38 GIESSEREI 103 02/2016
TECHNOLOGIE & TRENDS
VON HERBERT WERNER, INGO LAPPAT UND BENJAMIN AURICH, MEUSELWITZ
Die Basisnorm für Gusseisen mit Kugelgrafit (EN-GJS) DIN EN 1563 [1] wurde vor ca. 4 Jahren um die
mischkristallverfestigten Qualitäten GJS 450-18, 500-14 und 600-10 erwei-tert. Damit stehen neben den klassischen Güten GJS 450-10, 500-7 und 600-3 Sor-ten mit verbessertem Eigenschaftsniveau zur Verfügung.
Die neu aufgenommenen, rein ferritischen Güteklassen GJS 450-18, 500-14 und 600-10 (Bild 1) werden durch einen an-gehobenen Si-Gehalt erzeugt und zeich-
nen sich im Vergleich zu konventionellen ferritisch-perlitischen Varianten durch folgende Eigenschaften aus:> Erhöhung der Duktilität ohne Festig-
keitsverlust,> Steigerung des Streckgrenzenverhält-
nisses (0,2 %-Dehngrenze Rp0,2/Zug-festigkeit Rm) auf ca. 0,8 (von ca. 0,6),
> Verbesserung der Bearbeitbarkeit durch ein homogen-ferritisches Grund-gefüge (genormte Härtedifferenz DHBW = 30; vorher zwischen 50-80).
Vor dem Hintergrund der wachsenden kundenseitigen Nachfrage wurden durch die Forschungsabteilung der Meuselwitz Guss Eisengiesserei GmbH Versuchsrei-
hen durchgeführt, um diese Werkstoffe prozesssicher herzustellen und an spezi-elle Kundenanforderungen anzupassen.
Stand der Technik
Gusseisen mit Kugelgrafit (EN-GJS) ist ein stabil erstarrender Eisengusswerkstoff mit sphäroidischer Kohlenstoffmorpholo-gie. Diese Grafitform führt zu einer mini-mierten inneren Kerbwirkung gegenüber dem klassischen Grauguss (EN-GJL) und garantiert Zugfestigkeiten von Rm = 350-900 MPa bei Dehnungen von A = 22-2 %.
Erfahrungsgemäß erfolgt die Definiti-on des Eigenschaftsniveaus über das Fer-rit-Perlit-Verhältnis. Dabei kann mit Hilfe
Mischkristallverfestigte EN-GJS-Werkstoffe für Groß- und Schwergussteile
Grundrahmen und Lagerdeckel (Gesamt-masse: 11,3 t) aus mischkristallverfestig-tem GJS. Oben rechts: Mikrogefüge einer An-gussprobe, 70 mm Wanddicke (Zugfestig-keit Rm: 535,2 MPa, 0,2 %-Dehngrenze Rp0,2: 456,3 MPa, Dehnung A5: 15,2 %).
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von Legierungselementen wie beispiels-weise Mn, Cu oder Sn der Anteil an Perlit im Grundgefüge beeinflusst und auf die-sem Wege in Form eines steigenden Per-litanteils zur Verfestigung beigetragen werden. Mit steigender Festigkeit sinken allerdings die duktilen Eigenschaften. Auf-grund von variierenden Abkühlungsver-hältnissen bei geometrisch komplexen Bauteilen ist ein definiertes Ferrit-Perlit-Verhältnis im Gusszustand nicht in allen Fällen darstellbar. Abweichungen diesbe-züglich äußern sich in einer wechselnden mechanischen Bearbeitbarkeit.
Mischkristallverfestigte Gusseisenquali-täten werden dagegen über die Zugabe von Silizium erzeugt, das den Ferrit sta-bilisiert, ihn verfestigt und gleichzeitig die Perlitbildung unterdrückt. Bild 2 verdeut-licht die entstehenden mikrostrukturellen Unterschiede. Während sich die konven-tionellen Siliziumgehalte im Gusseisen mit Kugelgrafit zwischen 1,9-2,7 %* bewegen, enthalten die modifizierten Sorten bis zu 4,3 % Silizium. Der Wirkungsmechanis-mus ist auf zwei Haupteffekte zurückzu-führen:> zunehmende Ferritisierung des Grund-
gefüges und > Mischkristallverfestigung des stabili-
sierten Ferrits.
Bild 3 visualisiert die Aufweitung des sta-bilen eutektoiden Umwandlungsbereiches (Austenit -> Ferrit + Grafit) mit steigendem Si-Gehalt. Damit wird die Ferritbildung auch bei schnelleren Abkühlungsge-schwindigkeiten (kleinere Wanddicken) begünstigt und eine homogene metallische Grundmatrix entsteht. Aufgrund der zuneh-menden Gefügehomogenität (vgl. Bild 2) ist anhand der Mikrostruktur anschließend
keine eindeutige Aussage über die zu er-wartende mechanische Eigenschaft zu treffen.
