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NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag

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NEWSLETTER GESCHICHTE www.klett.de © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2014. Von dieser Druckvorlage ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die Kopiergebühren sind abgegolten. 1 Der Sturm auf die Bastille Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 gehört zu den bekanntesten historischen Ereignissen überhaupt. Bereits zu Beginn der Französischen Revolution ver- klärt und seit 1880 als offizieller Nationalfeiertag in Frankreich begangen, kann die symbolische Bedeutung des Bastille-Sturmes nicht hoch genug veranschlagt werden. Aber wie so oft in der Geschichte sind histo- risches Ereignis und Mythos alles andere als deckungs- gleich. Für Revolutionen trifft dies offenbar in besonde- rem Maße zu. Auch die Geschichte der Oktoberrevolu- tion in Russland, aus der die Sowjetunion hervorgehen sollte, kennt mit dem Sturm auf das Winterpalais 1917 ein ganz ähnliches Initialereignis. Auch dieser „Sturm“ verlief bei näherer Betrachtung keineswegs so hero- isch, wie es in den zahlreichen Darstellungen scheint, die von den revolutionären Siegern in Umlauf gebracht wurden. Sind es im Falle der russischen Revolution vor allem die erst einige Jahre nach den Ereignissen ent- standenen Filmaufnahmen des Spielfilmregisseurs Sergej Eisenstein, die das Bild der Oktoberrevolution bis heute prägen, so waren es im revolutionären Frank- reich die oft reproduzierten Stiche und Gemälde vom Sturm auf die Bastille, deren suggestive Wirkung bis heute anhält. Was aber geschah am 14. Juli 1789 in Paris wirklich und wie konnte dieser Tag eine solche Wirkung entfalten? Frankreich 1789 Nicht Paris, sondern ganz Frankreich befand sich im Frühjahr und Sommer 1789 in Unruhe und Aufruhr. Das Land, seit 1774 von König Ludwig XVI. regiert, steckte in einer tiefen Krise, die die gesamte Gesellschaft erfasst hatte. Der anfangs noch populäre König verlor im Ver- laufe seiner Regentschaft schnell die Sympathien sei- ner Untertanen, nicht zuletzt durch seine Frau, Königin Marie Antoinette, ihren luxuriösen Lebensstil und die ihr zugeschriebenen Skandale. In allen Schichten herr- schte Unzufriedenheit. Der hohe Adel opponierte im 1774 von Ludwig XVI. einberufenen Parlament gegen den König, um seine traditionellen Privilegien zu ver- teidigen. Teile des Adels und vor allem der niederen Geistlichkeit – der beiden staatstragenden Stände des Königreichs – sympathisierten auch mit den Ideen der Aufklärung. Deren wichtigste französische Vertre- ter – Voltaire, Diderot oder Rousseau – hatten mit ih- ren Schriften maßgeblich zu einem gesellschaftlichen © akg-images (Michael Teller), Berlin 1 Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789. Zeitgenössisches Gemälde von Jean-Baptiste Lallemand. Paris, Musée Carnavalet
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1 Der Sturm auf die Bastille

Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 gehört zu den bekanntesten historischen Ereignissen überhaupt. Bereits zu Beginn der Französischen Revolution ver-klärt und seit 1880 als offizieller Nationalfeiertag in Frankreich begangen, kann die symbolische Bedeutung des Bastille-Sturmes nicht hoch genug veranschlagt werden. Aber wie so oft in der Geschichte sind histo-risches Ereignis und Mythos alles andere als deckungs-gleich. Für Revolutionen trifft dies offenbar in besonde-rem Maße zu. Auch die Geschichte der Oktoberrevolu-tion in Russland, aus der die Sowjetunion hervorgehen sollte, kennt mit dem Sturm auf das Winterpalais 1917 ein ganz ähnliches Initialereignis. Auch dieser „Sturm“ verlief bei näherer Betrachtung keineswegs so hero-isch, wie es in den zahlreichen Darstellungen scheint, die von den revolutionären Siegern in Umlauf gebracht wurden. Sind es im Falle der russischen Revolution vor allem die erst einige Jahre nach den Ereignissen ent-standenen Filmaufnahmen des Spielfilmregisseurs Sergej Eisenstein, die das Bild der Oktoberrevolution bis heute prägen, so waren es im revolutionären Frank-reich die oft reproduzierten Stiche und Gemälde vom Sturm auf die Bastille, deren suggestive Wirkung bis

heute anhält. Was aber geschah am 14. Juli 1789 in Paris wirklich und wie konnte dieser Tag eine solche Wirkung entfalten?

Frankreich 1789Nicht Paris, sondern ganz Frankreich befand sich im Frühjahr und Sommer 1789 in Unruhe und Aufruhr. Das Land, seit 1774 von König Ludwig XVI. regiert, steckte in einer tiefen Krise, die die gesamte Gesellschaft erfasst hatte. Der anfangs noch populäre König verlor im Ver-laufe seiner Regentschaft schnell die Sympathien sei-ner Untertanen, nicht zuletzt durch seine Frau, Königin Marie Antoinette, ihren luxuriösen Lebensstil und die ihr zugeschriebenen Skandale. In allen Schichten herr-schte Unzufriedenheit. Der hohe Adel opponierte im 1774 von Ludwig XVI. einberufenen Parlament gegen den König, um seine traditionellen Privilegien zu ver-teidigen. Teile des Adels und vor allem der niederen Geist lichkeit – der beiden staatstragenden Stände des Königreichs – sympathisierten auch mit den Ideen der Aufklärung. Deren wichtigste französische Vertre-ter – Voltaire, Diderot oder Rousseau – hatten mit ih-ren Schriften maßgeblich zu einem gesellschaftlichen

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1 Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789. Zeitgenössisches Gemälde von Jean-Baptiste Lallemand. Paris, Musée Carnavalet

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2 Der Sturm auf die Bastille

Klima beigetragen, in dem der Ruf nach tief greifenden Reformen immer lauter wurde. In den letzten Jahrzehn-ten vor 1789 entstand eine kritische literarische Öffent-lichkeit, die immer offener Veränderungen einforderte.

