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Methodologie in der Naturgeschichtsforschung · Mittels der Cladistik soll ein System der...

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1 Methodologie in der Naturgeschichtsforschung Reinhard Junker, Rosenbergweg 29, 72270 Baiersbronn (Stand: 23. 4. 2009) Zusammenfassung: Die Erforschung der Geschich- te der Natur erfolgt methodisch auf andere Weise als die experimentelle Forschung. In der Naturge- schichtsforschung steht die Suche nach Indizien („smoking guns“) für singuläre Ereignisse im Vor- dergrund; Falsifikationsversuche sind nicht prak- tikabel, Falsifikationen kaum möglich. Um unter mehreren konkurrierenden Szenarien die zutreffen- de zu finden, werden eindeutige Indizien benö- tigt. In der experimentellen Forschung steht dage- gen gewöhnlich eine einzige Hypothese im Zen- trum des Interesses. Falsifikationen sind hier zwar prinzipiell möglich; falsifizierende Befunde könn- ten aber auf fehlerhafte Hilfshypothesen zurück- zuführen oder selbst fehlerhaft sein (vgl. Duhem- Quine-These). Daher versucht man, durch Ver- suchsvariationen falsche Widerlegungen, aber auch irreführende Bestätigungen auszuschließen. Die Fragen um Schöpfung, Design und Evolu- tion fallen in den Bereich der Naturgeschichtsfor- schung und müssen mit der entsprechenden Me- thodologie behandelt werden. Die Suche nach „smoking guns“ für „Schöpfung“ oder für plan- volles Wirken ist legitim und nicht außerhalb von Wissenschaft. Einführung Es werden zunächst Artikel zweier Autoren vorge- stellt, die eine besondere Methodologie der histori- schen Naturforschung im Vergleich zur experimen- tellen Forschung vertreten. Die Argumentation der Autoren soll ausführlich dargestellt werden, wobei auch eigene Überlegungen einfließen. In kürzerer Form werden anschließend einige Argumente wei- terer Autoren zusammengefasst, die ebenfalls für eine besondere Methodologie in der Evolutionsfor- schung plädieren. Damit soll die Frage aufgeworfen werden, inwieweit deren Argumente für die Schöp- fungsforschung fruchtbar gemacht werden können. Die Nichtfalsifizierbarkeit von Cladogrammen und ihre Konse- quenzen“ (Vogt) Lars VOGT hat einen Artikel über die Nichtfalsifizier- barkeit von Cladogrammen und ihre Konsequenzen geschrieben (VOGT 2008). Die Cladistik genießt weit- hin den Ruf, die wissenschaftlich objektivste Metho- de zu sein, um stammesgeschichtliche Abfolgen (den Verlauf der Evolution der Lebewesen) zu rekonstru- ieren. Der POPPERsche Falsifikationismus könne nach verbreiteter Auffassung auf cladistische Verfahren in der Naturgeschichtsforschung angewendet wer- den (vgl. BOCK 2000b, 36). Die Falsifizierbarkeit von Hypothesen gilt zudem als eines der wichtigsten Kriterien für Wissenschaftlichkeit (vgl. STAMOS 1996, 173). Wenn Cladogramme tatsächlich nicht falsifi- zierbar wären und Falsifizierbarkeit zugleich ein unabdingbares Kriterium für Wissenschaftlichkeit wäre, würde die cladistisch arbeitende Phylogene- tik aus dem Bereich der Wissenschaft fallen. Um VOGTs Aussage von der Nichtfalsifizierbar- keit von Cladogrammen nachvollziehen zu können, sollen zunächst die Cladistik und der POPPERsche Fal- sifikationismus zunächst kurz erläutert werden. Zur Cladistik. Mittels der Cladistik soll ein System der Organismen erstellt werden, welches ausschließ- lich auf phylogenetischer Verwandtschaft (Abstam- mung) basiert. Gruppen innerhalb eines solchen Systems müssen monophyletisch sein. Eine monophy- letische Gruppe enthält alle Nachfahren einer Stamm- art sowie die Stammart selbst, jedoch keine Arten, die nicht Nachfahre dieser Stammart sind. Grundlage für die Erstellung monophyletischer Gruppen sind gemeinsame abgeleitete Merkmale, sogenannte Synapomorphien. Diese werden als Indiz für einen gemeinsamen Vorfahren gewertet, der die- ses Merkmal bereits besaß. Das Ergebnis einer cladi- stischen Analyse ist eine Verwandtschaftshypothe- se, die als Cladogramm dargestellt wird, ein gabelig verzweigtes Diagramm (Abb. 1). Anders als ein Stammbaum hat das Cladogramm nur terminale (am Ende stehende) Arten oder höhere Taxa. Für das Abb. 1: Einfaches Cladogramm in zwei Darstellungs- formen. Grundlage für die Erstellung monophyleti- scher Gruppen (hier: A und B) sind gemeinsame abgeleitete Merkmale, sogenannte Synapomorphien (Balken). Cladogramme visualisieren Verwandt- schaftshypothesen.
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Methodologie in der Naturgeschichtsforschung

Reinhard Junker, Rosenbergweg 29, 72270 Baiersbronn (Stand: 23. 4. 2009)

Zusammenfassung: Die Erforschung der Geschich-te der Natur erfolgt methodisch auf andere Weiseals die experimentelle Forschung. In der Naturge-schichtsforschung steht die Suche nach Indizien(„smoking guns“) für singuläre Ereignisse im Vor-dergrund; Falsifikationsversuche sind nicht prak-tikabel, Falsifikationen kaum möglich. Um untermehreren konkurrierenden Szenarien die zutreffen-de zu finden, werden eindeutige Indizien benö-tigt.

In der experimentellen Forschung steht dage-gen gewöhnlich eine einzige Hypothese im Zen-trum des Interesses. Falsifikationen sind hier zwarprinzipiell möglich; falsifizierende Befunde könn-ten aber auf fehlerhafte Hilfshypothesen zurück-zuführen oder selbst fehlerhaft sein (vgl. Duhem-Quine-These). Daher versucht man, durch Ver-suchsvariationen falsche Widerlegungen, aber auchirreführende Bestätigungen auszuschließen.

Die Fragen um Schöpfung, Design und Evolu-tion fallen in den Bereich der Naturgeschichtsfor-schung und müssen mit der entsprechenden Me-thodologie behandelt werden. Die Suche nach„smoking guns“ für „Schöpfung“ oder für plan-volles Wirken ist legitim und nicht außerhalb vonWissenschaft.

Einführung

Es werden zunächst Artikel zweier Autoren vorge-stellt, die eine besondere Methodologie der histori-schen Naturforschung im Vergleich zur experimen-tellen Forschung vertreten. Die Argumentation derAutoren soll ausführlich dargestellt werden, wobeiauch eigene Überlegungen einfließen. In kürzererForm werden anschließend einige Argumente wei-terer Autoren zusammengefasst, die ebenfalls füreine besondere Methodologie in der Evolutionsfor-schung plädieren. Damit soll die Frage aufgeworfenwerden, inwieweit deren Argumente für die Schöp-fungsforschung fruchtbar gemacht werden können.

„Die Nichtfalsifizierbarkeit vonCladogrammen und ihre Konse-quenzen“ (Vogt)

Lars VOGT hat einen Artikel über die Nichtfalsifizier-barkeit von Cladogrammen und ihre Konsequenzengeschrieben (VOGT 2008). Die Cladistik genießt weit-hin den Ruf, die wissenschaftlich objektivste Metho-de zu sein, um stammesgeschichtliche Abfolgen (den

Verlauf der Evolution der Lebewesen) zu rekonstru-ieren. Der POPPERsche Falsifikationismus könne nachverbreiteter Auffassung auf cladistische Verfahrenin der Naturgeschichtsforschung angewendet wer-den (vgl. BOCK 2000b, 36). Die Falsifizierbarkeit vonHypothesen gilt zudem als eines der wichtigstenKriterien für Wissenschaftlichkeit (vgl. STAMOS 1996,173). Wenn Cladogramme tatsächlich nicht falsifi-zierbar wären und Falsifizierbarkeit zugleich einunabdingbares Kriterium für Wissenschaftlichkeitwäre, würde die cladistisch arbeitende Phylogene-tik aus dem Bereich der Wissenschaft fallen.

