbeitsgebiet der materialistischen Gesellschaftstheorie zubegreifen und damit die Staatsanalyse aus einer ökonomistischen Eng-

    5 Um einige Beispiele zu geben: Joachim Hirsch: Bemerkungen zum theoretischenAnsatz einer Analyse des bürgerlichen Staates, in: Gesellschaft. Beiträge zur MarxschenTheorie 8/9, Frankfurt am Main 1976; Ernesto Laclau: Politik und Ideologie im Marxis-mus, Hamburg 1981; Christine Buci-Glucksmann/Göran Therborn: Der sozialdemo-kratische Staat. Die »Keynesianisierung« der Gesellschaft, Hamburg 1982; Josef Esser:Gewerkschaften in der Krise, Frankfurt am Main 1982; vgl. auch die Beiträge in Christi-ne Buci-Glucksmann (Hrsg.): La gauche, le pouvoir, le socialisme. Hommage à NicosPoulantzas, Paris 1983 und die monographischen Darstellungen von Bob Jessop: NicosPoulantzas. Marxist theory and political strategy, London 1985 und Alex Demirovic:Nicos Poulantzas. Eine kritische Auseinandersetzung, Berlin 1987.

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    führung zu befreien. Gegen einen ideologiekritischen Funktionalismus,der sich mit der letztlich stereotypen Einsicht begnügt, dass der Staat dieHerrschaft der Bourgeoisie verschleiert, legitimiert, erhält, schützt, gehtes Poulantzas nicht um das »Dass«, sondern um das »Wie« dieser Herr-schaft. Damit konnte er zu einer Verschiebung der Perspektive beitragen.Nicht mehr Ableitung des Staates in Rechtsbegriffen aus der Warenform,sondern Analyse der Kämpfe, der Herrschaftspraktiken und des Wider-stands steht im Zentrum seiner Theorie.

    Gleichwohl flaute der Einfluss seiner Arbeiten alsbald ab. Seine Bü-cher stellen die Leser vor erhebliche Schwierigkeiten, sie sind vorausset-zungsvoll und vor allem irritierend, weil sie auch den linken Alltagsver-stand hinsichtlich dessen Verständnis von Staat und Herrschaft vielfachherausfordern. Im angelsächsischen Bereich wirkte Poulantzas deswegenauch am ehesten mit seinen klar zugeschnittenen und einfach gehaltenenBeiträgen zur Kontroverse mit Ralph Miliband.6 Kurioserweise war auchseine Zurechnung zum Strukturalismus und Poststrukturalismus der wei-teren Rezeption nicht förderlich, weil diese intellektuelle Tradition beivielen in der Linken auf Vorbehalte stieß. Gleichzeitig konzentrierte sichdie Aufmerksamkeit in der Rezeption poststrukturalistischer Theorienverstärkt auf die Ansätze von Foucault und Deleuze, Derrida und Kriste-va, Autorinnen und Autoren, die ‘68 teilweise zwar noch eng mit dermarxistischen Diskussion verbunden waren, sich nun jedoch zunehmenddavon distanzierten. Hinzu kam, dass die staatstheoretische Diskussionin den späten 1960er und frühen 1970er Jahren einen günstigen Kontextweit über eine sozialrevolutionäre oder radikaldemokratische sozialisti-sche Linke hinaus fand, weil diese Zeit in breiten Kreisen vom Wunschund der Hoffnung auf Reform und Demokratie erfüllt war. Doch so, wiedie Diskussionen über politische Planung immer skeptischer und Thesenüber Unregierbarkeit immer dominanter wurden, verlor auch die staats-theoretische Diskussion insgesamt an Gewicht. Dies gilt auch für die kri-tischen, materialistischen Ansätze. Mit der Entstehung und der Praxis derneuen sozialen Bewegungen im Laufe der 1970er Jahre und vor allem mitden Diskussionen über Ökologie verringerte sich nicht nur das Interessean marxistischen Analysen, abgelehnt wurde dessen vermeintlicher Pro-duktivismus und naturgesetzmäßiger Fortschrittsglaube ebenso wie kri-tisiert wurde, dass im Zentrum der Analyse Klassen und Klassenkämpfe

    6 Vgl. Nicos Poulantzas, Ralph Miliband: Kontroversen über den kapitalistischen Staat,Berlin 1976.

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    standen. Auf diese Weise, so schien es, konnte die marxistische Theoriedem Selbstverständnis der Protestakteure nicht entsprechen, denn Arbei-ter und Gewerkschaften hatten ja selbst ein Interesse an der Naturzerstö-rung oder am Bau von Atomkraftwerken – und die sozialen Protestbe-wegungen kamen, in klassentheoretischen Begriffen gesprochen, eher ausden Schichten der Mittelklasse. Der Tod von Poulantzas fiel deswegen, solässt sich vielleicht sagen, gerade in eine Phase, in der sich aufgrund struk-tureller Veränderungen des fordistischen Kapitalismus auch die Koordi-naten in der Art der Problematisierung und Auseinandersetzung mit po-litischen Prozessen und staatlichen Funktionen verschoben, so dass seinetheoretische Arbeit ungerechtfertigterweise »moralisch« entwertet wur-de. Zu diesem Zeitpunkt, wo er so dringend mit weiteren Arbeiten auchzur paradigmatischen Fortentwicklung kritisch-materialistischer Analy-sen hätte beitragen können und müssen, fehlte er.

    Der zentrale Beitrag der Staatstheorie

    Seine eigenen Arbeiten und die Auseinandersetzungen mit anderen Theo-rien ließen Poulantzas zu seiner zentralen staatstheoretischen Einsichtkommen, dass der Staat ein gesellschaftliches Verhältnis ist. Mit diesemtheoretischen Vorschlag hoffte Poulantzas, den Anspruch einzulösen, dervon der marxistischen Diskussion seit Ende der 1960er Jahre erhobenwurde, nämlich das Defizit der Marxschen Theorie zu beheben und eineTheorie des kapitalistischen Staates und damit des politischen Handelnszu entwickeln. Auf den ersten Blick wirkt sein Theorem beinahe selbst-evident, weil es sich analog zu Überlegung von Marx begreifen lässt, dernachweist, dass das Kapital in seinem Gesamtprozess wie in seinen spezi-fischen Formen ein gesellschaftliches Verhältnis ist. Doch hier wie dortkommt es darauf an, was als das Besondere dieses gesellschaftlichen Ver-hältnisses zu gelten hat. Mit seinem Theorem wendet sich Poulantzas ge-gen zwei in der marxistischen Diskussion verbreitete Vorstellungen, dasinstrumentalistische und das juridische Modell bürgerlicher Herrschaft.Der kapitalistische Staat ist kein Instrument in den Händen einer herr-schenden Klasse oder Kapitalfraktion – wie das in der Tradition der Drit-ten Internationale von vielen kommunistischen Parteien vertreten wur-de. In diesem Fall stehen die Beherrschten als große, einheitliche Massedem Staat als Festung der Kapitalisten als einer Gruppe weniger Macht-haber mit einheitlichem Willen gegenüber. Die Widersprüche innerhalbder herrschenden Klassen und zwischen Kapitalfraktionen wird verkannt;