Das aufstrebende, aber weitgehend rechtlose Bür ger-tum verlangte zunehmend nach Teilhabe an der Macht im Staat. Die Bauern litten unter den Lasten der feuda-len Ordnung; Missernten und Hungersnöte Ende der 1780er Jahre brachten vor allem die ländlichen und städ-tischen Unterschichten in existenzielle Notlagen. Hinzu kam ein mit den herkömmlichen Mitteln – vor allem Steu ererhöhungen – nicht mehr zu bewältigendes Staats defizit. Um die wachsende Staatsverschuldung ein zudämmen und den drohenden Staatsbankrott zu vermeiden, rief Ludwig XVI. 1787 die Assemblées des no tables ein, die aus Ministern, adligen und geistlichen Würdenträgern und einigen Bürgermeistern der groß-en Städte bestand. Ihr Wirken blieb jedoch folgenlos, sodass sich der König zu weiteren Schritten gezwun-gen sah: 1789 berief er erstmals seit 1614 die États gé-néraux, die Generalstände, nach Versailles ein, in der die Vertreter aller drei Stände – neben Adel und Geist-lich keit nun auch die Abgeordneten des Dritten Stan-des, also des Besitz- und Bildungsbürgertums, aber auch der Bauern und Handwerker – geladen waren. Die Generalstände sollten über das weitere Vorgehen in der Staatsfinanzkrise und die notwendige Finanzrefor-men beraten. Die demonstrative Nichtachtung der Ver-sammlung durch den König und die geringen Einfluss-mög lich keiten der Vertreter des Dritten Stan des führ-ten zur Eskalation. Letztere vertraten zwar die über -große Mehrheit des Volkes, hatten aber nur eine Kol-lek tivstimme – ebenso wie die beiden anderen Stän de, die weit weniger Franzosen repräsentierten. Am 17. Ju-ni 1789 erklärten sich die Abgeordneten des Dritten Standes deshalb eigenmächtig zur Assemblée natio-nale, zur Nationalversammlung. Drei Tage später schwo ren sie in ihrem provisorischen Tagungsort, einem Ballhaus, feierlich, nicht eher auseinanderzugehen, bis sie der ganzen Nation eine Verfassung gegeben hät-ten – oder der Gewalt weichen müssten.

Der Ballhausschwur läutete das Ende der absoluten Monarchie und den Übergang zur konstitutionellen Mo nar chie in Frankreich ein. Er markiert damit den eigent lichen Beginn der Revolution in Frankreich. Ver-stärkt um einige Abgeordnete der anderen beiden Stän de gaben sich die Vertreter des Dritten Standes am 9. Juli den Titel Assemblée nationale constituante (Verfassunggebende Nationalversammlung, kurz Kons-tituante). Abgestimmt werden sollte nun nicht mehr wie bislang kollektiv nach Ständen, sondern nach „Köpfen“, also nach der tatsächlichen Zahl der Ab ge-ord neten. Die Arbeit der Konstituante endete 1791, als sie die Verfassung von 1791 verabschiedete. Diese ver-wandelte Frankreich vorübergehend in eine konstituti-onelle Monarchie, die jedoch durch den weiteren, sich radikalisierenden Verlauf der Revolution und die Hin-

rich tung Ludwigs XVI. im Januar 1793 zunächst nur von kurzer Dauer war.

Der Sturm auf die BastilleDas entschlossene Auftreten der Abgeordneten des Dritten Standes hatte die französische Gesellschaft mobilisiert. Ende Juni, Anfang Juli 1789 spitzte sich die Lage in und um Paris noch einmal dramatisch zu, nach-dem Preiserhöhungen für Lebensmittel die Situation der Bevölkerung zusätzlich verschärft hatten. Offiziell bestätigte Nachrichten mischten sich mit Gerüchten über das Verhalten des Königs und seiner Berater. Die Lage wurde immer unübersichtlicher. Obwohl Ludwig XVI. das Vorgehen der Konstituante zutiefst missbil-ligte und zunächst auch öffentlich als ungesetzlich ab-lehnte, hatte er Ende Juni einige Zugeständnisse ma-chen müssen. Dazu gehörte die Lockerung der Presse-zensur, die dazu führte, dass die vielen, bislang zumeist im Untergrund erscheinenden kritischen Flugschriften und Zeitungen nun offen gegen die bestehende Ord-nung Stellung bezogen.

Als bekannt wurde, dass der König den Befehl gege-ben hatte, rings um Paris Truppen zusammenzuziehen, sahen nicht nur die Abgeordneten der National ver-sammlung, sondern auch die aufgebrachten Pariser Bürger darin eine Provokation und befürchteten, dass die eingeleiteten Reformschritte mit Gewalt rückgän-gig gemacht werden sollten. Die Angst vor einer blu-tigen Niederschlagung der Proteste und De mons tra-tionen, vor einer Auflösung der Nationalver samm lung oder einer militärischen Besetzung der Haupt stadt brei tete sich aus. Besonders in den von den Unterschich-ten bewohnten Pariser Vorstädten gärte es. Immer wieder stand dabei die inzwischen als Staats gefängnis genutzte Bastille, eine aus dem Mit tel alter stammende Festung in der Vorstadt Saint-Antoine, im Zentrum der brodelnden Gerüchte. Mal hieß es, Mar quis de Launay, der Gouverneur der Bastille, habe den Befehl erhalten, den befürchteten Aufruhr im unruhigen Viertel mit Ka-nonen niederzuschießen, mal, dass die Abgeordneten der Nationalversammlung dort bereits eingesperrt seien. Nichts davon straf zu, aber die Bastille war seit langem das verhasste Symbol von staat licher Willkür und Despotismus – auch wenn dieses von zahlreichen Schriftstellern in den letzten Jahrzehnten vor der Revo-lution in düstersten Farben aus gemalte Bild und die Berichte von finsteren Ver ließen und gemarterten Ge-fangenen keineswegs mehr mit der Realität des Som-mers 1789 übereinstimmten.

So verwundert es nicht, dass die Bastille schließlich selbst Ziel des Aufruhrs wurde. Schon seit den ersten Julitagen war die Lage in Paris kaum noch zu kontrollie-ren. Zunächst gingen die meisten der über 50 Zollhäu-ser rund um Paris in Flammen auf. Kurz darauf kam es auch in Paris selbst zu den ersten gewaltsamen Aus-ein andersetzungen und Zusammenstößen zwischen Pa riser Bürgern und den Soldaten der um und in Paris

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3 Der Sturm auf die Bastille

sta tionierten Regimenter. Als der im Volk beliebte, als liberal und fähig geltende Finanzminister Jacques Necker am 11. Juli 1789 vom König entlassen wurde, eskalierte die Situation noch weiter. Im Garten des Pa-riser Palais Royal heizten revolutionär gesinnnte Agita-toren wie der Journalist und spätere Revolutions führer Camille Desmoulins die Stimmung weiter an. Sie riefen die aufgebrachte Volksmenge auf, sich zu bewaffnen. Da raufhin wurden entsprechende Läden und Werk-stätten in ganz Paris geplündert. Am 12. Juli wurden die ersten beiden Pariser Gefängnisse gestürmt und die Ge fangenen befreit.

