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Modul Wahrnehmung und Kommunikation Vorlesung Ws · PDF fileIn der Systemtheorie von Niklas...

Date post: 06-Mar-2018
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Vorlesung III Interaktion und Wahrnehmung In der letzten Vorlesung beschäftigten wir uns mit Wahrnehmung und Wahrnehmungstäuschungen/ Störungen unter Blickwinkeln der allgemeinen Wahrnehmungspsychologie und ästhetischer Komponenten. Anhand der zuletzt gezeigten Beispiele von Farb-Kontrasten möchte ich heute anknüpfend einen Bogen schlagen zur Interaktion zwischen Menschen und den besonderen Bedingungen dieser Interaktionen. Im Speziellen weise ich auf das sogenannte Karrierekonzept hin, das sich anders darstellt, als Sie es vielleicht in ihrem Sprachgebrauch bisher benutzen. Zu den Farbkontrasten: Ich unterscheide hier in sukzessiv, simultan und komplementär - Kontrast und mache dies an folgenden Beispielen deutlich: vgl. Albers, Josef. Interaction of color. Köln 1970/97 Ins Gedächtnis rufe ich hier vor allem noch einmal die Aussagen in der letzten Stunde über die Wiedererkennung von Farben und unser relativ schlechtes Rüstzeug dafür. Die Coca Cola Dose hatte ich genannt, eine weitere gute Brücke zu unserem heutigen Thema bildet das Schokoladenlila der Packung einer ihnen gut bekannten Schokoladenmarke. Ich nenne zur Verdeutlichung die Werbeaussage: „It´s cool man“ und als Werbeträger den Skispringer Martin Schmidt. Diese Farbe hat eine lange Vergangenheit und fand seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts mehr Beachtung, da sie für eine ganz bestimmte Art zu genießen und zu Leben stehen kann. Die Farbe hat sozusagen in der Verknüpfung mit der Schokolade Karriere gemacht. Anhand dieses Beispiels sehen Sie gut die Interaktion der Farben, die sich in ihren Wechselwirkungen beeinflussen und hier als Modell für Interaktionsprozesse stehen können. Interaktion benenne ich hier unter soziologischen Gesichtspunkten. Interaktionsbegriff in Soziologie und Psychologie (vgl. Duden Band 5, 4. Auflage 1982, S. 350f.) Interaktion meint, ein "aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen" oder die "Wechselbeziehung zwischen Handlungspartnern". Modul Wahrnehmung und Kommunikation Vorlesung Ws 06/07 R. Lohmiller
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Page 1: Modul Wahrnehmung und Kommunikation Vorlesung Ws · PDF fileIn der Systemtheorie von Niklas Luhmann wird unter Interaktion Kommunikation unter Anwesenden verstanden (etwa im Gegensatz

Vorlesung III Interaktion und Wahrnehmung

In der letzten Vorlesung beschäftigten wir uns mit Wahrnehmung und

Wahrnehmungstäuschungen/ Störungen unter Blickwinkeln der allgemeinen

Wahrnehmungspsychologie und ästhetischer Komponenten.

Anhand der zuletzt gezeigten Beispiele von Farb-Kontrasten möchte ich heute

anknüpfend einen Bogen schlagen zur Interaktion zwischen Menschen und den

besonderen Bedingungen dieser Interaktionen. Im Speziellen weise ich auf das

sogenannte Karrierekonzept hin, das sich anders darstellt, als Sie es vielleicht in

ihrem Sprachgebrauch bisher benutzen.

Zu den Farbkontrasten:

Ich unterscheide hier in sukzessiv, simultan und komplementär - Kontrast und mache

dies an folgenden Beispielen deutlich:vgl. Albers, Josef. Interaction of color. Köln 1970/97

Ins Gedächtnis rufe ich hier vor allem noch einmal die Aussagen in der letzten

Stunde über die Wiedererkennung von Farben und unser relativ schlechtes Rüstzeug

dafür. Die Coca Cola Dose hatte ich genannt, eine weitere gute Brücke zu unserem

heutigen Thema bildet das Schokoladenlila der Packung einer ihnen gut bekannten

Schokoladenmarke. Ich nenne zur Verdeutlichung die Werbeaussage: „It´s cool

man“ und als Werbeträger den Skispringer Martin Schmidt. Diese Farbe hat eine

lange Vergangenheit und fand seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts mehr

Beachtung, da sie für eine ganz bestimmte Art zu genießen und zu Leben stehen

kann. Die Farbe hat sozusagen in der Verknüpfung mit der Schokolade Karriere

gemacht.

Anhand dieses Beispiels sehen Sie gut die Interaktion der Farben, die sich in ihren

Wechselwirkungen beeinflussen und hier als Modell für Interaktionsprozesse stehen

können.

Interaktion benenne ich hier unter soziologischen Gesichtspunkten.

Interaktionsbegriff in Soziologie und Psychologie

(vgl. Duden Band 5, 4. Auflage 1982, S. 350f.)

Interaktion meint, ein "aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer

Personen" oder die "Wechselbeziehung zwischen Handlungspartnern".

Modul Wahrnehmung und Kommunikation Vorlesung Ws 06/07 R. Lohmiller

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Die soziale Interaktion bezeichnet das sich wechselseitig bedingende Handeln der

Individuen einer Gesellschaft oder Gruppe zum Zwecke der Abstimmung des

Verhaltens der Beteiligten bzw. des konkreten Handelns der Kooperationspartner.

Damit wird die Interaktion als ein Aspekt der sozialen Wechselwirkung bestimmt.

Das soziologische Verständnis von Kommunikation kann nicht auf direkte Interaktion

beschränkt werden und diese ist nicht allein aus sich selbst verständlich, da sie von

dem Gebrauch der Medien und deren okönomischen und technischen

Voraussetzungen geprägt ist und in der Regel innerhalb von Institutionen stattfindet.

Nach Parsons muss ein Individuum, das in eine soziale Interaktion eintritt, sich für

eines der von ihm beschriebenen Verhaltensmuster entscheiden. In der

Systemtheorie nach Niklas Luhmann entsteht ein Interaktionssystem aus dem

aufeinander bezogenen Verhalten von Anwesenden (siehe Kommunikation

(Systemtheorie)). Voraussetzung dafür ist wechselseitige Beobachtbarkeit. Unter

dieser Bedingung kann man nicht verhindern, dass (der oder die) andere(n) das

eigene Verhalten als Kommunikation verstehen. Das geschieht genau dann, wenn

dem Verhalten einer Person von einem Beobachter eine Information abgewonnen

/zugeschrieben wird und es damit als Mitteilungshandeln interpretiert wird. Beispiel:

"Warum bekommst Du einen roten Kopf?" Da also Verhalten so gesehen kein

Gegenteil hat, kann man sich bei wahrgenommenem Verhalten nicht nicht verhalten.Vgl. Parsons System der vier Funktionen:

Adaption (oder auf deutsch Anpassung)

Zuständig für die Adaption auf gesellschaftlicher Ebene ist das Wirtschaftssystem

Goal-Attainment (Zielerreichung)

