Manfed Esser und Wolfgang Kiwus
MAX BENSE - DAS RADIKALE WÖRTERWESEN
Wörter
1. Wörter so niedrig hängen. wie es nur geht. Sie sollen die Dinge berühren, eh sie verschwinden.
Die Wörter wechseln die Stühle; und während Jemand noch Namen streichelt. tritt das Lesbare ins Weiße zurück.
2. Laßt mich noch leben. Wörter. bis zum Abend. eh ihr geht. Ich häre manchmal' eure Laute nicht, die meine Nahrung sind.
Werft einen Stein auf mich, der mich noch einmal trifft und den ich sehe.
Dieses Gedicht. 1981 erschienen in dem Band Zenfrafes und Occasionelles in
der Edition Künstlerhaus Stuttgart. blieb von einer achtlosen westdeutschen
Literaturkritik ebenso verpönt wie die in den letzten Jahren vom Agis Verlag
in Baden- Baden herausgebrachten Gedichtbände Kosmos A fheos. Das graue
Rot der Poesie, Nacht-Euklidische Ver_sfecke. Die Verfasserexistenz des Max
Bense sprengt in ihrer Radikalität immer noch den restaurativ-emotionalen
Rahmen hiesiger Kulturrezeption .
Dagegen steht der Weltruhm des Grundlagenforschers, des Zeichentheoretikers ,
des Ästhetikers. der sich von Harvard bis Tokio dokumentieren läßt.
Seit 1934 veröffentlicht Max Bense Bücher, "immer eine sichtbare Wirklichkeit
an der Spitze der Feder". deren Präzision und Brisanz Staunen und Zustimmung,
aber auch heftigen Widerspruch hervorriefen. Erinnert sei hier an die wütend
kläffenden Ausfälle (intellektueller Claqueure brauner Machthaber) gegen seinen
Anti-Klages 1937. Max Bense zählt zu den wenigen Autoren, deren im Dritten
Reich veröffentlichte Bücher man heute noch mit Gewinn und Genuß lesen mag.
Auch in den fünfziger und sechziger Jahren gab es einschlägige Versuche. ihn
öffentlich zu diffamieren, so daß er neben der existentiellen auch die erkennt
nistheoretische Erfahrung machte. "daß das Problem der globalen zivilisierten
Gesellschaft nicht der ungelernte Arbeiter in seiner ökonomischen Misere ist,
Semiosis 57/ 58 - 1990 37
sondern jene ambivalente Intelligenz, die, unselbständig in Fragen des Wissens
und des Charakters. glänzend geeignet ist. die Gedankenlosigke it als eine Frei
heit des Geistes zu propagieren und damit der metaphysischen Barbarei den
Weg zu ebnen" . CEin Geräusch in der Straße, 1960.)
Auf Vorwürfe. "die wie Verstecke der eigenen Unzulänglichkeit formuliert
waren". reagierte er erst gar nicht , denn "sollte ich die disparate Intelligenz.
den Atheismus. den Individualismus, den Anarchismus. die radikale oder die
linke Opposition. mein Niveau vor dem deutschen Provinzialismus und seiner
Presse verteidigen, die doch schon deutlich genug als Verhängnis unserer
Geistesgesch ichte und als sichtbarliehe Schwäche der Zeitgenossenschaft dia
gnostiziert worden waren?" (Ungehorsam der Ideen. 1965.)
Seine Position defin ierte er an gleicher Stelle so: "Ich schreibe nur für Intel ~ ek
tuelle, also gegen die Stimmungen, aber für das Bewußtsein . Ich setze die ur
sprüngliche Reinheit und die unbegrenzte Fortsetzbarkeit des Denkens in dieser
Welt voraus und rechne mit denen, für die Aktionen der Vernunft das legitime
menschliche Ziel sind, denen ein Schluß wesentlicher ist als ein Bekenntnis,
w e i l seine seinssetzende Kraft indiv idual i si ~render , schöpfer ischer und folgen
reicher ist . und denen jede nachlassende Spannung im Verhältnis zu Ideen ein
Zeichen verfallender Humanität bedeutet."
Von Anfang an hat Bense - anders als Umberto Eco - auf die Unterhaltung
von Konsumenten verzichtet, denn "Zerstreuungen vermehren die Rückstände ".
während Gegenwart und Zukunft eine Frage der Konzentration sind, die sich
in der Verschärfung der Begriffe der Wahrheit vollzieht. Auch das bourgeoise
Einverständnis war und ist ihm unwichtig, fremd, denn "es geht nicht darum.