Beide Aspekte dieser ersten Aktionen – die Beschaf-fung von Waffen und Munition und die Befreiung von Gefangenen – bestimmten schließlich auch die Ereig-nisse vom 14. Juli 1789, die als Sturm auf die Bastille in die Geschichte eingehen sollten.

Nachdem sich am Morgen des 14. Juli etwa 7000 Pari-ser vor der Invalidenkaserne versammelt und aus den dortigen Depots mehrere Kanonen und über 40 000 Ge-wehre erbeuteten hatten, zogen sie weiter zu Bastille, in der sie ein großes Munitionsdepot vermuteten. Dass die Bastille im Ruf stand, der düsterste Kerker in ganz Frankreich zu sein, verschaffte der Menge zusätzlichen Zulauf. Gegen 10 Uhr erreichte der Zug das Gefängnis. Ein erstes Übergabeangebot wurde vom Gouverneur de Launay kategorisch abgelehnt, ebenso die spätere Forderung nach Herausgabe von Waffen und Mu ni-tions vorräten. Als es der aufgebrachten Menge, die durch weitere Bewaffnete, teils auch sympathisieren-de Soldaten immer weiter anwuchs, schließlich ge-lang, über die heruntergelassene Zugbrücke den ers-ten Hof der Bastille zu erreichen, ließ der von der Situation völlig überforderte de Launay um 13.30 Uhr auf die Menge feuern. Dabei fanden mehrere Personen den Tod, zahlreiche weitere wurden verletzt. Die Nach-richt davon verbreitete sich innerhalb kurzer Zeit in ganz Paris. Vor allem aus den umliegenden Stadt vier-teln, aber auch aus der gleichzeitig vor dem Pariser Rat haus versammelten Menge erhielten die vor der Bastille versammelten Bürger – zumeist Handwerker und kleine Kaufleute aus den Pariser Vorstädten – rasch neuen Zulauf, teils auch von weiteren Soldaten. Aus der anfangs eher unkoordinierten Suche nach Waffen wurde nun rasch eine regelrechte Belagerung, bei der die Aufständischen auch Kanonen einsetzten. Bei der anschließenden Erstürmung der Bastille, die von etwa 100 Kriegsveteranen und Schweizer Soldaten verteidi-gt wurde, fanden mehr als 90 Angreifer den Tod. Als der Marquis de Launay schließlich kapitulierte, nah-men die Sieger blutige Rache. Obwohl dem Gouverneur und seinen Untergebenen freier Abzug zugesichert worden war, wurden er und mehrere Soldaten und Offi-ziere der Wachmannschaft misshandelt, ermordet und zerstückelt; der Kopf des Gouverneurs wurde auf einer Pike im Triumph zum Rathaus geführt und schließlich achtlos auf die Straße geworfen. Im gleichen Triumph-

2 Die Bastille – Mythos und WirklichkeitDer britische Kulturhistoriker Simon Schama (geb. 1945) schreibt über den schillernden Mythos und die nüchterne Wirklichkeit der Bastille im vorrevolutionären Frankreich:Die Bastille hatte eine Adresse: 232, Rue Saint-Antoine, gerade als wäre sie ein etwas überdimensionales Gäste-haus mit unterschiedlichen chambresgarnies [möblierten Zimmern] und entsprechend ihrem Rang und ihren Mit-teln untergebrachten Gästen. Der Außenhof war (außer während der Juli-Erhebung) der Öffentlichkeit zugänglich, die sich mit dem Pförtner in seiner kleinen Loge unterhal-ten, an den dichtgedrängten Läden am Eingang vorbei-bummeln oder die Fortschritte im Gemüsegarten des Gou-verneurs begutachten konnte.

Andererseits war die Bastille auch eine Festung, die mit acht Rundtürmen mit ein Meter fünfzig dicken Mauern Arsenal und Faubourg [Vorstadt] überragte. Auf Gemälden, die den Fall und die Zerstörung der Bastille verherrlichen, erscheint sie stets größer, als sie wirklich war. Der höchste der ungleich hohen Türme maß höchstens zweiundzwan-zig Meter; Hubert Robert jedoch, ein Spezialist gewaltiger Ruinen, verlieh ihm babylonische Wuchtigkeit. Auf seinen Gemälden wurden die Mauern zu monströsen, klippen-artigen Wällen, die nur vom übermenschlichen Mut und Wil len des Volkes erobert werden konnten.

Wie so viele Enthusiasten der ersten Stunde, endete auch Hubert Robert als Gefangener der Revolution. 1789 ließ er sich jedoch ganz von der romantischen Ästhetik,

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zug führten die Aufständischen auch die befreiten Ge-fangenen mit. Anstatt einer großen Zahl von zu Un-recht Eingekerkerten hatten die Aufständischen je-doch lediglich sieben Gefangenen vorgefunden: vier wegen Falschmünzerei verurteilte Kriminelle, einen von seiner Familie wegen seines Lebenswandels eingewie-senen Adligen und zwei Geisteskranke.

Der schon unmittelbar nach der Erstürmung einset-zenden Verklärung und Legendenbildung tat dies je-doch keinen Abbruch. Die Belagerung und Eroberung der Pariser Stadtfestung wurde binnen kurzer Zeit zu einem Mythos, dessen Wirkmächtigkeit bis heute an-hält. An den authentischen Ort der historischen Ereig-nisse vom Sommer 1789 sollte jedoch nichts mehr erin-nern. Schon zwei Tage nach den blutigen Ereignissen vom 14. Juli begann der Architekt und Bauunternehmer Pierre-François Palloy mit den Abrissarbeiten, die sich über ein Jahr lang hinzogen. Auf der heutigen Place de la Bastille, die von der Julisäule (in Erinnerung an die Julirevolution von 1830) und der zur 200-Jahr-Feier der Französischen Revolution eröffneten Opéra Bastille be-stimmt wird, erinnert heute kein baulicher Überrest mehr an das Bauwerk, das wie kein anderes mit dem Beginn der Französischen Revolution verbunden wird, die nicht nur die Geschichte Frankreichs, sondern auch Weltgeschichte der nächsten Jahrzehnte nachhaltig prägen sollte.