Zuständig für die Zielerreichung auf gesellschaftlicher Ebene ist das politische System

Integration

Zuständig für die Integration auf gesellschaftlicher Ebene ist das Normensystem

Latent Pattern maintenance (Latente Aufrechterhaltung von Wertmustern)

Zuständig für die Aufrechterhaltung von Wertmustern auf gesellschaftlicher Ebene ist das

Kultursystem

Talcott Parsons (* 13. Dezember 1902 in Colorado Springs, Colorado; † 8. Mai 1979 in München;

Werke: "The Structure of Social Action" (1937); "Family, Socialization and Interaction Process" (1955)

(Hrsg. gem. m. Robert F. Bales); "Social Systems and the Evolution of Action Theory" (1977); "Action

Theory and the Human Condition" (1978)

Der symbolische Interaktionismus ist eine soziologische Theorie, die sich mit der Interaktion zwischen

Personen beschäftigt. Sie basiert auf dem Grundgedanken, dass die Bedeutung von sozialen

Objekten, Situationen und Beziehungen im symbolisch vermittelten Prozess der

Interaktion/Kommunikation hervorgebracht wird.

In der Systemtheorie von Niklas Luhmann wird unter Interaktion Kommunikation

unter Anwesenden verstanden (etwa im Gegensatz zur schriftlichen Kommunikation):

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Siehe Interaktionssystem.

Die Schule des symbolischen Interaktionismus (auch Chicagoer Schule) wurde von Herbert Blumer

(1900 - 1987) begründet. Blumer war ein Schüler des Sozialphilosophen und frühen

Sozialpsychologen George Herbert Mead (1863 - 1931). Als Blumer den Symbolischen

Interaktionismus ausarbeitete, orientierte er sich vor allem an Meads Überlegungen zur

stammesgeschichtlichen (phylogenetischen) Bildung des Bewusstseins und persönlichen

(ontogenetischen) Entwicklung der Identität unter Verwendung einer gemeinsamen Sprache:

"Logisches Universum signifikanter Symbole". Siehe auch: John Cunningham Lilly

Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus

Blumer stellte 1981 folgende Grundannahmen zum Symbolischen Interaktionismus

auf:Herbert Blumer (* 7. März 1900; † 13. April 1987) Herbert. Symbolic Interaction: Perspective and

Method (1969)

Menschen handeln gegenüber Dingen auf der Grundlage der Bedeutungen, die

diese Dinge für sie besitzen.

- Die Bedeutung der Dinge entsteht durch soziale Interaktion.

- Die Bedeutungen werden durch einen Prozess; „den interpretativen Prozess“

verändert, in dem selbstreflexive Individuen symbolisch vermittelt interagieren.

- Menschen erschaffen die Erfahrungswelt in der sie leben.

- Die Bedeutungen dieser Welten sind das Ergebnis von Interaktionen und werden

durch die von den Personen jeweils situativ eingebrachten selbstreflexiven Momente

mitgestaltet.

- Die Interaktion der Personen mit sich selbst ist mit der sozialen Interaktion

verwoben und beeinflusst sie ihrerseits.

- Formierung und Auflösung, Konflikte und Verschmelzungen gemeinsamer

Handlungen konstituieren das soziale Leben der menschlichen Gesellschaft.

- Ein komplexer Interpretationsprozess erzeugt und prägt die Bedeutung der Dinge

für die Menschen.

Die Aktivität der Menschen besteht also laut Blumer darin, „..., dass sie einem

stetigen Fluss von Situationen begegnen, in denen sie handeln müssen, und dass ihr

Handeln auf der Grundlage dessen aufgebaut ist, was sie wahrnehmen, wie sie das

Wahrgenommene einschätzen und interpretieren und welche Art geplanter

Handlungslinien sie entwerfen...".Herbert Blumer. Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe

Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1,

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973, S.96

vgl. Blumer: drei Prämissen des Handelns:

1. Menschen handeln Dingen gegenüber auf Grund der Bedeutung, die diese Dinge für sie haben.

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2. Diese Bedeutung entsteht in einem Interaktionsprozess.

3. Die Bedeutung wird von der Person in Auseinandersetzung mit den Dingen selbst interpretiert,

daraufhin entsprechend gehandhabt und geändert.

Blumer, H. Symbolic Interaction: Perspective and Method (1969)

1. Der Handelnde "zeigt" sich selbst die Gegenstände an, auf die er sein Handeln

ausrichtet, er macht sich auf die Dinge selbst aufmerksam, die eine Bedeutung für

ihn haben; dieses "Anzeigen" ist ein internalisierter sozialer Prozess, in dem der

Handelnde mit sich selbst interagiert (Kommunikationsprozess mit sich selbst)

2. Die Interpretation (der Bedeutung des Dings) durch diesen

Kommunikationsprozess ist ein formender, kein automatischer Prozess: Der

Handelnde "sucht [...] die Bedeutungen aus, prüft sie, stellt sie zurück, ordnet sie neu

und formt sie um".Herbert Blumer. Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe

Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1,

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973, S.103

Menschliches Zusammenleben

Der symbolische Interaktionismus verheißt somit, auch komplexe gesellschaftliche

Vorgänge zumindest theoretisch auf seine jeweils kleinste Einheit, das Individuum,

herunter brechen zu können. Gemeinsames, kollektives Handeln stellt hierbei immer

das Resultat bzw. den Verlauf eines Prozesses gegenseitig interpretierender

Interaktionen dar.

Menschliches Zusammenleben besteht also aus und in dem gegenseitigen

Aufeinander abstimmen der Handlungslinien durch die Beteiligten, wobei der

spezifische Charakter der gemeinsamen Handlungen in der Verbindung eben dieser

selbst begründet und unabhängig von dem ist, was jeweils verbunden oder verknüpft

wird.

Das gemeinsame Handeln, welches Blumer auch als das „verbundene Handeln der

Gesamtheit" (siehe oben) bezeichnet, ist somit immer die Gesamtheit der

Verkettungen / Aufeinanderabstimmungen einzelner Handlungen der Individuen und

somit das Ergebnis einer fortwährend ablaufenden, niemals abgeschlossenen

Entwicklung. Vgl. ebd.

Deutungen

Betrachtet man diejenigen Fälle, in denen das gemeinsame Handeln wiederkehrend

und stabil ist (also gesellschaftlich gefestigte, sich wiederholende Muster

gemeinsamen Handelns), so haben die an der jeweiligen Situation beteiligten

Menschen im Voraus ein Verständnis davon, wie sie und andere handeln wollen und

wahrscheinlich werden. Dieses Verständnis ergibt sich aus den gemeinsamen, schon

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bestehenden Deutungen dessen, was von der Handlung eines Teilnehmers einer

Situation zu erwarten ist. Aufgrund eben dieses Verständnisses ist jeder Teilnehmer

in der Lage, sein eigenes Verhalten auf der Grundlage dieser Deutungen zu steuern.

