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Leseproben Romane Herbst 2013

Date post: 23-Mar-2016
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Stöbern Sie in den neuen Francke-Romanen aus dem Herbstprogramm.
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Leseproben romane
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L e s e p r ob e nr o m a n e

In den Leseproben enthalten:

ISBN 978-3-86827-390-8 ISBN 978-3-86827-391-5 ISBN 978-3-86827-392-2

ISBN 978-3-86827-395-3 ISBN 978-3-86827-396-0 ISBN 978-3-86827-397-7

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Leseproben Romane

Elizabeth Musser, Der Garten meiner Großmutter ................ 2Tamera Alexander, Wie ein Flüstern im Wind ..................... 17Lisa Wingate, Blue Moon Bay .............................................. 28Jody Hedlund, Die Assistentin des Fotografen .................... 34Mirjam Schweizer, Blinde Erinnerung ................................. 41Irene Hannon, Im Angesicht meines Feindes ...................... 48

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„Das Leben beantwortet dir nicht jede Frage. Manche Antworten wirst du nie bekommen, andere schon. Aber solange du die wichtigste Frage geklärt hast, kannst du es aushalten, dass andere offen bleiben.“

An dieser Aussage seiner Großmutter beißt sich Emile fast ein Leben lang die Zähne aus. Kurz vor seinem 14. Geburtstag verschwindet sein Vater auf mysteriöse Weise aus seinem Leben. Seine Mutter ver-lässt mit ihm daraufhin Hals über Kopf sein Zuhause in Frankreich und zieht mit ihm zur Großmutter in die USA.Es fällt Emile nicht leicht, in seiner neuen Schule im Atlanta der 1960er-Jahre Fuß zu fassen. Zum Glück gibt es da die selbstbewuss-te Eternity. Auch ihr bleibt das Leben die Antwort auf viele Fragen schuldig, aber durch die Freundschaft mit Emile schlägt ihr Leben eine neue Richtung ein. Im Garten seiner Großmutter findet sie den Mut, sich der wichtigsten Frage ihres Lebens zu stellen. Und ihr Glück färbt auch auf Emile ab. Bis eines Tages etwas Unfassbares geschieht.

Elizabeth MusserDer Garten meiner GroßmutterISBN 978-3-86827-390-8ca. 480 Seiten, gebundenerscheint im September 2013

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Kapitel 1

„Amerika wird dir gefallen“, hatte meine Mutter schon immer gesagt. „Eines Tages fahren wir dorthin, und es wird dir gefallen.“

Meine französische Großmutter war nicht so begeistert. „Das ist ein Land ohne Geschichte, stolz und jung, dabei muss es noch so viel lernen. Hüte dich vor Amerika, Emile.“ Aber am Tag, bevor ich mein Heimat-land verließ, stand sie da, den Kopf hoch erhoben, mit ihrem stolzen und strengen Blick, den ich so gut kannte, und flüsterte mir mit zugeschnürter Kehle zu: „Alles wird gut, Emile. Sei tapfer.“ Dann gab sie mir auf jede Wange ein Küsschen und weigerte sich, auch nur eine Träne zu vergießen.

Am nächsten Tag stiegen meine Mutter Janie Bridgeman de Bonnery und ich am Flughafen Orly in die Delta-Maschine. Niemand war da, um uns zu verabschieden. Der Flug dauerte acht Stunden, und ich sagte die ganze Zeit kein Wort, versuchte nicht, meinen Zorn zu besänftigen, der meine Schläfen zum Pulsieren brachte, und verschwendete keinen einzi-gen Gedanken daran, wie meine Mutter sich wohl fühlen mochte.

Sie war erleichtert, da war ich mir sicher. Sie konnte Frankreich hinter sich lassen und aus einer Lebenssituation flüchten, die ihr fünfzehn Jahre lang die Luft abgeschnürt hatte. Aber sie tat mir kein bisschen leid. Ich kochte vor mich hin und wusste, wenn ich den Mund aufmachte, würde ich explodieren.

Die Landung in Atlanta an jenem Tag im September passte perfekt zu den nächsten neun Monaten meines Lebens: holprig – so holprig, dass ich in die Sitztasche vor mir griff und die Papiertüte brauchte, die darin steckte.

„Emile, du bist ja ganz grün!“, verkündete meine Mutter den ganzen Passagieren um uns herum.

„Iih, das ist eklig“, sagte ein Junge von der anderen Seite des Ganges.Wütend starrte ich meine Mutter an und zischte auf Französisch: „Das

ist deine Schuld! Das ist alles deine Schuld!“Sie wusste, dass ich nicht nur die volle Papiertüte meinte, sagte aber

nichts zu ihrer Verteidigung. Unentwegt drehte sie ein weißes Taschen-tuch auf ihrem Schoß hin und her, als könne sie die Spannung auswrin-gen, die sich in den letzten Tagen aufgebaut hatte.

Ich wünschte mir, eine Stimme wäre vom Himmel gekommen und

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hätte mir mitten in den Turbulenzen zugeflüstert: „Nun wird sich alles ändern, Emile. Nichts wird mehr so sein, wie es war.“

Zwei Monate vor meinem vierzehnten Geburtstag zog ich mit meiner Mutter von Frankreich in die USA. Ich hatte mich das ganze Jahr auf eine Veränderung gefreut, ja danach gesehnt – größer zu werden, Muskeln zu bekommen, Flaum im Gesicht und unter den Achseln. Aber als wir auf dem Flughafen von Atlanta standen, umgeben von Gepäckbergen, wollte ich sie nicht mehr. Ich wollte wieder in meine alte Welt zurück, die ich kannte und in der ich sicher war.

„Himmel nochmal, Emile, jetzt hilf dem Mann mit dem Gepäck!“, sag-te meine Mutter entnervt.

Ich warf ihr einen bösen Blick zu und begann halbherzig, gemeinsam mit einem Schwarzen in blauer Uniform, Koffer und Taschen vom Ge-päckband zu ziehen.

Mama half so gut sie konnte. Trotz ihrer Statur und ihrem Auftreten – mit ihrem blassgelben Kostüm und den hochhackigen Schuhen sah sie aus wie aus einer Werbung für Parfum – war meine Mutter eine Frau mit starkem Willen. Sie schob die schweren Koffer, die zum Teil halb so groß waren wie sie, vor sich her zu einem Wägelchen, auf dem der Gepäckträ-ger gefährliche Stapel errichtete. Irgendwann schafften wir es bis hinaus zum Taxistand.

„Das passt auf keinen Fall alles rein, Ma’am“, stellte der Gepäckträger entschuldigend fest.

Mamas Wangen wurden hellrot und ihre Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. „Dann nehmen wir eben zwei. Bekommen Sie das in zwei Taxis?“

„Ich kann’s versuchen, Ma’am.“ Der Gepäckträger winkte noch ein Taxi herbei. Zu dritt machten sich die Männer daran, die Koffer und Taschen zu verstauen.

Ich stand mit verschränkten Armen daneben und sah zu.Immer, wenn meine Mutter besonders verärgert war, bellte sie ihre Be-

fehle jedem entgegen, der zuhörte. Gleichzeitig zupfte sie dann an ihrer perfekt gestylten blonden Augenbraue herum. An diesem Tag zupfte sie, was das Zeug hielt, und rang zwischendurch die Hände. Ihre Sonnenbril-le sah aus wie die von Mrs. Kennedy, die man seit der Ermordung ihres Mannes vor einem Jahr im texanischen Dallas gar nicht mehr ohne sah.

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Mama trug die Sonnenbrille, damit nicht die ganze Welt sah, dass sie ge-weint hatte – oder sich die Augen ausgeheult hatte, um ehrlich zu sein –, obwohl man das trotzdem sehen konnte. Ihre Nase war etwas rosiger als die Wangen und ihre Lippen bebten die ganze Zeit.

Ich stand neben ihr, schwitzte und fragte mich, was um alles in der Welt ich mir da bloß eingehandelt hatte.

„Tut mir leid. Ich fürchte, du wirst deinem Frankreich Lebewohl sagen müssen.“ Diese Worte hatte Mamie Madeleine, wie ich meine französi-sche Großmutter nannte, gestern gesagt, mit hoher und erregter Stimme, grimmigem Blick und zugleich feuchten Augen. Ihre Hände hatten ge-zittert, als ich die Koffer im Innenhof unseres kleinen Châteaus aus dem dreizehnten Jahrhundert aufeinandergestapelt hatte, das im Laufe der Jah-re aufwendig restauriert und von Generation zu Generation weitervererbt worden war.

Mein Vater war verschwunden und wir gingen nach Amerika, meine Mutter und ich. Mama versuchte sich zu rechtfertigen. „Emile, ich halte das nicht mehr aus. Das schaffe ich nicht. Dein Vater ... dein Vater hat eine andere, und ...“

Es war einfach so passiert. Zwei Tage später saßen wir im Flugzeug, mit dreiunddreißig Taschen und Koffern. Das Gesicht meiner Mutter war vom Weinen und von meinen Wutausbrüchen rot und geschwollen. „Ich will hier nicht weg! Ich bleibe hier. Papa kommt bald zurück. Er kommt immer zurück. Ich bleibe hier!“

Ich hörte nicht auf. „Man kann nicht von heute auf morgen einfach aus seinem Land vertrieben werden. Ich komme nicht mit! Ich bleibe bei Mamie Madeleine. Geh doch alleine!“

Aber es nützte nichts. Obwohl sie sonst Erzfeinde waren, waren die beiden Bestimmerinnen meines Lebens sich ausnahmsweise einig: Meine Mutter und ich sollten Lyon sofort verlassen.

Bei meinem Vater Jean-Baptiste de Bonnery war es schon Tradition, dass er plötzlich ein, zwei Wochen verschwand. Mama hatte zwar im-mer eine Ausrede von irgendeiner Geschäftsreise parat, aber ich glaubte ihr kein Wort. Papa war ein Spion. Er arbeite für die Regierung, sagte er immer, und leite Leute an, die wichtige Entscheidungen treffen. Aber ich hatte genug Detektivgeschichten gelesen um zu wissen, dass das nur Tarnung war.

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„Papa ist bei der Spionageabwehr, oder, Mama?“, hatte ich ihr vor sechs Monaten die Pistole auf die Brust gesetzt. „Ich bin kein kleines Kind mehr. Du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen.“

Sie hatte mich verwirrt angesehen und dann schnell gelacht. „Emile, wo du immer deine Ideen herhast! Hör auf, diese Bücher zu lesen und mach was Vernünftiges, hörst du? Dein Vater ist auf Geschäftsreise und kommt in zehn Tagen wieder.“

Bis vor Kurzem hatte sie immer recht behalten.Der Gepäckträger stopfte Koffer und Taschen in den Kofferraum und

auf die Rücksitzbank.„Wir hätten auf ihn warten sollen, Mama. Er kommt doch immer wie-

der. Warum soll es dieses Mal anders sein? Los, sag mir das!“Ich hätte nicht in dem Ton mit ihr reden dürfen. Wenn Papa da gewe-

sen wäre, hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Aber das war es ja gerade. Papa war nicht da, und dieses Mal war es anders. Trotzdem gab ich mich mit Mamas Erklärung nicht zufrieden.

Mein ganzes Leben hatte ich ihr geglaubt. Ironischerweise konnte ich es gerade jetzt nicht, wo die Beweislage erdrückend war. Jede Wette, dass sie mehr wusste, als sie sagte.

Aber ich wusste auch mehr, als ich sagte. Ich wusste mehr, als ich ir-gendwem anvertrauen konnte. Dass es scheinheilig war, mein Geheimnis für mich zu behalten und gleichzeitig zu erwarten, dass sie ihres preisgab, fiel mir nicht auf. Meine Mission lautete, die Wahrheit über meinen Vater herauszubekommen, und für eine noble Sache musste man eben manch-mal kleine Unstimmigkeiten in Kauf nehmen.

Ich ging artig zum Taxi, während Mama dem Fahrer einen Umschlag gab, auf dessen Rückseite die Adresse stand. „Wissen Sie, wo das ist? Das müsste im Nordteil der Stadt liegen.“

Der schwarze Fahrer legte die Hand an den Hut. „Ja, Ma’am. Ich fahre Sie hin.“

Sie hatte es betont beiläufig gefragt, aber ich merkte, wie erleichtert Mama war. Großmutter war nämlich umgezogen, seit Mama nach Frank-reich ausgewandert war.

Sobald wir den Parkplatz verlassen hatten, fing Mama an, in ihrer Handtasche zu kramen. Sie zog ein kleines Rougekästchen heraus und besah sich im winzigen Spiegel.

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„Bist du aufgeregt, Mama?“Sie lachte gequält. „Tja, Emile, ich glaube schon. Ich habe deine Oma

fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen.“Und nun war es so weit. Nach fünfzehn Jahren Funkstille stand meine

Mutter mit einem dreizehnjährigen Sohn und dreiunddreißig Gepäckstü-cken bei ihrer Mutter vor der Tür, ohne jede Vorwarnung.

Das Haus von Großmutter stand ein gutes Stück von der breiten Allee entfernt auf einem kleinen Hügel und war umgeben von grünem Gras und hohen Bäumen. Durch den Wind sah es aus, als würden mich die Baumwipfel herbeiwinken und willkommen heißen. Das passte zu Groß-mutters Haus: Es sah gemütlich und entspannt aus, wie jemand, den man gern näher kennenlernen möchte und der einen zum gemeinsamen Spie-len einlädt.

Außen war es mit grauen Schindeln bedeckt. In Frankreich waren die Häuser aus Backsteinen mit Gipsstuck oder aus Feldsteinen aus dem Mit-telalter. Auf der linken Seite von Großmutters Haus war ein Anbau, den Mama Veranda nannte. Er sah wie ein fröhlicher, luftiger Ort aus, ein Zwischending zwischen drinnen und draußen.

Unsere zwei Taxis fuhren auf das Grundstück und die Motoren ver-stummten. Mama bewegte sich kein Stück.

Geschieht ihr ganz recht, dachte ich.Erst als der Fahrer sich umdrehte und sie ansah, seufzte sie und sagte:

„Na komm, wir gucken, ob sie zu Hause ist. Komm, Emile.“Ich folgte ihr auf dem Plattenweg, der sich von der Einfahrt zum Haus-

eingang schlängelte. Dort angekommen, blieb Mama kurz stehen, zog eine Tür mit Moskitonetz auf, wie ich sie in Frankreich noch nie gese-hen hatte, und klopfte an der Tür dahinter. Sie lächelte mich flüchtig an, wischte mit einem Finger unter ihrer Sonnenbrille entlang und wartete.

Die Frau, die die Tür öffnete, war angenehm pummelig – wie Mama öfter sagte – und hatte hochgesteckte graue Haare. Ich fand sie nicht nur angenehm pummelig, sondern insgesamt angenehm. Sie wischte sich ge-rade die Hände an ihrer verblichenen Schürze ab und war noch gar nicht richtig bei der Sache, als Mama sagte: „Hallo, Mutter.“

Großmutter schrie leise auf. „Janie! Was um alles in der Welt ...!“ Dann brach sie in Tränen aus und drückte ihre verlorene Tochter an sich.

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Für mich sah es so aus, als würde Mama direkt vor der weißen Tür ver-welken. Sie ließ sich einfach von ihrer Mutter in den Arm nehmen. Ich hatte damit gerechnet, dass sie stolz und aufrecht bleiben würde, so, wie sie sich immer als Teenager beschrieben hatte, voller Wut auf ihre Mutter. Aber sie stand einfach da und weinte mit der fremden Frau in der Schür-ze, wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen und achtete nicht im Geringsten darauf, dass ihr Mascara auf dem Taschentuch und ihrem Gesicht schwarze Streifen hinterließ.

Immer wieder sagte sie: „Es tut mir leid, Mutter. Es tut mir so leid. Ich hätte dir viel öfter schreiben sollen. Aber ich habe alle deine Briefe gelesen und aufgehoben. Tut mir leid. Und jetzt stehen wir auch noch plötzlich hier vor deiner Tür.“

Großmutter nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Und du musst Emile sein. Oh Janie. Dein Sohn“, sagte sie ergriffen. „Dein hübsches Kind.“

Meine französische Großmutter war eine Frau, die ich respektierte, aber mein Bauchgefühl sagte mir sofort, dass meine amerikanische Großmut-ter eine Frau war, die ich lieb haben konnte. Sie hätte mich auf den Schoß genommen, als ich noch klein war, mir Kekse gebacken und Geschichten vorgelesen. Ich mochte sie vom ersten Augenblick an und mir war klar: Wenn ich den Kulturwechsel überleben würde, dann nur wegen ihr.

Mama schniefte, rieb sich die Augen und klappte die Sonnenbrille zu-sammen. „Es gibt so viel zu erklären, Mutter ...“, setzte sie an.

„Das kann warten, Janie. Lass uns erst einmal deine Sachen reinholen.“„Dann ist es in Ordnung, wenn wir ein paar Tage bei dir bleiben? Nur,

bis wir uns hier zurechtgefunden haben.“„Natürlich, Janie. Ihr könnt selbstverständlich hierbleiben.“Bald darauf stand der ganze Flur mit unseren Taschen und Koffern voll

und Mama gab den Taxifahrern ein Bündel Scheine, die ich als Dollar erkannte.

Wir liefen durch den Flur in ein Zimmer, das Großmutter das Famili-enzimmer nannte. Es stand voller abgenutzter, gemütlicher Möbel, hatte einen Kamin, und das Beste von allem: jede Menge Bücher, die unsortiert in Regalen standen – Taschenbuchromane neben antiken, in Leder ge-bundenen Bänden. Die Bücher füllten rechts und links vom Kamin die Regale.