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4 Der Sturm auf die Bastille

den überwältigenden Gefühlen des Sublimen [Erhabenen] und des Schrecklichen […] mitreißen. […] Unbestreitbar jedenfalls beschwören die Aufstockung der Bastille auf seinem Gemälde und die winzigen Figuren, die frohlockend über ihre Zinnen springen, ein riesiges gotisches Schloss voller dunkler Geheimnisse herauf, in dem Menschen oh-ne Vorwarnung verschwunden sein könnten, um nie wie-der das Licht des Tages zu erblicken, bis Revolutionäre ihre Gebeine zutage förderten.

Das war die Legende der Bastille. Daneben nahm sich die Wirklichkeit vergleichsweise prosaisch aus. Ende des 14. Jahrhunderts zur Verteidigung gegen die Engländer er-baut, war die Festung von Karl VI. in ein Staatsgefängnis umgewandelt worden. In dem Verruf, eine Art Bermuda-drei eck für Staatsgefangene zu sein, aber war die Bastille erst unter Kardinal Richelieu geraten. In der Tat waren die meisten Häftlinge unter den Bourbonen [französisches Königshaus] durch einen lettre de cachet, also auf einen Haft befehl des Königs, ohne Gerichtsverhandlung einge-wiesen worden. Von allem Anfang an befanden sich viele Hochgestellte darunter: Verschwörer gegen die Krone und ihre Minister; oder religiöse Gefangene, Protestanten, aber zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch Katholiken, die sog. Jansenisten, die der Anstiftung zur Häresie [Abwei-chung, Ketzerei] bezichtigt wurden. Dazu aber gesellten

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3 Die Zerstörung der Bastille. Zeitgenössisches Aquarell von Jean-Pierre Houel. Paris, Musée Carnavalet

sich noch zwei weitere wichtige Kategorien von Häft lingen: Schriftsteller, deren Werke angeblich die öffentliche Moral oder Ordnung oder beide gefährden und zum Aufruhr anstiften sollten; sowie gewöhnlich junge, auf Ersuchen ihrer Familie eingelieferte Delinquenten.

Die Bedingungen variierten erheblich. Die berüchtigten unterirdischen cachots [Kerker], ungesunde, feuchte, von Ungeziefer wimmelnde Löcher, waren zur Zeit Ludwigs XVI. schon nicht mehr in Gebrauch, wohl aber die calottes [Kuppelräume] unmittelbar unter dem Dach, die kaum besser waren, da es im Winter hineinschneite und -reg-nete, während die Inhaftierten im Sommer vor Hitze fast erstickten. Die Mehrzahl der Häftlinge aber hatte es in der Bastille besser getroffen, als sie es in anderen Gefäng nis-sen […] hätte treffen können. (Verglichen mit den Ge-fäng nissen der Tyrannenherrschaften des 20. Jahrhunderts war die Bastille sogar ein wahres Paradies.) Für den Un-ter halt der Gefangenen erhielt der Gouverneur je nach Rang und Stellung fünfzehn Livres pro Tag für Parlaments-räte, neun für „Bürger“ und drei fürs gemeine Volk. Für „Li teraten“, die Erfinder des Mythos von der Festung der Gräueltaten, war paradoxerweise die höchste Summe, neun zehn Livres pro Tag, ausgesetzt. Selbst wenn man den gewiss nicht unerheblichen Gewinn des Gouverneurs und seines service abrechnet, lagen diese Kostgeldsätze

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noch weit über den Lebensunterhaltungskosten des Durch schnittsfranzosen.

Die meisten Gefangenen waren in achteckigen Räumen von ca. 4,80 m im Durchmesser in den mittleren Stock wer-ken der fünf- bis siebengeschossigen Türme untergebracht. Zur Zeit Ludwigs XVI. waren die Zellen mit einem Bett mit grünen Sergevorhängen, ein oder zwei Tischen und meh-reren Stühlen ausgestattet. Alle hatten einen Ofen oder einen Kamin, und in vielen konnte der Häftling auf einem Dreitritt zum dreifach verriegelten Fenster hinaufsteigen. Vielen Gefangenen wurde gestattet, ihre eigenen Sachen mitzubringen und sich Hunde oder Katzen gegen Mäuse und Ratten zu halten. […]

Das Essen – das Ereignis im Leben eines Gefangenen – variierte je nach der sozialen Stellung. Das gemeine Volk, das im Zusammenhang mit dem „Mehlkrieg“ von 1775 fest genommen worden war, dürfte Haferschleim und Suppe mit Schweinebauch oder Hammelfleisch erhalten haben, dazu aber eine ordentliche Portion Brot, Wein und Käse. Um eine bessere cuisine [Küche] vorgesetzt zu be-kommen, musste man keineswegs ein Adliger sein. […]

Natürlich wollte niemand in die Bastille. War man aber einmal dort gelandet, ließ sich das Leben, sofern man zu den privilegierten Schichten zählte, durchaus erträglich gestalten. Alkohol und Tabak waren erlaubt, und unter Lud wig XVI. wurde für alle, die eine Zelle teilten, Karten-spiele eingeführt und für den bretonischen Landadel auf Begehr ein Billardtisch aufgestellt. Einige der inhaftierten Literaten werteten ihren kurzen Bastille-Aufenthalt sogar als eine Art Beglaubigungsschreiben, das sie zu den wah-ren Feinden des Despotismus abstempelte. Der Abbé Morellet z. B. schrieb: „Ich sah die Wände meines Gefäng-nisses förmlich von literarischem Ruhm erleuchtet. Durch die Verfolgung würde ich bekannter werden als je zuvor … das halbe Jahr Bastille würde sich als ausgezeichnete Em-pfehlung erweisen und unfehlbar mein Glück machen.“