Um VOGTs Aussage von der Nichtfalsifizierbar-keit von Cladogrammen nachvollziehen zu können,sollen zunächst die Cladistik und der POPPERsche Fal-sifikationismus zunächst kurz erläutert werden.

Zur Cladistik. Mittels der Cladistik soll ein Systemder Organismen erstellt werden, welches ausschließ-lich auf phylogenetischer Verwandtschaft (Abstam-mung) basiert. Gruppen innerhalb eines solchenSystems müssen monophyletisch sein. Eine monophy-letische Gruppe enthält alle Nachfahren einer Stamm-art sowie die Stammart selbst, jedoch keine Arten,die nicht Nachfahre dieser Stammart sind.

Grundlage für die Erstellung monophyletischerGruppen sind gemeinsame abgeleitete Merkmale,sogenannte Synapomorphien. Diese werden als Indizfür einen gemeinsamen Vorfahren gewertet, der die-ses Merkmal bereits besaß. Das Ergebnis einer cladi-stischen Analyse ist eine Verwandtschaftshypothe-se, die als Cladogramm dargestellt wird, ein gabeligverzweigtes Diagramm (Abb. 1). Anders als einStammbaum hat das Cladogramm nur terminale (amEnde stehende) Arten oder höhere Taxa. Für das

Abb. 1: Einfaches Cladogramm in zwei Darstellungs-formen. Grundlage für die Erstellung monophyleti-scher Gruppen (hier: A und B) sind gemeinsameabgeleitete Merkmale, sogenannte Synapomorphien(Balken). Cladogramme visualisieren Verwandt-schaftshypothesen.

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Weitere ist auch der Begriff „Konvergenz“ wichtig.Ähnliche Merkmale werden als Konvergenzen in-terpretiert, wenn sie (trotz Ähnlichkeit) nicht voneinem gemeinsamen Vorfahren abstammen sollen,der dieses Merkmal bereits besaß. Ein objektives,theorieunabhängiges Kriterium für die Unterschei-dung von Konvergenzen und Apomorphien gibt esnicht (Diskussion bei JUNKER 2002; vgl. auch JUNKER

2006).

Zum Falsifikationismus. Falsifikation (Widerlegung)einer Hypothese funktioniert nach dem modus tol-lens („aufhebender Modus“) wie folgt:

h (Hypothese)b Randbedingungen¬ e (non e, negativer Basissatz)

Konklusion: non h (die widerlegte Hypothese, da statt enon e eingetreten ist)

Dabei ist h die zu prüfende Hypothese, b Back-ground-Wissen inkl. Hilfshypothesen, ¬ e ein Basis-satz (s. u.). Hypothesen müssen bestimmte Beobach-tungen verbieten, die nicht bereits durch das Hinter-grundwissen verboten sind. Sonst sind sie nicht test-bar und damit im POPPERschen Sinne metaphysisch.POPPER bezeichnete potentiell falsifizierende Befun-de ¬ e als „Basissätze“ („basic statements“), das sindalso Aussagen, die als empirische Falsifizierungsba-sis fungieren sollen.1 Dazu ein Beispiel:

Hypothese: Alle Körperzellen der Menschen haben46 Chromosomen.Basissatz ¬ e: Es gibt derzeit in Deutschland Men-schen, deren Körperzellen weniger oder mehr als 46Chromosomen besitzen.

Konklusion: Nicht alle Körperzellen der Menschenhaben 46 Chromosomen.

Die Hypothese ist also falsifiziert, wenn ¬ e auftritt:

¬ e ist wahr

(h & b) ist falsch

Da es einen Fall gibt, welcher der Hypothese wi-derspricht, ist sie somit falsifiziert.

Doch damit ist nicht sicher, dass die Hypothese htatsächlich falsch ist. Denn Hypothesen sind immerin eine „Gewebe“ von Hilfshypothesen und Rand-bedingungen (inklusive der Möglichkeiten undGrenzen von Messgeräten und Untersuchungsmög-lichkeiten) eingebettet (b im obigen Schema). Beispie-le dazu folgen weiter unten. Beim Auftreten von ¬ ekann man daher nur schließen. dass mit (h & b) ins-gesamt etwas nicht stimmt. Es könnte auch die Be-obachtung von ¬ e fehlerhaft (z. B. aufgrund einerfehlerhaften Messung). Daher kann beim Auftreten

eines falsifizierenden Befundes nur geschlossenwerden, dass das ganze setting inkonsistent ist. Dasist Inhalt der sogenannten Duhem-Quine-These. Dem-nach kann eine Hypothese nur dann als falsifiziertbetrachtet werden, wenn man annimmt, dass dasHintergrundwissen und der Basissatz ¬ e wahr sind,was grundsätzlich nicht als sicher gelten kann. Wel-che Komponente falsch ist (h, b oder ¬ e), kann durcheinen falsifizierenden Befund alleine nicht sichergeklärt werden.2

Daher ist grundsätzlich keine „strikte Falsifizie-rung“ möglich (die eindeutig die Hypothese trifft),sondern nur eine „methodologische“ oder „logischeFalsifizierung“. Damit ist gemeint, dass es Basissät-ze geben muss, die durch die Hypothese verbotensind, also potentiell falsifizierende Befunde („poten-tial falsifiers“).

Eine Hypothese ist empirisch umso gehaltvoller,je mehr Falsifizierungsmöglichkeiten es gibt. Undeine Hypothese, die viele Falsifikationsversucheüberstanden hat, besitzt einen hohen Grad an Bestä-tigung und kann in diesem Sinne als momentan be-ste Erklärung gelten.3 Kurz: Viele Falsifikationsmög-lichkeiten → viele Falsifikationsversuche überstan-den → hoher Grad an Bestätigung → beste Erklä-rung.

Sind Cladogramme falsifizierbar?

VOGT zeigt, dass Cladogramme prinzipiell nicht fal-sifizierbar sind. Es gibt demnach keine gegenwärti-gen Beobachtungen, die durch irgendwelche Ab-stammungshypothesen (die durch Cladogrammevisualisiert werden) verboten werden. Weder dasHintergrundwissen („descent with modification“)noch eine bestimmte Baumhypothese verbieten dasVorkommen bestimmter Merkmalskonstellationen.4Das Problem: Merkmalsübereinstimmungen könnenals Apomorphien oder als Konvergenzen interpre-tiert werden. Selbst wenn Apomorphie-Hypothesengetestet werden könnten (s. u.), beinhalteten dieseTests damit nicht zugleich auch Tests auf Monophy-lie. Das heißt: Der gemeinsame Besitz abgeleiteterMerkmale (als Apomorphien interpretiert) ist keinunzweifelhafter Beleg für die Abstammung von ei-nem gemeinsamen Vorfahren. Und umgekehrt falsi-fiziert das Auftreten einer Konvergenz nicht dieMonophylie einer bestimmten Organismengruppe.Dieser Sachverhalt soll weiter erläutert werden.

Inkongruenzen. Es kommt häufig vor, dass verschie-dene Merkmalskomplexe einander widersprechen-de Monophylie-Hypothesen unterstützen. Ein ein-faches Beispiel: Zu einem bestimmten Zeitpunkt magein bestimmtes Merkmal X nur bei den Arten A undB bekannt sein. Später aber wird ein Merkmal Y ent-deckt, das nur bei den Arten B und C, nicht aber beiA vorkommt (Abb. 2). Damit liegt eine Inkongruenzvor. Das neue Merkmal widerspricht der Apomor-

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phie von X, umgekehrt spricht die Verteilung von Xdagegen, dass es sich bei Y um eine Apomorphiehandelt. Eines der beiden Merkmale kann keineApomorphie, sondern muss eine Konvergenz sein.5Eine der beiden Apomorphie-Hypothesen muss alsofalsch sein. Bei Inkongruenzen können wir nun abernur sagen, dass nicht alle Apomorphie-Hypothesendes untersuchten Merkmalssets tatsächliche Apo-morphien erfassen; mindestens eine muss eine Kon-vergenz darstellen. Man kann aber nicht schließen,welches konvergent ist. Das Cladogramm in Abb. 2wird durch das neu gefundene Merkmal Y damitnicht widerlegt. Daher spricht VOGT von einer asym-metrischen Beziehung zwischen dem Konzept derApomorphie and dem Konzept der Monophylie:Selbst wenn eine Falsifikation einer Apomorphiemöglich wäre, würde dies nicht die Monophylie fal-sifizieren, auch wenn diese (u.a.) mit Hilfe der Apo-morphie begründet worden war.