„Setzt euch doch“, sagte Großmutter.

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Ich konnte sehen, dass ihr tausend Fragen im Gesicht geschrieben stan-den, aber sie stellte keine davon.

„Emile, du hast sicher großen Hunger. Soll ich dir ein Glas Milch und ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade holen? Genau das Rich-tige für einen Jungen, der noch wachsen muss.“

Ich sah Mama unsicher an, aber sie lächelte und zwinkerte mir zu.„Hört sich gut an, Mutter. Aber du solltest wissen, dass Emile Erdnuss-

butter mit Marmelade überhaupt nicht kennt.“Großmutter sah schockiert aus und tat so, als würde sie die Welt nicht

mehr verstehen. „Tatsächlich? Das gibt’s doch nicht!“„In Frankreich gibt es keine Erdnussbutter. Kinder essen zwischendurch

Baguette mit Schokolade.“„Ich fürchte, Baguette und Schokolade sind gerade aus, Emile“, sagte

Großmutter mit einem Augenzwinkern.Meine Mundwinkel gingen ganz von selbst nach oben. „Macht nichts.

Darf ich bitte so ein Sandwich probieren?“Ich folgte ihr in die Küche und setzte mich an einen kleinen, weißen

Tisch. Bald darauf stand das Sandwich vor mir. Ich untersuchte es und zog die zwei schlaffen Brothälften auseinander, um die Füllung zu se-hen. Die Erdnussbutter sah aus wie eine etwas dunklere Gänseleber-Paté, die meine französische Großmutter jede Woche auf dem Markt kaufte. Sie war beschmiert mit etwas Tiefviolettem, Glattem, Glänzendem und Glibberigem, das aus einem Glas kam, auf dem Welch’s Grape Jelly stand. Das war mir suspekt. In Frankreich machte man aus Trauben Wein. Die Substanz auf dem Brot sah überhaupt nicht aus wie die Konfitüre und Marmelade, die Mamie Madeleine aus frischen Früchten und Beeren aus ihrem Garten machte.

„Die Amerikaner essen industriell verarbeitetes Zeug, Emile. Du weißt nie, was du dir da in den Mund steckst.“ Mamie Madeleines Warnung klang mir noch im Ohr, als ich die Hälften wieder zusammenklappte und vorsichtig abbiss. In Frankreich war es eine Sünde, süß und salzig zu mischen. Aber in dem Augenblick, wo meine Geschmacksknospen Erdnussbutter mit Marmelade kennenlernten, war ich zumindest deswegen froh, in Amerika zu sein.

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„Kommt, ich zeige euch eure Zimmer“, sagte Großmutter.Mama und ich folgten ihr die geschwungene Holztreppe hinauf. Oben

war ein breiter Flur, der auf jeder Seite zwei Türen hatte.„Hier Emile, du kannst hier schlafen.“Ich war verblüfft, dass meine Großmutter einfach so ein Zimmer be-

zugsfertig hatte. In Lyon war es immer ein halber Staatsakt, wenn man des invités hatte, selbst wenn es nur für ein gemeinsames Essen war. Man brauchte die halbe Woche, um sich darauf vorzubereiten. Aber hier bot mir meine Großmutter ein komplett fertiges Zimmer an und meinte nur: „Ich hoffe, du fühlst dich wohl. Entschuldige die grässliche Tapete.“

Ich fragte mich, ob Großmutter fünfzehn Jahre darauf gewartet hatte, dass ihre Tochter nach Hause kommt. Vielleicht gibt es dieses Zimmer ge-nau für diesen Augenblick?

Auf der Tapete waren kleine gelbe Blümchen. Ansonsten hingen ein-gerahmte Drucke von den großen französischen Malern an der Wand, die ich in der Schule gehabt hatte – Monet und Pissarro und Toulouse-Lautrec –, und außerdem Fotos von meiner Mutter als Kind. Das Bett sah aus, als wäre es für ein Mädchen gemacht: ein weißes Himmelbett mit Rüschen und gelber Bettwäsche.

„Du kannst deine Sachen hier in die Schränke tun“, sagte meine Groß-mutter und deutete auf die Türen links und rechts vom Bett. Als ich einen meiner Koffer abstellte, fügte sie hinzu: „Und neben dem Mansarden-fenster ist noch eine kleine Abstellfläche. Die kannst du natürlich auch benutzen.“

„Danke, Madame“, sagte ich, als sie das Zimmer wieder verlassen woll-te.

Sie drehte sich um, griff nach meinen Händen und sagte: „Nenn mich doch einfach Grandma.“

„Danke, Grandma“, wiederholte ich. Das Wort schmeckte gut – viel-leicht sogar noch besser als das Sandwich mit Erdnussbutter und Marme-lade.

Das Mansardenfenster war ein senkrechtes Fenster, das aus der Dach-schräge hervorragte. Das Ergebnis im Inneren war eine kleine Nische, in der ein kleiner Schreibtisch stand. Ich betrachtete das Grün vorm Haus durch die Scheibe, die hohen Bäume und die breite Straße, wo eine junge Frau gerade einen Kinderwagen vorbeischob.

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Plötzlich wurde ich sehr müde und setzte mich aufs Bett. Ich lege mich nur ganz kurz hin, sagte ich mir und lauschte den Stimmen von Mama und Grandma, die immer leiser wurden. Aber meine Augen fielen von ganz alleine zu und bevor ich es merkte, träumte ich von einem alten Châ-teau, einer anderen Großmutter und meinem Vater, der davonging und mir über die Schulter zurief: „Emile, hüte dich vor diesen Sandwiches!“

Als ich aufwachte, schien die Spätnachmittagssonne durch das Mansar-denfenster. Der Raum war stickig. Müde öffnete ich die Augen, stand auf und ging aus meinem Zimmer durch den Flur. Ich fand meine Mutter in der gleichen Position, in der ich vor wenigen Augenblicken noch gewesen war: komplett angezogen und schlafend. Auf Zehenspitzen ging ich zur Treppe und suchte unten im Gepäckberg, den der Taxifahrer aufgeschich-tet hatte, meine restlichen Koffer. Grandma war nirgendwo zu sehen, also schleppte ich sie nach oben und beschloss, sie auszupacken.

Sorgfältig nahm ich die sauber zusammengelegten Kleidungsstapel aus dem größten Koffer, bis meine Tim und Struppi-Sammlung zum Vor-schein kam. Neun Stück hatte ich, alle mit festem Einband. Ich tat immer so, als hätte ich viel mit Tim, dem jungen Helden gemeinsam: klein, mit tausend Ideen im Kopf und jederzeit bereit, Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Fehlte nur noch ein Hund wie Tims treuer Begleiter Struppi und alles wäre perfekt.

Ich stellte die Bücher in ein kleines Regal neben dem Mansardenfenster. Dann schloss ich die Tür und machte mich an den zweiten Koffer. Neben den Anziehsachen wickelte ich vorsichtig „meine Sammlung“ aus. Jedes Teil legte ich einzeln aufs Bett. Zuerst kamen die vergilbten Zeitungen, dann die Dose für Reißzwecken, der Stift und die Luftpumpe. Als nächs-tes nahm ich die kleine Ölkanne, die hölzerne Haarbürste und das letzte Comicbuch aus dem Koffer.

Ich untersuchte das gelbe Zimmer nach einem guten Ort, wo ich all das verstecken konnte. Mama durfte nicht wissen, dass ich meine Sammlung mitgebracht hatte. Sie hatte sowieso etwas dagegen.

* * *

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Papa und ich saßen gerade auf meinem Bett, als Mama hereinkam und mir die Ölkanne wegnahm.

„Ich dachte wir wären uns einig gewesen, dass der Junge keine solchen Geschenke mehr zum Geburtstag kriegt! Bist du verrückt, Jean-Baptiste? Ich will nicht, dass Emile mit diesen Dingen spielt. Du wirst ihn nicht zu einem Revoluzzer heranziehen!“

„Janie, bitte. Er ist ein Junge. Jungs brauchen ein bisschen Abenteuer.“„Er ist neun. Neun Jahre, hast du gehört? Er ist noch ein Kind. Ich will

nicht, dass du ihn mit deinen Schauergeschichten aus dem Krieg beein-flusst. Das verbiete ich!“

Mit großen Augen sah ich zu, wie sie hitzig miteinander stritten, mein Vater auf Französisch, meine Mutter wie immer unter Tränen und mit bebenden Lippen auf Englisch. Ich war wütend auf sie, dass sie einen der wenigen Momente, die mein Vater und ich nur für uns hatten, stören musste. Irgendwann schaffte er es, sie zu beruhigen und ihr zu versichern, dass er ihren liebsten Sohn nicht verderben würde, aber sogar ich konnte die Herablassung und die Belustigung in seiner Stimme hören.

Von da an hob ich die Ölkanne und die anderen seltsamen Geburtstags-geschenke, die Papa mir seit meinem fünften Geburtstag gemacht hatte, auf und versteckte sie vor Mama. Ich glaube, sie hat sie nie gefunden, und erst recht nicht die Geschichten gehört, die mir Papa heimlich zuraunte.

* * *

Ich ging zum Mansardenfenster, bückte mich und zog an einem kleinen Messingknopf. Eine kleine Tür in der Wand ging auf und legte den Blick in einen Stauraum frei, der offensichtlich über die ganze Hausfront reich-te und im Schlafzimmer auf der anderen Seite des Flurs endete. Ich nahm jedes Teil einzeln, legte es in einen kleinen leeren Koffer und trug diesen vorsichtig waagerecht zum Fenster. Dort legte ich ihn in den Stauraum und war beruhigt, dass es meine größten Schätze bis nach Amerika ge-schafft hatten und hier gut versteckt waren. Mama wusste nichts davon, aber ich war mir sicher, dass diese kleine Sammlung uns zu meinem Vater führen würde.

Aus meiner Hosentasche zog ich eine Armbanduhr; ein billiges, altes Zeiteisen, das aber trotzdem noch tickte. Ich drehte sie auf die Rückseite,

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umklammerte sie einen Moment und ließ sie dann traurig auf das Bett plumpsen. Er konnte es mir noch nicht mal erklären.

Nur drei Tage zuvor war Papa abends in mein Zimmer gekommen, hat-te mir die Haare verwuschelt und gesagt: „Alles Gute zum Geburtstag, mon grand.“

„Aber ich habe doch erst in zwei Monaten Geburtstag, Papa.“Er hatte mich angesehen mit seinen blassblauen Augen und den dicken

schwarzen Haaren, die ihm in die Stirn fielen. Sein Gesichtsausdruck sah gequält aus. „Ja, ich weiß“, flüsterte er und holte eine kleine Schachtel aus seiner Anzugtasche. „Dieses Jahr sind wir früh dran.“

Ich riss begeistert und gespannt das Geschenkpapier auf. In der Schach-tel lag eine einfache Uhr mit einem Lederarmband.

„Danke, Papa. Danke.“„Sie funktioniert, Emile. Verkündet immer noch treu die Zeit wie da-

mals 1943.“„Und darf ich sie behalten?“„Natürlich. Du darfst sie dir ummachen.“ Er zwang sich zu einem Lä-

cheln.Ich wartete gespannt auf die Geschichte. Jedes Jahr, wenn Papa mir

mein „echtes“ Geschenk gab, von dem ich schon wochenlang geträumt hatte, weihte er mich in einen neuen Teil seiner schlimmen Vergangenheit ein.

Ich weiß nicht, warum es ihm guttat, mir diese schrecklichen Geschich-ten vom Krieg zu erzählen, aber an diesen Abenden war er anders. Er durchlebte seine Vergangenheit wie ein Teenager, der aufgeregt und stolz vor seinen Freunden angibt.

An diesem Abend sagte Papa lange nichts. Er spielte am Armband her-um und streichelte mir über die Wange. Seine Lippen waren nur noch ein einziger Strich und der Schmerz in seinen Augen war wieder da.

Ich drehte die Uhr hin und her und versuchte den Mut aufzubringen, ihn danach zu fragen. Plötzlich klopfte es. Reflexartig drückte ich Papa die Uhr wieder in die Hand und er ließ sie in seiner Tasche verschwinden.

„Jean-Baptiste“, sagte meine Mutter durch die leicht geöffnete Tür. „Tut mir leid, dass ich euch unterbrechen muss, aber da ist ein Anruf für dich ...“

„Sag, ich rufe zurück.“

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Ich seufzte erleichtert. Meine besondere Zeit mit Papa war wichtiger als der Anruf.

Aber meine Mutter ging nicht weg. Sie kam an mein Bett und flüsterte: „Liebling, ich glaube, es ist wichtig. Da ist ein Mann, der sagt, er heiße Rémi und es gehe um eine Lieferung ...“

Noch bevor meine Mutter den Satz beenden konnte, war Papa auf den Beinen. „Janie, sag ihm, dass ich auf dem Weg bin.“

Alles, was ich herausbrachte, war: „Aber Papa!“Er schloss die Tür, kniete sich vor mein Bett und ich konnte sehen, wie

leid es ihm tat.„Erzählst du mir heute gar nicht die Geschichte?“Sein Brustkorb hob und senkte sich und er schluckte. „Nein, heute

nicht, mein Großer.“ Seine Stimme war belegt, als würde er gleich anfan-gen zu weinen.

In mir löste seine emotionale Reaktion zugleich Stolz und Angst aus.Dann tat er etwas, was ich noch nie erlebt hatte. Er zog mich zu sich

heran und umarmte mich mit seinen kräftigen Armen. „Emile, ich muss wieder los.“

„Aber du bist doch gerade erst wiedergekommen.“„Ich weiß, aber ich muss wieder los.“„Wann denn?“„Morgen früh, bevor du aufstehst.“„Na gut. Dann erzählst du mir die Geschichte, wenn du wieder da bist.“„Ja.“ Seine Stimme klang gepresst, als würde er ersticken. „Du bist fast

vierzehn, Emile. Fast schon ein Mann. Pass gut auf deine Mutter auf, solange ich weg bin, hörst du?“

„Na klar, Papa.“Er drückte mich an sich, küsste mich auf den Kopf und ging.Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass er mir die Uhr nicht wiederge-

geben hatte.

Ich musste eingeschlafen sein, denn plötzlich wurde ich von gedämpften Geräuschen geweckt. Ich hörte jemanden weinen und jemanden wütend schimpfen. Draußen war es stockdunkel. Ich stieg aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Das Zimmer meiner Eltern war am anderen Ende des Flurs.

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Meine Mutter weinte und mein Vater schimpfte. „Janie, jetzt beruhige dich! Das ist besser für uns alle. Lass dich doch nicht so gehen. Bitte.“

Es ging immer so weiter, aber ich konnte nichts mehr verstehen. Schließlich krabbelte ich zurück ins Bett und schlief ein. Am Morgen war mein Vater fort.

Ich ging zur Schule und war froh, dass heute ein Schulausflug nach Vieux Lyon ins Museum und zu den römischen Ruinen anstand. Die Sonne schien, es war ein perfekter Herbsttag und ich und meine Freunde alberten herum und neckten die Mädchen. In den Straßencafés saßen überall Leute.

Als wir an einem Café vorbeiliefen, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen. Keine zehn Meter vor mir saß mein Vater. Ich erkannte sein Profil sofort. Er trug denselben Anzug wie am Abend zuvor, aber der besorgte Gesichtsausdruck war wie weggeblasen. Er lächelte, beugte sich vor und genoss es offensichtlich, mit einer jungen Frau zu reden, die ihm gegen-über saß. Seine Hand lag auf ihrer. Sein Verhalten hatte etwas Schreckli-ches und etwas Intimes an sich.

So hatte ich meinen Vater schon lange nicht mehr gesehen: sorgenfrei und glücklich. Ich fühlte mich, als würde ich fallen und dachte, ich müss-te mich jeden Moment übergeben. Mein Körper gehorchte mir nicht. Ich wollte zu ihm gehen, ihn wenigstens begrüßen, aber die Angst lähmte mich.

Einen kurzen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Großes Erstaunen blitzte in seinen Augen auf, aber schon einen Augenblick später war nur noch einstudierte Gleichgültigkeit zu sehen, als ob ich nicht existierte, als ob er mich noch nie zuvor gesehen hatte. Dieser kalkulierte Blick schrie mir Verschwinde! Verschwinde! entgegen und ich rannte meinen Freunden hinterher.

Ich wusste genau, was Geliebte waren. Frankreichs Geschichte war voll mit pikanten Geschichten davon. Alle Könige hatten welche. Aber ich konnte nicht begreifen, dass mein Vater auch eine Geliebte hatte und dass ich ihn gerade mit ihr erwischt hatte.

Ich spürte den stechenden Schmerz, den Verrat mit sich bringt. Gestern Abend hatte er mich noch so fest umarmt und so liebevoll angesehen, und heute dieser gleichgültige, desinteressierte Blick.

Trotzdem war ich mir sicher, dass er am Abend in mein Zimmer kom-

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men und mir alles erklären würde. Er war nicht auf Geschäftsreise ge-gangen, sondern hatte eine alte Freundin getroffen, nur eine Freundin, und sie waren gemeinsam Essen gegangen. Er würde es mir erklären, ganz bestimmt.

Aber mein Vater kam nicht, am nächsten Tag packte meine Mutter un-sere Sachen, und einen Tag später standen wir auf dem Bahnhof in Lyon und waren auf dem Weg nach Paris und dann nach Amerika.

Mamie Madeleine stand mit geröteten Augen und angespanntem Ge-sicht auf dem Bahnsteig, gab mir noch einmal Küsschen auf die Wangen und steckte mir eine kleine Schachtel zu. „Das ist für dich.“

Als der Zug in Richtung Paris durch die Landschaft flog, öffnete ich sie und fand die Uhr meines Vaters darin.