Wie Morellets Geständnis verrät, spielte die Verteufelung der Bastille durch die Opposition zum Zwecke der Defini-tion ihres Standpunkts gegen die Staatsgewalt in dem Maße eine immer größere Rolle, als das alte Gefängnis in Wirklichkeit mehr und mehr zum Anachronismus wurde. Nichts aber war so geeignet, die Monarchie (nicht völlig zu Unrecht) als geheimniskrämerische Willkürherrschaft hin zustellen, die nach Lust und Laune über Leben und Tod ihrer Bürger entschied, wie die Bastille, weshalb sie, hätte sie nicht schon existiert, hätte erfunden werden müssen. Und in gewisser Hinsicht wurde sie auch durch eine Reihe von Häftlingsschriften, die die sicher unbestreitbaren Leiden ihrer Autoren maßlos übertrieben, tatsächlich wie-der erfunden. So lebendig und schrecklich waren diese Schilderungen, dass sie zum Sammelbecken der Regime-kritiker werden konnten. Mit Vorliebe bediente sich die ro mantische Sprache der Anti-Bastille-Literatur einer ma-nichäischen [mit religiösem Eifer betriebenen] Schwarz weiß-malerei von Inhaftierung und Freiheit; Geheimhaltung und Offenheit; Folter und Menschlichkeit; Entpersönlichung und Individualität; freier Luft und finsterer Enge. So dass

man, als die Festung schließlich fiel, die enttäuschende Wahr heit vertuschte, damit sie dem Mythos nicht in die Quere kam. Anstatt anzugeben, dass ganze sieben Gefan-gene befreit worden waren (nämlich zwei Irre, vier Fäl-scher und ein zusammen mit de Sade verurteilter aristo-kratischer Delinquent), erfand die Revolutionspropaganda in Text und Bild eine mitreißendere, mit dem Mythos bes-ser übereinstimmende Geschichte.

Simon Schama, Der zaudernde Citoyen. Rückschritt und Fortschritt in der Französischen Revolution, Kindler Verlag, München 1989, S. 395ff.

4 Ein Revolutionär schildert den Sturm auf die BastilleDer Journalist und Rechtsanwalt Camille Desmoulins (1760–1794) gehörte zu den prägenden Gestalten der Französischen Revolution. Mit seinen begeisternden öffent­lichen Reden trug er entscheidend zur Vorbereitung des Sturms auf die Bastille teil. Zwei Tage nach deren Erstür­mung beschrieb er in einem Brief an seinen Vater die sich überstürzenden Ereignisse:Paris, 16. Juli 1789Lieber Vater![…] Wie hat sich in drei Tagen das Gesicht aller Dinge ver-ändert! Am Sonntag war ganz Paris bestürzt über die Ent-lassung [des populären Finanzministers Jacques] Neckers; sosehr ich versuchte, die Geister zu erhitzen, kein Mensch wollte zu den Waffen greifen. Ich schließe mich ihnen an; man sieht meinen Eifer; man umringt mich; man drängt mich, auf einen Tisch zu steigen: in einer Minute habe ich 6000 Menschen um mich. „Bürger“, sage ich nunmehr, „ihr wisst, die Nation hat gefordert, dass Necker ihr erhalten bliebe, dass man ihm ein Denkmal errichte: Man hat ihn davongejagt! Kann man euch frecher trotzen? Nach die-sem Streich werden sie alles wagen, und noch für diese Nacht planen sie, organisieren sie vielleicht eine Bartho lo-mäusnacht [Massaker an den französischen Hugenotten 1572 in Paris] für die Patrioten!“ Ich erstickte fast vor der Menge Gedanken, die auf mich einstürmten, ich sprach ohne Ordnung: „Zu den Waffen“, rief ich, „zu den Waffen! […]“ Dann stieg ich hinab; man umarmte mich, erstickte mich fast in Liebkosungen. […] Mit welcher Geschwin dig-keit griff das Feuer um sich! Das Gerücht von diesem Auf-ruhr dringt bis ins Militärlager; die Kroaten, die Schweizer, die Dragoner, das Regiment Royal-Allemand langen an. Fürst Lambesc, an der Spitze dieses letzteren Regiments zieht zu Pferde in die Tuilerien [Schloss in Paris]. Er säbelt selbst einen waffenlosen Mann von der Französischen Garde nieder und reitet über Frauen und Kinder hinweg. Die Wut flammt auf. Nun gibt es in Paris nur noch einen Schrei: Zu den Waffen! Es war 7 Uhr. […]. Man bricht in die Läden der Waffenhändler ein. Am Montagmorgen wird Sturm geläutet. Die Wahlmänner hatten sich im Stadthaus versammelt. Mit dem Vorsteher der Kaufmannschaft an der Spitze gründen sie eine Bürgerwehr von 78 000 Mann in 16 Legionen. Mehr als 100 000 waren schon schlecht und recht bewaffnet und liefen nach dem Stadthaus, um Waf-

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Unterdrücker wollen alle aus Paris flüchten; aber von Mon-tagabend an war immer eine Patrouille von 50 000 Mann auf den Beinen. Man hat niemand aus der Hauptstadt hin-ausgelassen. […]

Nach dem Handstreich, mit dem die Bastille gestürmt worden war, glaubte man, die rings um Paris lagernden Truppen könnten eindringen, und niemand legte sich schla fen. In dieser Nacht waren alle Straßen beleuchtet; man warf Stühle, Tische, Fässer, Pflastersteine, Wagen auf die Straße, um sie zu verbarrikadieren und den Pferden die Beine zu brechen. In dieser Nacht waren 70 000 Mann unter den Waffen. Die Französischen Garden patrouil-lierten mit uns zusammen. Ich war die ganze Nacht durch auf Wache. […]

Nachschrift: Gestern haben die 150 Abgeordneten und die Wahlmänner im Stadthaus den Frieden proklamiert. Der General von Lafayette ist zum General der 16 Legionen Pariser Milizen ernannt worden, die Französischen und Schweizer Garden wurden zu Nationaltruppen erklärt und sollen künftig, ebenso wie die zwei ersten unserer 16 Le-gi onen, im Sold der Nation stehen. Herr Bailly ist zum Maire [Bürgermeister] von Paris ernannt worden. In die-sem Augenblick legt man die Bastille nieder; Necker ist zurückberufen; die neuen Minister haben abgedankt oder sind abgedankt worden; Foulon [Generalkontrolleur der Finanzen] ist vor Angst gestorben [er wurde tatsächlich von der Volksmenge gehängt und anschließend ent-hauptet]; der Abbé Roy ist gehängt; der Gouverneur der Bastille, sein Stellvertreter und der Vorsteher der Kauf-mann schaft sind enthauptet; fünf Diebe sind an die Laterne gehängt worden; etwa 100 Menschen auf beiden Seiten sind bei der Bastille umgekommen. […]