Hierbei besteht die Gefahr, Ursache und Wirkung dahingehend zu vertauschen, dass

man zu dem Schluss kommen könnte, es seien die Normen, Regeln, Werte und

Sanktionen welche das Handeln der Menschen determinieren. Und zwar indem sie

vorschreiben, wie Menschen in den unterschiedlichsten Situationen zu handeln

haben.

Jedoch werden laut Blumer die Interaktionen der Teilnehmer einer Situation nicht von

den Werten und Normen determiniert; sondern die Werte und Normen werden erst

durch das kontinuierliche Aushandeln von Bedeutungen in den Interaktionen der

Teilnehmer konstituiert. Vgl. ebd. S. 106

Fazit

Sowohl wiederkehrende, „eingefahrene" Handlungen als auch neue Formen

gemeinsamen Handelns sind also das Ergebnis eines durch Interaktion

angetriebenen Interpretationsprozesses.

Kultur Definition:

William James Durant gibt in seinem Werk (Kulturgeschichte der Menschheit)

folgende populäre Definition. Dieser Kulturbegriff spart prähistorische Kultur aus:

"Kultur ist soziale Ordnung, welche schöpferische Tätigkeiten begünstigt. Vier

Elemente setzen sie zusammen: Wirtschaftliche Vorsorge, politische Organisation,

moralische Traditionen und das Streben nach Wissenschaft und Kunst. Sie beginnt,

wo Chaos und Unsicherheit enden. Neugier und Erfindungsgeist werden frei, wenn

die Angst besiegt ist, und der Mensch schreitet aus natürlichem Antrieb dem

Verständnis und der Verschönerung des Lebens entgegen."Durant; William James. Kulturgeschichte der Menschheit, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1981. S. 265

Das traditionelle Verständnis von Kultur umschließt den lexikalen Begriff:

Kultur (lat. cultura), Pflege (des Körpers aber primär des Geistes), später im Kontext

mit dem Landbau, aus colere, bebauen, (be)wohnen, pflegen, ehren, (ursprünglich

etwa) emsig beschäftigt sein, ist die Gesamtheit der menschlichen Leistungen.

Sprache, Literatur, Religion und Ethik, Medizin, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft und

Rechtsprechung.William James Durant (* 5. November 1885 in North Adams, Massachusetts; † 7. November 1981

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Wenn also nun die sogenannten Aushandlungsprozesse dafür sorgen, dass wir

gesellschaftlich verabredet Zusammenleben und gemeinsam unser Verhalten

anpassen, dann steht die Frage im Raum, wie kann es dann geschehen, dass es

dennoch immer wieder abweichendes Verhalten gibt und wie lässt sich dies

begrifflich fassen. Der eingangs erwähnte Karrierebegriff ist dabei entscheidend.

Abweichendes Verhalten“: Das Karrierekonzept

Es werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen betrachtet.

Die Strukturen haben Merkmale, unter denen abweichendes Verhalten mehr oder

weniger wahrscheinlich auftritt. Eine Theorie besagte z.B., dass gesellschaftliche

Strukturen, die die Individuen nur schwach einbinden, es eher wahrscheinlich

machen, dass abweichendes Verhalten auftritt. Eine starke Kohäsion macht

abweichendes Verhalten weniger wahrscheinlich. Das bedeutet nun nicht, dass alle

Menschen unter diesen Rahmenbedingungen ein abweichendes Verhalten an den

tag legen, sondern nur, dass ein solches Verhalten eben häufiger auftritt.

Wenn man abweichendes Verhalten speziell als Delinquenz und Kriminalität fasst,

würde diesem Ansatz das Aufgabenfeld der Kriminalprävention in der Sozialen Arbeit

entsprechen. Dort geht es z.B. darum, solche Strukturen in einem Stadtviertel zu

schaffen, dass Kriminalität seltener auftritt.

Betrachtet man soziologisch gesehen das Umfeld der Einzelperson so entspricht

dieser Ansatz eher dem Arbeiten mit Einzelnen, die mit ihrer Lebensgeschichte

kommen und Kontakt zum Hilfesystem haben. Brauchbar ist er z.B. in dem

Arbeitsfeld der Bewährungshilfe.

Wie auch schon in den Interaktionstheorien, von denen Sie einige Muster näher

studiert haben ist hier ein interaktiver Prozess gemeint, der jedem Aushandeln und

auch jeder Entwicklung hin zu etwas, zu Grunde liegt. Die Frage ist: WIE, mit

welchem Prozess, ist jemand abweichend geworden? Der Fachbegriff dafür heißt

„Karriere“. Das Karrierekonzept ist ein Phasenmodell.

In dem Phasenmodell nach Hurelmann beispielsweise gibt es eine Grundannahme:nämlich die Übergänge zwischen den einzelnen Stufen oder Phasen.

Kinder und besonders Jugendliche werden in diesem Prozeß als „produktivrealitätsverarbeitende Subjekte“, als „Konstrukteure ihrer eigenen Lebenswelt“ verstanden(vgl. Hurrelmann, K. (1994): Lebensphase Jugend. (Neuausgabe). Weinheim: Juventa1994, 72).Vgl. dazu:

http://www.ew2.uni-mannheim.de/team/upload/@Folienblock12_JE.pdf und:

http://www.bsj-marburg.de/Pdf-

Dateien/Prof.%20Dr.%20Michael%20Schumann%20Sozialraum%20und%20Biographie.pdf

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Definition:

Karriere: =

ein in Phasen gegliederter Lebenslauf. Zwischen den Phasen

(Stufen) gibt es Übergänge; auf jeder Stufe werden neue

Ausgangsbedingungen wirksam, die neue Verhaltensweisen

ermöglichen.

Beispiele:

- Beruflicher Aufstieg,

- sozialer Abstieg,

- Krankheits- oder Patienten-Karriere,

- Drogenkarriere

,

Hier geht es um die „Karriere“, wie aus den ersten Anfängen eines abweichenden

Verhaltens eine verfestigte Identität als abweichendes Mitglied der Gesellschaft

geworden ist bzw. wird.

Im Folgenden werden kurze Zitate aus Interviews eingefügt, die im Rahmen von

Hausarbeiten im Schwerpunkt Delinquenz (nach meiner Soziologiekollegin C.

Helfferich mit großem Dank) mit entlassenen Strafgefangenen geführt wurden. Die

Studierenden im 7. Semester hatten die Aufgabe, die „Karriere“ der ehemaligen

Häftlinge nachzuzeichnen.

Wie beginnt eine solche Karriere abweichenden Verhaltens?

Erste Phase: Motivation entsteht

Zunächst einmal ist eine erste Phase dadurch gekennzeichnet, dass es eine

Motivation gibt, Normen zu überschreiten. Ohne eine Motivation passiert Nichts. Die

Gründe dafür, dass eine Person für ein abweichendes Verhalten motiviert ist, können

vielfältig sein, insbesondere bei Jugendlichen. Bei Eigentumsdelikten kann der

Wunsch, etwas Begehrtes zu besitzen eine Rolle spielen, bei Drogen der Reiz des

Verbotenen oder schlicht und einfach Neugier etc. Was auch immer es ist und wie

auch immer diese Motivation erklärt wird – viele, aber nicht alle Jugendliche haben

eine solche Motivation. „Ich brauchte Geld“ - wer hätte das nicht gern? Aber nicht alle

gehen auch den nächsten Schritt und begehen tatsächlich eine strafbare Handlung.