Und nun lag ich auf dem Bett, hielt die Uhr in der Hand und weinte bittere Tränen. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu verstehen, warum wir in Amerika waren. Das konnte man sich an drei Fingern ab-zählen. Mein Vater hatte eine Geliebte; meine Mutter hatte das heraus-gefunden und hielt es nicht aus. Oder sie wusste schon länger über die Affäre Bescheid und hatte jetzt endgültig genug.

Arme Mama. Sie hätte mir leidtun sollen, aber ich wollte nur wieder zurück nach Lyon, meinen Vater finden, seine spannende Geschichte vom Krieg hören und herausfinden, warum er mir seine Armbanduhr zwei Monate zu früh geschenkt hatte.

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Tamera AlexanderWie ein Flüstern im WindISBN 978-3-86827-391-5ca. 480 Seiten, Paperbackerscheint im September 2013

Seit dem schändlichen Tod ihres Mannes ist Olivia Aberdeen ge-sellschaftlich ruiniert. Deshalb willigt sie dankbar ein, als die beste Freundin ihrer Mutter ihr anbietet, bei ihr auf der berühmten Belle Meade Plantage zu leben. Olivia hofft auf die Stelle als Hausdame, aber ihre Erwartungen werden bitter enttäuscht. Schnell merkt sie: Sie ist auf Belle Meade mehr geduldet als gewollt. Doch so schnell lässt Olivia sich nicht unterkriegen. Sie will zeigen, was in ihr steckt. Genauso Riley Adam, der zeitgleich mit ihr nach Belle Meade ge-kommen ist. Er will von dem berühmten Pferdetrainer des Gestüts alles lernen, was es über Pferde zu wissen gibt. Doch Riley hat ein dunkles Geheimnis: Obwohl er Südstaatler ist, hat er im Krieg für den Norden gekämpft. Sollte das ans Tageslicht kommen, würde er alles verlieren: seine Anstellung, seinen Traum vom eigenen Gestüt, seine Hoffnung auf eine Zukunft mit der Frau, in die er insgeheim verliebt ist …

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Kapitel Eins

10. Mai 1866 Nashville, Tennessee

Olivia Aberdeen eilte mit gesenktem Kopf zu der wartenden Kutsche. Die Blicke der Leute auf der Straße bohrten sich wie rostige Nägel in sie, aber sie wandte den Blick ab, da die Passanten sonst die Schuldgefühle in ihrem Gesicht gesehen und sie noch mehr für das verantwortlich gemacht hätten, was passiert war.

Sie umklammerte den Briefumschlag in ihrer Hand und ließ sich von dem Diener in die Kutsche helfen. Trotz allem, was ihr verstorbener Mann den Menschen von Nashville – und ihr – angetan hatte, legte sie Wert darauf, sich gebührend zu benehmen. Obwohl ihr Herz weit davon entfernt war, den frühen Tod von Charles Winthrop Aberdeen zu betrau-ern, trug sie die angemessene Witwenkleidung, die von einer Frau ihres Standes erwartet wurde.

Oder besser gesagt, ihres früheren Standes.Sobald sie in der Kutsche Platz genommen hatte, atmete Olivia tief

durch. Zum ersten Mal seit fünf Jahren. Sie wusste, dass das, was sie fühl-te, falsch war. Einer Frau, die erst seit einer Woche verwitwet war, sollte nicht nach Tanzen zumute sein. Aber Gott stehe ihr bei, genau das hätte sie am liebsten getan. Natürlich nicht auf dem Grab ihres kürzlich verstor-benen Mannes. Das wäre pietätlos. Neben dem Grab würde ihr reichen.

Ein Anflug von Reue begleitete diesen ungebührlichen Gedanken und Olivia stiegen Tränen in die Augen. Allein die Vorstellung, dass jemand ihre wahren Gefühle erraten könnte, versetzte sie in Angst und Schrecken. Ihre komplizierte Situation zehrte an ihren ohnehin aufgewühlten Emo-tionen. Genauso wie das Wissen, dass die Leute, die sie beobachteten, sie verurteilten.

Aber in einem Punkt würden ihr bestimmt alle recht geben – einschließ-lich der Männer, die mit ihrem Komplott, ihren Mann zu töten, Erfolg gehabt hatten: Charles Aberdeen war einer der gemeinsten Männer der Welt gewesen, ohne jede Moral oder Ethik oder Loyalität zur Konföde-ration.

Sie hatte Charles nie den Tod gewünscht. Aber ab dem Moment, in dem

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sie vor Gottes Augen seine Frau geworden war, hatte sie sich gewünscht, aus dieser Ehe befreit zu werden. Die Ehe mit Charles hatte ihr Vater als eine der letzten Entscheidungen seines Lebens arrangiert – eine unauflös-bare Partnerschaft, wie er erklärt hatte – und Olivia hatte von Anfang an gewusst, dass sie kein Recht hatte, das zu scheiden, was Gott, wenn auch ohne ihre Zustimmung, zusammengefügt hatte.

Aber anscheinend hatte am Ende Gott diese Arbeit übernommen und sie mit großer Präzision und Endgültigkeit ausgeführt. Sie war darüber so erstaunt, dass sie trotz einiger Zweifel in den letzten Tagen angefan-gen hatte, sich zu fragen, ob Gott vielleicht wirklich alles hörte, auch das stumme Flüstern einer verzweifelten Seele.

Diese Möglichkeit brachte ihr einen gewissen Trost, aber noch stärker ein Gefühl des Unbehagens, wenn sie daran dachte, wie wenig sie in Wirk-lichkeit über Gottes Wesen wusste. Sie hatte versucht, ihrem verstorbenen Mann die bestmögliche Frau zu sein, und so belohnte Gott ihre Mühen.

„Eine Truhe habe ich schon aufgeladen, Mrs Aberdeen. Aber wo sind alle anderen, Madam?“

Olivia richtete sich in der Kutsche höher auf und versuchte sich an den Namen des Dieners zu erinnern. Er war nur geschickt worden, um sie abzuholen. „Ich nehme lediglich diese eine Truhe mit, Jedediah. Alles, was ich brauche, hatte darin Platz.“ In der Truhe war tatsächlich nichts, was ihr Schwager ihr mitzunehmen verboten hatte. Er war zum alleinigen Erben des Vermögens ihres Mannes eingesetzt worden. Ihm gehörte jetzt jeder Cent, den Charles damit erworben hatte, dass er fast jeden, den sie kannten, belogen, betrogen und getäuscht hatte. Selbst ihre Freunde, wie sich herausgestellt hatte. Diese Freunde, die dank Charles’ älterem Bru-der, dem letzten Nachkommen der Familie Aberdeen, jetzt glaubten, sie habe die ganze Zeit über von dem weitreichenden Ausmaß der dunklen Geschäfte ihres Mannes gewusst.

Sie hatte jedoch keine Ahnung gehabt.Eines konnte man über Charles Aberdeen sagen: Bei ihm hatte es kein

Ansehen der Person gegeben, wenn es darum gegangen war, andere Leute zu übervorteilen. In dieser Hinsicht war er nicht anders als diese Sympa-thisanten der Union oder die Leute aus den Nordstaaten gewesen, die auf Kosten der Südstaatler reich werden wollten. Sie hätte ohnehin nichts von dem gewollt, was er in seiner Habgier und Verlogenheit angehäuft hatte.

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Nicht einmal den Ehering, ein Familienerbstück, das Charles’ Bruder von ihr zurückgefordert hatte.

Jedediah schaute mit gerunzelter Stirn zu ihr hinauf. Sie fragte sich, ob er wusste, wie es um sie stand, ob er vielleicht die Zeitung gelesen hatte, falls er überhaupt lesen konnte. Aber sie war nicht bereit, ihm irgendetwas zu erklären.

„Alles ist gut“, versicherte sie ihm und warf einen Blick auf den Brief in ihrer Hand. Wenigstens würde bald alles gut werden. Tante Elizabeth würde ihr sicher helfen, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden.

Die Kutsche senkte sich auf die eine Seite, als Jedediah auf den Fahrer-sitz kletterte, und Olivia warf einen letzten Blick auf das schöne zweistö-ckige Ziegelhaus, das für sie nie ein Zuhause gewesen war. Etwas in ihr erstarrte und obwohl es lächerlich war, hätte sie schwören können, dass sie hörte, wie Mörtel kratzend auf Ziegel gestrichen wurde. Die Mauer, die sie um ihr Herz herum hochgezogen hatte, wurde gerade um eine wei-tere Schicht erweitert. Eine Mauer, die schützend zwischen ihr und jeder vergossenen und nicht vergossenen Träne stand. Jedem nicht befriedigten Bedürfnis. Jedem harten Wort, jedem Blick und jedem Schlag, den ihr gut aussehender Mann ihr versetzt hatte. Und obwohl Olivia nicht gefiel, wie die schützende Wand sie verändert hatte, wie hart sie dadurch geworden war, hätte sie doch nicht auf sie verzichten wollen. Diese Mauer sorgte dafür, dass sie nicht wieder verletzt oder betrogen wurde. Olivia hatte sich geschworen, dass ihr das nie wieder passieren würde. Jetzt wiederholte sie diesen Schwur stumm.

Olivia wandte den Blick von dem Haus ab, aber das war ein Fehler, denn dadurch bemerkte sie eine Frau, die keine drei Meter von ihr ent-fernt stand. Die Frau war alt, schwarz gekleidet und hatte eine blasse, kränkliche Hautfarbe. Ihre Augen saßen tief in ihren Höhlen und schau-ten Olivia unverwandt an. Die Lippen der Frau bewegten sich und Olivia wappnete sich gegen das, was sie sagen würde. Oder schreien. Aber aus dem Mund der Frau kamen keine Worte, sondern etwas anderes.

Die Kutsche fuhr mit einem Ruck an und so verlor Olivia die Frau aus dem Blick. Aber sie hatte noch gesehen, wie die Frau sich die Spucke vom Kinn wischte.

Olivia saß äußerlich regungslos da und sah starr nach vorne, während die Kutsche über die Furchen der vom Regen ausgewaschenen Straße hol-

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perte. Absichtlich schaute sie weder nach links noch nach rechts. In einem kürzlich erschienenen Zeitungsartikel war ausführlich darüber berichtet worden, dass Charles’ gesamtes Vermögen an seinen Bruder übergegangen war. Die Leute wussten also zweifellos über ihre Umstände Bescheid. Aus den Reaktionen schloss sie, dass viele den Eindruck hatten, dass Olivia ihre gerechte Strafe bekam.

Sie fuhren zuerst durch die Elm Street, dann durch die Pine und Poplar Street. Endlich wurde die Zahl der neugierig gaffenden Passanten weniger.

Charles.Eine verräterische Träne kullerte Olivia über die Wange, aber sie wischte

sie unwirsch weg, denn sie war nicht bereit, auch nur eine weitere Träne der Trauer über diesen Mann zu verlieren. Sie vermisste ihn nicht. Wieso also verspürte sie diese Leere in ihrem Inneren?

Während sie darüber nachdachte, dämmerte es ihr allmählich, und so schwer es ihr auch fiel, gestand sie sich ein, was sie fühlte. Obwohl sie Charles nicht geliebt hatte, vermisste sie trotzdem, was sie miteinander hätten haben können, wenn er ein anderer Mensch gewesen wäre.

Die Kutsche fuhr an einer Schule vorbei, an der sie oft sehnsüchtig vorbeigegangen war. Aber sie hatte sich nicht nach dem gesehnt, was die meisten Frauen sich wahrscheinlich gewünscht hätten. Oh, am An-fang ihrer Ehe hatte sie Gott wiederholt um Kinder gebeten. Sie hatte wirklich ein Kind gewollt und geglaubt, dass ein Kind ihrer und Charles’ Beziehung helfen würde. Aber Gott hatte diese Bitte nicht erhört. Rück-blickend musste Olivia zugeben, dass das weise von ihm gewesen war. Natürlich hatte Charles ihr die Schuld für ihre Kinderlosigkeit gegeben, genauso wie für alles andere. Und obwohl sie immer noch gehofft hatte, dass sie eines Tages Kinder bekommen würde, falls sie welche bekommen konnte, hatte sie sich ab irgendeinem Zeitpunkt wieder das gewünscht, was sie sich schon als junges Mädchen gewünscht hatte: Sich auf andere Weise um Kinder zu kümmern.

Aber auch das hatte Charles ihr genommen. Zusammen mit allem anderen. Olivia schaute zu, wie die Schule aus ihrem Blickfeld ver-schwand.

Auf der Straße herrschte nicht viel Verkehr, sie mussten also nicht oft anhalten. Aber die Sommerregenfälle, denen einige Tage mit glühender Hitze gefolgt waren, hatten tiefe Furchen hinterlassen und machten die

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Straßen nur schwer passierbar. Die Kutsche neigte sich zur Seite, als eines der Hinterräder in eine Fahrrille rutschte. Olivia klammerte sich an der Tür fest und ihr Magen zog sich zusammen. Die Wände der Kutsche schienen immer enger zusammenzurücken und das Bemühen der Pferde, einen sicheren Tritt zu finden, beruhigte ihre angespannten Nerven auch nicht gerade.

Wenn es nicht so weit gewesen wäre, wäre sie ausgestiegen und zu Fuß gegangen. Da das jedoch nicht möglich war, versuchte sie, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, und schaute nach draußen.

Die vom Krieg stark gebeutelte Stadt erwachte langsam zu neuem Leben, aber die vielen mit Brettern zugenagelten Gebäude waren ein schmerzlicher Hinweis darauf, wie viel noch im Argen lag.

Mehrere Leute kamen aus der Tür einer Bäckerei beziehungsweise des Telegrafenamts daneben. Eine Frau, die wie so viele in Schwarz gekleidet war, wiegte in ihrem Arm einen weinenden Säugling, mit dem anderen zog sie zwei weitere Kinder hinter sich her. Männer in abgerissener Klei-dung – einige trugen immer noch ihre Konföderiertenuniform, die jetzt ein schmutziges, kapituliertes Grau angenommen hatte – standen an bei-nahe jeder Straßenecke zusammen. Ihre Schultern waren dünn und unter einer unsichtbaren Last gebeugt.

Olivia schluckte den bitteren Geschmack in ihrem Mund hinunter und hasste, was der Krieg angerichtet hatte. Sie durfte gar nicht daran denken, dass ihr Mann – und durch ihre Ehe auch sie – von den weniger Ver-mögenden profitiert hatte, indem er anderen geholfen hatte, das wenige Geld, das ihnen noch geblieben war, zu „investieren“. Es war also keine Überraschung, dass die Leute sie mit Verachtung straften.

Das letzte Bild, das sie von Charles hatte, tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Sie drückte die Augen fest zu und wünschte, sie könnte dieses Bild aus ihrem Gedächtnis löschen. Die Art, wie sie ihn getötet hatten. So brutal und ...

Olivia schluckte schwer, drückte sich in den gepolsterten Sitz und kon-zentrierte sich auf die Gebäude, die wie im Nebel verschwommen an ihr vorbeizogen. Sie richtete ihre Gedanken auf ihr Ziel und berührte den Brief auf ihrem Schoß.

Tante Elizabeth.Ihre Mutter hätte auf der ganzen Welt keine bessere Freundin haben

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können und sie hätte auch keine bessere Frau auswählen können, um die klaffende Lücke, die ihr eigener Tod hinterlassen hatte, zu schließen. Elizabeth Harding, durch die Freundschaft mit ihrer Mutter ihre „Tan-te“, kam für Olivia einer Familie am nächsten. Sie umklammerte den Umschlag, als wäre er eine Fahrkarte in ein neues Leben. Ich danke Gott für dich, Elizabeth.

Was würde sie ohne diese freundliche und großzügige Einladung jetzt machen?

Man hätte meinen können, von Mrs Charles Winthrop Aberdeen zur Hausdame der Familie Harding zu werden, wäre ein großer Abstieg. Aber die tagtäglichen Arbeiten im Haushalt zu leiten, klang für Olivia wie der Himmel auf Erden. Sie würde auch kochen und putzen, falls das nötig sein sollte, und auch alles andere machen, was von ihr verlangt wurde, um den Hardings zu zeigen, wie dankbar sie ihnen war, dass sie sie bei sich aufnahmen.

Fast alles. Das Einzige, das ihr nicht so gut gefiel, war, dass sie in unmit-telbarer Nähe zu General Hardings temperamentvollen Vollblutpferden würde leben müssen.

Olivia fuhr mit der Hand über den linken Ärmel ihrer Kostümjacke und konnte durch den Soff hindurch an der Stelle, an der der Knochen ihres Arms vor dreizehn Jahren wieder zusammengewachsen war, immer noch eine leichte Erhöhung fühlen. Sie war damals erst zehn gewesen, aber die Ereignisse jenes Nachmittags standen ihr immer noch lebhaft vor Augen. Die Schmerzen von dem Bruch waren unvergesslich, genauso wie die unansehnliche Narbe. Und das Geräusch, als der Arzt den Knochen zurechtgeschoben hatte, hatte sie jahrelang in ihren Träumen verfolgt. Seitdem war sie auf keinem Pferd mehr geritten. Bis Charles vor einem Jahr darauf bestanden hatte.

„Steig auf dieses Pferd, Olivia!“ Er hatte mit den Zähnen geknirscht und sie fest am Arm gepackt.