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    auch die unterschiedlichen Interessenlagen innerhalb der Volksklassengeraten aus dem Blick. Der Staat ist auch nicht das Subjekt der Gesell-schaft, das als das rechtlich Allgemeine und Universelle der Gesellschaftdie Vielfalt der Einzel- und Privatinteressen zu einem einheitlichen Wil-len zusammenfasst und die Gesellschaft als Ganze repräsentiert, so alsstünde er außerhalb der Gesellschaft, als würde er von außen lediglichden rechtlichen Rahmen, die Allgemeinheit des Gesetzes und die Sicher-heit, zur Verfügung stellen und garantieren, der für alle gleichermaßenverbindlich ist. In diesem Fall wären die Beherrschten illusionär in Rechts-begriffen befangen, die sich im Wesentlichen aus der Zirkulationssphäreableiteten. Der Staat selbst würde das Interesse des Kapitals nur insofernbegünstigen, als er die für dessen Entfaltung günstigen rechtlichen Rah-menbedingungen bereit stellt. Es würde allein die Ideologiekritik des Staa-tes als Rechtsverhältnis ausreichen, während die materiellen, die ökono-mischen, politischen und ideologischen Herrschaftspraktiken und Tätig-keiten des Staates nicht in den Blick genommen werden. Poulantzas be-greift den Staat als eine gesellschaftliche Sphäre, die autonom gegenüberden kapitalistischen Produktionsverhältnissen ist und sich in einem ihmspezifischen Modus reproduziert. Der Staat stellt ein Terrain des sozialenKampfes dar und organisiert auf diese Weise die herrschenden Klassenund Klassenfraktionen als Machtblock. Gleichzeitig ist er gerade deswe-gen nicht einheitlich, denn er bietet ja den Raum für unterschiedliche undgegensätzliche Interessenlagen, die in den je verschiedenen Staatsappara-ten – Militär, Polizei, Justiz, Legislative, Regierungsspitze, Ministerien,Parteien, Schulen, Kirche – organisiert werden. In allen diesen Apparatenbilden sich Fraktionen mit spezifischen Machtpositionen, im Verhältnisder Apparate zueinander gibt es mächtigere und weniger mächtige. Allediese Apparate können in unterschiedlicher Weise Konzessionen undKompromisse gegenüber den Beherrschten machen, die sich außerhalbbefinden. Die Herrschaft der herrschenden Klassen findet sich demnachnirgendwo anders als in der Gestalt dieser Staatsapparate organisiert; Herr-schaft ist ein Prozess, der sich nur in ständigen Reibungen und Konflik-ten innerhalb der Herrschenden, aber unter der Hegemonie einer ihrerGruppen vollzieht. Deswegen formuliert Poulantzas noch etwas genau-er: der Staat ist die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwi-schen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Innern des Staates inspezifischer Form ausdrückt.7 Die Besonderheit des gesellschaftlichen

    7 Staatstheorie, 159.

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    Verhältnisses »kapitalistischer Staat« ist demnach, dass er das Kräftever-hältnis der sozialen Klassen und -fraktionen in der Form von Apparatenverdichtet und damit den bürgerlichen Block an der Macht organisiert.Der Staat ist diese Praxis der Verdichtung.

    Erst in dieser Verdichtung gibt er dem Kräfteverhältnis eine Form, inder die Interessenkonflikte gleichzeitig entstehen, ausgetragen und einekompromisshafte Lösung finden können; er stellt ein Feld strategischerSelektivität dar, auf dem konkurrierende Klassen und Klassenfraktionenmit verschiedenen Strategien politisch um die Erlangung der Hegemonieim Machtblock und damit um die spezifische Form der Konstitution derVolksklassen und die Art und Weise der Herrschaft über sie kämpfen. Inund durch das Zusammenspiel der institutionellen Formen des Staatesmit den je unterschiedlichen politischen Kräften wird Staatsmacht repro-duziert.

    In diesem Zusammenhang muss auf einen weiteren wichtigen Gesichts-punkt in den Überlegungen Poulantzas’ hingewiesen werden, nämlich aufdie Art und Weise, wie Poulantzas das Kapital als gesellschaftliches Ver-hältnis zu begreifen vorschlägt. An sich handelt es sich um eine in dermarxistischen Diskussion geläufige Vorstellung. Danach werden in denProduktionsverhältnissen die antagonistischen Klassen bestimmt. Sie stel-len die sozialen Kräfte dar, die in einem zweiten Schritt auch um die poli-tische Macht, die kollektiven Herrschaftsmittel und um die Definitionund Festlegung des staatlichen Allgemeinwillens kämpfen. Staat, Herr-schaft und politischer Kampf treten nach diesem Modell allerdings erstnachträglich zu den Produktionsverhältnissen und zu den schon konsti-tuierten Klassen hinzu. Poulantzas schlägt demgegenüber vor, sozialeKlassen unter dem Blickwinkel ihrer erweiterten Reproduktion zu ana-lysieren. Dies bedeutet, dass sie sich als Klassen nur konstituieren in ei-ner Gesamtheit von ökonomischen, politischen und ideologischen Prak-tiken und Kämpfen. So ist der Staat und die Teilung von geistiger undkörperlicher Arbeit ebenso wie der Kapitalkreislauf und der Akkumula-tionsprozess schon konstitutiv bei der Herausbildung der Klassen undihrer Reproduktion präsent. Die Klassen gibt es nicht vor dem Staat undvor dem Klassenkampf. Tatsächlich stellte Poulantzas die gesellschaftli-chen Produktionsverhältnisse in diesem erweiterten oder integralen Sin-ne ins Zentrum seiner Analyse des Klassenkampfes. Aus dem gleichenGrund analysierte er die gesellschaftliche Reproduktion im Sinne einerReproduktion miteinander verknüpfter ökonomischer, politischer undideologischer Bedingungen, die auf den Akkumulationsprozess einwir-ken.

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    In diesem Sinne untersuchte er in Klassen im Kapitalismus – heute undin Krise der Diktaturen die Veränderung der Bourgeoisie. Diese ist keinein der Geschichte des Kapitalismus mit sich selbst identische Klasse, ent-sprechend den Konjunkturen der Kämpfe ändert sich auch ihre Gestalt.Die Grundlage dafür ist eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse.

    Sehr allgemein sei hier nur darauf hingewiesen, dass Poulantzas zwi-schen Eigentum und Besitz an den Produktionsmitteln unterscheidet. Mitdem Monopolkapitalismus, so seine Ansicht, treten diese beiden Elementeauseinander: konzentriertes ökonomisches Eigentum kann sehr verschie-dene Formen des Besitzes umfassen und sich Machtbefugnisse aneignen.Während in dieser Phase die unterworfenen Produktionseinheiten abernoch intakt bleiben und insofern auch noch Widerstand möglich ist, seidie gegenwärtige Phase des Monopolkapitalismus durch eine Auflösungdieser Produktionseinheiten bestimmt, es komme zu einer Resorption derTrennung von Eigentum und Besitz.8 Aufgrund solcher Analysen kannPoulantzas vier Kategorien der Bourgeoisie unterscheiden: nationale,imperialistische, Kompradoren- und schließlich interne Bourgeoisie, diesich noch aufgrund ihrer spezifischen Funktion innerhalb des Kapital-kreislaufs, also der Produktion, des Handels und der Finanzierung frak-tionieren. Je nach Stadium und Konjunktur kann sich das Kräfteverhält-nis zwischen diesen Fraktionen erheblich verschieben.

    Indem er den Staat als gesellschaftliches Verhältnis begriff, wandte sichPoulantzas gegen Auffassungen, die im Staat eine eigenständige, sich selbstbegründende Einheit sehen. Der kapitalistische Staat ist konstitutiv mitder Akkumulation von Kapital, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwi-schen Klassen und den Kämpfen zwischen ihnen verknüpft. Solche Über-legungen hätten es erforderlich gemacht, die werttheoretischen Grund-annahmen und die als Grundlage seiner Überlegungen in Anspruch ge-nommenen Gesetzmäßigkeiten der Akkumulation und des tendenziellenFalls der Profitrate genauer zu bestimmen. An diesem Punkt geht Pou-lantzas jedoch nicht über Marx’ Ausführungen hinaus.9 Rückblickendwird man sagen müssen, dass Poulantzas sich nicht im ausreichenden Maße

    8 Klassen im Kapitalismus – heute, West-Berlin 1975, 106ff.; Krise der Diktaturen,Frankfurt am Main 1977, 37ff.

    9 Erst zu einem späteren Zeitpunkt und zunächst eher unabhängig von der staatstheo-retischen Diskussion und Poulantzas’ Arbeiten wurden in der Regulationstheorie dieProbleme der Werttheorie und der Akkumulation in einer Weise thematisiert, dass Ant-worten zu erhoffen waren. Vgl. dazu Alain Lipietz: Kette, Schuß und die Regulation, in:ders., Nach dem Ende des »Goldenen Zeitalters«, Hamburg 1998.