„Es hat mich gereizt“ - warum hat er oder sie dem nachgegeben?

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Zweite Phase: Aus Motivation wird Handlung: Die Schwelle des „ersten Mals“

wird überwunden

Wer geht, die Motivation und den Nervenkitzel vorausgesetzt - einen Schritt weiter,

wer nicht? Welche Bedingungen sind dafür wichtig? „Ich hatte einen Kollegen und da

ging’s eigentlich los bei mir mit den Drogen, Da habe ich LSD genommen, zum

probieren. Ich hab da zwar schon mit mir gekämpft, ich kann mich noch entsinnen,

mein Freund, mein bester Freund, der hat mich überredet“ (A). C fängt an, in der

„Armeezeit“ zu rauchen und zu trinken und wird später Alkoholiker. „Ja, anfangs habe

ich noch Nein gesagt, aber dann ging’s doch nicht mehr“.

Eine Schwelle muss überwunden werden. Dies gilt dann auch für die Delikte selbst:

„Und meine Eltern hatten so einen Automatenbetrieb und da hab ich immer

mitgekriegt, wie man die Automaten so manipulieren kann“ Bestimmte Bedingungen

sind notwendig, die Schwelle zu überwinden und die Schwellenangst zu nehmen;

diese Bedingungen sind entweder Bedingungen der Situation (Setting) oder der

Person (Set): z.B. Objektive Gelegenheiten, vielleicht die Vermittlung von Freunden,

die Drogen besorgen, das subjektive Gefühl der Unverwundbarkeit - die Kontrollen,

die andere von dem Schritt über die Schwelle abhalten, werden außer Kraft gesetzt.

Dieses erste Mal ist eine manchmal unmerkliche Zäsur, ein kleiner Einschnitt, aber

ein Übergang zu einer neuen Stufe auf der Karriereleiter: Aus der Motivation ist eine

Handlung geworden.

Die dritte Phase: Die Regeln des Metiers werden gelernt, der Freundeskreis

verengt sich auf die deviante Subkultur

Auch hier gilt: manche bleiben beim ersten Mal, dies gilt insbesondere für den

Konsum weicher illegaler Drogen: Der Großteil der Jugendlichen – etwa 90% -

probiert und lässt es dabei bewenden. Was ist mit denen, die dabei bleiben? A hat so

„Tricks mitgekriegt von den Monteuren... Das hab ich mir abgeguckt und da bin ich

losmarschiert mit meinen Kumpels und haben schon Geld rausgeholt.“ Er

perfektioniert das Geschäft, dehnt es aus, lernt neue Techniken. Parallel geht die

Drogenkarriere weiter: Heroin. Bei B fing es mit Ladendiebstählen an und auch er

„lernte“ die Regeln, was und wie man am Geschicktesten klauen kann - wie ein

„langsamer Prozess des Hineingleitens“ (Hess), wie eine Kette kleiner

Entscheidungen, von denen jede neue, günstigere Voraussetzungen für die nächste,

weitreichendere geschaffen hat. Im Rückblick rekonstruiert, erscheint der Weg oder

Lebenslauf wie ein Schicksal ohne Alternativen, aber wenn man es genauer

betrachtet, sieht man, dass immer wieder kleine Entscheidungen getroffen wurden,

etwas zu tun oder es zu lassen und etwas anderes zu tun. Diese neue Stufe der

Karriere ist für die, die dabeibleiben, nach dem Überwinden der ersten Schwelle vor

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allem ein Lernen, wie die „Regeln des Metiers“, der technische Seite der Kriminalität

in Analogie zu einem zu erlernenden Handwerk, aussehen und funktionieren: Wie

schützt man sich, was ist riskant, wo wird man geklaute Ware los etc.? Alles dieses

Insider-Wissen muss erst erworben werden. Dazu gehört auch, dass sich bei den

Interviewten der Freundeskreis veränderte und mehr und mehr auf die Drogenszene

verengte.

Eine deviante Subkultur erhält ihre (kollektive) Identität immer im Wechselverhältnis

von interner Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft und der dort vorgenommen

Stigmatisierung der devianten Subkultur (vgl. Becker, H. S., Outsiders. Studies in the

Sociology of Deviance, London 1963 (dt. Übersetzung 1973)S. 204). Auch in der von Norbert

Elias und John Scotson untersuchten Etablierten/Außenseiter-Figuration im

englischen Industrievorort Winston Parva bedingen sich Stigmatisierung und

Gegenstigmatisierung gegenseitig (vgl. ebd. S. 216). Etablierte und Außenseiter sind in

ihren kollektiven Identitäten in einer »Doppelbinderfalle« aneinander gekettet wie Herr

Jan Fuhse: Systeme, Netzwerke, Identitäten. Die Konstitution sozialer Grenzziehungen 12 und Knecht

in Hegels Phänomenologie des Geistes (Elias 1976: 28; 1980: 78ff; Hegel 1807: 132ff).

Die vierte Phase: Die externe Definition „Du bist kriminell“ setzt ein

Den Übergang zu einer weiteren Stufe der Karriere markiert das Auftreten der

Strafverfolgungsorgane. In den Interviews wurde auch gefragt: „Gab es einen Punkt,

wo Du gedacht hast, du hast eine Schwelle überschritten, hast etwas gemacht, was

du nicht machen solltest?“ Drei der vier Befragten bringen diesen Punkt mit der

Strafverfolgung in Verbindung: „Also so einen Punkt gab es schon, aber ich habe nie

damit gerechnet, dass man deswegen gleich so hart verurteilt wird.“ Oder „Klar, das

mit dem Automatenknacken, da war ich schon geschockt - oder das war schon neu

für mich, das mit der Polizei was zu tun haben. Das mit dem Automatenknacken war

mir nicht bewusst, dass das kriminell ist, so richtig bewusst wurde mir das erst im

Knast.“

Der Schock kann durchaus heilsam sein. Junge Menschen, die in geringem Maß

Drogen konsumieren, hören mit dem Konsum durchaus auf, wenn sei mit den

gravierenden Konsequenzen konfrontiert werden. Aber bei denjenigen, bei denen

das Verhalten schon verfestigt ist, führen Polizeikontakte unangenehmer Art eher

dazu, dass sie mehr und nicht weniger konsumieren.

Bis zu dem Zeitpunkt, wo die externe Definition „Das ist kriminell“ einsetzt, wird das

eigene abweichende Verhalten - vor allem im Kontext der Clique – eigentlich nicht für

sehr problematisch gehalten. Schon vorher gibt es in der Geschichte aber

„Verurteilungen“ durch Freunde, Schwierigkeiten mit den Eltern, aber deren Meinung

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ist nicht unbedingt gefragt. Die neue Qualität dieser Stufe heißt: Ein klares

Bewusstsein davon: Die anderen – und vielleicht andere, die mir wichtig sind, die ich

vielleicht erst noch kennen lerne - sehen in mir einen Kriminellen“. Und die

Erfahrung, dass dies ein Stigma ist, ein Kainsmal, das auf der Stirn klebt. Die

Menschen, die der Person begegnen, entwickeln typische Erwartungen an mich:

Wenn sie wissen, dass ich im Gefängnis war, erwarten sie von mir Negatives, sie

geben mir keine Chance, und ich gerate immer gleich als Erster in Verdacht, wenn

irgendetwas passiert.