Leser zu gewinnen, sondern diesen oder jenen Leser, der Dekadenz durch Pro
duktivität, Saturierung durch Individualität und Gläubigkeit durch Zweifel
ersetzen kann" .
Max Bense , am 7. 2. 1910 in Straßburg geboren, studierte in Köln Physik. Mathe
matik und Philosophie , unter anderen bei Felix Hausdorff. 1946 wurde er Pro
fessor und Kurator der Universität Jena, die er nach ph ilosophischen und politi
schen Auseinandersetzungen 1948 verließ. In Stuttgart, wo Max Bense seit 1949
jahrzehntelang den Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie, Mathematik. Logik und
Philosophie innehatte und nicht nur einmal durch seine antiklerikale. atheisti
sche , beunruhigend luzide Argumenta tion gefährdete, bildete er den Mittelpunkt
eines Kreises , der prägend wurde für Künstler und Schriftsteller, Designer und
Architekten. Kybernetiker und Informationstheoretiker , Logiker und Mathemati
ker , Ph il osophen und Ge isteswissenschaftler. angereichert mit Individuen ohne
akademische Legitimation.
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Gegen die Adenauer-Ära setzte er seine "Zeitschrift für Tendenz und Experiment".
den "augenblick", in dem eine literarische Avantgarde, von Andersch bis Arno
Schmidt, von Jean Genet bis Nathalie Sarraute.- Queneau, Francis Ponge, Henri
Michaux, Mon. HeißenbütteL Garnringer und die brasilianischen Noigandres,
Gertrude Stein selbstverständlich, oft erstmals in Deutsch zu Wort kam. Dem
"augenblick" folgten (wieder in Zusammenarbeit mit Elisabeth Walther, der be
deutenden Charles Sanders Peirce-Forscherin und -Biographin) die Einzelpubli
kationen der "reihe rot". konkrete Kunst und Poesie , experimentelle Theoreme
und Texte, die Aufsehen erregten, weltweit. 1965 wurden zum erstenmal Com
putergraphiken Cvon Frieder Nake und Georg Nees) als Kunst anerkannt. es war
die Geburtsstunde der Computerkunst - in Benses Seminar. Man sprach von der
"stuttgarter schule", ihrer schriftstellerischen und ästhetischen Theorie und
Praxis; inzwischen versteht man international darunter die Entwicklung und
Fortsetzung der Paircesehen Semiotik, vor allem durch Max Bense und Elisabeth
Walther .
Max Bense (bisheriger Herausgeber der internationalen Zeitschrift für Semiotik
und Ästhetik "Semiosis") publizierte seine grundlegenden semiotischen, kyber
netischen und ~sthetischen Arbeiten zum Beispiel in den vier Bänden seiner
Aesthetica C1954- 1960) und der Theorie der Texte (1962) , immer begleitet mit
Beispielen einer für die deutsche Literatur neu- und großartigen Prosa, die in
Titeln w ie Bestandfeile des Vorüber. Entwurf einer Rheinlandschaff. Die präzisen
Vergnügen, Dünnschliffe. Die Zerstörung des Durstes durch Wasser aufblitzt.
Seine gesellschaftspolitischen Schriften wie Descartes und die Folgen. Ein Ge
räusch in der Straße und Artistik und Engagement erörtern die Stellung der
produktiven Intelligenz gegen Konfessionalismus und irrationale Vermachtung,
im Prozeß der zunehmenden Zivilisation und ihrer Technisierung C1943: 'Die
Technik ist einsamer als die Natur ') . .Auseinandersetzungen mit Pascal. Kierke
gaard. Heidegger. Ernst Jünger waren vorausgegangen , Essays über Leibniz.
Hege!. Bartrand Russell. Husserl. Wittgenstein, Sartre und Camus, Lukacs und
Bloch. Briefwechsel mit Gottfried Benn und Arno Schmidt. Kolloquien mit
Künstlern, Planern und Gestaltern CMax Bill. Almir Mavignier, HfG Ulm) .