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    mit der Frage der gesellschaftlichen Formbestimmung des Politischenbefasste – wie sie auch zentraler Gegenstand der (west-)deutschen »Staats-ableitungsdebatte« war. Es lässt sich hier Poulantzas’ Orientierung an derDenkweise des strukturalistischen Marxismus noch gut erkennen, der dieirreduzible Autonomie des Ökonomischen, Politischen und Ideologischensetzt, ohne nach deren Konstitution zu fragen. Bei Poulantzas unterbleibteine genauere Begründung der für die bürgerlich-kapitalistische Gesell-schaftsformation charakteristischen Trennung von »Politik« und »Öko-nomie« und der »Besonderung« des Staates gegenüber den gesellschaftli-chen Klassen. Dazu wäre eine intensivere Auseinandersetzung mit denWidersprüchen der Wertvergesellschaftung notwendig gewesen, die Marxim ersten Teil des Kapitals vornimmt und in der er den Begriff der gesell-schaftlichen Form als Bewegungsmodus eben dieser Widersprüche ent-wickelt. Zu schnell schiebt Poulantzas diese Problematik zur Seite, in-dem er der »Staatsableitung«, wiederum nicht ganz zu unrecht, vorwirft,in den Kategorien der Zirkulationssphäre befangen zu bleiben, den Staatnur in Rechtsbegriffen als Allgemeinheit denken und die Produktions-verhältnisse und damit auch den Klassenkampf gar nicht thematisierenzu können. So bleiben solche für Poulantzas’ Ansatz zentralen Begriffewie »eigene Materialität« oder »relative Autonomie« des Staates theore-tisch immer noch unterbestimmt und legen funktionalistische Missver-ständnisse nahe. Allerdings denkt Poulantzas zu elaboriert und zu re-flektiert, um sich dadurch wirklich in theoretische Sackgassen manövrie-ren zu lassen. Denn in der Staatstheorie taucht die Frage der Konstitutiondes Staates indirekt durchaus auf, wenn Poulantzas die These vertritt, dassdie gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen manueller und geistiger Ar-beit konstitutiv für die Bildung des Staates ist, dass der Staat in der Ge-samtheit seiner Apparate die geistige Arbeit in ihrer Trennung von derkörperlichen Arbeit verkörpert.10 Staat bildet sich demnach durch die spe-zifische politische Form des gesellschaftlichen Wissens, das er konzen-triert, verdichtet, ausarbeitet und organisiert, dem er den Charakter deslegitimen Wissens verleiht, das er beiträgt zu enteignen, mittels Patent-oder Autorenrechten eigentumsfähig zu machen, zu kontrollieren, zu ver-markten, zu tradieren und zu erzeugen. Offensichtlich verfolgt Poulant-zas mit solchen Überlegungen ähnliche Intentionen wie Foucault, der etwazur gleichen Zeit, in der Poulantzas an seinem Buch arbeitet, in seinenVorlesungen und Veröffentlichungen das Problem des Wissen-Macht-Dis-

    10 Staatstheorie, 83.

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    positivs und den Begriff der Gouvernementalität zu entfalten sucht.11

    Einige dieser Überlegungen Foucaults nahm er in der Staatstheorie posi-tiv auf, anderes kritisierte er schon frühzeitig sehr treffend. Interessantist, dass Poulantzas in diesem Zusammenhang noch einmal hinter die vonMarx im Kapital dargelegte Kritik der politischen Ökonomie zurückgeht.Damit greift er in gewisser Weise den ursprünglichen historisch-materia-listischen Ansatz von Marx wieder auf, den dieser in seiner Auseinander-setzung mit Hegel und den Linkshegelianern in der Deutschen Ideologieentwickelt und in dessen Kontext er seine für die Entwicklung einer ma-terialistischen Staatstheorie wichtigsten Äußerungen formuliert hat.

    Argumentationslinien der Staatstheorie

    Der Staat ist also keine Sache und kein Subjekt, sondern ein gesellschaft-liches Verhältnis zwischen Individuen und sozialen Gruppen, das durchihr Verhältnis zu den institutionellen Formen des Staates vermittelt istund durch das sie als Rechtssubjekte und Staatsbürger einer Nation kon-stituiert werden. Die Analyse des Staates hat also diese drei Gesichts-punkte zusammenzuführen: die spezifische Form der politischen Orga-nisation, die institutionell vermittelte Verdichtung gesellschaftlicher Ver-hältnisse und die sich verändernden politisch-ökonomisch-ideologischenKräfteverhältnisse. Obwohl Poulantzas diese Einsicht in seiner Arbeitüber den Faschismus gewonnen hatte und sie in seinen Reflexionen zuden Militärdiktaturen im Südeuropa weiterverfolgte, entwickelte er denGedanken, der Staat sei ein gesellschaftliches Verhältnis, am weitesten inder Staatstheorie. Einzelne Argumentationslinien des Buches wollen wirim Folgenden nachzeichnen.

    Nachdem er die schon dargestellten allgemeinen Aussagen über denStaat und seine konstitutive Rolle in den Arbeitsbeziehungen und dergesellschaftlichen Arbeitsteilung herausgearbeitet hat (Einleitung), fährter damit fort, einen differenzierten Ansatz zur Analyse der institutionel-len Materialität des kapitalistischen Staatstyps zu entwickeln, der diegrundlegenden Eigenschaften des Staates und ihre strategisch selektivenWirkungen auf die Formen und Möglichkeiten des Klassenkampfes be-

    11 Vgl. Michel Foucault: Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Ver-nunft, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gemeinschaften, Frankfurt am Main 1994; Michel Fou-cault: Die Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lem-ke, Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt am Main 2000.

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    tont (Teil 1). Jedes der vier Kapitel im ersten Hauptteil der Staatstheoriestellt einen deutlichen Fortschritt gegenüber seinen früheren Arbeiten dar.Zunächst entwickelt er die These, derzufolge alle Staatsapparate (also nichtnur die ideologischen, sondern auch die ökonomischen und repressivenStaatspparate) letztlich Ausdruck der gesellschaftlichen Teilung von gei-stiger und körperlicher Arbeit sind, und weist auf die Konsequenzen fürden politischen Kampf hin. Daran anschließend untersucht er die Bedeu-tung der in den modernen Staat eingeschriebenen Individualisierung fürdie Formen des politischen Kampfes und die Möglichkeiten des Totalita-rismus. Diese Thematik übernahm er von Gramsci, der sich in den Ge-fängnisheften mit der Frage befasst hatte, wie der auf individueller Staats-bürgerschaft und nationaler Souveränität beruhende moderne demokra-tische Staat darauf hinwirkt, dass die »normale« Politik die Form einesKampfes um die national-populare Hegemonie annimmt. Poulantzas ver-folgte diese Frage nun in einem weitaus umfassenderen Sinn, indem ersich von Überlegungen Michel Foucaults zu Normalisierung des Kör-pers und Disziplinartechnologien der Macht anregen ließ.

    In seiner kritischen Auseinandersetzung mit Foucaults Untersuchun-gen zu Macht und Disziplin finden sich überzeugende Argumente zurDialektik von Macht und Gesetz bei der Ausformung des strategischenTerrains des kapitalistischen Staatstyps und der Wege, wie Macht undGesetz den Klassenkampf formen und auch von ihm geformt sind. DieErörterung der strategischen Selektivität schließt mit einer anregendenAnalyse der modernen Nation, ihrer Rolle in der Staatenbildung, ihrerÜberdeterminiertheit durch Klassenkämpfe und der Bedeutung der raum-zeitlichen Matrizes, die das nationale Territorium ökonomisch und poli-tisch umschreiben, segmentieren und seinen ökonomischen und politi-schen Entwicklungsrhythmus bestimmen. Diese Analyse der institutio-nellen Materialität des Staates ist besonders bedeutsam, weil sie unter-schiedliche Eigenschaften der Staatsapparate und ihrer Rolle bei derGestaltung des Feldes des politischen Kampfes berührt und auf diese Weisedie Besonderheit dieses Terrains im Unterschied zum Feld des ökonomi-schen Klassenkampfes hervorhebt. Gleichzeitig weist Poulantzas auch aufdie enge Beziehung zwischen den strategischen Selektivitäten hin, die fürden Staat, und denen, die für das Kapitalverhältnis charakteristisch sind,und die sich aus der notwendigen Anwesenheit-Abwesenheit des Staatesin den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen ergeben – also aus derspezifischen Trennung, die für die kapitalistische Produktionsweise cha-rakteristisch ist, in der sich Ökonomie und Staat dadurch konstituieren,dass sie jeweils autonome Form annehmen, gleichzeitig aber gerade in

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    diesem Modus strukturaler Abwesenheit ständig füreinander vorhandensein müssen und aufeinander einwirken. Eine erste und paradoxe Formder Staatsintervention ist deswegen die besondere Trennung des Staatesvon den Produktionsverhältnissen. Diese Trennung selbst ist aber kei-neswegs statisch gegeben, sondern ist ihrerseits Gegenstand der sozialenKämpfe und muss als Form von Herrschaft, als materielle Verdichtungvon Kräfteverhältnissen, auf erweiterter Stufenleiter selbst reproduziertwerden.