Nach dem Knast wirkt der Schock noch nach, “aber irgendwann wird man so

abgehärtet, isch’s einem wirklich scheißegal. Du hast dann auch irgendwann, wenn

du groß keine Beziehungen mehr hast, also draußen jetzt, weißt, weil viele nix mehr

mit dir zu tun haben wollen, des is ja so, weil wenn du ein Kainsmal hast.“ Im Kontakt

mit „Normalos“ soll die Vergangenheit möglichst geheimgehalten werden - wohl

wissend um die Reaktionen, wenn sie bekannt werden. Das größte Problem ist,

dass alle, die von der Vergangenheit erfahren, den Ex-Knacki als Abweichenden und

nicht als potentiell normalen Menschen behandeln. Das Wissen „Der saß im Knast“

erzeugt in den Interaktionssituationen typisierte Erwartungen, d.h. ein Ex-Knacki ist

damit konfrontiert, dass er auf die Rolle des Abgewichenen festgelegt wird.

Was macht er damit? Wie geht es weiter mit der Karriere?

Fünfte Phase: Die Definition „Ich bin kriminell“ wird übernommen und eine

Selbstdefinition und Identität als Krimineller ausgebildet

Hier gibt es eine Möglichkeit, dass die Karriere abbricht: Die Verhaftung und die

Verurteilung ist ein Schock. Die Rolle „Knacki“, die Erwartung von Abweichung –

„einmal geklaut, immer geklaut“- wird zurückgewiesen. Das muss dann zwar auch

erst wieder durchgesetzt werden („Ich bin nicht so, wie ihr denkt“), aber das kann

gerade ein Motiv für einen Neuanfang sein. Was ist mit denen, die dabei bleiben?

Welche Aspekte spielen dabei eine Rolle?

„Hast Du bei den Straftaten mal das Gefühl gehabt, das ist nicht okay, was Du

machst?“ „Irgendwann nimmer, irgendwann verliert man irgendwie - das ist auch

irgendwo mit Clique hat das was zu tun, und irgendwann verlierst du da den Respekt

davor.“ Die, die dabeibleiben und die dauerhaft damit konfrontiert sind, dass sie als

typische Kriminelle in Interaktionen behandelt werden, übernehmen auf Dauer eine

entsprechende Identität. Dann sind sie nicht mehr Menschen mit einer Geschichte,

die verurteilt wurden, oder Menschen, denen das Kriminelle ihres Tuns erst spät zu

Bewusstsein kam, sondern sie “SIND kriminell“, sie haben die Identität „Kriminelle“.

Man sollte das nicht unterschätzen: Es ist besser. ein Krimineller zu sein, als gar

nichts zu sein.

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Wir können sagen, dass günstige Gelegenheiten vor allem am Anfang der Karriere

eine Rolle spielen. In den späteren Abschnitten der Karriere sind es

Zuschreibungsprozesse und die Übernahme von Zuschreibungen, die eine Rolle

spielen. Die Erklärung von abweichenden Verhalten aus den abweichenden Regeln

in einer besonderen Subkultur heraus ist vor allem für die dritte Phase wichtig. In

manchen Geschichten spielt die eine Phase eine besondere Rolle, dafür wird eine

andere übersprungen, nicht alle Geschichten gelangen bis an den Endpunkt. Immer

gilt: Je weiter der Prozess vorangeschritten ist, desto schwieriger ist es, „abzubiegen“

und „auszusteigen“.

Auch wenn dieses Modell als im Einzelfall nur bedingt zutrifft, so hilft es doch zu

verstehen, wie ein Mensch zu dem Punkt kam, an dem er nun heute ist. Der Ansatz

unterscheidet sich von einem einfachen Ursachendenken:

Einfaches Ursachendenken Prozessdenken

Es gibt eine Ursache.

Die Ursache kann weit zurückliegen, etwa

„eine schlimme Kindheit“.

Es gibt eine Dynamik, bei der die

vorhergehende Phase die

Ausgangsbedingung für die nächste

Phase stellt.

Man kann höchstens von vielen, vielen

kleine Ursachen sprechen.

Ursache und Folge haben einen

statistischen Zusammenhang.

Es gibt eine „Logik“, mit der man auf die

nächste Stufe gelangt: So führt der

Versuch, die Erfahrungen auf einer Stufe

zu bewältigen, zu der nächsten Stufe.

Die Ursache-Wirkungs-Beziehung hat

etwas Mechanisches, fast

Zwangsläufiges.

Auf jeder Stufe gilt es, eine Entscheidung

zu treffen.

So dient das abweichende Verhalten hier dazu, das Denken in Prozessen

beispielhaft vorzuführen. Ein ähnliches Denken in einem Prozess begegnet Ihnen in

Theorien zur Kultur, die ja auch als Prozess zu denken ist, in der Sozialisation, in der

Kommunikation, wie Sie ja bereits gehört hatten.

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II Thema: „Identität“

In der vierten Stufe des Karrierekonzeptes wird von anderen eine Definition

vorgenommen: Die Person, um die es geht, wird von anderen als kriminell definiert

oder „etikettiert“. In der fünften Stufe übernimmt sie diese Definition als

Selbstdefinition. Das geschieht natürlich nicht von heute auf morgen, sondern als ein

Prozess, in dem sich Erwartungen und Definitionen, die andere an uns herantragen,

sich verschränken mit dem, wie wir uns selbst definieren. Das ist ein Wechselspiel –

im Fachbegriff: Eine Interaktion.

In Erinnerung rufe ich hier noch einmal die Definition von Interaktion

Wechselbeziehung, (mind.) zwei Personen beziehen sich in ihrem Verhalten aufeinander.

A reagiert mit dem, was er/sie sagt oder tut, auf B und B reagiert ebenso auf A.

vgl. Duden Band 5, 4. Auflage 1982, S. 350f

Interaktion muss nicht unbedingt immer die persönliche Begegnung sein. Die

persönliche Begegnung von (mindestens) zwei Menschen gilt aber als

Paradebeispiel einer Interaktionssituation. Interaktionssituation bezeichnen wir die

Situation, wenn wechselseitige Erwartungen an einander gerichtet werden.

Die Interaktion kann als ein Wechselspiel der Stufen vier und fünf gezeichnet

werden:

In der Interaktion werden Erwartungen des/der Anderen gefestigt in dem sie

angenommen werden und man reagiert dann so wie erwartet, oder man lehnt die

Erwartungen ab und ich ändere mein Verhalten, um andere Erwartungen zu wecken,

jedenfalls nicht diese zu bedienen.