„Charles, bitte … ich will das nicht. Du verstehst nicht, was …“„Du machst mich lächerlich. Und auch dich! Jetzt steig endlich auf die-

ses ...“Olivias Wangen begannen zu glühen, als sie sich an seine brutalen Wor-

te erinnerte. Ihr wurde ganz flau im Magen. Sie hatte ihm erklärt, dass der Hengst viel zu groß für sie sei. Aber er hatte ihr nicht zugehört. Oder es

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hatte ihn nicht interessiert. Das Pferd hatte sie aus keinem ersichtlichen Grund abgeworfen, sich dann umgedreht und sie dabei fast zu Tode ge-trampelt. Es hatte Wochen gedauert, bis die Blutergüsse an ihrer Hüfte und ihrem Oberschenkel geheilt waren.

Seitdem ging sie Pferden noch hartnäckiger aus dem Weg.Sie konnte sich überwinden, in einer Kutsche zu fahren, aber es gefiel

ihr nicht. Genausowenig mochte sie es, in einem offenen Wagen zu fah-ren, in dem die Nähe zu diesen vierbeinigen Ungeheuern noch größer war. Sie wünschte den Tieren nichts Böses, sie wollte nur einen großen Abstand zwischen ihnen und sich. Aber das dürfte kein Problem sein, auch nicht auf einem Vollblutgestüt wie Belle Meade. Schließlich arbeite-te sie als Hausdame für die Hardings.

Der Blick aus dem Kutschenfenster zeigte immer weniger Gebäude und schließlich füllte nur noch eine gewellte Hügellandschaft den Fensterrah-men aus. Die Luft in der Kutsche wurde zunehmend wärmer und sticki-ger, deshalb lehnte Olivia sich näher an die Tür und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen. Sie sehnte sich nach dem Herbst und den kühleren Temperaturen, nach frischer Luft und dem Rascheln der Blätter unter ihren Schuhen. Wenn der Sommer in den Herbst überging, musste sie immer an Neuanfang denken. Das war zugegebenermaßen etwas paradox, da die Natur sich in dieser Jahreszeit schlafen legte, aber Olivia liebte den Herbst und brauchte gerade jetzt verzweifelt einen Neuanfang in ihrem Leben.

Trotz allem, was mit Charles passiert war, und trotz seines Todes war Nashville das einzige Zuhause, das sie je gekannt hatte. Und genauso si-cher, wie der Herbst in den Winter überging und der Frühling dem Som-mer wich, wusste sie, dass sie hier leben und sterben würde.

Der Süden war ein Teil von ihr. In guten wie in schlechten Tagen bliebe sie immer ein Teil von ihm.

Die Kutsche verlangsamte ihr Tempo und Jedediah bog auf eine von Schlaglöchern und Spurrillen übersäte Straße ein, die zur Plantage der Hardings führte.

Innerhalb weniger Sekunden klapperten Olivias Zähne so sehr, dass sie sich sicher war, dass sie ihr bald alle ausfallen würden. Trotz seines Vermö-gens hatte General Harding keinen Einfluss auf das Wetter oder dessen Auswirkungen. Tante Elizabeth hatte ihr öfter geschrieben, dass der Ge-

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neral vorhabe, diese Straße schottern zu lassen. Im Moment hätte Olivia diesen Plan von ganzem Herzen befürwortet.

Nach einer Weile wurden die Fahrrillen weniger.Sie war in den fünf Jahren ihrer Ehe nur einmal hier gewesen. Charles

und General Harding ins selbe Zimmer zu setzen, war keine gute Idee ge-wesen. Sie erinnerte sich noch genau an General Hardings Worte: „Wenn ein Mann in seinem Tun und in seiner Meinung so eng hinter den In-teressen der Union steht, riecht das für die Konföderation und für seine Landsleute nach Verrat. Ich heiße ihn in meinem Haus nicht mehr will-kommen und ich werde ihn in der Öffentlichkeit nicht kennen.“

Tante Elizabeth, die die Unionisten ebenfalls verachtete, hatte mehr Verständnis gezeigt und Olivia weiterhin treu geschrieben. Sie hatte ihr sogar vorgeschlagen, dass sie sich in der Stadt treffen könnten. Aber Charles hatte diese Idee schnell im Keim erstickt. Olivia berührte bei der Erinnerung an ihre „Diskussion“ ihre Schläfe.

Die Briefe zwischen ihr und Elizabeth waren ein Rettungsring für sie gewesen und sie waren ihr sehr kostbar. Aber in Bezug auf die intimen Details ihrer Ehe war sie nicht ehrlich gewesen. Schließlich ziemte es sich für eine Frau nicht, über solche Dinge zu sprechen. Einmal hatte sie in einem Brief an Elizabeth die Wahrheit über ihre Beziehung zu Charles geschrieben. Aber der bloße Gedanke, dass Charles diesen Brief in die Hände bekommen könnte, hatte sie schnurstracks zum offenen Kamin eilen lassen. Erleichtert hatte sie zugesehen, wie das Feuer das Briefpapier mit dem Prägedruck verschlungen hatte und mit ihm die Wahrheit, die noch immer fest in ihrem Herzen verschlossen war.

Olivia beugte sich auf dem Sitz vor und ihre Vorfreude darauf, Elizabeth wiederzusehen, wuchs ins Unermessliche. „Wir erwarten dich mit offenen Armen, Livvy“, hatte Elizabeth geschrieben. „Du bist für mich wie eine Tochter. Genauso wie meine Selene und Mary.“ Olivia atmete tief ein und hielt die Luft an. Zum ersten Mal seit langem lächelte sie. Gespannt wartete sie darauf, den ersten Blick auf das Herrenhaus von Belle Meade und seine schöne ...

Aber ihr Blick fiel auf etwas anderes. Auf jemanden. Einen Mann. Er war ein Stück vor ihr zu Fuß auf der Straße unterwegs. Irgendetwas an ihm erregte ihre Aufmerksamkeit.

Er trug einen abgenutzten Rucksack über dem Rücken, der wie der

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Rucksack eines Soldaten aussah. Sein Gang war gleichmäßig und ohne Eile, ein ruhiges Selbstvertrauen betonte jeden seiner Schritte. Er war groß, mindestens so groß wie Charles.

Seine Haare, dunkel und stellenweise mit nicht zu bändigenden Locken durchzogen, hingen auf eine Weise, die eher auf einen Landstreicher als auf einen Gentleman schließen ließen, über seinen Kragen. Aber seine Kleidung sah nicht so fadenscheinig und dünn aus wie die der anderen Männer, die sie in der Stadt gesehen hatte. Allerdings klebte getrockneter Matsch fast bis zu seinen Knien an seiner Hose, als wäre er wochenlang, wenn nicht sogar monatelang, pausenlos gelaufen.

Olivia fragte sich, ob der Mann wusste, dass diese Straße zur Planta-ge der Hardings führte, dann weiter nach Süden durch viel unbewohn-tes Land, bis man nach Natchez, Mississippi, kam. Und das auch erst, nachdem man die über zweitausend Hektar Wald und Wiesen und Hügel durchquert hatte, die die Belle Meade Plantage ausmachten.

Als die Kutsche näher an den Mann herankam, lehnte sich Olivia zu-rück, da der Fremde nicht sehen sollte, dass sie ihn beobachtete. Aber genau in diesem Moment drehte er sich um. Ihre Blicke begegneten sich.

Seine Gesichtszüge waren hinter einem dichten Bart versteckt, der seit Wochen kein Rasiermesser mehr gesehen hatte. Trotzdem strahlte der Mann eine feste Entschlossenheit aus. Vielleicht lag es an der selbstsiche-ren Haltung seiner Schultern oder an seinem gleichmäßigen Schritt, viel-leicht an seinem ganzen Auftreten. Olivia konnte es nicht genau benen-nen. Gleichzeitig strahlte er etwas Wildes aus, wie ein Tier, das eingesperrt gewesen und erst vor Kurzem freigelassen worden war. Diese ungezähmte Ausstrahlung machte sie froh, dass sie in der Kutsche saß und er nicht.

Als die Kutsche näher kam, sagte sie sich, dass sie den Blick abwenden musste. Zu spät.

Er sah kurz von ihr weg und winkte Jedediah zu. Es war eine freundli-che Geste. Dann schaute er wieder sie an. Die eine Seite seiner bärtigen Wange zog sich nach oben, als fände er ihre Aufmerksamkeit belustigend, und dann lächtelte er so breit, dass sie seine Zähne sehen konnte. Genau in dem Moment, in dem die Kutsche an ihm vorbeifuhr, hob er die Hand an seine Stirn, salutierte freundlich und dann ...

Olivia klappte die Kinnlade nach unten. Er hatte ihr zugezwinkert? Ihr Gesicht begann zu glühen. Hektisch richtete sie ihren Blick wieder nach

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vorne und umklammerte den gepolsterten Samtsitz unter sich, während die Kutsche weiter über die Straße holperte.

Einen kurzen Moment fragte sie sich, ob sie sich das vielleicht nur ein-gebildet hatte, aber sie wusste, dass das nicht der Fall war. So eine Frech-heit! Was erlaubte sich dieser Mann!

Als Jedediah die Kutsche um eine schmale Kurve lenkte, drehte Oli-via sich auf dem Sitz halb um, da sie noch einmal einen Blick aus dem Fenster nach hinten werfen wollte. Aber sie widerstand diesem Drang in letzter Sekunde, da sie irgendwie wusste, dass der Fremde sie noch immer beobachtete. Und dass er bestimmt lächelte! Sie seufzte. Der Krieg hatte ihrem Land so vieles geraubt. Nicht zuletzt war dabei die Höflichkeit auf der Strecke geblieben.

Aber General Harding, für den Ehre etwas sehr Wichtiges war, wür-de diesen ungehobelten Kerl mit Sicherheit schnell wieder fortschicken. Der General war bei der Auswahl der Leute, die er einstellte, sehr wäh-lerisch. Außerdem hatte Belle Meade bereits mehr Arbeiter, als die Har-dings brauchten. Das hatte ihr Elizabeth vor einiger Zeit in einem Brief geschrieben.

Sie legten eine weitere Meile zurück, bevor Olivia bewusst wurde, dass ...Als sie aus dem Fenster schaute, seufzte sie auf. Ihr Blick nach rechts

wurde jetzt von einer Kalksteinwand versperrt. Dadurch, dass sie diesen Mann beobachtet hatte, hatte sie den ersten Blick auf Belle Meade ver-passt. Jetzt müsste sie noch ungefähr eine Meile warten, bis sie ...

Ohne Vorwarnung ertönte von irgendwo hinter ihr ein ohrenbetäuben-des Krachen und die Kutsche schwankte schwer nach rechts. Olivia wurde von ihrem Sitz geschleudert und suchte panisch nach einem Halt, wäh-rend die Kutsche unter ihr wegzubrechen schien. Das Holz protestierte ächzend, die Kutsche schwankte und Olivia fiel schmerzhaft gegen die Tür. Sie fühlte, wie sie nachgab.

Verzweifelt versuchte Olivia sich irgendwo, an irgendetwas festzuhalten, während die Straße ihr unaufhaltsamer näher kam. Ein durchdringender Schmerzensschrei von irgendwo vor der Kutsche ließ sie am ganzen Kör-per erschauern.

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Eigentlich hatte Heather Hampton nicht vor, jemals nach Moses Lake zurückzukehren. Doch ihr erstes eigenes Großprojekt lässt der ambi-tionierten Architektin keine andere Wahl. Sie muss in ihrer Heimat-stadt den Verkauf ihres alten Familienbesitzes vorantreiben. Leider machen ihr ihre exzentrische Mutter und ihr unzuverlässiger Bruder einen Strich durch die Rechnung. Und auch der attraktive Bankier Blaine Underhill stellt sich ihrem Projekt in den Weg. Nach und nach entdeckt Heather, dass ihre Familie und ihr Besitz lange verschüttete Geheimnisse bergen. Kann es sein, dass alles ganz anders ist, als sie immer dachte? Irgendwie muss sie die Wahrheit ans Licht bringen, ehe sie alles verliert, wofür sie gearbeitet und was sie am Ufer des Moses Lake gefunden hat.

Ein bewegendes, aber auch humorvolles Buch, brillant geschrieben.

Lisa WingateBlue Moon BayISBN 978-3-86827-392-2ca. 400 Seiten, Paperbackerscheint im Juli 2013

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„Amy arbeitet in der Proxica-Fabrik in Gnadenfeld. Dort wird viel gere-det. Sie hat einiges gehört.“

„Was hat sie denn gehört?“ Langsam wurde ich unruhig. Amy arbeitete für Proxica? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Clay ganz zufällig eine Freundin hatte, die mit Proxica in Verbindung stand?

Clay hatte keine Ahnung, welche Gedanken mir durch den Kopf gin-gen. Er nickte. „Sie hat gehört, dass dieser Immobilienmakler durch den ganzen Bezirk zieht und auf der Suche nach Land ist. Warum will er un-bedingt unser Land? Was hat er damit vor?“

Ich konnte meinem Bruder nicht ins Gesicht lügen, aber die Ver-traulichkeitsklausel verbot mir auch, mit der Wahrheit herauszurücken. „Weißt du was, Clay? Was spielt das für eine Rolle? Es kommt doch nur darauf an, dass wir das tun, was für unsere Familie das Beste ist?“

„Und vergessen, was für die Stadt das Beste ist?“ Er stand auf und hatte immer noch einen Pinsel in der Hand. „Was für diese Gegend das Beste ist.“

Ich trat einen Schritt zurück und war von dieser Bemerkung, die aus heiterem Himmel kam, genauso verblüfft wie vom Ernst in Clays Stim-me. „Woher willst du wissen, was für diese Gegend das Beste ist, Clay? Du wohnst nicht hier. Und wenn du das als einen deiner sozialen Fälle, in denen du die Welt retten willst, betrachtest, solltest du vielleicht einen Blick auf die Armutsstatistik auf der anderen Seite des Sees oben in den Chinquapin Peaks werfen. Ein Immobilienmakler, der das Land entwi-ckeln will, wäre eine gute Sache. Schau dir Gnadenfeld an. Schau doch nur, wie sehr es in den letzten sechzehn Jahren gewachsen ist. Dort gibt es jetzt richtige Geschäfte, Restaurants, neue Wohnhäuser. Ich habe mir neulich ihre Internetseite angeschaut. Die Schule hat ein großes Kunst-zentrum und ein neues Multifunktions-Stadion.“

Clay schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne zu den Chinquapin Peaks und dem Kanal. „Ja, schau dir Gnadenfeld an.“ In seiner Stimme lag ein Unterton, den ich nicht verstand. Vielleicht befand sich mein Bruder auf irgendeinem Zurück-zur-Natur-Trip und wollte sich vor die Bulldozer werfen, um zu verhindern, dass sich in Moses Lake irgendetwas veränderte.

„Weißt du was, Clay? Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann sag es einfach.“ Ich verschränkte meine Arme über der Brust und musste zittern.

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Er schien einen Moment darüber nachzudenken und ich hatte das Ge-fühl, dass wir endlich ein paar Körnchen Wahrheit ausgraben würden.

Die Motorengeräusche eines Autos, das zum Haus hinauffuhr, lenkten Clay ab, als er gerade anfangen wollte zu sprechen. Er warf einen neugie-rigen Blick zur Einfahrt, steckte seinen Farbpinsel in eine Kaffeedose und marschierte den Hang hinauf. Frustriert von der Ablenkung, folgte ich ihm. Meine Gereiztheit wuchs und nahm neue Formen an, als ich den dunklen Kopf, die braune Freizeitjacke und die Cowboystiefel erkannte, während der Fahrer aus seinem Pickup stieg. Was macht er hier?

Als wir in der Einfahrt oben ankamen und unser Hund Roger glück-lich vor uns auf und ab lief, war Blaine Underhill bereits zur Haustür unterwegs. Die zwei Onkel waren um das Haus herumgekommen und begrüßten ihn und meine Mutter steckte neugierig ihren Kopf zur Haus-tür heraus.

Alle begrüßten Blaine herzlich, als wäre er ein lange verschollener Freund und nicht der gierige, prinzipienlose Möchtegern-Räuberbaron, der meine Familie ruinieren wollte. Roger lief ihm vor die Beine und warf ihn beinahe ins Blumenbeet. Guter Roger, braver Hund! Blaine drohte dem Hund scherzhaft mit dem Zeigefinger. „Ja, ich weiß, dass du es bist, Freundchen“, sagte er und Roger ließ von ihm ab. Dann setzte er sich, legte den Kopf schief, ließ die Ohren hängen und klopfte abwartend mit dem Schwanz auf den Boden.

„Wartet hier irgendjemand auf ein FedEx-Paket?“, fragte Blaine. Von hinten konnte ich die Ecke einer FedEx-Schachtel sehen, die er zwischen dem Ärmel und seiner Jacke eingeklemmt hatte.

„Ich“, antwortete ich. Blaine drehte sich um und schien jetzt erst zu be-merken, dass Clay und ich hinter ihm waren. Unter seinem Arm hatte er die FedEx-Schachtel. Das Paket, das mir meine Kreditkarte, meinen Per-sonalausweis, mein iPhone und meine geliebte rote Lederhandtasche wie-derbringen würde. Was für ein Glück! Wenigstens eine Sache lief richtig.

Aber was machte Blaine Underhill mit meinem Paket? „Gott sei Dank!“, keuchte ich. „Darauf habe ich schon den ganzen Tag gewartet.“ Ich wollte nach der Schachtel greifen. Komischerweise hielt Blaine sie mit zwei Fin-gern an einer Ecke fest und zog sie unter seinem Arm hervor, als würde sie überhaupt nichts wiegen. Die Schachtel streckte sich wie eine Zieh-

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harmonika und zog sich allmählich in die Länge, bis ein langer, zerknüll-ter, rotweißblauer Pappkarton zwischen seinem Daumen und Zeigefinger baumelte.