Der Kongruenztest – also der Test auf Überein-stimmung von Dendrogrammen (Ähnlichkeitsbäu-men) auf der Basis verschiedener Daten oder Daten-sätze – ist damit nur ein Test auf Apomorphie, d. h.ein Test darauf, ob bestimmte spezialisierte („abge-leitete“) Merkmale als von einem gemeinsamen Vor-fahren abstammend interpretiert werden können.VOGT diskutiert drei Strategien, das Problem derNichtfalsifizierbarkeit zu umgehen, und weist siezurück. Er kommt zum Schluss, dass Cladogrammegegenwärtige Tatsachen nicht erklären können unddaher metaphysische Hypothesen repräsentieren.

Nach der Duhem-Quine-These müssen beim Auf-treten von Inkongruenzen sogar das angenommeneHintergrundwissen (descent with modification) und dieBasissätze auf den Prüfstand.6 Das heißt zum einen:Eine Bestimmung eines Merkmals als Apomorphiekann fehlerhaft sein (z. B. durch fehlerhafte oderungenaue Beobachtung). Es kann aber auch die Ab-stammungslehre, die als selbstverständliches Hin-tergrundwissen der Cladistik zugrunde liegt, falsch

sein. VOGT rechnet allerdings nicht mit dieser Mög-lichkeit.

Aber auch wenn man das Hintergrundwissennicht antastet, gilt immer noch: Bei Inkongruenzenkönnen selbst bestimmte Apomorphie-Hypothesennicht falsifiziert werden, man kann nur sagen, dass(mindestens) eine aus dem ganzen Paket falsch seinmuss. Auch das Sparsamkeitskriterium ermöglichtkein POPPERsches Testen, da weitere Daten die Situa-tion jederzeit wieder ändern können. Daher ist eineendgültige Widerlegung einer bestimmten Verwandt-schaftshypothese nicht möglich. „As a consequence,the congruence test as a Popperian test can providecorroboration only to sets of hypotheses of apomor-phy and not hypotheses of monophyly or phyloge-netic trees“ (VOGT 2008, 66).

Schlussfolgerung von VOGT

POPPERs Falsifikationismus ist von vielen Philosophenkritisiert worden. Nach VOGT ist es an der Zeit, dasseine eigene Philosophie der Phylogenetik entwickeltwerde, die den spezifischen Anforderungen einerhistorischen Wissenschaft genügt, die nicht nachuniversalen Gesetzen und Regelhaftigkeiten sucht,sondern besondere historische Ereignisse zu rekon-struieren versucht. Der Falsifikationismus funktio-niert für ihn jedenfalls im Bereich der Naturge-schichtsforschung nicht.7 Man könne eben keineAussagen über universale Evolutionsgesetze testen.Die epistemische Situation in der Phylogenetik ma-che die Einzigartigkeit der phylogenetischen For-schung in den biologischen Wissenschaften aus.

VOGT mahnt allerdings nur eine Aufgabe an, ohneeine konkrete Lösung vorzuschlagen. Eine gangbareVorgehensweise kann aber nur darauf hinauslaufen,diejenige Verwandtschaftshypothese zu bevorzugen,die am besten von den Beobachtungsdaten und demakzeptierten Hintergrundwissen unterstützt wird.Dieses Vorgehen kommt einem Indizienbeweis sehrnahe.8

„Historische Wissenschaft, expe-rimentelle Wissenschaft und diewissenschaftliche Methode“(Cleland)

Der Forderung nach der Beschreibung einer eigenenMethode in der Naturgeschichtsforschung ist CarolCLELAND schon vor einigen Jahren nachgekommen.Sie stellt in zwei Artikeln nicht nur einen grundsätz-lichen methodologischen Unterschied zwischen hi-storischer und experimenteller Naturwissenschaftheraus, sondern beschreibt auch eine gangbare undzugleich die tatsächlich praktizierte Methode in derNaturgeschichtsforschung, die sich von der Metho-dik in der experimentellen Forschung unterscheidet(CLELAND 2001; 2002a). Darüber hinaus begründet sie,

Abb. 2: Inkonguenz in einem Cladogramm. Diebeiden Merkmale können nicht gleichzeitig alsSynapomorphien interpretiert werden. Solche Merk-malsverteilungen treten häufig auf.

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warum beide Bereiche methodisch verschieden vor-gehen müssen. CLELAND verbindet damit das Anlie-gen, zu zeigen, dass historische Wissenschaft gegen-über der experimentellen in puncto Testmöglichkei-ten der Hypothesen nicht minderwertig ist.

Die Vorstellung, dass alle guten Wissenschaftlerdieselbe Methode einsetzen, um Hypothesen zu te-sten, sei zwar populär, bewahrheite sich aber in derPraxis der historischen und experimentellen Wissen-schaften nicht. Experimentelle Wissenschaft mache Vor-hersagen und Tests unter möglichst kontrolliertenBedingungen, um Gesetzmäßigkeiten herauszufin-den. Sie sind also zukunftorientiert: es werden Pro-gnosen aufgestellt, die durch Tests geprüft werden.Dagegen nimmt historische Wissenschaft unbeobacht-bare Ereignisse als Ursachen an, die nicht oder nurteilweise (durch Simulationen) im Labor nachgestelltwerden können (z. B. wenn das Aussterben der Di-nosaurier auf einen Meteoriteneinschlag zurückge-führt wird). Gegenwärtige Beobachtungen werdendurch vergangene Ursachen erklärt.

Historische Wissenschaft ist nicht minderwertig,aber anders. Historische Wissenschaft muss nachCLELAND zwar gewöhnlich anders vorgehen als ex-perimentelle Wissenschaft, ist aber deshalb nichtweniger wert. Die Autorin zeigt dies anhand zweierPunkte:

1. Experimentelle Wissenschaft ist nicht so „hoch-wertig“ wie ihr Ruf; es gibt allgemein verbreitete fal-sche Auffassungen darüber.

2. Es gibt eine Ursachen-Asymmetrie zwischengegenwärtigen und vergangenen Ereignissen auf dereinen Seite, und gegenwärtigen und zukünftigen Ereig-nissen auf der anderen Seite. Der Charakter der In-formation, die zum Test der Hypothesen genutztwird, ist verschieden.

In dem ausführlicheren Artikel in Philosophy ofScience (CLELAND 2002a) macht die Autorin die Ein-schränkung, dass es gewisse Überlappungen derMethoden gebe, dass aber die von ihr beschriebenenverschiedenen Methoden in den beiden Bereichenjeweils vorherrschten (S. 474).

Zur experimentellen Wissenschaft. Ähnlich wie VOGT

stellt CLELAND heraus, dass der FalsifikationismusPOPPERs in der Praxis nicht funktioniert, weder in derexperimentellen noch in der historischen Forschung.Daher könne die Methode der Falsifikation nicht alsBegründung für eine Überlegenheit der experimen-tellen Wissenschaften ins Feld geführt werden. Fal-sifizierungen könnten außer auf einen Fehler bei dergeprüften Hypothese auch auf einen Fehler bei denallen Tests zugrunde liegenden Hilfshypothesen hin-weisen (Duhem-Quine-These; s. o.). In der experi-mentellen Forschung bestehe daher die Gefahr fal-scher Widerlegungen (false negatives). Ebenso könn-ten aber auch falsche Bestätigungen (false positives)eintreten, wenn statt der zu testenden Hypothese inWirklichkeit eine der zugrunde liegenden Hilfshy-

pothesen bestätigt wird. Daher versucht man, die zutestende Hypothese durch Variation der Randbedin-gungen und Hilfshypothesen vor irreführendenWiderlegungen zu schützen. Umgekehrt versuchtman durch Variation der eigentlichen Hypothesediese vor irreführenden Bestätigungen zu „schützen“.Weil jedem Experiment zahlreiche Hilfshypothesenzugrunde liegen, ist das sinnvoll. Es werden aber inder Praxis der experimentellen Forschung gewöhn-lich keine Versuche einer Falsifikation unternommen.Im experimentellen Bereich steht also eine bestimm-te Hypothese im Vordergrund, die man durch Aus-schalten falscher Bestätigungen und falscher Wider-legungen zu erhärten versucht. Diese Vorgehenswei-se ist sinnvoll, weil zahlreiche Hilfshypothesen zu-grunde liegen. Ob jedoch eine Falsifikation die Hy-pothese trifft ist nicht sicher. Dazu zwei Beispiele:

Hypothese: Wenn die Erde um die Sonne kreist,muss sich der Fixsternhintergrund im Jahreslauf ver-ändern.