    Dieses Thema ist in seinen Arbeiten wichtig. Doch begrenzt Poulant-zas selbst die Möglichkeiten seines Ansatzes durch eine gewisse theoreti-sche Vorentscheidung. Denn er hat immer den Nationalstaat vor Augen,dieser soll von vornherein das verdichtete Kräfteverhältnis verkörpern,das immer eines der Kräfte im nationalstaatlich umschriebenen Raum ist.Deutlich wird das an Poulantzas’ durchaus fruchtbaren Bemerkungen zurraum-zeitlichen Selektivität des Staates. Der Nationalstaat gilt Poulant-zas als typische Form des kapitalistischen Staates. Nationalität ist ein zen-trales Element der institutionellen Matrix des kapitalistischen Staates, derStaat spielt eine Schlüsselrolle bei der Konstitution von Nationalität undNationalismus. Damit wird eine raum-zeitliche Matrix erzeugt, in die sichterritoriale und sozio-kulturelle »nationale Identität« einschreiben. Ob-wohl Poulantzas die moderne Bedeutung von Raum und Zeit in der Or-ganisation der kapitalistischen Produktion begründet sieht, weist er zu-gleich darauf hin, dass der Staat diese Konzepte systematisiert und in daspolitische Feld hinein ausweitet. Er diskutiert die Rolle des Staates beider Schaffung von Grenzen, bei der Integration des nationalen Raumsinnerhalb dieser Grenzziehungen, bei der Vereinheitlichung des so kon-stituierten inneren Marktes sowie bei der Konstruktion und Homogeni-sierung des innerhalb dieses Territoriums lebenden »Volkes« – etwa mit-tels der Durchsetzung einer für alle verbindlichen Nationalsprache. Al-lerdings merkt er auch an, dass, wenn diese Grenzen einmal gezogen unddie inneren Märkte und Nationen konstituiert sind, sie zugleich die An-satz- und Knotenpunkte für die Internationalisierung der Produktion,für territoriale Verteilungskriege und sogar für Genozide werden. Nichtzuletzt betont er die Rolle des Staates bei der Konstruktion von Zeit undGeschichte. Poulantzas weist darauf hin, wie dieser zeitliche Normen undStandards durchsetzt, wie er versucht, die unterschiedlichen Zeitdimen-sionen und Rhythmen der sozialen Entwicklung zu kontrollieren undwie er die Traditionen untergeordneter Nationen unterdrückt, die natio-nale Tradition monopolisiert oder die Zukunft der Nation festzuschrei-ben versucht.

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    Poulantzas konnte die Relativierung der räumlichen Maßstäbe nichtvoraussehen, die mit den aktuellen Prozessen der Neugliederung des öko-nomischen, politischen und kulturellen Raums in die globale, regionale,nationale und lokale Ebene verbunden sind. Die Dehnung und Kompri-mierung des Raums und die Beschleunigung der Zeit – ermöglicht vorallem durch die Entstehung einer transnationalen digitalen Informations-infrastruktur und neue Formen der Logistik – verändern die national-räumliche Matrix der Kapitalakkumulation entscheidend. Daraus folgt,dass der Nationalstaat nicht mehr selbstverständlich die vorrangige Ebe-ne ökonomischer, politischer und sozialer Kämpfe ist; dies heißt jedochim Umkehrschluss nicht, dass er nun bedeutungslos geworden wäre. Trotzder Transnationalisierung des Kapitalverhältnisses hat der Nationalstaatin der Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaftsformation immer nocheine wesentliche Rolle. Dies betont und theoretisch untermauert zu haben,bleibt Poulantzas’ bleibendes Verdienst. Aber die sich heute entwickelnderaum-zeitliche Matrix des Kapitalismus formt die Kämpfe in neuer Weiseund verschiebt die Konstitution staatlicher Verdichtungsprozesse.12

    Nachdem er den grundlegenden Rahmen zur Analyse der institutio-nellen Materialität des Staates skizziert hat, fährt Poulantzas im zweitenTeil des Buches damit fort, zu zeigen, wie sie funktioniert, um das Kräfte-gleichgewicht in den politischen Kämpfen im kapitalistischen Staatstypzu modifizieren und zu verdichten. In dieser Hinsicht greift er auf Argu-mente zurück, die er schon in Politische Macht und gesellschaftliche Klas-sen entwickelt hatte. Er legt dar, wie der kapitalistische Staat die herr-schenden Klassen als herrschende Klassen und damit ihre Einheit organi-siert und die beherrschten Klassen desorganisiert. Doch betont er nunsehr viel deutlicher, dass die herrschenden Klassen fraktioniert sind, alsokein homogenes Interesse haben und verschieden stark sind. Diese Kräf-tekonstellation mit ihren gegenläufigen und fraktionierten Interessen ver-dichtet und entfaltet sich im und durch den Staat, also im Zugang zu be-stimmten Staatsapparaten. Einheit der Staatsapparate wird erst durch dieHegemonie einer Fraktion des Machtblocks hergestellt. Die Staatsappa-rate sind in sich und gegeneinander fraktioniert und haben im politischenProzess ein unterschiedliches Gewicht. So kommt es zur Bildung vonDominanz in einzelnen Apparaten und zur Hegemonie einzelner Appa-rate über die Gesamtheit der Staatsapparate. Eine übergreifende strategi-

    12 Vgl. Joachim Hirsch/Bob Jessop/Nicos Poulantzas: Die Zukunft des Staates, Ham-burg 2001.

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    sche Linie bei der Ausübung von Staatsmacht resultiert aus häufig müh-sam hergestellten, instabilen Kompromissen. Besonders bedeutsam ist diesdeshalb, weil Poulantzas theoretisch verständlich machen kann, dass derStaat kein homogener Block ist, der den beherrschten Klassen kompaktgegenüber steht. Ihre Interessen und Kämpfe sind innerhalb der Staats-apparate direkt präsent; doch können sie auch erhebliche Wirkungen aufDistanz entfalten, weil die Versuche, die Volkskämpfe aus bestimmtenStaatsapparaten herauszuhalten, in diesen selbst Resonanz erzeugen kön-nen. Die strategische Folgerung ist komplex: Politikfähigkeit beweisendie Beherrschten nicht allein dann, wenn sie sich nur noch auf die forma-len Verfahren der parlamentarischen Mitarbeit beschränken, denn sie kön-nen auch auf Distanz die Kräfteverhältnisse beeinflussen und die Reibun-gen und Widersprüche im Machtblock verschärfen. Ebenso wenig aberist es sinnvoll anzunehmen, politisch korrekt werde nur gehandelt, wennman jede Berührung mit dem Staat vermeide und sich allein von außengegen ihn stelle. Die sozialen Kämpfe zwischen Herrschenden und Be-herrschten finden immer schon auf dem Terrain des Staates statt, er ist derstrategische Organisationsort der herrschenden in ihrem Verhältnis zuden beherrschten Klassen. Mit diesen Überlegungen betont Poulantzasstärker noch als in seinem früheren Buch den relationalen Charakter vonMacht. Damit drückt er seine Zustimmung zu Überlegungen Foucaultsaus.13 Doch gegen Foucault und Deleuze gerichtet äußert er Bedenkengegen die Annahme, Macht und Widerstand seien eine Art universelleRelation. Macht hat eine Grundlage in den Produktionsverhältnissen undder gesellschaftlichen Arbeitsteilung; unter allen Machtdispositiven hatder Staat eine besondere Bedeutung. Foucault könne den Widerstand nurbehaupten, nicht jedoch erklären, mit der Rede von der Plebs bleibe auchder soziale Bezug unpräzis. Poulantzas spricht demgegenüber in Begrif-fen von Klassen und Klassenmacht und betont die Bedeutung von politi-schen Organisationen und Gewerkschaften, die konkrete Orte des Wi-derstands und der Strategiebildung darstellen. Obwohl Poulantzas miteinigen seiner Einwände sicher recht hat, bleibt vieles unterbestimmt –die vielfältigen Formen des Widerstands im Alltagshandeln, die Entste-hung und Bedeutung sozialer Bewegungen, die Herausbildung klassen-unspezifischer Protestthemen, neuartige Protestformen oder die fragwür-dige Rolle, die Gewerkschaften und insbesondere Parteien, auch linke und

    13 Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frank-furt am Main 1977.