„Was in aller ...“, murmelte ich, während die Familie sich von allen Sei-ten näherte und wir alle wie Affen im Zoo um die Überreste der Schachtel herumstanden.

„O-oh“, murmelte Clay.„Roger!“, keuchte Mama.„Ich habe euch doch gesagt, dass dieser Hund alles anknabbert“, fügte

Onkel Charley hinzu.Onkel Herbert nickte zustimmend. „Wenn Roger hier war, grabe ich

im Blumenbeet noch monatelang Sachen aus. Wahrscheinlich hat er sich diese Schachtel auf der Veranda geschnappt“, fügte er auf seine trockene Art hinzu.

„Die Postboten sollten Pakete doch nicht einfach auf die Veranda legen, oder?“, versuchte Clay, Rogers Ehre zu verteidigen. „Muss nicht jemand den Empfang mit seiner Unterschrift bestätigen?“

„Das kommt darauf an, von wem das Paket ist“, antwortete Onkel Her-bert. „Für mich stehen manchmal ganze Kisten einfach hier vor der Tür.“

„Ich habe dieses Paket vorne an eurem Tor stecken sehen“, erklärte Blai-ne und betrachtete Rogers eigenwilliges Kunstwerk. „Wahrscheinlich hat es der Wind dorthin geweht, nachdem der Hund damit fertig war.“

Ich konnte nur die Pappe in seiner Hand anstarren und war im ersten Augenblick nicht fähig, die Größe der Katastrophe, die diese zerknüllte Schachtel darstellte, zu erfassen. „Der Hund hat mein Paket gefressen?“, fragte ich benommen, berührte die Schachtel und zog dann die Hand zurück. Die Schachtel war schleimig und mit Zahnabdrücken und Hun-dehaaren übersät. „Wo sind meine Sachen?“

„Er vergräbt die Sachen“, wiederholte Onkel Herbert.Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Roger schuldbewusst davonschlich

und hinter einem Stechpalmenstrauch verschwand. „Mein Scheckbuch und mein Portemonnaie ... meine Kreditkarte ... mein iPhone ... das war eine Dolce & Gabbana-Tasche. Eine Siebenhundert-Dollar ...“ Ich hatte mich letztes Jahr mit dieser Tasche belohnt, nachdem ich einen Auftrag für eine Edelsportartikelkette unter Dach und Fach gebracht hatten. Zu-gegeben, ich hatte die Tasche im Internet billiger gekauft, aber trotzdem

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Ich drehte mich zu meinem Bruder herum und war mir nur vage bewusst, dass meine Augen funkelten und meine Lippen sich vorschoben. „Dein Hund hat meine Dolce & Gabbana und mein iPhone gefressen.“

Es raschelte in den Sträuchern und man sah kurz ein blondes Fell zwi-schen den Blättern auftauchen, als Roger eilig das Weite suchte.

Mein Schock verwandelte sich in große Panik, nahm Fahrt auf, fegte wie ein Tornado durch mein geordnetes Leben und zerlegte es in Trüm-mer. „Mein Leben steckt in diesem iPhone.“

Clay hob entschuldigend die Hände, als wollte er sagen, dass dies wohl kaum seine Schuld war. „Wer konnte schon wissen, dass der Postbote das Paket einfach auf die Veranda legt?“ Er warf einen verächtlichen Blick zur Haustür. „Er hätte es wenigstens irgendwo oben hinlegen können. Woher soll Roger wissen, dass er es nicht anrühren darf?“

An dieser Stelle geschah etwas mit mir. Ohne Vorwarnung und ohne die geringste Chance, etwas dagegen unternehmen zu können, verwandelte ich mich wieder in eine Dreizehnjährige, die mit ihrem kleinen Bruder auf dem Rücksitz des Autos sitzt, der immer und immer wieder Lieder aus der Sesamstraße singt, nur weil er weiß, dass er seine Schwester damit wahnsinnig macht. „Woher soll Roger … Ist das dein Ernst?“

„Ist ja gut. Ist ja gut!“ Mama trat eilig zwischen uns. „Um Himmels willen, Heather, sei doch nicht so melodramatisch! Du siehst doch, dass Clay nicht wollte, dass der Hund die Schachtel anknabbert. Gehen wir lieber an die Arbeit und suchen deine Sachen. Allzu weit kann Roger sie ja nicht gebracht haben.“

„Ich hole ein paar Gartengeräte“, bot Onkel Charley gut gelaunt an.„Und ich hole Handschuhe“, fügte Onkel Herbert hinzu.Der Rest des Tages war wie ein Ostereiersuchen mit der ganzen Familie.

Wir hatten sogar Hilfe. Blaine holte einen Metalldetektor aus der Eisen-warenhandlung und wir durchkämmten den Garten und sogar den Stra-ßengraben, wir gruben einen Lippenstift und meinen Schlüsselring aus. Als die Dämmerung einsetzte, holten die zwei Onkel Taschenlampen, aber es wurde mit jeder Minute kälter und alle zitterten. Mama begann zu husten und zu schniefen, und ihre Hände wurden ganz blau, obwohl Onkel Herbert Jacken und Hüte für alle brachte. Der Einzige, dem nicht kalt war, war Roger. Er hatte den größten Spaß dabei, von einem zum an-deren zu laufen und so zu tun, als hätte er keine Ahnung, warum wir auf

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die Erde deuteten und versuchten, ihn dazu zu bewegen, uns zu zeigen, wo die Leichen vergraben waren.

Schließlich brachen wir die Suche ab. Mama fand, dass alle ins Haus kommen und einen heißen Kakao trinken sollten und Onkel Herbert wollte etwas zu essen aufwärmen und das Feuer im Kamin anzünden. „Wir haben jede Menge Auflauf“, erklärte er. „Und auch Kuchen.“

Ich blieb zurück, lehnte mich an einen Verandapfosten und trauerte um mein iPhone, während die anderen sich alle im Haus aufwärmten. Ich war schon einen ganzen Tag hier und hatte absolut nichts erreicht. Ich war meinem Ziel, die Papiere für den Landverkauf unterschreiben zu lassen, keinen Schritt näher als vor meinem Abflug aus Seattle. Inzwischen fragte man sich im Büro wahrscheinlich, was mit mir los war. In meinem Post-eingang stapelten sich vermutlich dienstliche Anrufe und E-Mails. Aber ich hatte keinen Zugriff. Ich saß in einem schwarzen Loch ohne Kom-munikationsmöglichkeit mitten im Nirgendwo fest. Kein Handy. Kein Internet. Von einem Golden Retriever überlistet und lahmgelegt.

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Michigan 1883Lily Young ist die Assistentin eines Fotografen. Ihre Arbeit führt sie in unzählige Holzfällerdörfer und damit mitten hinein in das bunte Treiben ihrer Zeit. Doch eigentlich hat Lily eine ganz andere Mission: Sie will ihre Schwester finden. Um jeden Preis.In Harrison begegnet sie Connell McCormick. Der ist fasziniert von der waghalsigen Lily, doch ihren Kampf gegen die Ausschweifungen in Harrison kann er nicht verstehen. Dabei hätte gerade er die Macht, etwas an den Umständen zu ändern. Aber reicht es nicht, wenn jeder auf sein eigenes Handeln achtet? Unweigerlich verstrickt Connell sich immer tiefer in Lilys Suche. Doch will er wirklich seine Zukunft für sie aufs Spiel setzen? Und kann es ihnen gemeinsam tatsächlich gelingen, Lilys Schwester zu retten?

Jody HedlundDie Assistentin des FotografenISBN 978-3-86827-395-3ca. 336 Seiten, Paperbackerscheint im Juli 2013

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Lily stapfte die Holzstufen zum Hotel hinauf und las die Großbuchsta-ben, die über die Tür geschrieben waren: Northern Hotel. Erbaut 1881. Von den vier Hotels in Harrison war das Northern Hotel das einzige mit Alkoholverbot. Sie betete, dass sie noch zwei freie Zimmer hatten.

Sie weigerte sich, in einem Haus zu wohnen, in dem der Alkohol in Unmengen floss. Lieber schlüge sie ein Zelt auf und schliefe im Wald, als das Trinken und Zechen zu unterstützen, das in zu vielen Hotels in den Holzfällerstädten üblich war. Selbst wenn das bedeutete, dass sie erfrieren oder es mit einem Rudel Wölfe aufnehmen müsste.

Sie konnte es nicht erwarten, aus der Kälte herauszukommen. Die Tem-peraturen lagen weit unter dem Gefrierpunkt. Nachdem sie fast den gan-zen Tag von Midland, wo sie Edith in den fähigen Händen von Molly May in ihrem Heim für junge Mädchen zurückgelassen hatten, bis nach Harrison gefahren waren, war Lily steifer und kälter als die langen Eis-zapfen, die von den schiefen Dachvorsprüngen über ihrem Kopf hingen.

Mit entschlossen zurückgeworfenen Schultern schob sie die Tür auf. Ein Schwall warmer Luft kam ihr entgegen, zusammen mit dem Geruch von Holzrauch und verkochten Bohnen.

Bevor sie die Tür zuschieben konnte, wehte ein kalter Windstoß mit ihr in den Raum. Sie schob ihre Kapuze nach hinten und zog mit den Zähnen die schneebedeckten und hart gefrorenen Fäustlinge von ihren tauben Fingern. Dann steckte sie sie in ihre Manteltasche. Erst jetzt fiel ihr auf, wie still es im Raum geworden war.

Mehrere Petroleumlampen hingen von der Decke und warfen ihr schwaches Licht auf zwei lange Tische, die zur Hälfte mit großen, kräfti-gen Männern besetzt waren, deren Gabeln auf ihren mit Bohnen, Brat-kartoffeln und Pökelfleisch beladenen Blechtellern erstarrt waren. Ein Dutzend Augenpaare waren auf sie gerichtet.

Lily nickte kurz. „Guten Abend.“ Dann entdeckte sie die Person, die sie suchte: Die Wirtin kam mit einer dampfenden Kaffeekanne in jeder Hand aus der Küchentür.

„Meine Güte! Wen haben wir denn da?“ Die kräftige Frau blieb abrupt stehen. Ihr Gesicht war fast so rot wie rohes Rindfleisch. Wahrscheinlich war es von dem großen Herd, den Lily in der Küche sah, aufgeheizt.

„Guten Abend“, sagte Lily wieder, dieses Mal zu der Frau.So wie alle sie anstarrten, hätte man glauben können, sie wäre die erste

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junge Frau, die diese Männer in ihrem Leben zu Gesicht bekamen. Aber Lily wusste es besser! Leider gab es viel zu viele Frauen wie Edith, die in den Holzfällerstädten lebten und arbeiteten. Lily wusste, dass sie eine Sel-tenheit war, aber nur in der Hinsicht, dass sie nicht in ihrer Unterwäsche auf dem Tisch tanzte.

„Ich wollte fragen, ob Sie noch zwei Zimmer frei haben.“„Wenn es keine gibt, brauchen Sie sich keine Sorgen machen“, sagte

einer der Männer. „Dann mache ich Ihnen in meinem Zimmer Platz.“Wieherndes Gelächter machte an den Tischen die Runde, aber Lily

sparte sich die Mühe, auf diese grobe Bemerkung einzugehen. Nachdem sie in den letzten Monaten in verschiedenen Holzfällerstädten gewohnt hatte, war sie die moralische Verdorbenheit der Männer gewohnt.

Die große Frau marschierte zum nächsten Tisch und stellte ihre Kaffee-kannen ab. Dabei schwappte etwas von der dunklen Flüssigkeit auf die Öltuchtischdecke, die aussah, als hätte sie bereits jede Menge Flecken ab-bekommen. „Männer, ihr wisst, dass mein Mann und ich hier ein anstän-diges, christliches Haus führen. Wir werden also keinen solchen Unsinn unter unserem Dach dulden.“

„Aber wenn das Mädchen ein Bett braucht, erfülle ich doch nur meine Christenpflicht, wenn ich ihr anbiete, meines mit ihr zu teilen, Mrs Hel-ler“, erwiderte der Mann.

„Du bekommst sie nicht in dein Zimmer“, knurrte ein anderer. „Wenn hier jemand das Mädchen bekommt, dann bin ich das.“

„Du bist schon den ganzen Tag auf Streit aus, Jimmy.“ Der erste Mann schob sich vom Tisch zurück und stand auf.

„Jungs, jetzt reicht es!“ Mrs Heller verschränkte die Arme vor ihrer mit Fettflecken übersäten Schürze. „Das höre ich mir nicht länger an.“

Aber auch Jimmy war bereits aufgestanden. Bevor Lily nachdenken oder sich bewegen konnte, kam er auf sie zu und packte sie. Binnen weni-ger Sekunden befand sie sich mitten in einer Rauferei zwischen den zwei Holzfällern.

„Lassen Sie mich los!“, verlangte sie, aber die Männer waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig anzuschreien, um ihren Protest über-haupt wahrzunehmen.

Mrs Heller trat vor und ging auf die Männer los. Sie zog einen dicken Kochlöffel aus ihrer tiefen Schürzentasche und fuchtelte damit vor ihnen

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herum. „Männer, es reicht! Hört mit diesem Unsinn auf! Wenn ihr nicht sofort aufhört, zwingt ihr mich, euch mit meinem Kochlöffel zu verprü-geln.“ Aber die Holzfäller beachteten sie gar nicht.

Für einen Moment geriet Lily in Panik. Vielleicht war es falsch gewesen, sich über Orens Zögern hinwegzusetzen und darauf zu bestehen, dass er sie in die Holzfällerlager, in denen er fotografierte, mitnahm.

„Diese Städte stecken voller Gefahren“, hatte er gemurmelt. „Dort gibt es Läuse auf zwei und auf sechs Beinen, und wenn dich die einen nicht erwi-schen, dann die anderen.“

Bis jetzt hatte sie sowohl die Begegnung mit Läusen als auch mit unan-genehmen Männern vermieden. Aber viele der Holzfäller hatten Harrison als „Vorzimmer der Hölle“ bezeichnet. Was, wenn sie recht gehabt hatten?

„Nehmt sofort die Hände von der jungen Dame.“ Eine strenge Stimme übertönte den Lärm.

Die zwei Männer hörten auf zu raufen und Schweigen breitete sich im Raum aus.

Ein breitschultriger, muskulöser Mann hatte seinen Teller stehen ge-lassen und war von seiner Bank aufgestanden. Eine ungezähmte, blonde Locke fiel über seinen dunkelgrünen Augen in seine Stirn. Sein Gesichts-ausdruck hatte etwas Gebieterisches an sich.

„So behandelt man doch keinen Gast“, sagte er.Keiner der Männer sagte ein Wort oder machte Anstalten, sie loszulas-

sen.„Connell hat recht“, schnaubte Mrs Heller. Ihr Gesicht war noch eine

Nuance röter geworden als vorher, soweit das überhaupt möglich war. „Dieses Mädchen sieht wie ein anständiges, gottesfürchtiges Mädchen aus. Und selbst wenn sie das nicht ...“

„Oh, Sie können versichert sein, dass ich das bin“, warf Lily schnell ein und versuchte weiter, ihre Arme aus dem festen Griff der Männer zu befreien.

Mrs Heller deutete mit ihrem Kochlöffel auf die zwei Männer. „Ich habe gute Lust, euren Müttern einen Brief zu schreiben und ihnen zu er-zählen, was für dumme Jungs ihr seid. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass meine Briefe den armen Frauen die Tränen in die Augen treiben würden.“

Einer der Männer ließ Lily los, aber der andere, Jimmy, lachte nur kurz und dabei zeigte sich in seinem Gebiss eine schwarze Lücke, wo eigentlich

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ein Schneidezahn sitzen sollte. Daneben war ein halber, abgebrochener Zahn zu sehen. Seine Finger bohrten sich in ihren Arm und sein Lächeln war hart und verriet eine lüsterne Begierde, die sie schon bei viel zu vielen Männern gesehen hatte.

Aber bisher hatte sie sich deswegen nie Sorgen machen müssen. Sonst war immer Oren bei ihr gewesen, der die Männer auf Abstand hielt.

Lily blickte ängstlich zur Tür. Wahrscheinlich war Oren immer noch auf der anderen Straßenseite und plauderte mit ein paar ortsansässigen Geschäftsinhabern über die Holzfällerlager in dieser Gegend. Vielleicht hätte sie es nicht so eilig haben sollen, ins Haus zu kommen und sich aufzuwärmen. Oren warnte sie immer wieder, dass ihre Ungeduld sie ir-gendwann noch schwer in die Bredouille bringen würde.

Er würde bestimmt irgendwann kommen und sie suchen. Daran hatte sie keine Zweifel. Sie konnte nur beten, dass er bald käme.

Connell trat einen Schritt vor. „Lass das Mädchen los. Dann können wir weiteressen, bevor unser Essen kalt wird.“

Er trug die übliche schwere Wolljacke, leuchtend rot und schwarz ka-riert, wie sie viele Holzfäller trugen, da sie dadurch im Wald besser gese-hen wurden und besser vor den vielen Unfällen geschützt waren, die in den Lagern immer wieder passierten.

Er hatte die Jacke aufgeknöpft; darunter waren Hosenträger zu sehen, die sich über ein dickes Baumwollhemd spannten. Er sah genauso rau aus wie alle anderen Holzfäller, die sie bisher gesehen hatte, aber die erwar-tungsvolle Haltung, mit der die Männer ihn anstarrten, verriet ihr, dass er sich offenbar ihren Respekt verdient hatte.