Beobachtung (Basissatz): Es wurde früher beobach-tet, dass sich der Fixsternhintergrund nicht verän-dert.

Daraus würde nach dem modus tollens folgen, dassdie Erde nicht um die Sonne kreist. Heute wissenwir aber, dass die zugrunde liegenden Hilfshypo-thesen falsch waren, nämlich die Hilfshypothesenüber die Entfernung der Fixsterne und über die Lei-stungsfähigkeit der Messgeräte. Die Fixsterne sindzu weit entfernt, als dass mit den früheren messtech-nischen Möglichkeiten eine Veränderung hätte fest-gestellt werden können.

Hypothese: Bei Trockenheit werden Vogelschnä-bel nach einigen Generationen kräftiger.

Beobachtung (Basissatz): In einem bestimmtenGebiet wurden bei Trockenheit Vogelschnäbel nacheinigen Generationen nicht kräftiger.

Die Hypothese ist damit nicht falsifiziert, dennes kommen z. B. folgende Ursachen für die gleich-bleibenden Schnäbel in Frage:

• Vielleicht gab es einen weiteren unerkanntenUmweltparameter, der dem Kräftigerwerden entge-genwirkte.

• Vielleicht gab es in dem betreffenden Gebietkeine solche Nahrung, die einen Selektionsdruck aufkräftigere Schnäbel hätte bewirken können.

• Vielleicht ist die betreffende Art extrem inva-riabel und besaß keine Spielräume für eine Speziali-sierung mehr.

Umgekehrt könnte ein bestätigender Befund einfalse positive sein: eine beobachtete Vergrößerungder Schnäbel könnte auch eine andere Ursache alsdie Trockenheit haben.

Historische Hypothesen. Ganz anders ist die Vorge-hensweise beim Test historischer Hypothesen.„[T]here is little in the evaluation of historical hypo-theses that resembles what is prescribed by falsifica-

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tionism.“ Nach dem Geologen CHAMBERLAIN werdenin der historischen Wissenschaft mehrere Hypothe-sen formuliert, nicht nur eine; und dann versuchtman nicht zu falsifizieren, sondern bestätigende Be-funde zu finden: sogenannte „smoking guns“. „Asmoking gun is a trace that picks out one of the com-peting hypotheses as providing a better causal ex-planation for the currently available traces than theothers.“ Die Deutung als smoking gun eines be-stimmten Befundes ist also nicht absolut, sondernrelativ im Vergleich zu konkurrierenden Hypothe-sen (vgl. CLELAND 2002a, 481).

Es ist auch möglich, dass eine smoking gun gegeneine konkurrierende Hypothese spricht (CLELAND

2002a, 483). Ein berühmtes Beispiel sind die als „smo-king guns“ eines Meteoriteneinschlags geltendengeschockten Quarze, deren Entstehung nur als Fol-gen eines Impakts bekannt ist. Andere Hypothesenkönnen bislang dieses Indiz nicht erklären. Histori-sche Wissenschaften haben es also mit mehrerenkonkurrierenden Hypothesen über bestimmte ver-gangene Ereignisse zu tun und man sucht nach bestä-tigenden Spuren (den „smoking guns“), die durch eineder konkurrierenden Hypothesen am besten erklärtwerden können. Man folgt nicht nur einer einzigenHypothese und sagt Spuren voraus, sondern sucht

möglichst viele Spuren und hofft, dass wenigstenseine als smoking gun interpretiert werden kann.9 Eskann sein, dass verschiedene Hypothesen h verschie-dene „smoking guns“ voraussagen, z.B. h

1 → F; h

2 →

G und h3 → H. Findet man nun z.B. G, dann ist H

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wahrscheinlich oder mindestens plausibel (vgl. dasgeologische Beispiel in Abb. 3).

Es wird zwar auch Laborwissenschaft betrieben,diese hat aber das Ziel, die Spuren möglichst gutkenntlich zu machen. CLELAND bringt dazu folgen-des Beispiel: In Ursuppen-Experimenten werden be-stimmte Zusammensetzungen der Atmosphäre zu-grundegelegt. Um Spuren zu sichern, aus denen In-formationen über die Zusammensetzung der Atmo-sphäre vor 4 Milliarden Jahren bezogen werden kön-nen, müssen entsprechend alt datierte Gesteine imLabor untersucht werden. Laut CLELAND machen dieerzielten Ergebnisse Miller-Experiment-Szenariosunplausibel, weil die benötigen Verbindungen nichtin ausreichender Menge vorhanden gewesen seindürften. Aber auch wenn die Spuren passen wür-den, könnten Simulationsexperimente und Compu-tersimulationen nur Möglichkeiten aufzeigen, dieunter bestimmten Randbedingungen denkbar sind,sie könnten jedoch nicht den tatsächlichen Vorgangnachweisen.10 „Smoking guns are not produced by

Abb. 3: Teile der Schmiedefeld-Formation in Thüringen mit markanter Änderung des Sediments zwischenUnterem Erzlager und Lagerquarzit: Steht sie für eine Schichtfuge, die nur eine kurze Zeit repräsentiert, oder füreinen langzeitlichen Hiatus? Siehe dazu die Diskussion bei STEPHAN (2008).

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systematically varying some conditions while hol-ding others constant“ (CLELAND 2002a, 484).

Grund für dieAnwendung verschiedener Methoden.CLELAND wendet sich im Weiteren der Frage zu, wor-an es liegt, dass in den experimentellen und den histori-schen Wissenschaften methodisch verschieden vorgegan-gen wird und eine verschiedene Testsituation vorliegt. DerGrund: Es gibt – so Cleland – eine Ursachen-Asymme-trie zwischen gegenwärtigen und vergangenen Er-eignissen auf der einen Seite, und gegenwärtigen undzukünftigen Ereignissen auf der anderen Seite. Esliege eine „Asymmetrie der Überbestimmung“ vor:Vergangene Ereignisse sind durch ihre Folgen über-bestimmt, dagegen sind experimentelle Ergebnissedurch die zu testende Hypothese unterbestimmt.CLELAND zitiert David LEWIS, der den Sachverhalt wiefolgt auf den Punkt bringt: „The basic idea is thatlocalized present events overdetermine their causesand underdetermine their effects.“

Gemeint ist folgendes: Eine Schlussfolgerung istüberbestimmt, wenn sie auf mehrere unabhängigeWeisen bewiesen werden kann. Ein Ereignis wie z.B. ein Meteoriteneinschlag kann mehrere Spuren ideais that localized present events overdetermine theircauses and verursachen, die jeweils auf dieses Ereig-nis hinweisen. In günstigen Fällen genügt der Nach-weis einer einzigen Spur, um auf das Ereignis schlie-ßen zu können. Im experimentellen Bereich ist dieSituation umgekehrt: Ein bestimmtes Versuchsergeb-nis kann auf verschiedene Ursachen zurückgeführtwerden: es könnte die Hypothese bestätigen, es könn-te aber aus einer der zugrunde liegenden Hilfshypo-thesen folgen und mit der eigentlichen Hypothesegar nichts zu tun haben.11 Zur Veranschaulichungbringt CLELAND zwei Vergleiche:

Gegenwart � Vergangenheit (historische Situation):Ein Mörder hinterlässt viele Spuren, von denen eineeinzige ihn verraten kann. Der Mord ist überbe-stimmt.

Gegenwart � Zukunft (experimentelle Situation): EinBrand kann durch einen Kurzschluss verursacht sein,aber der Kurzschluss alleine erklärt ihn nicht; es mussz. B. auch entflammbares Material gegeben haben.Der Brand (entspricht einem experimentellen Ergeb-nis) ist durch den Kurzschluss unterbestimmt.

Der Experimentator schaut sozusagen in die Zu-kunft. Er erwartet ein bestimmtes Ergebnis eines Ex-

periments, falls seine Hypothese stimmen sollte. Aberes kann sein, dass das eintreffende erwartete Ergeb-nis in Wirklichkeit kausal gar nicht mit der geteste-ten Hypothese verknüpft ist, sondern aus den Rand-bedingungen folgt. Ein bestimmter Befund kann alsomehrere Ursachen haben, wie das Beispiel des Bran-des veranschaulichen soll.