Zit. nach: Walter Markov, Revolution im Zeugenstand. Frankreich 1789–1799, Bd. 2: Gesprochenes und Geschriebenes, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1982, S. 71ff.

fen zu begehren. […] Das war am Dienstag; der ganze Morgen verging damit, dass man sich bewaffnete. Kaum hat man Waffen, so geht es zur Bastille. Der Gouverneur, der gewiss überrascht war, mit einem Schlag in Paris 100 000 Flinten mit Bajonetten zu sehen, und nicht wusste, ob diese Waffen vom Himmel gefallen waren, muss sehr in Verwirrung gewesen sein. Man knallt ein oder zwei Stun den drauflos, man schießt herunter, was sich auf den Türmen sehen lässt; der Gouverneur, Graf de Launay, er-gibt sich; er lässt die Zugbrücke herunter, man stürzt drauflos, aber er zieht sie sofort wieder hoch und schießt mit Kartätschen drein. Jetzt schlägt das Geschütz der Fran zösischen Garde eine Bresche. Ein Kupferstecher steigt als erster hinauf, man wirft ihn hinunter und bricht ihm die Beine entzwei. Ein Mann von der Französischen Garde ist der nächste, er hat mehr Glück, packt die Lunte eines Kanoniers und wehrt sich; binnen einer halben Stun de ist der Platz im Sturm genommen. Ich war beim ersten Kanonenschlag herbeigeeilt, aber, es grenzt ans Wunderbare, um ½ 3 Uhr war die Bastille schon genom-men. Die Bastille hätte sich sechs Monate halten können, wenn sich irgendetwas gegen das französische Ungetüm halten könnte; die Bastille genommen von Bürgersleuten und führerlosen Soldaten, ohne einen einzigen Offizier! Der selbe Gardist, der im Sturm als erster nach oben ge-kommen war, verfolgt Herrn de Launay, packt ihn bei den Haaren und macht ihn zum Gefangenen. Man führt ihn zum Stadthaus und schlägt ihn unterwegs halbtot. Er ist so geschlagen worden, dass es mit ihm zu Ende gehen will; man gibt ihm auf dem Grèveplatz den Rest, und ein Schlächter schneidet ihm den Kopf ab. Den trägt man auf der Spitze einer Pike und gibt dem Gardisten das Kreuz des heiligen Ludwig; zur selben Zeit nimmt man den Kurier fest und findet in seinen Strümpfen einen Brief für den Vorsteher der Kaufmannschaft; die an den König, die Königin und den Premierminister gerichteten öffnete man und las sie öffentlich vor. Man las einen Brief, der an Herrn von Fleselles [als Vorsteher der Kaufmannschaft Stadt-ober haupt von Paris] war; man sagte ihm darin, er solle die Pariser ein paar Tage hinhalten. Er konnte sich nicht ver teidigen; das Volk riss ihn von seinem Sitz und schlepp-te ihn aus dem Saal hinaus, in dem er den Vorsitz der Versammlung geführt hatte; und kaum war er die Treppe des Stadthauses hinabgekommen, als ein junger Mann die Pistole auf ihn anlegte und ihm eine Kugel vor den Kopf schoss; man ruft: „Bravo!“ Man schneidet ihm den Kopf ab, setzt ihn auf eine Pike, und ich habe auch sein Herz auf einer Pike gesehen, das man in ganz Paris he-rumgeführt hat; am Nachmittag knüpfte man den Rest der Besatzung der Bastille auf, den man in mit der Waffe in der Hand ergriffen hatte; man hängte sie an die Laternen des Grèveplatzes. Man begnadigte ein paar von ihnen und alle Invaliden [altgediente Soldaten] durch Zurufe. Es wurden auch vier oder fünf Diebe auf frischer Tat ergriffen und auf der Stelle gehängt, was die Spitz-buben derart in Bestürzung versetzte, dass man sagt, sie hätten sich alle aus dem Staub gemacht. […] Die

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5 Ein Verteidiger schildert den Sturm auf die BastilleLudwig von Flüe (1752–1817), Leutnant der Schweizer Garde, gehörte am 14. Juli 1789 zu den Verteidigern der Bastille. An seinen Bruder schrieb er kurz nach deren Sturm:[…] Die Bastille liegt in der Vorstadt St. Anton in Paris. Acht Türme, welche mit kurzen Wällen zusammenhängen, bilden den Umfang dieses Schlosses, welches noch mit einem tiefen Graben umgeben ist. Die Höhe der Mauern be trägt ungefähr 80 und die Dicke der Mauern 12 bis 15 Fuß. Diese sind mit einer Plattform bedeckt, auf welcher sich Ba tterien von großem Kaliber befinden und von wo aus man den größten Teil der Stadt beschießen kann. Diese Festung, nach der alten Kriegskunst gebaut, ist so stark, dass Heinrich IV. und andere Könige mehr als sechs Wo-chen und auch mehr als zwei Monate mit Armeen von 30 000 und 40 000 Mann davor gelegen, bevor sie selbe er-o bern konnten. Dieses Schloss wurde schon seit vielen Jahren als Staatsgefängnis gebraucht und war ein Dorn in den Augen der Pariser, weil es dieselben einigermaßen im Zaume hielt. Es wurde von jedermann verabscheut wegen

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7 Der Sturm auf die Bastille

verschiedener durch die Minister verübter Grausamkeiten, die sie vermöge der Steckbriefe in selbem zu vollziehen die Gewalt hatten.