Mit Ausnahme des Mannes, der immer noch ihren Arm festhielt.Lily versuchte, sich von ihm loszureißen.Aber Jimmys Finger bohrten sich tief in ihr Fleisch.Sie stieß einen protestierenden Schrei aus.Connell trat noch einen Schritt vor. „Lass sie los, Jimmy. Sofort.“ Seine

Stimme wurde drohend.Jimmy drückte sie an seine Achselhöhle, die den säuerlichen Geruch

von schwerer körperlicher Arbeit ausdünstete. „Und wenn ich sie behal-ten will? Was wollen Sie dagegen unternehmen, McCormick?“

„Du weißt, dass ich keine Unruhe will“, sagte Connell. „Aber du treibst es zu weit.“

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Lily schüttelte nur den Kopf. Ihr reichte es. Sie war nicht der Typ, der tatenlos herumstand und auf Hilfe wartete. Sie lebte nach der Überzeu-gung: Wenn man will, dass etwas geschieht, dann muss man die Ärmel hochkrempeln und es selbst in die Hand nehmen.

„Es passt mir überhaupt nicht, dass einer von euch Holzfällern mich berührt“, sagte sie. „Solange ich es Ihnen nicht ausdrücklich erlaube, rate ich Ihnen, in Zukunft die Finger von mir zu lassen.“

Beim letzten Wort hob sie ihren Stiefel und zielte mit dem Absatz auf Jimmys Zehen. Sie trat mit voller Wucht zu.

Wie die meisten Holzfäller hatte er am Ende des Tages seine nassen Stie-fel und mehrere Schichten feuchter Socken ausgezogen, um die Sachen über Nacht trocknen zu lassen, bevor er sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit im Schnee anzog.

Jimmy fluchte, aber bevor er sich bewegen konnte, trat sie mit ihrem Stiefelabsatz noch einmal kräftig auf seinen anderen Fuß. Es krachte so laut wie ein Gewehrschuss.

Dieses Mal heulte er auf. Mit wütendem Fluchen stieß er sie von sich, sodass sie nach vorne taumelte.

In dem vergeblichen Versuch, Halt zu finden, fuchtelte sie mit den Ar-men, steuerte aber geradewegs auf Connell McCormick zu.

Er fing sie mit den Armen auf, aber sie landete mit so viel Schwung auf ihm, dass er das Gleichgewicht verlor. Er taumelte nach hinten. „Halt! Bleiben Sie stehen.“

Ihr Rock und ihre Beine verhedderten sich und sie taumelten auf die Reihen schmutziger, feuchter Socken zu, die zum Trocknen vor dem Ka-min hingen. Für einen Moment fingen die provisorischen Wäscheleinen sie auf und bremsten ihren Sturz. Aber dann lösten sich unter ihrem Ge-wicht die Seile von den Nägeln in den Balken, an denen sie befestigt wa-ren, und Lily merkte, dass sie zu Boden stürzte. Sie drehte und wand sich zwischen den Wäscheleinen, aber dann wurde ihr bewusst, dass sie sich damit nur noch enger an Connell fesselte.

Connell knallte auf einen Stuhl, der neben dem Kamin stand. Ange-sichts des Gewirrs aus Gliedmaßen und Seilen vollkommen hilflos konnte Lily nichts dagegen machen, dass sie auf seinem Schoß landete.

Mehrere Socken hingen von seinem Kopf und bedeckten sein Gesicht. Auch auf ihren Schultern und ihrem Kopf lagen schmutzige Socken. Ihr

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widerlicher, beißender Gestank stieg ihr in die Nase und einen Moment lang befürchtete sie, sich gleich übergeben zu müssen.

Als Lily versuchte, eine Hand zu heben, um die Socke, die ihr über dem einen Auge hing, abzustreifen, stellte sie fest, dass ihre Arme an ihre Seiten gefesselt waren. Sie legte den Kopf schief und blies seitlich gegen die verkrustete, gelblich gefärbte Socke. Aber die Socke wollte sich einfach nicht bewegen.

Wieder schüttelte sie den Kopf. Dieses Mal nachdrücklicher. Trotzdem rührte sich die lästige Socke nicht vom Fleck.

Durch die Perücke aus Socken, die Connells Kopf bedeckten, konnte sie nur ein Auge von ihm sehen, das sie anschaute und interessiert ihre Befreiungsversuche verfolgte. Seine Mundwinkel umzuckte ein Lächeln.

Sie konnte sich vorstellen, wie sie aussehen musste. Wenn sie auch nur die geringste Ähnlichkeit mit ihm hatte, sah sie völlig albern aus.

Als er den Kopf schief legte und gegen eine seiner Socken blies, musste sie unweigerlich über das Bild lächeln, das sie beide zweifellos abgaben. Hilflos wurde sie von den schmutzigen Socken fast erstickt und versuchte, sie mit nichts anderem als ihrem Atem zu entfernen.

„Willkommen in Harrison.“ Jetzt grinste er über das ganze Gesicht.

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Die 36-jährige Carol kann so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Sie arbeitet als Sozialpädagogin beim Jugendamt der Stadt Zürich, ist überzeugter Single und die Unabhängigkeit in Person. Doch dann ge-rät ihr Leben unvermittelt aus dem Gleichgewicht: Die Einladung zu einem Ehemaligentreffen macht ihr bewusst, dass sie keinerlei Erin-nerung an ihr sechstes Schuljahr hat. Und die Informationen, die sie beim Klassentreffen bekommt, sind nicht gerade beruhigend. Schein-bar hat Carol auch ihren damals besten Freund Peter vollkommen aus ihrem Gedächtnis gelöscht.Als Carol ein Zettel mit der Botschaft „Ich weiß, warum du dich nicht erinnerst“ zugespielt wird, beginnt sie, Nachforschungen anzustellen. Was ist mit ihr und Peter geschehen? Wurde ihnen etwas angetan? Oder hat sie selbst Schuld auf sich geladen? Die Suche nach den Puzzlestücken ihrer Vergangenheit erweist sich als schwierig, denn Peter scheint wie vom Erdboden verschluckt und dann ist da auch noch der anonyme Zettelschreiber, der Carol nicht aus den Augen lässt ... Kann ihre frühere Schulfreundin Andrea Licht in das Dunkel bringen?

Mirjam SchweizerBlinde ErinnerungISBN 978-3-86827-396-0ca. 480 Seiten, Paperbackerscheint im September 2013

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Samstag, 6. Juli, 18:40 Uhr

Das Restaurant Rigiblick thronte hoch über den Dächern von Zürich am Rande des als snobistisch verschrienen Zürichbergquartiers mit sei-nen prunkvollen Villen, die sich hinter großräumigen Gartenanlagen verbargen. Bis 1976 vom Zürcher Frauenverein als alkoholfreie Gaststät-te geführt, glich das Restaurant in den Sechziger- und Siebzigerjahren eher einer Militärkantine als einem edlen Gourmettempel. Doch seit der vollständigen Renovierung im Jahr 2004 und der Übernahme durch ei-nen Spitzenkoch mit sechzehn Gault Millau-Punkten hatte sich das im Biedermeierstil erbaute Gebäude immer mehr auch zum Ausflugsziel für gehobenere Ansprüche gemausert.

Carol japste erstaunt nach Luft, als sie das schicke, in hellem Weiß erstrahlende Bauwerk mit dem turmartigen Gebilde links neben dem Haupthaus erblickte. In ihrer Erinnerung hatte sie das Restaurant Rigi-blick als schmuckloses Null-Acht-Fünfzehn-Gebäude mit fleckigen grau-en Mauern und einer tristen rechteckigen Terrasse gespeichert. Bis zu ih-rem zehnten Lebensjahr, bevor ihre Mutter wieder zu arbeiten begonnen hatte, waren sie an den freien Mittwochnachmittagen oft zusammen zum Rigiblick spaziert, hatten dort etwas Kleines gegessen und getrunken, und Carol hatte sich danach auf dem nahe gelegenen Kinderspielplatz mit der großen Schaukel ausgetobt. Jetzt war der Kinderspielplatz verschwunden, dafür ragte eine elegant geschwungene, halbkreisförmige Terrasse aus ed-lem Holz und Bambus, die von schlanken grünen Stahlpfeilern gestützt wurde, weit über den Vorplatz bis knapp an den Rand des steilen Zürich-berghangs.

Die Festbänke und Loungesessel auf dem Vorplatz waren alle besetzt. Suchend blickte Carol sich um. Das Publikum waren vor allem eifrig plaudernde Senioren und Familien mit kleinen Kindern. Dazwischen war auch hin und wieder ein Pärchen zwischen vierzig und fünfzig zu sehen. Keine Jugendlichen, keine jungen Leute. Keine Spur von ihren ehemali-gen Klassenkameraden.

Sie quetschte sich zwischen einem Kinderwagen auf drei Rädern und ei-nem elektrischen Rollstuhl durch. Irgendwo musste die Gesellschaft doch stecken. In den vergangenen zehn Minuten hatte sich wohl kaum jeder-mann in Luft aufgelöst. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Weshalb

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brockte sie sich durch ihr ständiges Zuspätkommen nur immer solche Unannehmlichkeiten ein? Aber anscheinend ging es einfach nicht anders. Immer kamen ihr im letzten Moment noch die unmöglichsten Dinge in den Sinn. Heute hatte sie beim Verlassen des Hauses plötzlich das Gefühl gehabt, dass es besser wäre, wenn sie die Haare nicht offen trug, son-dern hochsteckte. Sie war nochmal umgekehrt, hatte ihr lockiges, knapp schulterlanges Haar mit geübten Bewegungen einmal um ihren Hand-teller gewunden und es mit einer mahagonifarbenen Klammer an ihrem Hinterkopf festgesteckt. Darüber hatte sie den Bus verpasst, aber es hatte sich gelohnt – sie fühlte sich besser als zuvor, und dieses Gefühl verlieh ihr die trügerische Sicherheit, dass sie für alles, was ihr an diesem Abend begegnen würde, gewappnet war.

„Hallo, Carol, hier sind wir!“ Carol zuckte zusammen, als sie jeman-den ihren Namen rufen hörte. Reflexartig blickte sie hoch und sah einen Mann, der sich über die elegant geschwungene Holzballustrade der Ter-rasse beugte und ihr gut gelaunt zuwinkte. Sie erkannte ihn sofort. Stefan. Er hatte noch immer dasselbe jungenhafte Gesicht wie früher, mit dem spitzbübischen Grinsen, das unschuldig und wissend zugleich wirkte. Und in diesem Moment spulte sich, Nebelfragmenten gleich, eine Szene in ihrem Gedächtnis ab, die sie weder chronologisch einordnen noch in einen sinnvollen Zusammenhang setzen konnte.

„Wollt ihr wissen, wie die Geschichte ausgeht?“, fragt Stefan seine Mitschü-ler, die ihm gebannt zuhören. Carol wirft einen Blick in die Runde, sieht aber nur verschwommene Gesichter. „Der Maler wird immer reicher“, fährt Stefan fort, ohne eine Reaktion abzuwarten. „Bald schwimmt er fast so in seinem Geld wie Dagobert Duck. Aber die schöne Lady kann er damit nicht gewinnen. Sie reist ab und er sieht sie nie wieder. Kurz danach dreht er durch. Er isst nichts mehr und trinkt nichts mehr. Stattdessen zählt er nächtelang sein Geld, klimpert mit den Münzen, baut ganze Türme von Geldscheinen vor sich auf. Schließlich stirbt er. Und seitdem geistert er durch die Räume des alten Gebäudes. Manchmal hört man es rascheln, dann klimpern, dann scheppern. Er zählt sein Geld, schichtet es um, wirft die Münzen an die Wän-de. Ich kenne jemanden, der es mit eigenen Ohren gehört hat. Echt gruselig, sage ich euch.“

„Brr“, sagt Regina, die direkt neben Carol steht. Carol sieht nur ihre Augen. Sie sind groß und blau und erinnern ein wenig an eine Märchenfee. „Mich

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würden keine zehn Pferde dorthin bringen. Nicht einmal bei Tageslicht, das kann ich euch versprechen.“

„Am Tag passiert dir nichts“, sagt Stefan beruhigend. „Man hört ihn nur in der Nacht. Und auch nur bei Vollmond oder wenn es stürmt.“

„Das glaube ich nicht.“ Das ist Dieters Stimme. Mit einem Mal sieht Carol sein Gesicht gestochen scharf vor sich. Sie kann ihn nicht leiden – er hat etwas Heimtückisches an sich, das er jedoch geschickt vor den anderen verbergen kann. „Für die nächtlichen Geräusche gibt es eine viel einfachere Erklärung: Bei alten Häusern ist das einfach so, irgendwo knackt und knarrt immer etwas – Dielenbretter, Fensterläden, ein Luftzug, der hindurch fährt. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass dort ganz sicher kein Gespenst umgeht.“

Stefan lächelt listig. „Dann würdest du also problemlos eine Nacht dort verbringen, wenn ich dich recht verstanden habe, oder?“

„Carol, träumst du? Wir sind hier oben auf der Terrasse!“ Schlagartig verblasste das Bild und Carol kehrte in die Gegenwart zurück. Sie sah, dass Stefan immer noch an der Ballustrade stand und ihr fröhlich zu-winkte.

Mechanisch hob sie die Hand und winkte zurück. Was war das eben gewesen? Kehrte ihre Erinnerung jetzt vielleicht zurück? Krampfhaft ver-suchte sie, sich die verschwommenen Gesichter der Mitschüler, die in ihrem Erinnerungsfragment aufgetaucht waren, zu vergegenwärtigen.

Hatte der namenlose Junge vom Foto auch in der Runde gestanden? Und von welchem alten Gebäude war in Stefans Geschichte die Rede gewesen? Hat-te Dieter tatsächlich eine Nacht dort verbracht oder war das eine Herausfor-derung ohne Folgen gewesen?

Wie ein Roboter schritt sie zur Treppe, die auf die Terrasse führte. Ein altes Gebäude. Nächtliche Geräusche. Schüler, die im Kreis standen. Sie musste sich einfach erinnern. Dieter war dabeigewesen, Stefan, Regina – weshalb sah sie denn die anderen Gesichter nicht klar vor sich? Geduld, ermahnte sie sich, während sie die letzten Treppenstufen erklomm. Bald ist es so weit. Ich werde meine Antworten kriegen, und wenn ich sie dem na-menlosen Jungen einzeln aus der Nase ziehen muss!

„Carol, wie üblich die Letzte!“ Stefan eilte auf sie zu, umarmte sie und gab ihr die obligaten drei Küsschen auf die Wangen. Er war nur wenig größer als sie, dafür kräftig gebaut. Aus der Nähe sah sein Gesicht noch jungenhafter aus. Seine Augen strahlten, er fühlte sich in seinem Element.

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„Unsere Runde ist nicht allzu groß“, fügte er lebhaft hinzu, „dafür wird unser Abend so richtig schön familiär.

Carols Augen überflogen die Gesichter der sechs am Tisch sitzenden Personen. Sie kannte alle. Francesca Caprio, Andrea Kellermann, Gregor Beglinger, Dieter Haller, Regina Liedtke und Mark de Fries. Sie verspürte einen leichten Stich in der Brust.

Der namenlose Junge vom Foto war nicht aufgetaucht.Mit dieser Möglichkeit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Sie hatte

sich alles so einfach vorgestellt. Sie würde dem Jungen, besser gesagt, dem Mann, zu dem sich der Junge entwickelt hatte, in die Augen blicken, ihre Erinnerung würde zurückkehren, und sie könnte dieses Kapitel aus ihrer Vergangenheit mit einem belustigten Lächeln abhaken. Sie hatte sich be-reits lebhaft vorgestellt, wie sie sich mit Sofia über den nullachtfünfzehn-Jungen, der zu einem nullachtfünfzehn-Mann mit eingefleischten Ge-wohnheiten mutiert war, amüsieren würde. Und jetzt hatte er ihr durch sein Nichterscheinen einfach einen Strich durch die Rechnung gemacht.

„Bin ich wirklich die Letzte?“, fragte sie Stefan mit dünner Stimme, bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

„Ja, aber du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen.“ Stefan, der ihre Frage falsch gedeutet hatte, klopfte ihr lachend auf die Schulter. „Weißt du noch? Du kamst eigentlich immer als Letzte auf den Pausen-platz, keine Ahnung, was du noch so lange im Schulzimmer herumge-trödelt hast. Oder nach dem Sport – da bist du regelmäßig zu spät zur nächsten Lektion eingetrudelt, ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, haha!“

Carol lächelte, aber das Lächeln blieb in ihren Mundwinkeln stecken. „Stimmt, jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich ebenfalls“, erwiderte sie langsam. „Herr Bachmann hat mit allen Mitteln versucht, mich zur Eile anzutreiben, aber er war nicht sehr erfolgreich, wie man sieht.“ Sie hielt inne und umfasste dann mit einer lockeren Handbewegung die am Tisch sitzende kleine Gesellschaft. „Erwartest du noch weitere Leute oder sind wir komplett?“

„Nein, das sind alle.“ Stefan zuckte bedauernd mit den Schultern. „Ich hätte mich auch gefreut, wenn sich mehr Leute angemeldet hätten, aber anscheinend habe ich den Zeitpunkt schlecht gewählt. Einige befinden sich mit ihren Familien bereits in den Sommerferien, andere feiern sonst wo

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eine Party und wieder andere hatten, wie’s scheint, einfach keine Lust zu kommen. Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben, alle ehemaligen Ka-meraden möglichst lückenlos aufzutreiben. Das war nämlich gar nicht so einfach.“ Er fuhr sich mit der linken Hand durch sein kurz geschnittenes hellbraunes Haar und lächelte. „Ich habe beim Volksschulamt eine Liste unserer ehemaligen Klasse beantragt. Dazu musste ich erst ein ellenlanges Formular ausfüllen und zusammen mit einer Kopie meiner Ausweispapiere einreichen. Als ich die Klassenliste endlich hatte, fing die Arbeit erst richtig an. Recherchen im Internet, Dutzende von Anrufen bei Familienangehö-rigen oder Leuten mit demselben Nachnamen. Es war echt eine mühselige Arbeit, vor allem bei den Mädels, die ja teilweise geheiratet haben und nicht mehr unter ihrem alten Nachnamen zu finden waren.“

Carol nickte. „Das kann ich mir vorstellen“, sagte sie nachdenklich. „Hast du alle gefunden?“

„Alle, bis auf Peter Müller. Und wie du dir bestimmt vorstellen kannst, war das ein echter Rückschlag für mich, wo ich mich doch schon in der Rolle als neuer, verjüngter Josef Matula gesehen habe.“ Er grinste spitz-bübisch. „Ein Fall für zwei ist meine Lieblingsserie, musst du wissen. Und Claus Theo Gärtner als Josef Matula finde ich einfach genial!“

Peter Müller. Josef Matula. Claus Theo Gärtner.Peter Müller. Carols Kopf fühlte sich plötzlich leer an. Der namenlose

Junge auf dem Foto. Wie ein Ungeheuer aus der Tiefe tauchte das Gesicht von dem Foto vor ihrem inneren Auge auf, das dunkle, leicht gewellte Haar, die ebenmäßigen Gesichtszüge, sein verkrampftes Lächeln. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte seinem Gesicht einfach kein Leben einhauchen. Alles, was sie sah, war das angespannte Gesicht vom Foto, diese Augen, die entweder etwas zu verbergen oder schon zu viel gesehen hatten.