Der Charakter der Information, die zum Test derHypothesen genutzt wird, ist also verschieden. Daein Ereignis viele Spuren verursacht, genügen oftschon wenige Spuren oder nur eine einzige als Belegfür das stattgefundene Ereignis. Daraus erklärt sichdie Vorgehensweise, nach „smoking guns“ zu su-chen.

Es kann sein, dass dabei nur mit Wahrscheinlich-keiten argumentiert werden kann. Denn möglicher-weise wurden entscheidende Spuren noch nicht ge-funden oder die vorliegenden Spuren sind nicht ein-deutig. Dennoch: Die Asymmetrie der Überbestim-mung erlaubt es in günstigen Fällen, aus nur einemTeil der Spuren auf ein vergangenes Ereignis zu schlie-ßen. Und es werden verschiedene Szenarien entwor-fen in der Hoffnung, bestätigende Befunde zu ma-chen. Die Wissenschaftler postulieren verschiedeneUrsachen für die beobachteten Spuren und versu-chen dann unter ihnen durch die Suche nach einersmoking gun die zutreffende plausibel zu machen.12In der experimentellen Forschung ist die Situationdagegen genau umgekehrt: Für einen experimentel-len Befund kann es viele verschiedene Erklärungengeben (eine Falsifikation kann die getestete Hypo-these treffen, aber auch eine der begleitenden Hilfs-hypothesen oder der Befund selbst kann fehlerhaftsein). Es liegt eine „kausale Unterbestimmung“ derzukünftigen Ereignisse durch örtlich begrenzte („lo-calized“) gegenwärtige Ereignisse vor. Daher bestehtdie Notwendigkeit, zusätzliche Kausalfaktoren auf-zuspüren und zu prüfen (Abb. 4). Die Unterschiedein der Methodologie in Tab. 1 zusammengestellt.

Folgerungen für die Schöpfungs-forschung

Die vielfach geäußerte Kritik, schöpfungstheoreti-sche Hypothesen seien nicht testbar bzw. falsifizier-bar, ist angesichts der Kritik von VOGT und CLELAND

obsolet. Die Unwissenschaftlichkeit schöpfungstheo-

experimentell historisch

zukunftsorientiert vergangenheitsorientierteine Hypothese wird geprüft mehrere Hypothesen werden geprüftViele Tests, um irreführende Bestätigungen Suche nach Bestätigungen durch “smoking guns”; und Widerlegungen auszuschalten Tests sind nicht möglich (Misstrauen gegenüber den Ergebnissen)Unterbestimmung der Zukunft (des experimen- Überbestimmung der Vergangenheit (viele Spuren, tellen Ergebnisses) die von einem einzigen Ereignis herrühren)Generalisierungen Singularitäten

Tab. 1: Unterschiede zwischen experimenteller und historischer Wissenschaft nach CLELAND.

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retischer Modelle, die Bezug auf teleologische Er-klärungen nehmen, kann nicht mit Verweis auf feh-lende Falsifizierbarkeit begründet werden. (Natür-lich kann es andere Gründe geben, teleologischeErklärungen auszuschließen, aber das ist hier nichtdas Thema.) Wenn das beherrschende Thema histo-rischer Forschung die Suche nach smoking guns ist,dann ist es legitim und auch sonst angewendeterMethoden gemäß, nach smoking guns für Schöpfung,für polyvalente Stammformen oder für biblisch be-zeugte erdgeschichtliche Ereignisse zu suchen. Die-se Suche könnte nur dann als „unwissenschaftlich“abgetan werden, wenn schöpferische Eingriffe Got-tes prinzipiell (von vornherein) ausgeschlossen wer-den. Dafür kann es aber nur weltanschauliche Grün-de geben.

Andere Autoren

Manche Autoren unterscheiden im Zusammenhangmit Ursprungsfragen in der Biologie zwischen „no-mologisch-deduktiven“ und „historisch-narrativen“Erklärungen (z. B. SZALAY & BOCK 1991; BOCK 2000a,b). Nomologisch-deduktive Erklärungen (N-D E)sind solche, die auf hypothetische Gesetzmäßigkei-ten (nomos = Gesetz) Bezug nehmen, aus welchen

konkrete testbare Schlussfolgerungen abgeleitet (de-duziert) werden. Diese werden dann durch Freiland-beobachtungen oder Laborexperimente überprüft.Historisch-narrative Erklärungen (H-N E) dagegenversuchen das vorhandene Belegmaterial durch einmutmaßliches historisches Ablaufszenario (eine Er-zählung = lat. narratio) zusammenzufügen, wobeisolche Szenarien bekannten Gesetzmäßigkeiten nichtwidersprechen dürfen (BOCK 2000a, 482). Die Plausi-bilität von historisch-narrativen Erklärungen hängtalso auch davon ab, ob und wie sie nomologisch-deduktive Aspekte berücksichtigen.

BOCK (2000b, 34) betont, dass sich H-N E scharfvon N-D E unterscheiden und daher beide separatanalysiert werden müssen. N-D E gelten universell,hängen nicht von der vergangenen Geschichte derObjekte ab, die erklärt werden sollen, und ihre Prä-missen werden als generell gültig angenommen.Weiter wird gefordert: H-N E müssen relevante N-DE benutzen. Ihre Objekte sind jedoch Singularitätenund betreffen definierte räumlich-zeitliche Positio-nen (BOCK 2000b, 35). Daraus folgt, dass H-N E abge-wiesen werden können, wenn die N-D E, auf dieBezug genommen wird, sich nicht bewährt haben.

BOCK (2000b, 35) weist weiter darauf hin, dass diebeiden Arten von Erklärungen u. a. darin unterschei-den, wie sie getestet werden.13 Tests durch Falsifika-tion seien oft extrem schwierig und nicht beweis-kräftig. Allgemein würden H-N E nicht durch Falsi-fikation getestet (entgegen zahlreicher Statements inder Literatur), sondern gewöhnlich durch Bestäti-gung durch Hinzufügung von mehr und mehr bestä-tigenden Befunden (BOCK 2000b, 35).14 Dies erinnertstark an CLELANDs „smoking guns“.

Mit dem Falsifikationismus in der Cladistik be-schäftigt sich RIEPPEL (2003). Falsifizierbare Theorienmüssen nach POPPER die Form universaler Behaup-tungen haben. Im strengen Sinne treffe dies auf dieSystematik nicht zu. Mit Hilfe des Sparsamkeitsprin-zips (d. h. möglichst wenig Konvergenzen) suche mannach Verwandtschaftsbeziehungen, die mit den Da-ten am besten verträglich sind.15 Diese Vorgehenswei-se sei nicht vereinbar mit dem POPPERschen Falsifi-kationismus (RIEPPEL 2003, 262f.).

Wie CLELAND weist auch RIEPPEL darauf hin, dassAussagen, die historische Zustände wie z. B. Aussa-gen über Phylogenie beinhalten, historisch Kontin-gentes, also Einmaliges betreffen. Daraus folge, dasses keine deduktive Verbindung zwischen einer Ver-wandtschaftshypothese und der Merkmalsverteilungder terminalen Taxa gebe (RIEPPEL 2003, 264).16 De-duktive Argumentation könne auf die Systematikoder phylogenetische Rekonstruktion nicht ange-wendet werden, wenn Spezies oder Taxa allgemeinhistorisch einmalig sind.17 Selbst wenn Abstammungmit Abänderung (descent with modification) als all-gemeines Gesetz betrachtet würde, würde es kaummehr als die spontane Lebensentstehung verbieten.18RIEPPEL (2003, 270) kommt zum Schluss, dass eine

Abb. 4: Oben: Ein Ereignis hinterlässt viele Spuren,von denen wenige oder nur eine einzige eine „smo-king gun“ darstellen können. Unten: Das Ergebniseines Experiments kann verschiedene Ursachen habenund ist kein sicherer Test der zu prüfenden Hypothe-se. Daher müssen Randbedingungen und die zutestende Hypothese variiert werden, um die Aussage-kraft der Ergebnisse zu verbessern.