Die Mischkristallverfestigung wird durch unterschiedliche Atomradien von Eisen und Silizium hervorgerufen. Silizium besetzt reguläre Gitterplätze der kubisch-raumzentrierten Elementarzelle (Ferrit) und bildet daher einen in atomarer Sicht-weise verspannten Substitutionsmisch-
KURZFASSUNG:Erst durch die Verwendung von Silizium wird ein Eisengusswerkstoff wahrhaf-tig gießbar. Doch die Wirkung von Silizium im Gusseisen beschränkt sich nicht nur auf die Verringerung der Kohlenstofflöslichkeit und die Verschiebung der Gleichgewichtstemperaturen des Ausgangssystems Fe-C, es werden damit ebenso die mechanischen Eigenschaften maßgeblich beeinflusst.
Die Forschungsaktivitäten von Löblich u. a. [4, 5] sowie die Aufnahme der „neuen Sphärogussgeneration“ in das Normenwerk führten zu einer gestei-gerten Marktattraktivität und erhöhter kundenseitiger Nachfrage. Mittlerwei-le beinhalten selbst Unternehmensstandards Anforderungen an mischkristall-verfestigte GJS-Werkstoffe, welche das genormte Eigenschaftsprofil überstei-gen.
Dem Si-Legieren sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Für die Gewährleis-tung der geforderten mechanischen Eigenschaften bedarf es dennoch einer restriktiven Einhaltung des Prozessfensters.
In diesem Beitrag wird über die Einführung und die Erprobung von misch-kristallverfestigten GJS-Werkstoffen in der Meuselwitz Guss Eisengießerei GmbH berichtet.
*Sofern nicht anders erwähnt, handelt es sich bei den prozentualen Angaben zur Zusammensetzung um Massenanteile
0,30
0,40
0,50
0,60
0,70
0,80
ferrit/perlit (Rm) Si-legiert
Rp0
,2 /
Rm
150
250
350
450
550
650
0
100
200
300
400
500
600
700
800
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24
Stre
ckgr
enze
Rp0
,2 in
MP
a
Empfohlener Si-Gehalt für mischkristallverfestigtes GJS in %
Zugf
estig
keit
Rm
in M
Pa
Bruchdehnung A in %
600-10
450-18
400-18
500-7
500-14
600-3
4,3 3,8 3,2
A
A
konventionellmischkristallverfestigt
Bild 1: Übersicht des Eigenschaftsniveaus unterschiedlicher EN-GJS-Qualitäten im Vergleich.
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TECHNOLOGIE & TRENDS
GJS-400-18 GJS-500-7 GJS-600-3
GJS-450-18 GJS-500-14 GJS-600-10
Bild 2: Mikrostrukturen von ferritischperlitischem und Si-legiertem GJS.
Eigenschaftssteuerung beim „klassischen“ GJS: Ferrit-Perlit-Verhältnis
Eigenschaftssteuerung beim MK-GJS: Si-Gehalt
Austenit
850
800
750
Austenit + Ferrit
Ferrit
Si in %2 3 4
Umwandlungstemperatur in °C
Bild 3: Si-Beeinflussung des eutektoi-den Umwandlungsbereiches, nach [2].
286 pm
rSi = 117,6 pm
rFe = 124 pm
kubisch-raumzentriert
Bild 4: Si-induzierter Substitutionsmischkristall, nach [3].
2
Siliziumgehalt in %
4,3 % Si
4 53 76
650
600
550
500
450
400
350
300
250
Zugf
estig
keit
R m in
MPa
ElementzugabekeineMn 0,6 %Cr 0,3 %Mn 1 %Cr 0,6 %V 0,26 %
2
Siliziumgehalt in %
4,3 % Si
4 53 76
25
20
15
10
5
0
Bruc
hdeh
nung
in %
ElementzugabekeineMn 0,6 %Cr 0,3 %Mn 1 %Cr 0,6 %V 0,26 %
Bild 5: Zugfestigkeit (a) und Bruchdehnung (b) bei steigenden Si-Gehalten, nach [4].
a b
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kristall (vgl. Bild 4). Damit steigt mit zu-nehmenden Si-Gehalten der Grad der Verfestigung.
Aktuelle Veröffentlichungen [4, 5, 6] be-schreiben die Auswirkungen eines stei-genden Si-Gehaltes (bis zu 6 %) auf die mechanischen Eigenschaften von EN-GJS (Bild 5).
Aus den Ergebnissen von Löblich u. a. [4] konnte ein Si-Grenzgehalt von 4,3 % er-mittelt werden. Ein Überschreiten führt zu einem drastischen Abfall der Dehnung, begleitet von reduzierten Festigkeiten. Dies wird auf die Bildung einer Überstruk-tur mit reduzierten mechanischen Eigen-schaften zurückgeführt. Daraus ist abzu-leiten, dass eine sehr exakte Einhaltung der chemischen Zusammensetzung Grundvoraussetzung ist, um diese Werk-stoffe prozesssicher herzustellen.