Der Befehlshaber dieses Schlosses, Herr Graf von Launay, ein Mann von geringen Kenntnissen im Kriegs-wesen, ohne Erfahrung, mit wenig Herz, wandte sich schon im Anfang der Unruhen an die Generale der Armee und verlangte, dass man die Besatzung verstärke, die da-mals bloß aus 80 Invaliden [altgedienten Soldaten] be-stand. Er wurde abgewiesen, weil man glaubte, dass der Aufstand nie so heftig werde, und weil man nicht vermu-tete, dass es jemanden in den Sinn komme, sich der Bastille zu bemächtigen. Er wiederholte sein Begehren. Endlich, um ihn zu beruhigen, wurde ich mit 30 Mann auserwählt und den 7. Juli dahin geschickt. […]

Am Morgen des 14. Juli kamen Abgeordnete der Bürger und verlangten, dass man ihnen das Schloss übergebe. Ich glaube, der Herr Gouverneur würde das getan haben, wenn nicht die Herren vom Stab und ich ihm deutlich zu verstehen gegeben [hätten], dass dieses für ihre Ehre un-ge ziemend und nicht ihrer Schuldigkeit gemäß sei. Nach-mittags um drei Uhr wurden wir angegriffen. Eine Menge bewaffneter Bürger und auch einige von den französi-schen Garden bemächtigten sich der Vorhöfe, die wir schon am Tag vorher verlassen [hatten]. Der Gouverneur ließ bei jedem Tor nur einen bewaffneten Mann, um die-ses den Durchgehenden zu öffnen und wieder zu schlie-ßen. Die Fallbrücke und die Tore, welche zum Schloss führten, wurden zerhauen. Dieses konnte leicht gesche-hen, weil es uns verboten war, dieselben von den Türmen aus mit unserem Feuer zu schützen. Nun kam man zur letzten Pforte, welche hauptsächlich den Eingang zur Festung bildet. Nachdem man die Belagerer umsonst er-mahnt, sich zurückzuziehen, da wurde endlich befohlen, auf dieselben zu schießen. Herr Launay hatte sich mit 30 Invaliden auf die Plattform begeben. 30 andere Invaliden waren zu beiden Seiten des Portals in den Zimmern und Schießlöchern, um dasselbe zu beschützen. Es kostete Mühe, bis sie sich dahin begaben. Erst nach vielem Zu-reden konnte man sie bewegen, auf die Feinde zu schie-ßen. Ich befand mich mit meiner Mannschaft in dem Hof des Schlosses, gegenüber dem Portal, wo ich die drei Zweipfünder [Kanonen] hatte, die von zwölf Soldaten be-dient wurden, um den Eingang zu beschützen, wenn das Portal durchhauen wäre. […]

Unterdessen hatten sie [die Belagerer] Wagen mit bren-nendem Stroh auf den Eingang der Brücke gebracht und das Haus des Gouverneurs, welches im Hof lag, in Brand gesteckt. Dies hinderte uns, dass wir den Feind nicht mehr in großer Zahl sehen konnten. Sie hatten acht Achtpfün-der stücke [Kanonen] und einen Bombenkessel herbeige-führt, welche sie nicht weit davon in Batterie gesetzt, von wo sie unsere Türme beschossen, von denen mit unseren Kanonen gegen sie gefeuert wurde. Auf diese Weise schar mützten [kämpften] wir drei Stunden. Die Belagerer hatten, wie wir seither gehört, 160 Tote und Verwundete. Als die Feinde sahen, dass ihr Geschoß ohnmächtig an

den Mauern abprallte, machten sie Anstalten, die Tore einzubrechen, und brachten die Stücke auf die Brücke, welche zum Portal führt. Sobald Herr Launay diese An stal-ten von den Türmen aus sah, schien er gänzlich den Kopf verloren zu haben. Ohne sich mit jemanden vom Stabe oder von der Garnison zu beraten und ihre Meinung zu vernehmen, ließ er durch einen Tambour das Zeichen zur Übergabe geben. Ich hörte auf zu feuern, sah mich nach Herrn Launay um, den ich im Begriffe fand, einen Zettel zu schreiben, worin er den Belagerern meldete: Er habe 2000 Zentner Pulver [1 Zentner = 50 Kilogramm] in der Festung, wenn sie die Kapitulation nicht annehmen, dann werde er die Festung, die Garnison und die ganze Gegend in die Luft sprengen. […] Man wollte nichts von der Kapitulation wissen. Ein allgemeines Geschrei: Man solle die Tore öff-nen und die Fallbrücke herablassen – das war die einzige Ant wort. Ich meldete dem Gouverneur, was vorgegangen, und begab mich unverzüglich zu meinem Volk [hier: Mann-schaft] und erwartete den Augenblick, wo Herr Launay seine Drohung vollziehen werde. Ich verwunderte mich sehr, als ich einen Augenblick nachher vier Invaliden sah, die sich dem Portal näherten, dasselbe öffneten und die Fallbrücke herunterließen. In einem Augenblick war die Fes tung mit Volk angefüllt, das sich unserer bemächtigte und entwaffnete. Wir mussten fürchten, auf hunderterlei Art ermordet zu werden. Man plünderte und verheerte das ganze Schloss. Wir verloren alles, was wir bei uns hatten.

Endlich wurde ich mit einigen von meinen Soldaten, die während dieser Verwirrung bei mir geblieben, hinaus und nach dem Rathaus geführt, auf dem ganzen Weg, welcher fast eine Viertelstunde weit ist, waren die Straßen und Häuser bis auf die Dächer mit unzähligem Volk besetzt, welches mir nichts als Fluchtworte und Drohungen zurief. Unterwegs wurden zwei von meinen Soldaten von dem rasenden Volk ermordet und mehrere schwer verwundet. Ich selbst hatte während dieses Zuges eine Menge von Bajonetten, Flinten, Degen und Spießen auf meinem Leib. Diejenigen, welche keine Waffen hatten, hoben Steine gegen mich auf. Die Weiber knirschten mit den Zähnen und drohten mit den Fäusten. So kam ich unter allge-meinem Geschrei, mit der Aussicht, aufgehängt zu wer-den, bis etwa 200 Schritte vom Rathaus entfernt, als man schon den Kopf des Herrn Launay mir auf einer Lanze entgegenbrachte und selben zum Betrachten darbot. End-lich erreichte ich den Platz de Grève, welcher vor dem Rat-haus ist. Man führte mich neben dem ermordeten Platz-Major vorbei, der noch in seinem Blute lag. Man zeige mir den Leib des Aide-Major [Untermajor]. Gegenüber war man im Begriff, zwei Invalidenoffiziere und drei Gemeine [Soldaten] an einem Laternenpfahl aufzuhängen. Diese alle waren noch kurz zuvor bei mir, und ich pflegte mit ihnen umzugehen, seitdem ich in die Bastille gekommen. In diesem Augenblick bestieg ich die Stiege des Rathauses. Man stellte mich einer Ratsversammlung vor und klagte mich an, dass ich auch schuld sei an dem Widerstand, den man in dem Schloss geleistet und an dem Blut, das ver-gossen worden. Ich suchte mich, so gut als möglich zu