In Benses Rationalismusverständnis wird das systematische Denken durch das
Korrektiv des existentiellen Denkens e rgänzt , durch den subjektiven Wahrheits
begriff der Zustimmung einer konkreten Existenz. Denn "jede Autorität, jede
Macht. jeder Glaube, jede Hoffnung müssen die echten Merkmale sowohl der
rationalen wie auch der existentiellen Denkbewegung besitzen, wenn sie sich
von den Sentiments und Vorurteilen aller Klassen und Nationen unterscheiden
sollen" . CSo in Technische Intelligenz. 1949.) Und in Rationalismus und Sensibilität
C1956) erläutert er : "Unter Rationalismus wird h ier übrigens die methodische und
bis auf den Beweis zurückzuführende Erzeugung von Resultaten gleich welcher
Art. wenn sie nur vom Charakter der Allgemeingültigkeit sind, verstanden, und
Sensibilität wird aufgefaßt als freie und subtile Variation des Denkens und des
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Handeins angesichts der Leiden, Genüsse und Begierden, die uns heimsuchen
und sehr viel stärker als andere Faktoren unsere Individualität begründen.·
Auch wenn die ästhetische Rechtfertigung des Daseins nicht in jedem Falle ein
geistiges Vergnügen ist. so ist sie für Sense die einzig mögliche, arbeitet doch
"Kunst immer daran. durch ihre Geschöpfe ein Stadium nicht nur der sinnlichen,
auch der spirituellen Faszination einzuleiten; sie beginnt den ästhetischen Prozeß
als eine Wiederholung des Seins im Zeichen des Seins. aber sie beendet ihn als
Rechtfertigung des Seins durch seine Reproduktion im Geiste."
In der überkommenen philosophischen Literatur unterscheidet Max Sense drei
verschiedene Funktionen der Philosophie: die fundierende, die kritische und
die utopische.
Fundierend ist die Grundlagenforschung. "die gewissermaßen am Fuße jeder
Wissenschaft. jedoch auch an ihren Grenzen, in Gang gebracht werden mue· :
Die kritische Funktion der Philosophie dagegen reflektiert und kritisiert die
Fakten des Lebens und der Gesellschaft im Hinblick auf grundsätzliche Verbes
serungen bestehender Verhältnisse; ihre Gipfelpunkte im 19. Jahrhundert bilden
nach Max Sense Kierkegaard, Marx und Nietzsche: "Kierkegaard kritisiert den
ästhetischen Menschen im Hinblick auf den · religiösen. Marx den ausbeuten-
den im Hinblick auf den ausgebeuteten Menschen, um der ethischen Lebens
führung den Vorrang vor der ästhetischen und religiösen zu geben. und Nietz
sche wiederum kritisiert Staat. Kirche, Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft,
um vitalen und ästhetischen Gesichtspunkten menschlichen Daseins öffentliche
Geltung zu verschaffen." Der kritischen Vernunft verwandt ist die utopische
Funktion der Philosophie. sie ist eng mit ihr verknüpft. in ihrer Bemühung um
die Zukunft: Platons Staat. Pico della Mirandolas Uber die Würde des Menschen.
Lessings Erziehung des Menschengeschlechts und ·Blochs Prinzip lfo!fnung zählt
er dazu.
Wie die Naturwissenschaften in Benses philosophischem Denksystem nicht
ohne mathematische Sprache auskommen. "weil gerade die mathematische Dar
stellung technologische Folgerungen ermöglicht". so können die historischen
Wissenschaften letztlich nicht ohne dialektische Sprache auskommen, "weil nur
die Sprache der Veränderungen und Umschwünge gesellschaftliche Prozesse
er faßt und Folgerungen gleicher Art ziehen läßt".
Benses schriftstellerische Produktion umfaßt über 100 Titel. alle lesenswert, ge
radezu ein Muß angesichts des gegenwärtigen Zurückbleibans erforderlicher
Rationalität und der damit verbundenen Ausbreitung selbstgefälliger Emotionali
tät. "in deren Folge eine Regression des Urteils in das' Vorurteil. der Wahrheit
in die Konvention und der Schöpfung in die Imitation stattfindet, und zwar in
Angelegenhai ten des Geistes".
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Ludwig Harig, neben Ernst Jandl u .a. einer der in der wreihe rotw zu entdecken
gewesenen Autoren, erklärte: Wich habe niemanden kennengelernt. der ein so
radikales Wörterwesen wäre wie Max Bense, niemanden, der so hartnäckig auf
die Wörter setzte wie er. auch wenn die Wörter ihm oft zugesetzt und ihn in
die Enge getrieben haben·. CSiehe oben: Wich häre ... eure Laute nicht ... w
Und hier (für eine Tochter):
Ich, 1980
werde am 7. 2. des Jahres 2000 neunzig Jahre alt sein. und Du wirst nicht wissen, wie alt das ist. wenn ich nicht mehr älter werden kann.