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    mittlerweile grüne Parteien gespielt haben – und unterschätzt das Anre-gungspotential der von ihm kritisierten Autoren für die weitere materia-listische Theoriebildung.

    Im dritten Teil wendet sich Poulantzas der sich verändernden Bezie-hung zwischen ökonomischen und außerökonomischen Bedingungen derKapitalakkumulation in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus zu.Er bezieht sich dabei auf Argumente in seinen früheren Arbeiten, insbe-sondere Klassen im Kapitalismus – heute, um vier Aspekte fortzuentwi-ckeln: 1) Die ökonomischen Funktionen nehmen unter den Funktionendes Staates nun einen dominanten Platz ein. Dies hat unvermeidlicheRückwirkungen auf seine Struktur und die Möglichkeit, seine Hegemo-nie aufrecht zu erhalten. 2) Die Grenzen zwischen dem Ökonomischenund dem Außerökonomischen sind neu gezogen worden. Damit wird einewachsende Zahl vormals außerökonomischer Elemente nunmehr direktfür die Kapitalverwertung und Wettbewerbsfähigkeit relevant. 3) Diesbedeutet, dass sich die ökonomischen Interventionen des Staates in zu-nehmendem Maße auf die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse selbstkonzentrieren und auf den Versuch, die Produktivität der Arbeitskraftund insbesondere den relativen Mehrwert zu steigern. 4) Selbst diese Po-litiken, die am direktesten mit der ökonomischen Reproduktion be-fasst sind, haben weiterhin einen politischen Charakter und müssen imLichte ihrer breiteren politischen Bedeutung durchgeführt werden, diesie für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Kohäsion in einer klas-sengespaltenen Gesellschaft haben.

    Im vierten Teil wendet sich Poulantzas der Frage nach der Form desgegenwärtigen Staates zu. Mit dem zentralen Begriff des autoritären Eta-tismus versucht er, Entwicklungstendenzen in fortgeschrittenen kapitali-stischen Staaten zu kennzeichnen. Diese Analyse fußt auf Poulantzas’Essay über die Krise des Staates14 und entfaltet das Argument, dass derkapitalistische Staatstyp der gegenwärtigen Phase »permanent und struk-turell durch das bemerkenswerte Anwachsen der generischen Elementeder politischen Krise und der Krise des Staates gekennzeichnet« sei.15 Diesführte zu wachsenden Spannungen in den inter-imperialistischen Bezie-hungen und zu einer verborgenen, aber andauernden Instabilität der He-gemonie der Bourgeoisie in den dominanten Ländern. Verstärkt würdediese Entwicklung durch die Art und Weise, in welcher der Staat durch

    14 Nicos Poulantzas: Les transformations actuelles de l’Etat, la crise politique et lacrise de l’Etat, in: ders. (Hrsg.), La crise de l’Etat, Paris 1976.

    15 Staatstheorie, 235.

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    seine ökonomische Intervention Spannungen und Spaltungen zwischenverschiedenen Kapitalfraktionen intensivierte und Ungleichheiten undDisparitäten zwischen beherrschten und herrschenden Klassen verschärfte.Aus diesem Grunde nähme der Staat einige der Merkmale eines Ausnah-mestaates an. Da aber die institutionellen Grundlagen der demokratisch-repräsentativen Regierungsformen fortbestünden, könne der autoritäreEtatismus als neue »demokratische« Form der bürgerlichen Republik inder gegenwärtigen Phase des Kapitalismus verstanden werden. Das ge-steigerte Eingreifen des Staats in sämtliche Bereiche des sozio-ökonomi-schen Lebens ginge mit einem »einschneidenden Verfall der Institutionender politischen Demokratie sowie drakonischen und vielfältigen Ein-schränkungen der sogenannten ›formalen‹ Freiheiten einher, die man erstwirklich schätzen lernt, wenn sie einem genommen werden«.16 Denn cha-rakteristisch für den autoritären Etatismus ist, dass die anwachsende Staats-verwaltung der zentrale Ort wird, an dem das instabile Kompromissgleich-gewicht innerhalb des Blocks an der Macht und zwischen diesem undden Volksmassen ausgearbeitet wird. Die Verwaltung werde zu einer rea-len politischen Partei und übernehme die Rolle der Organisation der Bour-geoisie und die Hegemonie. Für Parlament und Parteien hat dies Folgen.Zwar behalten sie formal ihre Stellung, doch faktisch verändert sich ihreBedeutung, ihr positionales Gewicht bei der Bildung und Reproduktiondes Kräfteverhältnisses im Machtblock wird deutlich geringer. Die Par-teien der Macht (die zur Regierung prädestinierten Parteien im Unter-schied zu solchen Parteien, deren Schicksal eine permanent oppositionel-le Rolle sei) transformierten sich in eine autoritäre Massen- oder Staats-partei (oder in ein Duopol verbundener oder großteils ununterscheidba-rer autoritärer Massenparteien, die vom »Ende der Ideologie« profitiertenund letztere vorantreiben). Deren Aufgabe sei weniger, Interessen undBedürfnisse der Bevölkerung zu artikulieren und zur Willensbildung bei-zutragen, als vielmehr als Transmissionsriemen eine plebiszitäre Unter-stützung der Massen für staatliche Politik zu mobilisieren. Ein wichtigerGesichtspunkt in Poulantzas’ Analyse ist, dass staatliche Herrschaft zu-nehmend netzwerkartig funktioniert. Denn die Staatspartei erfüllt auchdie Aufgabe, die Verwaltung zu vereinheitlichen und die Kohärenz zwi-schen den verschiedenen Apparaten herzustellen und sie vollständig derExekutive unterzuordnen. So durchdringt die Staatspartei netzwerkartigalle Bereiche und Ebenen der Politik und stellt zahlreiche Querverbin-

    16 Staatstheorie, 232.

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    dungen zu den monopolkapitalistischen Unternehmen her. Damit erfülltsie die Rolle einer einzigen herrschenden Partei. Macht selbst personali-siert sich an der Spitze der Exekutive. Doch will Poulantzas damit nichtsagen, dass es zu einer Art bonapartistischer Diktatur kommt, in der diepolitische Macht in die despotische Verfügung einer Person gelangt. Eherhandelt es sich um charismatische Führungspersonen, die sowohl gegen-über den herrschenden Klassen als auch, auf eher plebiszitäre Art undWeise, gegenüber den Volksmassen, den Eindruck zu erzeugen vermögen,komplexen politischen Prozessen eine strategische Richtung geben zu kön-nen. Obwohl Poulantzas die Ansicht vertrat, die Zentralisierung admini-strativer Macht gehe zu Lasten des Parlaments, der Volksparteien und de-mokratischer Freiheiten, sollte diese Entwicklung keineswegs eine Stärkungdes Staates bedeuten. Statt dessen betonte er die relative Schwäche des au-toritären Staates angesichts seiner wachsenden Schwierigkeiten, die öko-nomischen Widersprüche und Krisentendenzen angesichts neuer Formenvon Volkskämpfen noch verdichten zu können.