„Carol, geht es dir nicht gut?“, drang Stefans Stimme wie aus weiter Ferne an ihr Ohr.

Sie zuckte zusammen, dann atmete sie tief durch. „Nein, nein, es geht schon“, sagte sie schnell, „mir ist etwas schwindlig, wahrscheinlich, weil ich seit heute Mittag nichts mehr gegessen habe. Sobald ich einige Kalorien zu mir genommen habe, fühle ich mich mit Sicherheit wieder topfit.“ Sie lächelte Stefan zu, dann steuerte sie an ihm vorbei zu dem Tisch, an dem sich ihre ehemaligen Klassenkameraden angeregt miteinander unterhielten.

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Peter Müller. Wer ist Peter Müller?, hämmerte es ununterbrochen ge-gen ihre Schläfen, während sie die Runde machte und alle mit Küsschen rechts – Küsschen links – Küsschen rechts begrüßte. Peter Müller. Pe-ter Mül-ler. P-e-t-e-r M-ü-l-l-e-r. Wer ist Peter Müller?

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Die Sozialarbeiterin Alison Taylor hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kinder zu beschützen und dafür zu sorgen, dass zu ihren Gunsten Recht gesprochen wird. Doch als sie plötzlich beunruhigende Anrufe und bizarre „Geschenke“ bekommt, scheint es, als wäre sie mit einem Mal diejenige, die Schutz braucht. Gut, dass sie Beziehungen zur Bezirkspolizei hat. Detective Mitch Morgan wird schnell klar, dass die Vorfälle mit Alisons Arbeit zusam-menhängen. Doch der Verfolger spielt mit ihnen und kommt seinem Ziel, sich an Alison zu rächen, immer näher. Mitch setzt alles daran, Alison aus der Schusslinie zu bringen. Sie zu beschützen, ist längst mehr als ein Job für ihn. Aber wird ihm das gelingen?

Irene HannonIm Angesicht meines FeindesISBN 978-3-86827-397-7ca. 400 Seiten, Paperbackerscheint im September 2013

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Atemloses Keuchen.Das war alles, was sie hören konnte.Keine Stimme.Kein Hintergrundgeräusch.Nur eine spürbare Gegenwart am anderen Ende der Leitung.Schon wieder.Trotz der Wärme der Mailuft, die durch ihr Küchenfenster hereinwehte,

lief Alison Taylor ein eisiger Schauer über den Rücken.Sie blickte auf die Nummer im Display ihres Telefons und verglich sie

mit der Nummer, die an der kleinen Pinnwand neben der Station fest-getackert war. Und mit der Nummer, die sie nach dem zweiten Anruf notiert hatte.

Sie stimmten nicht überein. Aber die Nummer kam ihr irgendwie be-kannt vor.

Sie griff nach einem Stift und schrieb die neue Nummer ebenfalls auf.„Wer ist da?“ Sie versuchte selbstsicher zu klingen. Ruhig. Beherrscht.

Aber das Zittern in ihrer Stimme verriet sie.Ein plötzliches Klicken in der Leitung war die einzige Antwort.Das ist nicht witzig!Als sie das Mobilteil auf die Station knallte, jaulte Bert zu ihren Füßen

erschrocken auf. Alison bückte sich, um den Mischlingshund, den sie im vergangenen Sommer aus dem Tierheim gerettet hatte und der inzwi-schen fast acht Kilo wog, hochzuheben, und zuckte zusammen, weil ein stechender Schmerz durch ihr Bein fuhr. In letzter Zeit vergaß sie häufiger die Stahlplatte darin. Und das war ein gutes Zeichen. Es bedeutete, dass ihre Genesung voranschritt. Aber Augenblicke wie dieser erinnerten sie daran, dass sie eben doch noch nicht wieder ganz geheilt war.

Und vielleicht würde sie das auch nie sein.Während Bert sich auf ihrem Arm wand und den Kopf vorstreckte, um

ihr das Gesicht zu lecken, half seine ungezügelte Zuneigung ihr, das plötz-liche Gefühl der Niedergeschlagenheit zu verjagen – und den Knoten der Anspannung in ihrem Magen zu lösen.

„Hast du mich vermisst, während ich bei der Arbeit war, mein Großer? Was hältst du von einem Spaziergang an diesem schönen Nachmittag?“

Das Wort Spaziergang löste ein erneutes begeistertes Schlecken aus.Sie grinste und setzte ihn wieder auf den Boden, wobei sie diesmal die

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Bewegung vorsichtiger ausführte. „Schon gut, schon gut, ich habe ver-standen. Ich hole nur deine Leine und dann –“

Das erneute Klingeln des Telefons ließ sie mitten im Satz verstummen.Ihr Herzschlag geriet ins Stolpern und beschleunigte sich dann, als sie

zur Küchezeile ging, um auf das Display des Telefons zu blicken. Das hät-te sie vor dem letzten Anruf auch tun sollen. Aber Berts überschwängliche Wiedersehensfreude hatte sie abgelenkt.

Ein Blick auf die Nummer ließ ihr Herz jedoch wieder ruhiger schlagen. Ihre beiden Brüder hatten die manchmal lästige Angewohnheit, ihre Be-schützer zu spielen, aber mit ihnen konnte sie besser umgehen als mit den anonymen Anrufern. Vor allem mit Cole.

Bert stupste ihr Bein an, als sie das Telefon von der Station nahm, und sie tätschelte seinen Kopf. „Gleich, mein Großer. Du musst dich noch einen Augenblick gedulden.“ Als könnte er das. Ein wehmütiges Lächeln um-spielte ihre Lippen. Bert hatte viele Vorzüge, aber Geduld zählte nicht dazu.

„Hi, Cole.“ Sie griff nach der Hundeleine, die über einem Garderoben-haken neben der Hintertür hing. „Was gibt es?“

„Nicht viel. Ich wollte nur mal Hallo sagen. Wie geht es meiner Lieb-lingsschwester?“

„Ich würde das ja gerne als Kompliment auffassen, aber ich bin deine einzige Schwester.“

„Weichst du meiner Frage aus?“ Besorgnis ließ seine Stimme schärfer klingen.

Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Nein. Ich habe einen Witz ge-macht. Der Unfall ist ein Jahr her, Cole. Es geht mir gut und das habe ich dir und Jake schon oft gesagt. Obwohl ich sagen muss, dass unser großer Bruder mich seit seiner Verlobung mit Liz vor drei Wochen weniger be-muttert. Vielleicht muss ich dir auch eine gute Frau suchen.“

„Sehr witzig.“„Es ist mein Ernst. Du bist fünfunddreißig. Du solltest endlich eine

Frau und Kinder haben.“„Und du bist seit zwei Wochen vierunddreißig.“Sie hakte die Leine in Berts Halsband ein und kämpfte gegen die

Melancholie an, die in ihr aufstieg. Wenn alles so gelaufen wäre, wie sie es erwartete hatte, wäre sie jetzt vielleicht verheiratet – und das wussten sie beide. Stattdessen war ihr Traum von einem Ehemann und einer

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Familie in jener schicksalhaften Nacht vor einem Jahr zunichte gemacht worden.

„Alison … es tut mir leid.“ Zerknirschtheit und Selbstvorwürfe schwan-gen in Coles Worten mit. „Manchmal rede ich einfach, bevor ich nach-denke.“

„Im Ernst?“ Sie holte tief Luft und schlug einen leichteren Tonfall an. „Wie auch immer: Meine Erfahrung mit David ist abgehakt. Außerdem habe ich jetzt Bert. Kein schlechter Tausch, wenn du mich fragst.“

Der Hund warf ihr einen hoffnungsvollen Blick zu, als er seinen Namen hörte, und fing an, so heftig mit seinem Stummelschwanz zu wedeln, dass sein ganzer Körper wackelte.

„Der übrigens darauf wartet, dass ich mit ihm Gassi gehe.“ Alison bück-te sich und kraulte die Ohren des Hundes, wobei sie sich auf das gesunde Bein stützte. „Wenn es also keinen konkreteren Grund für deinen Anruf gibt als den, deine kleine Schwester zu belästigen …“ Sie ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen, bereit, jeden Moment aufzulegen.

„Na ja, es gibt noch einen Grund.“Als sie die Nervosität in seiner Stimme hörte, schrillten die Alarmglo-

cken in Alisons Kopf. Ihre Brüder legten selten auch nur einen Hauch von Unbehagen an den Tag. Jake war als Deputy U.S. Marshal ein richtiger Macher – bei der Arbeit wie auch in seinem Privatleben. Und Cole stand ihm darin in nichts nach. Sie war schon oft das Opfer seiner brüderlichen Verhöre geworden und die Verdächtigen, die seine offizielle, dienstliche Seite kennenlernten, hatten ihr vollstes Mitgefühl. Es gab nicht viele schlauere – und erbarmungslosere – Polizeibeamte als Cole Taylor.

Als das Schweigen am anderen Ende der Leitung anhielt, hakte sie nach. „Du hast von einem anderen Grund gesprochen?“

„Genau. Folgendes: Du erinnerst dich doch sicherlich daran, dass ich dir bei deinem Geburtstagsbrunch von unserem neuen Kollegen erzählt habe?“

„Ja.“„Der hat diese Woche angefangen. Ein netter Kerl. Mein Alter. Ehemals

bei einer Spezialeinheit der Navy, aber die letzten vier Jahre hat er bei der Polizei in New York City gearbeitet – zwei beim Spezialeinsatzkommando und zwei als Kriminalbeamter. Er heißt Mitch Morgan.“

Cole verstummte und Alison runzelte die Stirn. Bert zog jetzt an ihrem Hosenbein. Offensichtlich war er inzwischen nicht mehr nur von der Idee

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eines Spaziergangs begeistert, sondern auch von dessen Notwendigkeit überzeugt.

„Komm schon, Cole, spuck es aus. Bert gibt mir dringende Zeichen.“„Könntest du ihn in den Garten lassen?“„Dauert es denn so lange?“„Könnte sein.“Alison seufzte und hakte die Leine aus, bevor sie zur Türklinke griff.

„Also gut. Aber jetzt habe ich hier einen enttäuschten Hund, das kann ich dir sagen.“ Bert schoss hinaus, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte, und rannte zum nächsten Baum.

„In Ordnung.“ Sie drehte sich wieder zur Küche um. „Jetzt hast du meine volle Aufmerksamkeit. Schieß los.“

„Zuerst musst du mir versprechen, nicht sofort Nein zu sagen.“Oh-oh.Alison wusste, was ihr Bruder im Schilde führte, und sie hatte nicht

die Absicht, ihm noch einmal diesen Gefallen zu tun. „Du versuchst aber nicht, mich mit diesem Kerl zu verkuppeln, oder?“

„Nicht für immer. Nur für einen Abend.“„Ach ja? Und bist du bereit, dich diesbezüglich einem Lügendetektor-

test zu unterziehen?“„Hör mir erst einmal zu, ja? Kannst du das wenigstens tun?“Sie hörte seine Frustration und verkniff sich die Bemerkung, die ihr auf

der Zunge lag. Coles Bemühungen, ihr Sozialleben anzukurbeln, waren zwar lästig, aber sie waren gut gemeint.

„Klar, kann ich. Solange du dir darüber im Klaren bist, dass ich mir, wenn ich beschließe, wieder mit jemandem auszugehen, den Mann selbst aussuchen werde. Es wird keiner von den Typen sein, mit denen Jake und du mich in den letzten sechs Monaten zusammenbringen wolltet.“

„Die waren doch nett.“„Ich habe mein Liebesleben selbst im Griff.“„Aber hier geht es nicht um dein Liebesleben. Es geht darum, einem

Kollegen einen Abend lang auszuhelfen.“Mist. Menschen in Not waren ihre Achillesferse – und das wussten ihre

Brüder. Ihr dies als Gefallen für jemand anders zu verkaufen, war eine hervorragende Strategie.

Ein Punkt für Cole.

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„In Ordnung.“ Sie konnte ihren Widerstand genauso gut aufgeben. „Was ist das Problem?“

„Er braucht am Samstagabend eine Begleitung für die Hochzeitsfeier eines Cousins.“

„Für eine Familienfeier brauchst du keine Begleitung.“„Wenn du Junggeselle bist und nicht willst, dass jede weibliche Ver-

wandte alleinstehende Frauen in deine Richtung schiebt, schon.“Da hatte er recht.Ihre Entschlossenheit geriet ins Wanken.„Erwartet er, dass ich tanze?“„Ich kann ihm sagen, dass du nicht tanzt, wenn du das willst, aber ich

wette, du könntest es. Man bemerkt dein Hinken kaum noch. Komm schon, Alison. Hilf dem armen Kerl. Er ist erst seit zwei Wochen wieder in der Stadt und hat einen Großteil seiner Freizeit damit verbracht, längst fällige Reparaturen am Haus seines Vaters vorzunehmen. Und da ist noch etwas – sein Vater fährt mit euch zu dem Empfang und zurück. Das heißt, es ist keine richtige Verabredung. Aber wenn du da bist, wird das die Raubtiere zurückhalten.“

„Vielleicht hat er nichts gegen Raubtiere.“„Doch, das hat er. Er hat mir so ziemlich das Gleiche gesagt wie du.

Dass er sich seine eigenen Verabredungen suchen wird, wenn er be-reit ist, in die Beziehungsszene von St. Louis einzutauchen. Deshalb graut ihm davor, bei dem Empfang von unverheirateten Frauen belagert zu werden, die wohlmeinende Verwandte auf ihn ansetzen. Also, was meinst du? Kann ich ihm sagen, dass du ihm aushilfst und sein Schutz-schild sein wirst?“

Schutzschild?Nicht die schmeichelhafteste Rolle, die sie jemals gespielt hatte.Auf der anderen Seite hatte sie am Samstagabend nichts vor. Warum

sich eine kostenlose Mahlzeit, die Gelegenheit für eine gute Tat und einen Anlass für schicke Klamotten entgehen lassen? Vor allem, wenn die Rah-menbedingungen sicher waren. Mit seinem Vater im Schlepptau konnte ein Mann keine besonders amourösen Anwandlungen bekommen, selbst wenn ihm danach war. Und dieser Mann klang so, als hätte er ohnehin kein Interesse.

„Also gut. Wenn er eine Begleitung für den Abend will, gehe ich mit.“

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„Super. Ich rede morgen mit ihm und sage dir Bescheid, was er davon hält. Du wirst es nicht bereuen.“

„Das hoffe ich, Bruderherz. Wenn doch, steht dein Name auf der schwarzen Liste.“

* * *

Warum habe ich mich nur von Cole dazu überreden lassen?Während er vor Alison Taylors kleinem Vorstadtbungalow in seinem

Wagen saß, griff Mitch mit dem Finger in den Kragen seines Anzughem-des und wünschte, er könnte sich seiner Krawatte entledigen. Oder besser noch der ganzen Veranstaltung an diesem Abend.

Wenn er die Uhr zurückdrehen könnte, würde er die Unterhaltung mit Cole Taylor am Dienstag nicht noch einmal führen. Die über das Einmi-schen von weiblichen Verwandten, die es nicht ertragen konnten, einen Junggesellen zu sehen. Und er würde ganz sicher nicht einwilligen, die Schwester seines neuen Kollegen zu der Feier mitzunehmen, wie er es getan hatte, als Cole das Thema am Mittwoch erneut angeschnitten hatte, auch wenn sein Kollege nach der Arbeit die Rechnung für ihre Hambur-ger bezahlt hatte. Er würde lieber ein Dutzend eifrige Frauen abwehren, als eine Frau zu bespaßen, die ein Jahr nach der Trennung von ihrem Freund immer noch zu sehr litt, um wieder auszugehen. Das versprach ein heiterer Abend zu werden.

Aber nachdem Cole einen Unfall erwähnt hatte, in den seine Schwester verwickelt gewesen war, und dass es ihr guttun würde, ein bisschen he-rauszukommen, war er verloren gewesen.

Die Großherzigkeit seines Kollegen – und dazu sein eigener weicher Kern unter der rauen Schale – hatte ihn besiegt.