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eigene Wissenschaftsphilosophie für die Systematiknötig sei: „But at that point, systematics can no lon-ger be claimed to be Popperian, but rather it is underthe influence of the philosophy of its own expon-ents, as it should be.“

Auch STAMOS (1996) sieht die Notwendigkeit, inphylogenetischen Fragestellungen nicht alleine mitFalsifikation zu arbeiten, sondern auch mit Verifika-tionen. Andernfalls würde POPPERs Programm derFalsifizierbarkeit die Evolutionsbiologie aus der ech-ten Wissenschaft ausschließen.

Diskussion

Auf dem Blog „Evolution und Schöpfung“ (http://evolution-schoepfung.blogspot.com) wurden gegendie von CLELAND vorgenommene methodologischeUnterscheidung Einwände vorgebracht, die nachfol-gend sinngemäß wiedergegeben und diskutiert wer-den sollen (siehe http://evolution-schoepfung.blogspot.com/2008/11/methodologie-in-der-naturgeschichtsfors.html).

Einwand: Auch im experimentellen Bereich wirdanfänglich mit mehreren Hypothesen gearbeitet, z.B. wenn nach Ursachen für ein gegenwärtig stattfin-dendes Aussterben einer Art gesucht wird. Das Aus-sterben könnte verschiedene Ursachen haben. DieHypothesen werden dann via Ausschlussverfahrenaussortiert, bis eine übrig bleibt. Die verbliebeneHypothese wird in weiteren Schritten zusätzlichgetestet, z. B. um Messfehler oder Verfahrensfehlerauszuschließen.

Antwort: Auch wenn im experimentellen Bereichmehrere Hypothesen geprüft werden, muss sinnvol-lerweise auf jede einzelne das von CLELAND beschrie-bene Verfahren angewendet werden.

Einwand: Auch im historischen Bereich könnendurch Simulationen Tests durch Variation der Ver-suchsbedingungen durchgeführt werden. Damitkönnen vergangene Prozesse und Ereignisse nach-gestellt werden. Die Randbedingungen können da-bei in jedem Durchgang variiert werden.

Antwort: Simulationsexperimente (sei es im La-bor oder seien es Computersimulationen) könnenMöglichkeiten aufzeigen unter der Annahme bestimm-ter Randbedingungen. Ob diese Randbedingungenhistorisch zutreffen, kann auf diese Weise nicht ge-prüft werden. CLELAND (2001) schreibt dazu: „Alt-hough computer-aided models may suggest what tolook for in nature, and traces and some auxiliary as-sumptions may be investigated in the laboratory, onecannot experimentally test a historical hypothesis perse; to recapitulate, the time frame is too long and thetest conditions too complex to be replicated in a lab.“Aus diesem Grund machen konkrete Vorhersagen,welche Spuren aufgrund einer bestimmten Hypo-these gesucht werden sollten, wenig Sinn. Diese Spu-

ren können längst verwischt sein, und wenn man sienicht findet, kann man daraus keine weiteren Schlüs-se ziehen.19 Daher muss anders vorgegangen wer-den: Viele Hypothesen aufstellen und alle möglichenSpuren suchen in der Hoffnung, eine smoking gunzu finden.

Bei (Simulations-)Experimenten kann man dieRandbedingungen variieren, bei der tatsächlichen Hi-storie nicht. Gerade weil der Einfluss der Randbe-dingungen auf das Versuchsergebnis ausgelotet wer-den soll, werden diese variiert, um false negativesmöglichst auszuschalten. Genau das geht bei histo-rischen Hypothesen nicht. Simulationen ermöglichenaber Aussagen über die Möglichkeiten und Unmög-lichkeiten bestimmter Prozesse unter bestimmtenRandbedingungen. Sie sind zweifellos ein wichtigesHilfsmittel zur Bewertung historischer Hypothe-sen.20

Einwand: Auch das experimentell Reproduzier-bare kann viele Spuren hinterlassen, von denen u. U.nur eine einzige Aufschluss über den dafür verant-wortlichen Prozess gibt. So bedingt z. B. die Kollisi-on zweier Elementarteilchen eine ganze Reihe un-terschiedlicher Effekte (Emission elektromagneti-scher Strahlung, Erzeugung von Gravitationswellen,Emission von Neutrinos und Higgs-Teilchen usw.).Aber der Vorgang selbst wird meist nur anhand derVeränderung eines bestimmten detektierbaren Pa-rameters erfasst.

Antwort: Das ist zwar richtig, aber das Experimentwird hier vom Ergebnis her betrachtet, also andersherum, als der Experimentator es vor der Durchfüh-rung seines Experiments sieht. Es ist aus der Retro-spektive gesehen und genauso wie von CLELAND be-schrieben: Ein Ereignis verursacht viele Spuren, undes genügen schon wenige Spuren oder nur eine ein-zige als Beleg für das stattgefundene Ereignis. Manuntersucht vorliegende Spuren und sucht nach we-nigstens einer smoking gun. Das ist die Perspektivevon der Gegenwart auf die Vergangenheit, mit derBesonderheit, dass die Vergangenheit hier nur kurzzurückliegt. Der von CLELAND beschriebene metho-dologische Unterschied wird damit nicht in Fragegestellt, vielmehr wird er bestätigt.

Einwand: smoking guns sind nie sicher deutbar,sie sind oft verschieden deutbar, so dass mehrere Hy-pothesen nebeneinander bestehen bleiben.

Antwort: Das ist durchaus möglich und wird vonCLELAND nicht ausgeschlossen. Die Autorin schreibt,dass eventuell nur mit Wahrscheinlichkeiten argu-mentiert werden kann. CLELAND sagt, es sei in histo-rischen Fragestellungen angebracht, mehrere Hypo-thesen ins Spiel zu bringen und nach smoking gunszu suchen. Es gibt aber keine Garantie, dass man siefindet, und viele oder alle Spuren können mehrdeu-tig sein. Wie bei einem Krimi kann die Indizienlagenicht eindeutig sein, so dass der Fall ohne Geständ-nis nicht entschieden werden kann.

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Quellen

BOCK WJ (2000a) Explanatory history of the origin of fea-thers. Am. Zool. 40, 478-485.

BOCK WJ (2000b) Explanations in a historical science. In:PETERS DS & WEINGARTEN M (Hg) Organisms, Genesand Evolution. Stuttgart, S. 33-42.

CLELAND CE (2001) Historical science, experimental science,and the scientific method. Geology 29, 987-990.

CLELAND CE (2002a) Methodological and Epistemic Diffe-rences between Historical Science and ExperimentalScience. Phil. Sci. 69, 474-496.

CLELAND CE (2002b) Historical science, experimental sci-ence, and the scientific method: Comment and Reply.Geology 30, 951-954.

JUNKER R (2002) Ähnlichkeiten, Rudimente, Atavismen.Holzgerlingen.

JUNKER R (2006) Macht das Ähnlichkeitsmuster der Lebe-wesen nur Sinn im Licht der Evolution? Religion – Staat– Gesellschaft 7, 363-387.

RIEPPEL O (2003) Popper and Systematics. Syst. Biol. 52,259-271.

STAMOS DN (1996) Popper, Falsifiability, and EvolutionaryBiology. Biol. Philos. 11, 161-191.

STEPHAN M (2008) Rätselhaft: Das Fehlen von 20 MillionenJahren. Stud. Int. J. 15, 59-68.

SZALAY FS & BOCK WJ (1991) Evolutionary theory and sy-stematics. relationships between process and pattern.Z. zool. Syst. Evolut.-forsch. 29, 1-39.

VOGT L (2008) The unfalsifiability of cladograms and itsconsequences. Cladistics 24, 62-73.