    Ein kurzer abschließender Absatz ist dem Versuch gewidmet, die poli-tischen Konsequenzen aus den vorangegangenen theoretischen Überle-gungen zum Staat als gesellschaftliches Verhältnis und den Analysen zumautoritären Etatismus zu ziehen. Poulantzas plädiert für einen demokra-tischen Sozialismus. Ihn zu erreichen, kann nur auf demokratische Artund Weise gelingen; doch, so betont Poulantzas, ist auch diese Strategieimmer risikobehaftet. Es geht darum, durch eine Umstrukturierung desstaatlichen Feldes die Bedingungen dafür zu schaffen, dass alle an denpolitischen Prozessen beteiligt sind. Dies muss den herrschenden Klas-sen durch die Aktivitäten breiter Volksbewegungen abgerungen werden.Poulantzas ist der Ansicht, dass ein Emanzipationsprozess, in dem sichsoziale Bewegungen dem Staat lediglich entgegenstellen, um ihn zu zer-schlagen, sich selbst eines gewissen Schutzes begeben, den ihnen demo-kratisch kontrollierte Staatsapparate bieten können. Dies ist eine von ihmaus den Erfahrungen der portugiesischen Revolution gezogene Schlussfol-gerung. Es bedarf des Staates auch zur Absicherung der Veränderungs-prozesse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Diese Veränderungenmüssen sich jedoch in einer Umstrukturierung des Staates und seinerApparate selbst niederschlagen, bis er am Ende als eine Form der Ge-walt- und Herrschaftsausübung überflüssig wird. Dieser Prozess der stra-tegischen Transformation des Kräftegleichgewichts bedarf einer kompli-zierten und kontinuierlich neu zu verhandelnden Balance zwischen re-präsentativer und direkter Demokratie und einer komplizierten und kon-tinuierlich neu zu verhandelnden Balance zwischen den sozialen Kräften.

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    Statt der avantgardistischen Führerschaft einer Partei, die beansprucht,eine Klasse zu repräsentieren, erfordert ein solcher komplexer emanzipa-torischer Transformationsprozess klassen- und parteiübergreifende so-ziale Bewegungen wie auch offene und demokratische politische Organi-sationen. Poulantzas bietet also keine einfache Lösung oder magischeFormel. Der Staat ist ein strategisches Kampf- und Kompromissfeld –und entsprechend müssen auch Prozesse des Widerstands und der Eman-zipation sowohl fähig zum Kompromiss als auch zur strukturellen Ver-änderung sein. Es handelt sich um eine langwierige und reflexive Strate-gie, die es ablehnt, in einfachen Gegensätzen zu denken: hier der bürger-liche und demokratische Rechtsstaat, der herrscht – dort die Basis oderdie direkte Demokratie.17 Poulantzas wirft damit interessante und für diesozialistische Tradition neuartige demokratietheoretische Fragen auf, weiles darum geht, das aus der bürgerlichen Tradition überlieferte konventio-nelle Verständnis des Verhältnisses von Allgemeinwille und partikularemInteresse in Frage zu stellen, ohne deswegen in Fehler wie den zu verfal-len, dass die Arbeiterklasse als solche den menschheitlichen Allgemein-willen repräsentiert, oder den, dass die Formen der direkten oder Basis-demokratie das Problem einfach durch unvermittelte Interessenartikula-tion schon lösen könnten, weil, wenn die Menschen erst einmal von Un-terdrückung befreit wären, sie sowieso nur einen Willen hätten. Es bedarfkomplexer Interessenabstimmungsverfahren und weiträumig ausgreifen-der Entscheidungsprozesse, weil Sozialismus ja die Möglichkeit zur Ver-vielfältigung der Lebensformen und Lebensperspektiven auf dem Niveauder Weltvergesellschaftung ermöglichen soll. Poulantzas empfiehlt dieseStrategie auch deswegen, weil die Linke zu oft sich nur zynisch auf De-mokratie bezogen hat und immer wieder in die autoritäre Logik einerMetaphysik des einheitlichen Willens der Ausgebeuteten und Unterdrück-ten oder der gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft verfiel – mitallen Folgen des Terrors und der Gewalt. »Aber eines ist sicher: Der So-zialismus wird demokratisch sein oder gar nicht.«18

    Auch unter den heutigen Bedingungen bleiben diese Überlegungen vongroßer Wichtigkeit. Freilich erscheinen sie dort noch als etwas traditio-nalistisch, wo sie sich auf eine Strategie der politischen Machteroberungund Machtverteilung und eine Veränderung der Produktionsverhältnisse

    17 Vgl. Alex Demirovic: Neuer Universalismus, alter Universalismus und Partikula-rismus, in: Erwin Jurtschitsch/Alexander Rudnick/Frieder Otto Wolf (Hrsg.), Grünesund alternatives Jahrbuch 1986/87, Berlin 1986.

    18 Staatstheorie, 294.

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    beschränken. Ausgeblendet bleibt dabei, dass eine sozialistische Strategieimmer auch zugleich die konkrete Umwälzung herrschender Lebens- undArbeitsverhältnisse, der Formen des sozialen Zusammenlebens, der Ar-beitsteilung, des Konsums, der Geschlechterverhältnisse oder des Ver-hältnisses zur Natur sowie die Entwicklung entprechender Praxisformenmit einschließen muss.19

    Abschließende Bemerkungen

    Trotz aller theoretischen Probleme und des Ausmaßes, in dem sie durchpolitische Bedingungen und Konjunkturen der Zeit ihrer Entstehung ge-kennzeichnet ist, bleibt die Staatstheorie ein origineller und wichtigerBeitrag zur Theorie des Staates und zur Analyse des gegenwärtigen Kapi-talismus. Nicht nur die generellen Überlegungen über den Staat und dieAnmerkungen zur strategischen Selektivität des kapitalistischen Staats-typs sind für die weitere staatstheoretische Diskussion von großer Be-deutung. Anregend bleiben auch Poulantzas’ Überlegungen zum Problemder erweiterten Reproduktion der Autonomie des Staates und zum wech-selnden Charakter der Staatsintervention in die Ökonomie. Bemerkens-wert ist auch die theoretische Weitsicht in der Analyse des autoritärenEtatismus und der Entwicklung der Parteien. Dennoch gibt es Trendsund Entwicklungen, die Poulantzas bei aller systematischen Offenheitseines Ansatzes noch nicht sehen konnte. Sein theoretischer Horizontwar vom Fordismus der Nachkriegszeit, dessen in den 1970er Jahren aus-brechender Krise, dem Aufbruch und den Debatten der Linken und desMarxismus der Zeit nach ’68 geprägt. Die tiefgreifenden Strukturverän-derungen in den führenden kapitalistischen Gesellschaftsformationen, dieAuflösung des Staatssozialismus und alle die revolutionären Folgen, diedas für den Alltag vieler Millionen Menschen, die Politik der Arbeiterbe-wegung und der Linken sowie ihre theoretischen Diskussionen hatte –das konnte Poulantzas natürlich nicht einmal ahnen, weil diese Dynamiksich erst in den 1980er Jahren durchsetzte, und es auch für die unmittel-baren Zeitgenossen noch immer andauert, diese Erfahrungen der langfri-stig wirkenden Umwälzung ihrer Lebensweise theoretisch zu begreifen.Vier wichtige Veränderungen wollen wir hier herausgreifen:

    19 Vgl. dazu Joachim Hirschs Überlegungen zum radikalen Reformismus: JoachimHirsch, Kapitalismus ohne Alternative?, Hamburg 1990, 118ff.

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    1) Poulantzas konzentrierte sich auf die wechselnden Formen der In-tervention des Staates in die Ökonomie und versuchte, die Rolle heraus-zuarbeiten, die Staatsinterventionen dabei spielten, die Grenzen zwischendem Ökonomischen und dem Außerökonomischen neu zu ziehen. Er sahwohl schon Krisenvorgänge. Gleichwohl mussten ihm Veränderungen inder allgemeinen Dynamik der Kapitalakkumulation entgehen, die mit demÜbergang vom Atlantischen Fordismus zu einem postfordistischen Ka-pitalismus verbunden sind.

    Seine Analyse des autoritären Etatismus orientiert sich noch stark amTypus des fordistisch-keynesianischen Staats, der durch eine fortschrei-tende bürokratische Durchstaatlichung der Gesellschaft, bürokratischinstitutionalisierte Klassenkompromisse und integrative bürokratischeMassenparteien charakterisiert war. Die postfordistische Transformationdes kapitalistischen Staates hat – im Gefolge seiner wettbewerbsstaatli-chen Reorganisation, administrativen Deregulierung und Privatisierung– zu einer Neukonfiguration des Verhältnisses von Staat und anderenBereichen der Gesellschaftsformation geführt.