Erwartungender anderen

Werdenübernommen oderabgelehnt

Gefestigte/veränderteErwartung

Zu denen ichmich verhalte

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An diesem Beispiel sieht man anschaulich, was Interaktion bedeutet. Das Beispiel

zur beruflichen Sozialisation zeigte ebenfalls einen „Karriere-Prozess“. Die

Interaktionen waren dabei: Die Praktikantin erfährt Erwartungen des Teams und der

Anleiterin, dann der Klientin. Alle haben hohe Erwartungen an die Praktikantin, was

ihre berufliche Kompetenz angeht. Sie übernimmt diese Erwartungen. Sie wird als

zugehörig zum Komplex der Profession Sozialer Arbeit definiert und schließlich

definiert sie sich selbst als zugehörig.

Auf der fünften Stufe wird das Produkt benannt, das irgendwann im Laufe der Zeit

aus der Interaktion erwächst: die „Identität als kriminell“ oder die „berufliche Identität“.

Identität im sozialen Sinn ist eine Selbstdefinition als Ergebnis eines

Interaktionsprozesses, in dem Erwartungen und Fremddefinitionen erfahren

werden.

Unter Identität (v. lat.: identitas = Wesenseinheit) eines Menschen (oder einer Sache)

wird häufig die Summe der Merkmale verstanden, anhand derer wir uns (sie sich)

von anderen unterscheiden. Diese Identität erlaubt eine eindeutige Identifizierung im

physiologischen Sinne.Vgl: http://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t

Die Identität eines Menschen besteht darin, dass - dieser Mensch von anderen

Menschen unterscheidbar ist, und - dieser Mensch als derselbe/dieselbe

identifizierbar bleibt, auch wenn er/sie sich verändert.

Identität entsteht immer innerhalb eines Verhältnisses zwischen dem, was etwas ist

und dem, was es nicht ist. Insbesondere wäre kein Mensch in der Lage, ohne andere

Menschen eine Identität als Mensch zu entwickeln. Denn wir sind auf die Menschen,

die wir nicht sind, angewiesen, um uns von ihnen unterscheiden und zugleich

Mensch sein zu können. Insofern ist unsere persönliche Identität in ihrem Wesen

sozial.

Da Identität auf Unterscheidung beruht und "Unterscheidung" ein Verfahren ist, das

ein Ganzes untergliedert ("scheidet"), kann etwas nur als Teil eines Ganzen

"Identität" erlangen. Daher wird verständlich, weshalb Menschen ihre "Identität" als

bestimmte Menschen in einem Wechselspiel von "Dazugehören" und "Abgrenzen"

entwickeln.

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Leibniz sagt: „Zwei Dinge sind identisch, wenn alle ihre Eigenschaften identisch

sind.“Leibnitz, G. W in: DUTENS, LOUIS (1730-1812) Dutens, II. S.277, 755

zum problem der personalen Identität: http://www.jp.philo.at/texte/CuypersS1.pdf

Gottfried Wilhelm Leibniz (* 1. Juli 1646 in Leipzig; † 14. November 1716 in Hannover)

Insbesondere in der kriminologischen Diskussion wurde in den 70er Jahre eine

Theorie entwickelt, die die Prozesse der Fremdetikettierung oder Fremddefinition in

den Mittelpunkt gestellt haben („Labeling“-Theorie; vgl. Becker 1963). Sie beschäftigen

sich mit der Frage, inwieweit Menschen sich (in einem späteren Stadium ihrer

Karriere; in der Übersicht gehören die Labeling-Theorien zu der vierten Stufe)

abweichend verhalten, weil sie als abweichend etikettiert wurden und weil nichts

anderes als abweichendes Verhalten von ihnen erwartet wird.

Damit haben wir einen ersten Zugang zu den beiden Begriffen der Interaktion und

Identität (im soziologischen Sinn) gefunden.

(1) Die Vermittlung von Erwartungen geschieht also immer in einer

Interaktionssituation, in der sie geäußert oder realisiert werden.

Das, so denkt man zuerst, ist ja eigentlich ganz einfach, da wir ja immer und

jederzeit, wenn wir mit Menschen zusammen sind oder mit ihnen Kontakt

haben, interagieren. Doch damit Interaktion und Kommunikation gelingen,

müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Üblicherweise sind sie erfüllt,

aber wenn sie fehlen, merkt man erst ihre Bedeutung.

(2) Beide bringen Erwartungen in eine Interaktionssituation ein. Ich erwarte,

dass Dinge so eintreten, wie es meinem Vorwissen entspricht, wie es meinen

Erfahrungen entspricht oder wie ich es für normal und typisch halte.

Was erwarte ich von meinem Gegenüber, wenn wir essen gehen? Dass sie

mit Messer und Gabel isst. Ich weiß nämlich, dass man das so macht.

Außerdem sagt mir meine Erfahrung mit dieser Person, die ich schon etwas

länger kenne, dass sie sich immer ganz manierlich benimmt und ich erwarte

natürlich, dass die Prozesse weiter so ablaufen wie ich sie kenne und es nicht

einen plötzlichen Bruch gibt. Außerdem ist es eben ganz normal, mit Messer

und Gabel zu essen.

Was es heißt, das Typische zu erwarten wird noch in einem anderen Beispiel

deutlicher: Ich bin mit einer Person verabredet, die ich nicht kenne. Ich habe

als Vorinformation die klassischen Bildzeitungsangaben: Anna B., 42,

wohnsitzlos, also Geschlecht (erkennbar am Namen), Alter und Beruf/

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Alltagssituation. Ich habe daraufhin bestimmte Vorerwartungen und halte nach

einer Person Ausschau, die diesen Erwartungen entspricht, Wenn ich sie dann

getroffen habe, kann ich vielleicht sagen: Also Sie hätte ich mir ganz anders

vorgestellt. Vorurteil ist ein zu starkes Wort dafür, eher trifft die Bezeichnung

„Vorerwartung“.

Ohne diese Vorerwartungen können wir nicht leben. Sie gehören zu jedem

abstrakten Denken dazu. Abstrakt denken heißt: Sich eine Vorstellung von

einem Ding zu machen, die sich von einer konkreten Erscheinungsform löst.

Ein Spiel verdeutlicht das:

Wenn Sie an die Frage denken: “Nennen Sie bitte ein Werkzeug, Nenne Sie

eine Farbe, eine Blume, einen Baum,

Typisierungen begleiten unser Denken auf allen Wegen.

Fazit ist, dass ich bestimmte Erwartungen in eine Interaktionssituation

einbringe und mein Gegenüber ebenso. Das allein ist aber wenig spannend,

es benennt erst die Ausgangssituation und sagt noch nicht wie es nun zur

Identität kommt.

(3) Ich erfahre in der Interaktionssituation die Reaktion der anderen auf meine

Handlungen, ihre Haltung mir gegenüber und ihre Erwartungen, die sie

einbringen. Ich (I) erfahre mich (Me) damit selbst, ich nehme wahr, wie sie

mich wahrnehmen.