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8 Der Sturm auf die Bastille

entschuldigen und sagte: Ich sei nicht schuld, da ich selbst ein Untergebener gewesen. Wenn einiges Unglück durch mich geschehen, so komme das daher, weil ich die Befehle meiner Oberen vollzogen. Endlich, um mich und die Überbleibsel meines Volkes dem Strang zu entziehen, trug ich ihnen meine Dienste an und übergab mich ihnen und der Nation. Ich erklärte, dass ich mit meinem Volk bereit sei, zu gehorchen, wenn ich ihnen einen Dienst er-weisen könne. Ob nun der Pöbel vom Morden müde war oder ob ihnen meine Verteidigung so überzeugend schien – plötzlich änderten sich die Gemüter und ein allgemeines Händeklatschen und Geschrei: Bravo! Bravo! Bravo! Suisse [Schweiz]! zeigte mir, dass man mein Anerbieten ange-nommen und dass man mir Gnade widerfahren ließ. Sogleich brachte man Wein herbei, und wir mussten trin-ken auf das Wohlergehen der Stadt und der Nation. […]

Zit. nach: Petra Gallmeister (Hg.), Der Sturm auf die Bastille. Die Französische Revolution in Augenzeugenberichten und Stellungnahmen, Verlag Arthur Moewig, Rastatt 1989, S. 60ff.

6 Der Sturm auf die Bastille aus HistorikersichtDer französische Historiker und Rechtsanwalt François­Auguste Mignet (1796–1884) schuf mit seiner 1824 erschie­nenen Geschichte der Französischen Revolution ein lange nachwirkendes Standardwerk. Seine Deutung der Revolu­tion, die ihre verschiedenen Phasen als Teile eines zusam­mengehörenden Gesamtereignisses interpretiert, begrün­dete eine liberale Traditionslinie der Revolutionsgeschichts­schreibung, die Bild und Mythos der Revolution nicht nur in Frankreich langfristig prägen sollte. Über die unmittelbaren Folgen des Sturms auf die Bastille schrieb Mignet:Die Folgen des 14. Juli [1789] waren gewaltig. Von Paris griff die Bewegung auf die Provinzen über; überall folgten die Menschen dem Beispiel von Paris und organisierten eine neue städtische Selbstverwaltung, die Munizipali tä-ten, um sich zu regieren, und Nationalgarden, um sich zu verteidigen. Autorität und Regierungsgewalt wurden völ-lig umgeschichtet; die Nation hatte sie erobert, das König-tum sie durch die eigene Niederlage verloren. Nur die neuen Behörden waren mächtig, und nur ihnen gehorchte

man, während die alten zum Gegenstand des Misstrauens geworden waren. In den Städten richtete sich die Wut ge-gen sie und die Privilegierten, die man nicht zu Unrecht ver dächtigte, Feinde der Revolution zu sein. Auf dem Lande brannte man die Schlösser nieder, und die Bauern warfen die Urkunden ihrer Grundherren ins Feuer. Im Augenblick des Sieges ist es immer schwer, die Macht nicht zu missbrauchen. Aber zur Beruhigung des Volkes war es wichtig, die Missbräuche abzuschaffen, damit es nicht bei dem Vorhaben, sich von ihnen zu befreien, die Privilegien mit dem Eigentum verwechselte. Die Stände waren verschwunden, die Willkür war vernichtet; ihre alte Begleiterin, die Ungleichheit, sollte unterdrückt werden. Von hier aus musste man zur weiteren Festigung der neu-en Ordnung vorschreiten; die Vorarbeiten dazu waren das Werk einer einzigen Nacht. […]

Die Revolution hatte einen sehr schnellen Gang genom-men und in kurzer Zeit sehr große Resultate erreicht. Sie wäre weniger rasch und weniger vollständig gewesen, wäre sie nicht angegriffen worden. Jede Verweigerung wurde für sie der Anlass zu einem neuen Erfolg. Sie verei-telte die Intrige, widerstand der Macht und triumphierte über die Gewalt; und zu der Zeit, bei der wir inzwischen angelangt sind, war das ganze Gebäude der Monarchie durch die Schuld ihrer Häupter zusammengebrochen. Am 17. Juni verschwanden die drei Stände, und die General-stände erklärten sich zur Nationalversammlung. Der 23. Juni hatte dem moralischen Einfluss des Königs ein Ende gemacht und der 14. Juli seiner materiellen Gewalt: Die Nationalversammlung hatte den Einfluss geerbt, das Volk die materielle Gewalt. Endlich hatte der 4. August diese erste Revolution vollendet. Die Periode, die wir durchlaufen haben, unterscheidet sich von den anderen auf eine hervorstechende Weise; während ihrer kurzen Dauer geht die Gewalt in andere Hände über, und alle vor-bereitenden Änderungen erfüllen sich. Die nachfolgende Periode ist die, in der die neue Ordnung erörtert und er-richtet wird und in der die [National-]Versammlung auf-baut, nachdem sie so lange eingerissen hatte.

François-Auguste Mignet, Geschichte der Französischen Revolution von 1789 bis 1814, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1975, S. 81f.

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1. In der Geschichtsschreibung zur Französischen Revolution von 1789 ist mit Blick auf deren Vorgeschichte oft von einer „revolutionären Situation“ die Rede. Was ist damit gemeint? Halten Sie dazu einen Kurzvortrag.

2. Schildern Sie mit eigenen Worten die unmittelbare Vorgeschichte des Sturms auf die Bastille.

3. Stellen Sie sich vor, Sie seien Korrespondent einer Zeitung im revolutionären Paris. Schreiben Sie eine kurze Repor-tage über den Sturm auf die Bastille (M4, M5).

4. Betrachten Sie die Abbildungen M1 und M3. Beschreiben Sie die dargestellten Szenen und Personen und interpre-tieren Sie die von den Künstlern beabsichtigte Wirkung.

5. Der „Sturm auf die Bastille“ wurde schnell zum Mythos. Beschreiben Sie, worin dieser Mythos besteht, welche Mittel zu seiner Verbreitung eingesetzt wurden und worin seine Bedeutung liegt (M2).

6. Nennen Sie weitere Beispiele für historische Mythen. Recherchieren Sie dazu im Internet und in der Bibliothek. Schreiben Sie dazu einen kurzen Essay und achten Sie dabei besonders auf die Widersprüche zwischen Realität und Legende.

Autor: Jens Thiel

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