    Gesellschaftliche Entwicklungen werden nun in hohem Maße mittelspolitisch-staatlich durchgesetzter und garantierter Marktprozesse regu-liert; bürokratische Disziplinierung ist in weiten Bereichen der diszipli-nierenden Wirkung des Wettbewerbs, der Konkurrenz und der Selbst-technologien gewichen; politische Entscheidungen werden in wachsen-dem Umfang durch die Bewegungen eines transnational hoch flexiblenund mobilen Kapitals bestimmt.

    Dadurch konnten die politisch-bürokratischen Prozesse und die Staats-apparate gegenüber einem Teil der Kapitalinteressen und Verbände anAutonomie gewinnen und sich dem demokratischen Begehren vieler Be-völkerungsgruppen nach Kontrolle, Teilnahme und Lenkung der politi-schen Entscheidungen entziehen.

    2) Diese Entwicklung forcierte die schon von Poulantzas beobachteteEntwicklung einer weiteren Aushöhlung der liberalen Demokratie undeiner strukturellen Krise der politischen Repräsentation. In einer Reihevon Ländern kam es zu einer tiefgreifenden Krise oder Änderung desParteiensystems. Die bürokratischen Massenparteien transformierten sichin vorwiegend medial orientierte und damit zunehmend rechtspopulistischoperierende Propagandaapparate. Zu beobachten ist in vielen fortgeschrit-tenen kapitalistischen Gesellschaftsformationen eine Zunahme nationali-stischer, rechtspopulistischer, fundamentalistisch-religiöser und rassisti-scher Tendenzen im Meinungsspektrum der Bevölkerung – vielfach alsFolge politischer und staatlicher Strategien.

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    In einem Maße, das für Poulantzas sicher überraschend gewesen wäre,verschärfte sich auch die von ihm schon beobachtete Krise der Linkenund des Marxismus, das Mobilisierungsniveau emanzipatorischer sozia-ler Bewegungen ging deutlich zurück. Konnte Poulantzas sich mit einergewissen Selbstverständlichkeit an breite linke und sozialistische Zusam-menhänge wenden, die verschiedene Strömungen in Gewerkschaften,politischen Organisationen und im links-alternativen Milieu, theoretischeZirkel und Teilbereiche der akademischen und publizistischen Öffent-lichkeit umfasste, und hoffen, mit theoretischen Argumenten und strate-gischen Überlegungen zu einer Überwindung dieser Krise der Linkenbeizutragen, so wurden diese Kontexte im weiteren selbst außerordent-lich marginalisiert. Gleichzeitig jedoch entstanden im Laufe der 1990erJahre unversehens mit den Kämpfen der Zapatisten, mit globalisierungs-kritischen Initiativen und Bewegungen, mit den Nichtregierungsorgani-sationen als einem in sich durchaus widersprüchlichen Phänomen, mit denOrganisationsversuchen von prekär Beschäftigten und Arbeitslosen, mitdem Widerstand von Migranten, von Bauern, von Arbeitern und Arbeite-rinnen auch neuartige emanzipatorische Formen und Traditionen des Kamp-fes gegen die neoliberale Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenle-bens, der Individuen und ihrer Zusammenhänge sowie der Natur.20

    3) Poulantzas analysierte die Rolle von Nationalstaaten innerhalb desimperialistischen Systems. Doch konnte er noch nicht sehen, dass dasAusmaß, in welchem sich die ökonomischen Räume auf vielen verschie-denen Ebenen wechselseitig durchdrangen – ein Prozess, den er in Klas-sen im Kapitalismus – heute durchaus identifiziert hatte – auch einenumfangreichen Neuzuschnitt der räumlichen Reichweite von Staatsap-paraten und Staatsmacht implizierte. Obwohl er aus unserer Sicht ganzrichtig gegen den Mythos eines Weltstaates oder eines einzigen Super-staates argumentierte, konnte er nicht voraussehen, in welchem Maße dieStaatsapparate und Staatsmächte bei dem Versuch, eine immer komplexerwerdende Weltökonomie zu regulieren, sowohl im horizontalen als auchim vertikalen Maßstab reorganisiert würden. Diese Reskalierung der staat-

    20 Vgl. Kim Moody: Das neue Proletariat, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 2/99; Leo Panitch/Colin Leys (Eds.): Socialist Register 2001: Working Classes – GlobalRealities, London 2000; Ulrich Brand/Ana Esther Ceceña (Hrgs.): Reflexionen einerRebellion. »Chiapas« und ein anderes Politikverständnis, Münster 2000; Ulrich Brand/Alex Demirovic/Christoph Görg/Joachim Hirsch (Hrsg.): Nichtregierungsorganisatio-nen in der Transformation des Staates, Münster 2001; Christiane Grefe/Mathias Greff-rath/Harald Schumann: attac. Was wollen die Globalisierungskritiker?, Berlin.

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    lichen Machtstrukturen wirft auch die Frage danach auf, wieweit Pou-lantzas’ Überzeugung von der fortwährenden Zentralität des National-staates bei der Sicherung der Bedingungen der sozialen Kohäsion gültigbleibt. Auf alle Fälle werden seine Möglichkeiten, diese allgemeine Funk-tion zu erfüllen, geschwächt.

    4) Obwohl Poulantzas die zentrale Rolle von Netzwerken in der Ar-beitsweise des Staates erkannt hat – also die Bedeutung paralleler Macht-netzwerke innerhalb der Staatsapparate, die deren relative Einheit gewähr-leistet, Netzwerke von Wirtschafts- und Verwaltungsmacht an den Spit-zen des ökonomischen Staatsapparates, um die Ausarbeitung ökonomi-scher Strategien zugunsten des Monopolkapitals voranzutreiben,Netzwerke zwischen den Spitzen der Wirtschaft und des Staates, Netz-werke zwischen den Parteien der Macht – hat er nicht ausreichend the-matisiert, bis zu welchem Ausmaß dies die Modalitäten der staatlichenMachtausübung modifiziert – und top-down-Planung und hierarchischeSteuerung um dezentrale und heterarchische Formen der Kooperation,der Aushandlung, der Mediation sowie andere Formen von »Governance«ergänzen würde.

    Es ist ganz selbstverständlich, dass Poulantzas nicht alle Veränderun-gen des gegenwärtigen Kapitalismus antizipieren konnte. Dennoch soll-ten wir uns fragen, warum sein Werk eine Neuherausgabe und eine neu-erliche Rezeption verdient. Der einfache Hinweis darauf, dass er ein rei-ches und originelles Werk hinterlassen hat, das wert ist, zur Kenntnis ge-nommen zu werden, weil es instruktiv ist für jede weitere Beschäftigungmit der Frage des kapitalistischen Staates, ist nur ein Teil der Antwort.Das allein würde es rechtfertigen, sein wichtigstes Buch erneut zugäng-lich zu machen. Die wichtige Frage ist jedoch, ob sein Werk geeignet ist,ein neues Licht auf Probleme zu werfen, die bis heute andauern und – wiein mancher Hinsicht festgestellt werden kann – zu oft fruchtlosen Debat-ten Anlass gaben; mehr noch, ob es ein Anregungspotential für die Ana-lyse und Beurteilung ganz neuartiger Entwicklungen und Probleme bie-tet. Wir meinen, dass dies der Fall ist. Es sind mindestens acht theoreti-sche Aspekte von Poulantzas’ Überlegungen, die wir für weiterhin frucht-bar halten. Das ist, erstens, die These, dass sich die Artikulation desÖkonomischen und des Außerökonomischen in und durch die Repro-duktion des Kapitalverhältnisses ändert – und in und durch die Repro-duktion der Funktion des Staates, solche Prozesse der Reartikulation zuorganisieren. Der Staat ist also nicht selbstverständlich gegeben, sondernmuss im Verlauf der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen selbst je-weils neu reproduziert werden. Dies führt zu dem zweiten Aspekt. Von