Beispiel: Ein Schüler meldet sich immer wieder im Unterricht. In der Pause sagt ein

Mitschüler abfällig zu ihm: „Du Streber“, oder zu anderen: „Der ist ein Streber“. Die

Reaktionen der Mitschüler machen deutlich, dass er für sie ein Streber ist, sie definieren ihn

als Streber. Die Mitschüler haben die „Typisierung“, dass ein typischer Streber einer ist, der

sich immer meldet. Er gilt nun fortan als Streber und die Mitschüler erwarten auch weiter ein

Verhalten, dass sie aus ihrer Sicht negativ bewerten. Der Schüler hat nun die Rolle eines

Strebers.

Eine typische Situation ist Seminarbeteiligung von Studierenden, da sind die

Schnellen Sprinter, die sofort den Finger heben, auf alles eine passende

Antwort zu haben scheinen und diejenigen, ich bezeichne sie als

Marathonläufer, die lange brauchen, bis sie den Finger heben um dann kurz

etwas mitzuteilen, die einen könnten als Streber, die anderen als Langweiler

wahrgenommen werden, obwohl sie selbst nur eine rege innere Beteiligung

haben, oder sich ihre Worte eben gut überlegen, bevor sie sprechen.

Schweigende sind auch der besonderen Beobachtung ausgesetzt, weil sie ja

kaum verwertbares Material zur Interaktion preisgeben und so sehr zum

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auslegenden bewertenden Beobachten reizen. Schau mal was sie jetzt wieder

macht, war die nicht grade bei dem oder der DozentIn im Zimmer?

Die Worte „I“ und „Me“ sind hier von Bedeutung. Diese Differenzierung, dass

ein Mensch aus einem „I“ und einem „Me“ besteht, stammt von Georg Herbert

Mead, einem der wichtigsten Vertreter des symbolischen Interaktionismus.George Herbert Mead (* 27. Februar 1863 in South Hadley, Massachusetts, USA † 26. April

1931 in Chicago, USA)

Mead, Herbert. * Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus.

Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1968

* Sozialpsychologie. Luchterhand-Verlag, Neuwied 1969

* Gesammelte Aufsätze. 2 Bände. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1980 – 1983

vgl. Harald Wenzel: George Herbert Mead zur Einführung. Junius-Verlag, Hamburg 1990.

Es ist ein Teil meiner Erfahrung von mir selbst, dass ich sehe, wie diese

anderen mich sehen. Sie zeigen mir das in der Interaktion. Eine solche

Konstruktion kann man bilden, weil Menschen sich selbst sehen, sich zu sich

selbst verhalten können. Der grundsätzliche Gedanke ist, dass sich der

Schüler selbst erfährt, indem er erfährt, wie andere ihn sehen. „Indem ich die

Reaktion anderer auf mein Handeln, also deren Haltung mir gegenüber

erfahre, sie verinnerliche oder ‚internalisiere’, vollzieht sich zugleich (…) eine

Selbst-Erfahrung oder Selbst-Konstitution. So wird – als ein Beispiel – dem

Schüler in der reaktion seiner Mitschüler plötzlich klar, dass er als ‚Streber’

wahrgenommen wird: Indem er sich mit den Augen der anderen wahrnimmt,

erfährt er sich als ein „mich“, ein „me“ im Sinn von Mead.“(Bohnsack 1993, S. 41)

vgl. dazu: Bohnsack, Ralf (1989). Generation, Milieu und Geschlecht. Ergebnisse aus

Gruppendiskussionen mit

Jugendlichen. Opladen: Leske + Budrich.Vgl. dazu Bohnsack nimmt hier auf das Interaktionsmodell von George Herbert Mead Bezug:„Wenn (im Sinne von Mead) eine Geste oder Äußerung ihre Signifikanz oder Bedeutung imKontext der Reaktionen der anderen Beteiligten erhält, so konstituiert sich also in der Relationvon (empirisch beobachtbarer) Äußerung und (empirisch beobachtbarer) Reaktion eine(implizite) Regelmäßigkeit, die es dann zu erschließen bzw. zu explizieren gilt“.Bohnsack, Ralf (2001): Dokumentarische Methode: Theorie und Praxis wissenssoziologischerInterpretation. In: Hug, Th. (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen? Bd. 3.Baltmannsweiler: Schneider, S. 326-345.

Das „Me“ steht für „Mich“ und meint zunächst das Bild, da andere von mir

haben und mir vermitteln. Der Schüler hört, dass andere ihn Streber nennen

und denken: Der ist ein Streber.

Das „I“ das ist das handelnde und wahrnehmende Ich. Das I geht eben nicht in

dem Me auf. Das I kann sich nach dem Me richten, es kann das Bild

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übernehmen, was in dem Beispiel hieße: „Na gut, ich bin offenbar ein Streber“.

Das I kann das Bild aber auch zurückweisen: „Ich habe das doch ganz anders

gemeint und es geht mir überhaupt nicht darum, in der Schule gut zu sein, es

hat mich bloß das Thema interessiert“ etc.

Die Frage ist, wie zentral oder prägend diese Art der Selbsterfahrung ist: sich

selbst in den Augen anderer zu erfahren. Für Kinder ist diese Art der

Selbsterfahrung bedeutsamer als für Erwachsene. Und bei Erwachsenen

hängt es sehr davon ab, wie wichtig die Person ist, in deren Augen man sich

spiegelt.

(4) Identität wird „ausgehandelt“, indem es dem I gelingt, eine bestimmte

Selbstpräsentation durchzusetzen und die Aspekte des Me, die in

unterschiedlichen Interaktionssituationen erfahren werden, zu integrieren.

Studierende müssen aufgrund der immer wieder neuen Aushandlung eben

nicht warten, bis eine gefestigte Meinung irgendwann einmal erneuert wird.

Die Aushandlung bedeutet, man kann sich neu einbringen und die

Präsentation des sogenannten „Selbst“ mit bestimmen, in dem man die „me“-

Komponente mit in seine Handlungen einbezieht. Diese eigene Präsentation

des Selbst kann zu neuen Aushandlungsprozessen und zu neuen

Präsentation des Selbst führen. Studierende die sich schnell melden und viel

dsagen beispielsweise können diese Präsentation einbringen als „engagiert,

aber lässig“.

Die Frage ist, ob er diese Präsentation durchsetzen kann gegen die

vorhandenen Definitionen und Erwartungen von Streber.

In der Interaktionssituation ist es so, dass ich auch auf eine bestimmte Art und

Weise anerkannt werden möchte, ich möchte, dass die anderen mich in einer

bestimmten Weise erfahren. Wenn mir dies gelingt und ich dies aus den

Reaktionen der anderen spüre, dann stärkt sich sein Selbstbild, meine

Identität. Wenn mir diese Anerkennung aber dauerhaft versagt bleibt, muss ich

mich entweder gegen diese Erfahrungen von Reaktionen, die nicht so sind,

wie ich sie mir wünsche, die also meine Präsentation nicht anerkennen,

immun machen, mir andere suchen, die diese Selbstpräsentation anerkennen,

oder ich muss mein Selbstbild irgendwann ändern: Vielleicht bin ich doch ein

Streber? Langweiler, etc.