Denke daran und denke an mich am 7. 2. des Jahres 2000. Einundzwanzig Jahre danach als Deine Mutter starb und neunzig Jahre nach meiner Geburt. vielleicht auch am 23. Juni des Jahres zweitausendsechsunddreißig, neunzig Jahre nach Deiner Geburt.
Eine der Uhren ist immer wach .
P.S . aus : Arno Schmidt, Die Gelehrtenrepublik C1957). Im Sommer 2008.
Menschwardasnicht - : Bense?: Klar!: Die Reiterstatue dort : WKönnten wir nicht
mal'n Augenblick halten ? !" . I Cim Sockel die Titel seiner Werke eingegraben.
CName und Daten verstehen sich von· selbst). Hinten die von ihm entscheidend
geförderten 'Jungen Talente '. Rechts. leuchtenden Antlitzes, seine Mäzene und
Entdecker. freudig hinaufzeigend. a la, 'Na. was hab ich gesagt ! ?)' . Im linken
Seitenfeld, dekorativ gefesselt, böswillige Rezensenten, über jedem seine asym
metrisch geknebelte Neidfratze : sehr fein ! I w Aber wieso als Reiter ? ! w
Der Inder erklärte: In der Denkmalsfrage ergaben sich sehr bald Schwierigkei
ten . Daß Denkmäler her mußten , darüber war sich männiglich einig. Nach
langwierigen und zähgeführten Diskussionen verfiel man schließlich auf eine
Werteskala : das mindeste wäre 'ne Gedenktafel. Dann, als nächsthöhere Stufe,
das Relief : Rundmedaillons mit Kopf. Folgte eine Büste (als Herme aufgestellt) .
Dann das Standbild in Lebensgröße. Dann der. auf höherem Sockel. im Sessel
Sitzende . CWie hier dieser - wieheißter ? : 'Gerhart Hauptmann'?w : "Ganz
rechtw I Und was ne Finesse : der konnte sich räkeln, während Alfred Döblin,
daneben, zu Fuß gehen mußte : WDas hätten Sie umgekehrt machen sollen !" I
Sie überhörten meine fürwitzige Äußerung; wir waren anscheinend in die
'Deutsche Ecke' geraten). I Als Gipfel eben das ReiterdenkmaL
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Dieser Beitrag wurde am 7. Februar 1990 an.läBlich der Feier zu Max Benses achtzigstem Geburtstag in der Stiftung für konkrete Kunst in Reutlingen vorgetragen.
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Internationale Zeitschrift für 1 5 .
Semiotik Jahrgang,
und Ästhetik Heft 1/2, 1990
INHALT
Max Bense:
Udo Bayer:
Felix von Cube:
Udo Bayer:
Barbara Wörwag:
Manfred Esser und Wolfgang Ki wus:
Francis Ponge:
Manfred Zippel:
Harry W alter:
Beate von Pückler:
Helmut Kreuzer:
Siegfried Maser:
Dolf Zillmann:
Gerard Deledalle:
Christian J.W. Kloesel:
Michel Balat:
Cornelie Leopold:
Dinkar Magadum:
Rul Gunzenhäuser:
Elisabeth W alther:
Der Zweifel und der Ernst
Max Bense zum Gedenken
Der riskierte Geist. Max Benses Entropieansatz im Aspekt der Verhaltensbiologie
Ontologie, Metaphysik und Semiotik im Werk von Max Bense
Die Autopoiesis der Kunst als semiotisches Problem
Max Bense - Qas radikale Wörterwesen
Pour Max Bense
Essay über die zehnte Muse
M - Punkt. 0 - Punkt. I - Punkt - Ausrufezeichen
Der große Verführer des 20. Jahrhunderts in Relation zu einem großen Verführer des 19. Jahrhunderts
Nachruf auf Max Bense
Erinnerung an Max Bense
Die Beanblossom-Hypothesen
Oe la creativite
A Note on Peirce and Positives. and 1910
Type, Trace et Ton: Le ton peircien
Kategorietheoretische Konzeption der Semiotik
Peirce und seine Vorstellung von Zeit
Max Bense: Wegbereiter für eine moderne Informatik-Bildung
Aus meinem Tagebuch von 1947
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