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    besonderer Bedeutung ist Poulantzas’ Bestimmung des Staates als gesell-schaftliches Verhältnis. Er ist, um es mit einer Formulierung von Fou-cault zu sagen, die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. So stelltsich die Frage, wie die gesellschaftlichen Konflikte und Kräfteverhältnis-se die konkrete Form annehmen, in denen sie sich über eine gewisse Zeitreproduzieren können. Der kapitalistische Staat wird als ein Prozess sichständig verschiebender und verändernder Kompromiss- und Kräftegleich-gewichte zwischen verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen dechif-friert. Drittens halten wir Poulantzas’ Versuch für anregend, die Analyseder Staatsmacht und der Staatsapparate in den Zusammenhang mit Pro-zessen der Reproduktion und Rekonstitution der gesellschaftlichen Ar-beitsteilung zu bringen, den Staat als ein Verhältnis von Macht und Wis-sen zu begreifen. Wichtig erscheint uns viertens Poulantzas’ Einsicht, dassdie Bourgeoisie keine einheitliche und ihrer Form und ihren Interessennach stabile und unveränderliche Klasse ist. In der Geschichte der kapi-talistischen Produktionsverhältnisse bilden sich verschiedene Formen desEigentums und der Verfügung darüber heraus; das Kapitaleigentum kannneue, bislang unbekannte Formen annehmen und damit auch den Cha-rakter der über es verfügenden Kapitalfraktionen verändern. Fünftens istdie Überlegung bedeutungsvoll, dass Klassen sich nicht unabhängig von-einander, sondern nur in der Auseinandersetzung miteinander formie-ren. In diesem Formationsprozess ist der Staat immer schon präsent. Da-mit wird die These vertreten, dass jede spezifische Lebensform und -wei-se der gesellschaftlichen Akteure als eine besondere Konstellation des Kräf-teverhältnisses dechiffriert werden muss. Es bedeutet zudem, dass auchder Widerstand immer schon auf dem Terrain staatlich organisierter Herr-schaft angesiedelt ist und die Art und Weise, wie er praktiziert wird, selbstein Gegenstand kritischer Analyse sein muss. Sechstens möchten wir denAspekt der Raum-Zeitlichkeit des kapitalistischen Staates und seine Rol-le bei der Konstruktion und Rekonstruktion der raum-zeitlichen Matri-zes der ökonomischen, politischen und ideologischen Verhältnisse beto-nen. Siebtens sei noch einmal auf die wichtige Analyse der Entwicklungdes autoritären Etatismus, seine politische Dynamik und Bedeutung vonMachtnetzwerken bei der Vereinheitlichung des Staates hingewiesen.Schließlich sind wir der Ansicht, dass Poulantzas’ Versuch, eine neue po-litische Strategie für einen Weg hin zum demokratischen Sozialismus zuformulieren, wert wäre, aufgegriffen und fortgesetzt zu werden.

    Theoretische Entwürfe haben Konjunkturen, die mit denen politischerKräfteverhältnisse und sozialer Bewegungen verbunden sind. Die wich-tigen Arbeiten von Poulantzas fallen in eine Zeit, in der im Kontext der

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    Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre eine grundlegende Ana-lyse der fordistischen Form des Kapitalismus und des Staates formuliertwurde; verbunden war dies mit dem Versuch einer radikalen Kritik staats-reformistischer Analysen. Die in der Mitte der 1970er Jahre einsetzendeKrise des Fordismus und des nationalen keynesianischen Wohlfahrtsstaatshaben diese Kritik nachhaltig bestätigt. Das Verdienst von Poulantzas liegtin diesem Zusammenhang nicht zuletzt darin, nachgewiesen zu haben,dass der kapitalistische Staat eben keine neutrale und den Produktions-verhältnissen äußerlich gegenüber stehende Instanz ist. Er ist ein grund-legender Bestandteil der Reproduktion und Regulation kapitalistischerGesellschaftsverhältnisse; als institutioneller Ort und Kristallisationspunktvon Klassenbeziehungen ist er selbst ein Terrain sozialer Kämpfe. Mitder Entwicklung der neuen sozialen Bewegungen und der damit verbun-denen Tendenzen zur Parlamentarisierung der Proteste geriet dieser kri-tische Ansatz allmählich in Vergessenheit. Materialistische Staatstheoriestieß im Allgemeinen auf wenig Gegenliebe. Das Interesse, Politik zu ge-stalten, und die Bereitschaft zur Anpassung gingen eng verbunden mit-einander einher; kritische und strategische Analyse, die auf die Ambiva-lenzen und Grenzen auch einer guten Reformpolitik hinwies, war im all-täglichen Handgemenge konkreter Politikfelder kaum gefragt. Heute, dadie Folgen des neoliberal restrukturierten postfordistischen Kapitalismusund seine Krisendynamik offensichtlich werden und sich die engen Gren-zen einer Strategie des sogenannten Dritten Weges einer neoliberalisier-ten Sozialdemokratie zeigen, beginnt sich dies wieder zu ändern. Die glo-balisierungskritische Bewegung wirft die Frage nach dem Staat und derMöglichkeit der Spielräume, mit und gegen den Staat zu handeln, erneutauf. Die zu beobachtenden politisch-theoretischen Positionen oszillierenzwischen einer radikalen Ablehnung aller Formen etatistischer Politikund Ansätzen zu einer Neuauflage staatsreformistischer Strategien, wiesie zum Beispiel im Umkreis von Attac festzustellen ist. Eine erneute undkritische Rezeption der Poulantzasschen Theorie könnte einiges dazubeitragen, diese Debatte vor falschen Dichotomisierungen und Frontstel-lungen zu bewahren und zu einem genaueren Verständnis dessen beizu-tragen, was »Staat« ist, und welche Rolle er in emanzipatorischen politi-schen Prozessen spielen bzw. was man von ihm nicht erwarten kann. Einesolche Rezeption sollte, das versteht sich, kein nostalgisches Unterneh-men sein. Es geht darum, Anregungen für das Verständnis der aktuellengesellschaftlichen Veränderungen, für die politische Praxis wie für dieweiter fortgeschrittenen theoretischen Diskussionen zu finden – und sol-cher Entwicklungen gibt es viele: Regulationstheorie und internationale

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    politische Ökonomie, feministische und Queertheorie im Allgemeinen,feministische Staats- und Demokratietheorie im Besonderen, Ideologie-theorie, Cultural Studies und Diskursanalyse, kritische Rassismustheo-rie, materialistische Regional- und Stadtforschung, Ansätze zur Analyseder Gouvernementalität und des Normalismus. In einem solchen umfas-senden Kontext können Poulantzas’ Überlegungen aufgegriffen, modifi-ziert und weiterentwickelt werden. Sicher ist es auf die angesprocheneEntwicklung zurückzuführen, dass nach unserem Eindruck das Interessean Poulantzas in der jüngsten Zeit wieder erwacht ist – nicht so sehr aufdem akademischen Feld einer Politikwissenschaft, die ihre Aufgabe mehrund mehr in Politikberatung zu sehen scheint und dabei kritisch-mate-rialistische Analysen nur als störend empfindet, um so mehr aber im Kon-text politisch-sozialer Bewegungen, die die bestehenden ökonomischen,gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse radikal in Frage stellen undzumindest beanspruchen, der Hoffnung, eine andere Welt sei möglich,eine praktische Bedeutung zu verleihen. Wir denken, dass die Neuher-ausgabe der Staatstheorie, des zentralen Werks von Nicos Poulantzas, dazubeitragen kann, staatstheoretische Diskussionen und politische Urteils-kraft anzuregen und zu befruchten.

    Obwohl einige Passagen des Buches stark zeitbezogen sind und sichauf politisch-theoretische Debatten insbesondere in der französischenLinken beziehen, die nur noch historische Bedeutung haben, haben wiruns nach einiger Überlegung doch dazu entschlossen, den Text unverän-dert und ohne Kürzungen zu veröffentlichen. Korrigiert wurden nur ei-nige offensichtliche Text- und Übersetzungsfehler. Für die Mitwirkungan der konzeptionellen Diskussion, den editorischen Arbeiten und denKorrekturen danken wir Ronald Noppe.

    Basel – Frankfurt am Main – Lancaster, im August 2002Alex Demirovic, Joachim Hirsch, Bob Jessop


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