Anmerkungen

1 Basissätzen wird allerdings kein Beweischarakter zuge-sprochen, sondern sie haben konventionellen Charakter, d. h.die Forschungsgemeinschaft muss sich einigen, ob einSachverhalt richtig beobachtet wurde. Siehe kritisch dazuSTAMOS (1996).2 In den Worten VOGTs: „A hypothesis on its own cannot befalsified in principle as its consequences / predictions ty-pically rest on background knowledge assumptions and,thus, depend on them. This is the reason for the use of thehypothetico-deductive setting in hypothesis testing. Ac-cording to the Duhem-Quine Thesis, only the hypotheti-co-deductive setting as a whole can be falsified, withoutknowing which of the three components of the hypotheti-co-deductive setting is responsible for falsification“ (VOGT

2008, 64).3 VOGT schreibt: „An observation is explained by a hypo-thesis in case the hypothesis successfully passed the mostsevere tests and the corresponding observational statementis logically, i.e., deductively, entailed in the conjunction ofhypothesis and assumed background knowledge“ (S. 64).„Thus, in Popperian falsificationism the inference to thebest explanation for given empirical evidence breaks downinto inferring the hypothesis with the highest degree ofcorroboration among all possible alternatives. As corrobo-ration can only be gained by performing potentially suc-cessful attempts of falsifying a hypothesis, only (metho-dologically) falsifiable hypotheses can qualify for the bestexplanation“ (S. 64).4 „… nor any specific tree hypothesis prohibits the occur-rence of convergent evolution. This allows for both apo-morphy (throughout this paper, I will use the term ‚apo-

morphy’ to mean structural sameness due to shared commonorigin and not simply observational similarity) and homoplasyas possible explanations for the sameness of character statesand their distribution patterns. A given tree hypothesis islogically congruent with any specific observable evidenceof character state distribution“ (VOGT, S. 65).5 Es könnte auch sein, dass das Merkmal Y bei A verloren-gegangen ist. Diese Möglichkeit wird aber umso unwahr-scheinlicher, je häufiger ein Verlust angenommen werdenmüsste, denn das liefe auf einen zunehmend komplexenVorfahren hinaus. Hier sollen jedoch keine Details disku-tiert werden, sondern die Problematik der Unterscheidungvon Apomorphien und Konvergenzen an einem einfachenBeispiel erläutert werden.6 „In case of incongruence we only know that not all of thehypotheses of apomorphy of the tested set can representtrue apomorphies—at least one of them has to represent ahomoplasy (Wiley, 1975; Kluge, 1997a; according to theDuhem-Quine Thesis we would even have to consider thatour assumed background knowledge or the basic state-ments can be responsible for the incongruency)“ (VOGT

2008, 66).7 „It seems to be very difficult, if not impossible in prin-ciple, to apply falsificationism consistently within the hi-storical sciences such as phylogenetics. Thus, there existsa need for a sound epistemological foundation for phylo-genetics independent of Popperian falsificationism.“ (VOGT

2008, 71)8 In diesem Sinne äußerte sich VOGT mir gegenüber in ei-ner persönlichen Korrespondenz.9 „Rather than searching for a few specific predicted traces,researchers are better off looking for a variety of traces“(CLELAND 2002b, 952).10 Dazu ein Beispiel von CLELAND (2001): „A salient examp-le is provided by early climate simulations of a snowballEarth, which indicated that there was nothing that couldreverse a global freeze (Hoffman and Schrag, 2000). Theclimate modelers failed to consider the activity of volca-noes, which would continue to vent carbon dioxide du-ring a global freeze, eventually producing a greenhouseeffect that would rapidly melt the ice. The point is, mode-ling past events is theoretical work, and while it may yieldpredictions, these predictions are only as secure as theassumptions upon which the model is based.“11 „Just as the causal overdetermination of past events bylocalized present events explains the practice of historicalscience, so the causal underdetermination of future eventsby localized present events explains the practice of expe-rimental science. The test conditions brought about in thelaboratory are only partial causes of what subsequentlyoccurs. There is a need to ferret out and control for addi-tional causal factors“ (CLELAND 2001).12 „Just as there are many different possibilities (subcollec-tions of traces) for catching criminals, so there are manydifferent possibilities for establishing what caused theextinction of the dinosaurs. Like criminal investigators,historical scientists collect evidence, consider suspects, andfollow leads. More precisely, they postulate differing cau-sal etiologies for the traces they observe, and then try todiscriminate from among them by searching for a smo-king gun—a trace that will identify the culprit beyond areasonable doubt.”13 „But the two modes of explanations differ in the manyways of how they are expressed, tested, and used to testother theoretical statements.“14 BOCK (2000b, 36) schreibt außerdem: „Phylogenetic sy-stematics who claimed that phylogenies and classificati-

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ons fall under the strict Popperian concept of deductivescience and its testing simply do not understand the spec-trum of explanations in science.“ „When debating evolu-tionary theories, few workers have distinguished betweenN-D and H-N evolutionary explanations, resulting in muchconfusion.“15 RIEPPEL (2003, 262) zitiert FARRIS, dass Konvergenzen ad-hoc-Erklärungen seien: „The critrion of consistency waslater replaced by explanatory power, meaning that parsi-mony maximizes the number of character descriptions thatare explained as putative homologies, thus minimizinginconsistency, i. e., minimizing the number of characterdescriptions that are explained ad hoc as homoplasies ....“16 „... whereas statements that concern historical states ofaffairs, such as those of systematics and phylogeny. arehistorically contingent . There is therefore no room for thepurely logical entailment of the explanandum by the ex-planans. There is no antecedent in systematics or phylo-geny reconstruction that can logically entail ist consequent,i. e., there is no deductive link between a hypothesis ofrelationships and the character distribution across the ter-minal taxa it concerns (Sober, 1988).“17 „So Popper turned the tables: Start with a theory, and ifit is to be scientific it has to allow the deduction of negatedobservations statements. This is the step in which syste-matics cannot follow Popper (Sober, 1988). One can usethe word ‘test’ in parsimony as well as in likelihood ana-lysis, but it will not correspond to a Popperian test. ForPopper, a test is tied to the asymmetry of falsification; ...“(270).18 RIEPPEL führt weiter aus, dass auch die Verknüpfungphylogenetischer Einzelaussagen mit Gesetzesaussagen

(über Vererbung und Selektion) keine Abhilfe schafft.„Thus, it is possible to test statements that bear on the pro-cess of evolution if these can be linked to any such lawful-ness. However singular taxonomic statements pro-nouncing phylogenetic relationships do not allow suchconnections; the known laws of inheritance or natural sel-ection do not allow us to predict or retrodict character dis-tribution across taxa that would falsify hypotheses of rela-tionships“ (RIEPPEL 2003, 265).19 CLELAND (2002b, 952): „Whereas an experimentalist isdealing with a very short time span between cause andeffect and has some—but, as I argued, far from comple-te—control over potential interfering factors, a historian isdealing with many complex and unknown processes thatoccurred over a span of time much longer than a humanlife. It is for this reason that historians are better off sear-ching for a smoking gun that can unambiguously discri-minate among competing explanations, as opposed to in-ferring a specific prediction from a solitary hypothesis andthen myopically searching for it in the field (the messy,uncontrolled world of nature). Even supposing that thepredicted trace exists, there are just too many unknown,potentially interfering factors to guarantee that it will befound or, for that matter, that it still exists; if it isn’t foundnothing can be concluded.“20 Man kann versuchen, die Randbedingungen so zu wäh-len, dass sie mit dem hypothetisch angenommenen Ver-lauf übereinstimmen. So verfährt man bei der Setzung derRandbedingungen in Ursuppen-Simulationsversuchen. Esmuss dann aber unabhängig von der zu testenden Hypo-these begründet werden, warum diese Randbedingungenhistorisch plausibel sind.

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Im vergangenen Jahr habe ich zwei Artikel auf demBlog „Evolution und Schöpfung“ (http://evolution-schoepfung.blogspot.com) veröffentlicht, die sich mitder Frage beschäftigen, ob und inwiefern Naturge-schichtsforschung methodisch anders vonstattengeht als Naturwissenschaft, die sich mit gegenwär-tig regelhaft verlaufenden Prozessen befasst: Zumeinen über den abduktiven Schluss, zum anderenüber Nichtfalsifizierbarkeit (Vorstellung von Artikelnvon C. Cleland und L. Vogt).