Versuchsdurchführung bei Meuselwitz Guss
Um die Auswirkungen einer veränderten Schmelztechnologie auf das für die Gie-ßerei typische Produktionsspektrum zu übertragen, fanden Voruntersuchungen an einer Flügelprobe (Bild 6) statt. Mit Hilfe dieses Probekörpers können Werk-stoffprüfungen mit verschiedenen Wand-dicken (hier 40-100 mm) durchgeführt werden. In Bild 7 finden sich die Verläufe von Zugfestigkeit, Streckgrenze und Bruchdehnung für Wanddicken von 80 und 100 mm.
Aus den Voruntersuchungen können Grenzwerte des zulässigen Si-Gehalts de-finiert werden – dieser sollte zwischen 4,1-4,4 % liegen. Zu erkennen ist, dass der Steilabfall der Dehnung dem Festig-keitsverlust vorauseilt.
Einen Vergleich zwischen den norma-tiven Mindestanforderungen und den ers-ten erhaltenen Festigkeiten und Dehnun-gen im Versuchsteil zeigt Bild 8. Dieser Vergleich zeigt, dass die Anforderungen erfüllt und in den meisten Fällen auch deutlich übererfüllt werden. Für die mischkristallverfestigen EN-GJS-Werk-
stoffe existieren bei Wanddicken jenseits von 60 mm keine normativen Richtwerte, was einen Vergleich diesbezüglich ver-hindert.
Zusammenfassung
Mischkristallverfestigtes EN-GJS zeichnet sich durch eine Reihe von Vorteilen aus. Primär ist eine Erhöhung von Zugfestigkeit und Streckgrenze zu verzeichnen. Des Wei-teren ist das Niveau der Dehnung dem von ferritisch-perlitischen EN-GJS-Sorten deut-lich überlegen. Metallurgisch ist ein Si-
40 mm100 mm
80 mm 60 mm
Bild 6: Flügelprobe (Nettogewicht 400 kg).
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Grenzwert von ca. 4,3 % einzuhalten, um einen Verlust der positiven Eigenschaften zu vermeiden. Ferner liefert ein gestei-gertes Streckgrenzenverhältnis neue Möglichkeiten für den Konstrukteur, das Leichtbaupotential von Gusseisenwerk-stoffen weiter auszuschöpfen.
Erste Voruntersuchungen und Abgüs-se im Hause Meuselwitz Guss konnten den aktuellen Stand der Technik am Guss-teil verifizieren. Die skizzierten Erkennt-nisse zeigen, dass sich mischkristallver-festigte EN-GJS-Werkstoffe auch für den Einsatz im Bereich Großguss qualifizieren.
Im Rahmen weiterführender Untersu-chungen zur prozesssicheren Herstellung dieser Werkstoffgruppe wurde es durch geeignete metallurgische Maßnahmen möglich, auch bei größeren Wanddicken entsprechende Kennwerte nachzuweisen. Weiterhin konnten von der DIN-Norm ab-weichende Variationen erstellt werden, die an spezielle Anforderungen des Kun-den angepasst wurden. Derzeit werden bei Meuselwitz Guss die mischkristallver-festigten Gusseisen mit Kugelgrafit für Gussteile aus den Bereichen Mühlenher-stellung (Zement, Kalkstein, Kohle), Kunststoffeinspritzmaschinen, Pressen-bau, Antriebstechnik und Windkraftanla-gen eingesetzt.
Dipl.-Ing. Herbert Werner, Dipl.-Ing. Ingo Lappat und Dipl.-Ing. Benjamin Aurich, Meuselwitz Guss Eisengießerei GmbH, Meuselwitz
Literatur:[1] D. D. I. f. N. e. V.: DIN EN 1563:2011 Gießereiwesen – Gusseisen mit Kugelgra-fit. Beuth Verlag GmbH, Berlin, 2012.[2] Rio Tinto Iron & Titanium Inc.: Sorelme-tal – Gusseisen mit Kugelgrafit. Montreal, Québec, 2004.[3] Askeland, D. R.: Materialwissenschaf-ten. Springer, 2010.[4] Giesserei 100 (2013), [Nr. 7], S. 30-47.[5] Giesserei 100 (2013), [Nr. 8], S. 42-53.[6] China Foundry (2009), [Nr. 11], S. 343-351.
5
10
15
20
0
100
200
300
400
500
600
20 40 60 80 100120140160180200220240260280300
A in
%
Rm
und
Rp0
,2 in
MP
a
Wanddicke in mm
400-18C-LT 450-18C 600-10C
40 6040 60 80 100 40 60
Bild 8: Vergleich der Mindesteigenschaften (Richtwerte aus Gussstückproben) lt. DIN EN 1563 (hellgrün und hellblau) mit den erhaltenen Eigenschaften der Flügel-probe (dunkelgrün und dunkelblau).
0
5
10
15
0
100
200
300
400
500
600
2 2,2 2,4 2,6 2,8 3 3,2 3,4 3,6 3,8 4 4,2 4,4 4,6
A in
% R
m u
nd R
p0,2
in M
Pa
Si-Gehalt in % Rm - 80 mm Rm - 100 mmRp0,2 - 80 mm Rp0,2 - 100 mmA - 80 mm A - 100 mm
Bild 7: Ergebnisse der Flügelprobe.
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