Viele Selbstzweifel insbesondere bei Jugendlichen lassen sich in diesem

Zusammenspiel der Fragen von: Wer möchte ich sein – als was möchte ich

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dass die anderen mich sehen? erklären. gerade in diesem Alter geht es

gerade um die Frage „wer bin ich?“ und darum auszuprobieren, wie andere

auf Inszenierungen von Selbst reagieren. Aber es gilt auch für höheres Alter.

Einer der schwierigsten Punkte ist es, zu erfahren, dass die anderen die

gewünschte Identität als eine oder einer, die sich selbst achten kann,

versagen und die Selbsterfahrung vermitteln, dass man in den Augen der

anderen eben ein Versager ist.

Ein Beispiel für eine Figur, die beharrlich an ihrer Selbstpräsentation festhält,

ist Don Quixotte. Er ist der Ritter. Er schirmt sich dagegen ab wahrzunehmen,

dass die anderen ihn nicht als Ritter, sondern als Spinner sehen. Wir würden

dieses Beispiel aber nicht als alltagstypisch einschätzen.

(5) Als „Aushandlung“ wird dies auch deshalb bezeichnet, weil zwei daran

beteiligt sind, die beide eine Selbstpräsentation einbringen, die sie bestätigt

bekommen möchten. Beide haben zugleich den Part, die Präsentation des

Anderen anerkennen oder zurückweisen zu können.

Es wird aus diesem Grund auch der Begriff verwendet, dass Identität

ausgehandelt wird. Es ist ein Handel: Als was zeige ich mich? Was erfahre

ich, wie die anderen mich sehen? Wie kann ich sei dazu bringen, dass sie

mich als das anerkennen, als was ich anerkannt werden möchte? Können wir

uns einigen in dem Sinn, dass ich deine Präsentation anerkenne und du

meine? Das beinhaltet auch eine Offenheit: Mein Gegenüber B geht vielleicht

mit einer Vorerwartung in die Situation hinein, aber ich habe die Chance, diese

Vorerwartung zu verändern.

(6) Die Chancen zur Durchsetzung der eigenen Präsentation hängen ab von der

(sozialen) Macht in der Interaktionssituation.

An dieser Stelle stellt sich wieder die Frage der Definitionsmacht. Eine

klassische Situation bei männlichen Jugendlichen ist die Frage, ob sie ihre

Präsentation als Mann durchsetzen können oder ob ihnen Männlichkeit

abgesprochen wird. Ob eine Person in einer Situation ihre Definition und ihre

Erwartungen durchsetzen kann, ist eine Frage der Macht. Wenn der Junge in

einer Interaktionssituation Macht hat, kann er von den anderen die

Anerkennung seiner Präsentation verlangen. Wenn der andere die Macht hat,

kann er die Anerkennung gnadenlos verweigern. Immer wieder kommen wir

bei der Identitätsbildung auf die Frage der Macht in der Interaktion zurück,

also einem sozialen Aspekt, der Interaktion strukturiert.

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Das Beispiel habe ich nicht zufällig gewählt. Das, was hier diskutiert wird,

sollte auch der Rahmen sein, in dem die Bedeutung von Mann, Frau,

Mädchen, Junge zu sehen und zu analysieren ist. Üblicherweise wird –

insbesondere in der psychologischen Tradition – von Geschlechtsrollen und

Geschlechtsrollenerwartungen gesprochen, aber das lässt den Aspekt der

Identität, die sich in der Interaktion bildet, außen vor.

Nehmen wir als Beispiel: Verhalten von jugendliche Mädchen und Jungen

bedeutet häufig die Präsentation von bestimmten Weiblichkeiten oder

Männlichkeiten, von der sie möchten, dass das Gegenüber sie anerkennt.

Ausprobieren, daraus lernen, als zugehörig z.B. zum Kreis erwachsener

Männer behandelt werden, sich selbst zugehörig fühlen – hier finden wir

wieder die Elemente des „Karriereprozesses“, nur steht am Ende nicht

abweichende oder professionelle Identität, sondern Identität als Frau oder

Mann. Das Konzept beinhaltet, dass Frauen sich auch als „männlich“

präsentieren können und in der Interaktion „männliche“ Züge anerkannt

bekommen möchten; umgekehrt können Männer versuchen, in der Interaktion

eine „weibliche“ Facette ihrer Identität durchzusetzen.

Wenn Sie diese Überlegungen nachvollziehen wollen, können Se einfach

Gespräche von jugendlichen Mädchen und Jungen darauf hin abklopfen, wo

und wie sie in der Interaktion etwas präsentieren, etwas anerkannt bekommen

möchten, wo sie umgekehrt beim gegenüber etwas anerkennen oder

zurückweisen und schließlich wie sie mit den Reaktionen umgehen und sie in

ihre Identität, die sich heraus bildet, einbauen.

Kehren wir noch einmal zurück zu unserem Ausgangspunkt, der Wahrnehmung. In

unserem kleinen Beispiel stehen sich zwei als Persönlichkeiten und auch als kleine

Identitäten auszumachende Farbfelder gegenüber. Die gegenseitige Beeinflussung

und die Präsentation ihrer Eigenschaften, als Beispiel sei hier das Milka Lila (Violett)

genannt lassen es aber noch nicht zu, dass Sie den unterschiedlich wirkenden

Farben eine unterschiedliche Identität zubilligen. Ihre Vorprägung, ihr Wissen über

den Kontext und die - mit aller Vorsicht gesprochen - Macht der Präsentation (z.B.

Werbung, oder tägliches Einkaufserlebnis) lässt eine Neuorientierung momentan

nicht zu. Sie werden sich in den nun folgenden Seminarveranstaltungen mit je

eigenen Teilaspekten der in den letzten drei Vorlesungen erörterten Teilaspekten

eingehender beschäftigen.

Jugendkultur als Kommunikationskultur, Kultur als sich ständig weiterentwickelnder

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Prozess in der Betrachtung und in den Kulturerkundungen. Sie sehen die rezeptive

Wahrnehmung von und durch Medien in der Medienpädagogik, und die

Auseinandersetzung der Gestaltung und partizipierenden Betrachtung neuer Medien

(kein Vorwissen nötig) und den aus Interaktionen gewonnenen kulturellen

Gegebenheiten in Ritualen und Mythen der Kulturgeschichte.

Und mit Maybritt Illner wünsche ich Ihnen dabei viel Spaß beim Vermehren der

gewonnene Einsichten.

Verteilen der Milka Schokolade

Literatur zu abweichendem Verhalten:

Grohall, K.-H. (2000): Soziologie des abweichenden Verhaltens und der sozialen Kontrolle. In:Biermann, B. et al. (Hg.): Soziologie, gesellschaftliche Probleme und sozialberufliches Handeln.Neuwied/Kriftel: Luchterhand, 151-200; Giddens, A. (1995): Soziologie, Graz: Nauser & Nauser, Kap.5: Konformität und Devianz

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Literatur zu Identität/symbolischem Interaktionismus

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