Er beschloss, sich mit einem langweiligen Abend abzufinden, und stieg aus. Dann betrachtete er die Anzugjacke, die an dem Haken hinter sei-nem Sitz hing. Sollte er sich die Mühe machen, sie anzuziehen?

Nee. Schließlich wollte er ja niemanden beeindrucken.Als Mitch den asphaltierten Weg entlangschlenderte und die Stufen zur

Veranda hinaufging, kündigte ein gedämpftes hohes Kläffen seine An-kunft an. Irgend so ein Schoßhündchen wahrscheinlich. Bestimmt war der Köter außerdem bissig.

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Er wappnete sich und betätigte die Türklingel.Dreißig Sekunden später, als er hörte, wie der Riegel der Haustür zu-

rückgeschoben wurde, setzte er ein Lächeln auf und biss die Zähne zu-sammen.

Sieh es mal so, Morgan. In höchstens drei Stunden ist die Sache vorbei. Du kannst dir irgendeine Ausrede überlegen, um …

Die Tür ging auf und Mitch fiel beinahe die Kinnlade herunter.Wow.Das brieftaschengroße Familienfoto von der Geburtstagsparty im letz-

ten Herbst, das Cole ihm gezeigt hatte, war weit davon entfernt, Alison Taylors klassisch ovalem Gesicht oder den hohen Wangenknochen, wie Models sie hatten, gerecht zu werden. Oder ihren Augen, die so blau strahlten wie ein Sommerhimmel. Oder den Lippen, die voll und weich waren – und leicht geöffnet, als wäre auch sie überrascht.

Ihr Lächeln war unsicher, festigte sich dann aber, als sie die Hand aus-streckte. „Mitch, nehme ich an.“

Er streckte die Rechte aus und schloss seine Finger um ihre schmale Hand. Am Rande bemerkte er, dass sie etwa zehn Zentimeter kleiner war als er mit seinen eins achtzig. Aber mehr faszinierte ihn, wie die Abend-sonne die verschiedenen Facetten ihres glänzenden, dunkelblonden Haa-res betonte. Sie trug einen Mittelscheitel und ihr Haar war etwa schulter-lang. Es bog sich leicht nach innen, sodass es ihr vollkommenes Gesicht umrahmte.

Zweimal wow.Alison Taylor sah umwerfend aus.Er räusperte sich und widerstand der Versuchung, seine Krawatte zu lo-

ckern. Zu schade, dass er die Jacke nicht doch angezogen hatte. „Schuldig im Sinne der Anklage.“

Etwas zog an seinem Hosenbein und erweckte damit seine Aufmerk-samkeit. Froh über die Gelegenheit, sich zu sammeln, blickte Mitch an sich herunter.

„Bert!“, schimpfte Alison mit dem goldenen Fellknäuel zu seinen Fü-ßen. Dann bückte sie sich, um den Hund auf den Arm zu nehmen. „Tut mir leid.“ Der Rock ihres schwarzen Cocktailkleides war aus einem flie-ßenden Stoff, der um sie herum schwang, als sie in die Hocke ging, und eine unglaublich schlanke Taille betonte.

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Er brauchte eine Sekunde, um seine Stimme wiederzufinden. „Kein Problem.“

Sie schwankte ein wenig, als sie sich erhob, und er streckte die Hand aus, um sie zu stützen. „Vorsicht.“

„Danke.“Als sie wieder aufrecht stand, drückte sie den Hund an sich, und eine

leichte Röte überzog ihre Wangen. „Ich wollte ihn eigentlich in seinen Käfig tun, bevor du auftauchst. Komm rein und mach es dir bequem.“ Sie trat zur Seite und zeigte auf das Wohnzimmer. „Ich brauche nur eine Minute. Ist es in Ordnung, wenn dein Vater so lange im Wagen wartet?“

„Mein Vater?“ Mitch versuchte sich zu konzentrieren, aber Alisons blaue Augen kamen ihm dabei in die Quere.

„Ja. Cole hat gesagt, er würde uns begleiten.“„Ach ja, richtig. Das war auch der ursprüngliche Plan. Aber seine

Schwester und ihr Mann kommen auch zu der Hochzeit und er hat be-schlossen, mit den beiden zu fahren.“

Ihre Augen verengten sich ein wenig. „Wann haben die Pläne sich ge-ändert?“

„Am Donnerstagnachmittag. Mein Vater hat mich auf der Arbeit an-gerufen.“

„Wusste Cole davon?“„Ich glaube, ich habe es ihm gegenüber gestern erwähnt. Warum?“„Ach, ist nicht so wichtig.“Alison presste die Lippen aufeinander, drehte sich auf dem Absatz um

und verschwand in der Küche.Aber während Mitch in einem der Sessel im Wohnzimmer Platz nahm,

spürte er, dass Coles Unterlassung durchaus wichtig war.Und er hatte das Gefühl, dass es für seinen Kollegen nicht gut aussah.

* * *

Ich mache Hackfleisch aus dir, Bruderherz.Alison öffnete Berts geräumigen Käfig, ausnahmsweise ungerührt vom

flehenden Winseln ihres Hundes.Cole wusste seit gestern, dass der Vater des Mannes nicht mit von der Par-

tie sein würde, und hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr das mitzuteilen.

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Dafür würde er bezahlen. Und zwar so richtig.Sie legte eine Hand auf den Käfig, um sich abzustützen, und richtete

sich auf. Und für etwas anderes würde er ebenfalls bezahlen. Denn Cole hatte nicht erwähnt, dass der neue Kollege gut aussah.

Richtig gut.Na gut, vielleicht sah ein Mann das nicht so. Aber als sie ihn am Don-

nerstag gefragt hatte, wie Mitch denn aussehe, hatte, er nur gesagt, sein Kollege habe braune Haare und sei groß. Ein bisschen dürftig für einen Typen, der bei der Arbeit jeden Tag mit genauen Beschreibungen zu tun hatte.

Er hätte ihr von Mitchs samtbraunen Augen erzählen können. Oder von seinen breiten Schultern. Oder seinem kantigen Kinn mit dem win-zigen Cary-Grant-Grübchen. Ganz zu schweigen von seiner auffälligen Präsenz, die Stärke und Integrität und gezügelte Kraft ausstrahlte.

Sie glaubte keine Sekunde, dass Coles Zurückhaltung ein Versehen war.Aber warum sollte es ihr etwas ausmachen, wenn der attraktive Mann,

der oben wartete, an diesem Abend ihr gehörte? Sie schob die Finger in den Käfig und kraulte geistesabwesend Berts Ohr. Die Sache konnte deut-lich interessanter werden, als sie erwartet hatte. Nicht, dass sie Cole von ihrem Sinneswandel erzählen würde. Brüder, die einen immerzu beschüt-zen wollten, mochten lästig sein.

Aber nicht so schlimm wie Brüder mit einem „Siehste?“-Blick.

* * *

Mitch saß an einem kleinen Tisch in einer Ecke des lauten Saals, in dem ein alberner Ententanz im Gange war, und trank einen Schluck von seiner Limonade. Es war das erste Mal, dass Alison und er allein waren. Seine Verwandten waren allesamt vorbeigeschlendert, um ihn zu begrüßen – und ihren interessierten Blicken nach zu urteilen hatten sie Alison als seine richtige Verabredung betrachtet und nicht als gute Tat.

Wenn er ehrlich war, wünschte er sich inzwischen auch, es wäre eine richtige Verabredung.

Allerdings hätte er Alison dann nicht hierher mitgenommen. Er wäre mit ihr in ein elegantes Restaurant gegangen mit einem Tisch für zwei an-statt einem Büffet aus kaltem Braten und Pasta, wie es bei Hochzeiten in

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seiner Familie üblich war. An ein stilles Plätzchen, an dem sie sich richtig hätten unterhalten können, anstatt sich über die Musik des DJs hinweg anzuschreien, der nur eine Lautstärkeeinstellung im Programm zu haben schien: ohrenbetäubend.

Nicht, dass Alison die Familienfeier oder der Lärm etwas auszumachen schien. Sie hatte sich mit allen, die vorbeikamen, unterhalten, ein Mus-ter an Zuvorkommenheit. Sie hatte seinen Vater beeindruckt, der ihm anerkennend zugezwinkert hatte, als sie nicht hinsah. Und wenn ihr wip-pender Fuß ein Indikator war, genoss sie die albernen Späße auf der Tanz-fläche.

Aber er wollte nicht, dass ihr gemeinsamer Abend mit einem Ententanz endete.

Er trank einen letzten Schluck und beugte sich dann vor. „Hast du was dagegen, wenn wir gehen?“

Sie sah ihn überrascht an. Und wenn er sich nicht täuschte, lag in ihrem Blick so etwas wie ein Anflug von Bedauern.

Das war ein gutes Zeichen.„Wann immer du willst, aber wir sind erst seit anderthalb Stunden hier.

Wird deine Familie nicht enttäuscht sein, wenn du nicht ein bisschen länger bleibst?“

„Ich habe mit allen geredet, die das erwarten, und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass jemand uns in diesem Gedränge vermissen wird. Ich verab-schiede mich nur schnell von meinem Vater und wünsche dem Brautpaar alles Gute.“

„Okay.“Er eiste sich so schnell los, wie er konnte, und als er sich einen Weg zu

ihrem Tisch zurückbahnte, nahm Alison ihre Handtasche und ihr Tuch und stand auf.

Er berührte ihren Arm und führte sie aus dem lauten, vollen Saal. Als sie gerade das menschenleere Foyer erreicht hatten, endete der Ententanz und der DJ legte den Klassiker „Unforgettable“ in der Fassung von Nat King Cole und Natalie Cole auf.

Mitch zögerte.„Hast du etwas vergessen?“Auf Alisons Frage hin sah Mitch sie an. Wenn sie nicht Coles Schwes-

ter gewesen und er in diese Verabredung hineingedrängt worden wäre,

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hätte er bei seinem nächsten Schritt nicht gezögert. Aber normalerweise vermied er es, mehr als nur freundlich zu arrangierten Verabredungen zu sein – und zu Schwestern von Kollegen.

Allerdings hatte er schon beschlossen, diese Regel zu brechen, als er sich für einen frühen Aufbruch entschieden hatte, und er würde diese Entscheidung nicht revidieren.

„Nein. Aber mir ist gerade eingefallen, dass ich dich nicht einmal zum Tanzen aufgefordert habe.“

Ein Anflug von … Unbehagen? … ließ ihre Augen eine Sekunde lang dunkler erscheinen. „Ich tanze nicht mehr viel. Das sollte Cole eigentlich erwähnt haben.“ Ihre Augen verengten sich wieder zu Schlitzen. So, als wäre sie auf ihren Bruder nicht gut zu sprechen.

Er ignorierte den Hinweis auf seinen Kollegen. Es war besser, sich aus Familienstreitigkeiten herauszuhalten.

„Wegen des Autounfalls?“Sie umklammerte ihre kleine Abendhandtasche etwas fester, sodass der

schwarze Stoff Falten warf. „Cole hat dir davon erzählt?“„Keine Einzelheiten, wenn du das meinst.“Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie antwortete. „Bei dem Unfall

wurde mein Bein verletzt. Es ist immer noch nicht hundertprozentig in Ordnung.“

Er hatte sich schon gefragt, warum sie Probleme gehabt hatte, sich auf-zurichten, als sie den Hund hochgehoben hatte. Jetzt wusste er es.

„Du scheinst aber keine Schwierigkeiten beim Gehen zu haben. Und ein Foxtrott ist doch auch nicht viel mehr als das.“

Sie starrte ihn an. „Du kannst Foxtrott?“„Meine Mutter hat darauf bestanden. Sie sagte, wenn ein Mann tanzen

kann, macht das Eindruck auf Mädchen.“ Er grinste. „Bist du beeindruckt?“„Sehr.“Er streckte die Hand aus. „Wollen wir es versuchen?“Alison biss sich auf die Unterlippe und musterte ihn. „Ich habe schon

länger nicht mehr getanzt.“Er schenkte ihr sein überzeugendstes Lächeln. „Das ist nicht Let’s Dance,

Alison. Es gibt keine Jury, die uns beobachtet. Außerdem bin ich auch ein wenig eingerostet. Bei meinen beiden letzten Stellen bot sich mir kaum die Gelegenheit, die eleganteren Dinge des Lebens zu genießen.“

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Das Lächeln funktionierte. Sie legte ihre Tasche und ihr Tuch auf einen Klappstuhl, der in der Nähe stand, und begab sich dann in seine Arme.

Und in sein Herz.Jedenfalls fühlte es sich so an.Es war wie ein elektrischer Schlag und Mitch gab sich Mühe, seine Füße

im Takt der Musik zu bewegen. Aber mit Alison im Arm war es gar nicht so einfach sich zu konzentrieren. Mit ihrem zarten Blumenduft in der Nase. Mit ihrem seidigen Haar an seiner Wange und ihrem Atem als war-mem Hauch an seiner Kehle.

„Du machst aber gar keinen eingerosteten Eindruck auf mich.“Ihre etwas unsicher klingende Bemerkung brachte ihn dazu, sich zu-

sammenzureißen.„Und dein Unfall hat deine tänzerischen Fähigkeiten in keiner Weise

beeinträchtigt.“ Er zog sie ein wenig näher. Sie wehrte sich nicht.Danach schienen keine Worte mehr nötig zu sein. Sie bewegten sich in

vollkommener Harmonie zur Musik, als hätten sie schon oft zusammen getanzt. Als gehörten sie zusammen.

Es war anders als jeder andere Tanz, den Mitch jemals erlebt hatte.Und er wollte nicht, dass er aufhörte.Irgendwann würde das Lied enden. Aber vielleicht musste der Abend es

ja noch nicht tun.„Als ich mich von den anderen verabschiedet habe, ist mir aufgefallen,

dass sie die Hochzeitstorte aufgebaut haben.“ Er ließ seine Bemerkung beiläufig klingen, als er sich vorbeugte, damit seine Lippen näher an ih-rem Ohr waren – und an ihrem seidigen Haar. „Ich kann dir ein Stück besorgen, wenn du willst, aber ich kenne einen Ort, der für Desserts noch besser ist, wenn du Lust hast.“

Er bemerkte ein leichtes Zögern in ihrem Schritt, als hätte seine sponta-ne Einladung sie aus dem Takt gebracht.

„Darf ich dir etwas sagen?“ Da ihre Wange an seiner Jacke ruhte, klang die Frage gedämpft.

„Klar.“„Ich wollte heute Abend nicht mitkommen.“Ein Lächeln zuckte um seine Lippen. „Kann ich dir auch was sagen? Ich

auch nicht.“„Cole hat mir erzählt, du wolltest eine Begleitung, um die Annähe-

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rungsversuche interessierter Frauen abzuwimmeln. Ich würde also dein Schutzschild sein.“

Das war ihm neu. Wie es schien, hatte sein neuer Kollege bei ihnen beiden auf die Mitleidstour gesetzt.

„Und mir hat er erzählt, dein Sozialleben sei seit der Trennung von dei-nem Freund etwas dürftig.“

Sie versteifte sich in seinen Armen, bewegte sich aber weiter zur Musik. „Hat er dir erzählt, warum wir uns getrennt haben?“

„Nein.“Sie entspannte sich ein wenig. „Ich habe vor, eine lange Unterhaltung

mit meinem sich einmischenden kleinen Bruder zu führen.“Das Lied endete und Mitch verlangsamte seine Schritte, um Alison

dann widerwillig loszulassen. Die grellen Lichter im Foyer boten keiner-lei romantisches Ambiente, aber als er in Alisons Augen starrte, hätte er schwören können, dass irgendwo eine Geige spielte. Wie verrückt war das denn?

„Ich würde nicht zu voreilig sein.“ Seine Stimme klang heiser und er räusperte sich. „Es könnte sich ja doch noch als schöner Abend entpup-pen. Auch wenn wir beide ausgetrickst wurden.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob das gut ist.“ Alison rümpfte die Nase. „Es wird kein Vergnügen sein, Cole triumphieren zu sehen.“

Er nahm ihren Spitzenschal vom Stuhl und grinste, als er ihn ihr um die Schultern legte. „Wir müssen ihm ja keine Einzelheiten berichten.“ Nachdem er ihr ihre Handtasche gegeben hatte, führte er sie zum Aus-gang.

„Das habe ich auch nicht vor, da kannst du dir sicher sein.“„Kann ich dich dann zu einem kleinen Umweg und einem Nachtisch

überreden?“ Er stieß die Tür auf und sie schlenderten zu seinem Wagen. „Ich war seit Jahren nicht mehr bei Ted Drewes, und irgendwie fühlt es sich gar nicht an, als wäre ich zu Hause, bevor ich nicht dort ein Erdbeer-eis gegessen habe.“

Alison warf ihm einen skeptischen Blick zu, als er den kultigen Eisstand erwähnte. „Hat Cole dir gesagt, dass ich Ted Drewes mag?“

„Nein, das war meine Idee. Das heißt, du magst Joghurteis?“Ihre Miene entspannte sich. „Mag das nicht jeder? Okay, ich bin dabei.“Nachdem er dafür gesorgt hatte, dass sie es auf dem Beifahrersitz be-

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quem hatte, zog Mitch seine Jacke aus und ging grinsend um den Wagen herum.

Also, das nannte er eine Verabredung.Eine echte.Und wenn alles gut lief, war es vielleicht die erste von vielen.

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In den Leseproben enthalten:

ISBN 978-3-86827-390-8 ISBN 978-3-86827-391-5 ISBN 978-3-86827-392-2

ISBN 978-3-86827-395-3 ISBN 978-3-86827-396-0 ISBN 978-3-86827-397-7


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