Nun erschien im Heft 1/2009 der Naturwissen-schaftlichen Rundschau ein Essay, der sich mit dieserThematik unter dem Titel „Evolution – ein For-schungsfeld im Grenzbereich“ befasst. Der Autor,Michael Brestowsky, greift darin den Gedanken vonErnst Mayr auf, „dass die Biologie, sobald sie dieaktuelle funktionsbiologische Analyse verlässt undsich dem evolutionären Werden zuwendet, eigent-lich eine Geschichtswissenschaft ist.“ Für die Rekon-struktion der Vergangenheit sei der Aktualismuszwar eine notwendige Annahme, enthalte allerdingsstets auch ein spekulatives Element. Brestowsky zi-tiert eingangs aus dem letzten Buch Konzepte derBiologie von Ernst Mayr: „Wenn man sich überlegt,wie viele Ähnlichkeiten es zwischen der Evolutions-biologie und der Geschichtswissenschaft gibt undwie sehr sie sich in Methodik und Begriffsbildungvon der Physik unterscheiden, dann überrascht esnicht, dass es sich als schwierig, wenn nicht unmög-lich erweist, eine scharfe Trennlinie zwischen Na-tur- und Geisteswissenschaften zu ziehen. Wenn manwollte, könnte man diese Linie beispielsweise zwi-schen funktioneller und evolutionärer Biologie zie-hen und die funktionale Biologie den Naturwissen-schaften und die Evolutionsbiologie der Geschichts-wissenschaft zuschlagen.“ Brestowsky kommentiert:„Damit hat Mayr zweifellos Recht: Evolutionsfor-schung ist, was Gegenstand und Methoden betrifft,eine historische Wissenschaft, gehört also zu den Gei-steswissenschaften und, von marginalen Randberei-chen abgesehen, nicht zu den Naturwissenschaften.“Damit werde sich zweifellos mancher Biologe schwertun.

Die von Mayr angesprochene Frage der Grenz-ziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaf-ten sei nur dann so schwierig, wenn man sich bereitsdarauf festgelegt habe, „die Evolution zu den Natur-wissenschaften rechnen zu wollen“. Zunächst abermüsse unabhängig davon sachlich geklärt werden,worin der entscheidende Unterschied zwischen denNaturwissenschaften und allen übrigen Wissenschaf-

ANHANG

Und Naturgeschichte ist doch anders*

ten besteht. Allgemein bestehe Wissenschaftlichkeitnach Brestowsky darin, dass eine „methodisch plan-mäßige, systematische und im Rahmen ihrer Voraus-setzungen intersubjektive nachvollziehbare Vorge-hensweise“ zur Erkenntnisgewinnung führe. Darun-ter kann – wie ich meine – fraglos auch Wissenschaftim Rahmen des Schöpfungsparadigmas gerechnetwerden.

Die Naturwissenschaften nähmen – soBrestowsky – eine Sonderstellung ein, als ihre Er-kenntnisse nicht nur nachvollziehbar, sondern durchnachprüfbare Beobachtungen bzw. wiederholbareExperimente verifizierbar oder falsifizierbar seien.Die geschichtliche Einmaligkeit des Gegenstandesder Evolutionsforschung verhindere es, dass man sichdieser naturwissenschaftlichen Methoden bedienenkönne. Damit gehöre die Evolutionsforschung (ge-meint ist offenbar die Rekonstruktion des Verlaufsder Evolution und dessen jeweiliger spezieller Ursa-chen) eindeutig nicht zu den Naturwissenschaften.

Natürlich nutze man naturwissenschaftliche Me-thoden zur Erfassung der Daten, doch erhalten dieseihre Bedeutung erst im Rahmen einer Evolutions-theorie, und „die ist ein rein gedankliches Konstrukt,eben eine philosophische Theorie, die, auf bestimm-ten unhinterfragbaren Basisannahmen (Paradigmen)fußend, Ursprung und Werden der Lebewesen zuerklären versucht.“

Brestowsky greift im Weiteren auf eine Unter-scheidung zurück, die Pietschmann (1990) in dieseDiskussion eingeführt hat: Der Unterschied zwischenprediktiven Theorien und konsistenten Theorien.Erstere erlauben überprüfbare Vorhersagen, wäh-rend letztere damit stehen und fallen, „wie konsi-stent, wie stimmig, wie widerspruchsfrei sie einenumfassenden Sachverhalt erklären können.“Brestowsky: „Es ist offensichtlich, dass in diesemSinne die Evolutionstheorie wie auch die Theorienzum Werden des Kosmos konsistente, also empirischnicht zu verifizierende Theorien sind.“ Für die zen-tralen evolutionstheoretischen Aussagen gebe es„keine Kontrollmöglichkeit, keine Verifizierung

oder Falsifizierung“. So weit würde ich selbstnicht gehen; Kontrollmöglichkeiten sehe ich schon,aber nur in dem Sinne, wie Brestowsky Pietschmannzitiert: „So könnte es gewesen sein.“

Im Weiteren wirft Brestowsky die Frage auf, wes-halb so viele Biologen davon überzeugt sind, dassEvolutionsforschung reine Naturwissenschaft sei,und dass ihre Ergebnisse ebenso unanfechtbar seienwie die der Physiologie oder Genetik. Seine Antwort:

* Erstveröffentlichung: http://evolution-schoepfung.blogspot.com/2009/02/und-naturgeschichte-ist-doch-anders.html

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Der Aktualismus wird als „Hintertür“ benutzt, umsich „scheinbar einen Zutritt zur Vergangenheit“ zuverschaffen. In der Geologie ist damit das Prinzipgemeint, „dass man aus heutigen geologischen Pro-zessen auf die Entwicklung in der Vergangenheitschließen könne“. Obwohl aber der Aktualismus eineentscheidende Rolle in der Evolutionsforschung spie-le, sei der Begriff, seine Herkunft und sein Geltungs-bereich immer noch unklar. Das zeigt Brestowsky,indem er einige Begriffe analysiert, mit denen derAktualismus bezeichnet wird („Auffassung“, „Lehr-meinung“, „Arbeitsmethode“, „Verfahren“, „Hypo-these“, „Theorie“, „Prinzip“, „Axiom“). Er kommtzum Schluss, dass der Aktualismus zum Axiom er-nannt werde, weil seine „Grundannahme“ nicht be-weisbar ist, und diese Annahme wird gemacht, weilsonst naturwissenschaftliches Arbeiten unmöglichwäre – so die Erläuterung in Wikipedia und in ei-nem Schulbuch, das Brestowsky zitiert. Der Autormacht dann aber anhand eines Beispiels deutlich,dass der Aktualismus gar nicht durchgängig ange-wendet werden kann, da dies zu Widersprüchenführt. Er könne also auch kein Axiom sein. Es zeigesich damit, „dass, auch wenn man die überzeitlicheGültigkeit der Naturgesetze annimmt, damit nochkeineswegs eine zuverlässige Grundlage für natur-wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über dieVergangenheit gegeben ist.“ Den Wert „notwendi-ger Spekulationen“ will Brestowsky nicht diskutie-ren. Aber er möchte „mit Nachdruck“ daran erin-nern, „dass der Wahrheitsgehalt einer historischenRekonstruktion von anderer Qualität ist als der ei-ner naturwissenschaftlichen Aussage.“ Als Beispielweist er auf die verschiedenen Szenarien hin, die esfür die Entstehung des Vogelfluges gibt.

Brestowsky kommt zum Schluss, dass der Aktua-lismus lediglich als eine ad-hoc-Annahme erdachtwurde, um den Naturwissenschaften eine Hintertürzur Vergangenheit zu öffnen. „Er steckt als unver-zichtbare Prämisse in sämtlichen naturwissenschaft-lichen Versuchen, das geschichtliche Werden vonKosmos und Leben im Ganzen oder in Teilen zu er-forschen.“

Den naturwissenschaftlichen Anteil in der Evo-lutionstheorie (gemeint als Rekonstruktion der Ge-schichte der Lebewesen und des Kosmos) hältBrestowsky für gering. Wir wüssten zwar eine ganzeMenge durch naturwissenschaftliche Forschung,doch ändere dies nichts an der Tatsache, „dass dieExtrapolation dieser Erkenntnisse auf die Vergan-genheit und die gesamte Evolution eine unüberprüf-bare und daher nicht naturwissenschaftlich-predik-tive, sondern eine philosophische, und somit konsi-stente Theorie ist und bleibt.“

Und weiter: „Züchtung war für Darwin ein Mo-dell. Modelle sind gute Vorstellungshilfen, man darfsie aber nicht mit Beweisen verwechseln. Sie zeigenuns ‚So könnte es sein': aber die Frage: ,Ist es so?’können sie uns nicht beantworten.“

Reinhard Junker

Quellen

Brestowsky M (2009) Evolution – ein Forschungs-feld im Grenzbereich. Nat. Rundschau 62, 16-19.

Mayr E (2005) Konzepte der Biologie. Stuttgart: S.Hirzel-Verlag.

Pietschmann H (1990) Die Wahrheit liegt nicht in derMitte. Stuttgart, Wien: K. Thienemanns Verlag


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