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Leseprobe aus · Michel Houellebecq war schon damals der bekannteste und umstrittenste...

Date post: 19-Oct-2020
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Leseprobe aus: ISBN: 978-3-7371-0017-5 Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.
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Leseprobe aus:

ISBN: 978-3-7371-0017-5Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

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Julia Encke

Wer ist Michel Houellebecq?Porträt eines Provokateurs

Rowohlt · Berlin

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1. Auflage Januar 2018Copyright © 2018 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Satz DTL Documenta PostScript (InDesign) beiDörlemann Satz, Lemförde

Druck und Bindung CPI books GmbH, Leck, GermanyISBN 978 3 7371 0017 5

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Inhalt

VorwortWas wir nicht wissenDer SchriftstellerDer ProvokateurDer RomantikerDer GewinnerDer VisionärNachwortAnhang

LiteraturDankBildnachweis

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VorwortIm Frühjahr 2007 las ich in einer französischen Tageszei-tung, ich weiß nicht mehr, ob es «Le Monde» oder «Libéra-tion» war, dass der französische Schriftsteller Michel Hou-ellebecq im südspanischen Ferienort Benidorm seinen Ro-man «Die Möglichkeit einer Insel» verfilmte. Ich hatte ir-gendwann einmal Fotos von der Küste dort gesehen, vonden Betonklötzen, die eng nebeneinanderstanden, von denhässlichen Urlaubersilos, alle direkt am Meer. Dass MichelHouellebecq sich diesen Ort ausgesucht hatte, leuchtetemir sofort ein. Benidorm musste für ihn die schönste Tou-ristenhölle sein; ein Ort, den er sich für seinen Roman nichtbesser hätte ausdenken können. Mir fiel der Fernsehkomi-ker in «Die Möglichkeit einer Insel» ein, der sein Unter-haltungstalent in einem All-inclusive-Ferienclub bei einemZwischenfall am Buffet entdeckt und sich ausdenkt, wie dieWürstchenknappheit beim Frühstück eine blutige Ferien-clubrevolte auslöst. Die Dreharbeiten dazu stellte ich mirvielversprechend vor. Ich suchte im Internet die Produkti-onsfirma des Films heraus und schrieb an den Produzen-ten Éric Altmayer, ob ich nicht kommen dürfe, um zuzuse-hen – einen Tag, viel lieber noch eine ganze Woche. Über-raschenderweise antwortete Altmayer gleich am nächstenMorgen. Kein Problem, ich solle einfach losfahren. Adres-se: Gran Hotel Bali, Calle Luis Prendes 4, 03502 Benidorm,Spanien.

Michel Houellebecq war schon damals der bekanntesteund umstrittenste Schriftsteller Frankreichs. Und so wun-derte ich mich, dass es möglich sein sollte, ihn ohne lan-ge Voranmeldung bei seinen Dreharbeiten zu beobachten.Auch vermutete ich vor Ort noch eine Reihe anderer Jour-nalisten, aber als ich in Benidorm im Hotel eintraf, warüberraschenderweise sonst keiner da. Ich sehe noch vor

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mir, wie Houellebecq mit seinem Filmteam gerade dabeiwar, eine Szene am Hotelpool zu drehen. Er stand in einemgelben kurzärmligen Hemd und einer khakifarbenen Wes-te hinter der Kamera und murmelte seine «Action»-Anwei-sung in sich hinein, sodass der Assistent sie laut wiederho-len musste. Intuitiv hielt ich Abstand und wartete erst ein-mal ab. Das hatte einerseits damit zu tun, dass ich nichtstören wollte. Aber es war nicht nur das. Ich hatte den Ein-druck, dass, wenn ich mir ein Bild von Michel Houellebecqmachen und ihn und sein Werk besser verstehen wollte, ichgar nicht die direkte Nähe zu ihm suchen oder für die Zeit,die ich dort verbringen würde, Teil seines Teams werdensollte. Ich war mir sicher, dass er aus der Distanz besserzu erkennen sein würde als im unmittelbaren Kontakt. ImVerlauf der Woche kam es vor, dass wir zusammen an derBar saßen und rauchten. Aber die meiste Zeit, die ich mitihm und dem Filmteam in Benidorm verbrachte, blieb ichfür mich und sah einfach nur zu.

Dieses Widerspiel von Anziehung und dem gleichzeiti-gen Bedürfnis, Distanz zu wahren, hat mein Verhältnis zuMichel Houellebecq und seinem Werk von dem Moment angeprägt, als ich 1999 «Ausweitung der Kampfzone» las undin den Jahren darauf jeden seiner neu erschienenen Roma-ne. Tatsächlich gibt es für mich keinen Schriftsteller derGegenwart, der einen mit seinen Zukunftsvisionen, die vonder Gegenwart erzählen, so sehr herausfordert. Keinen, derdie sozioökonomischen Machtkämpfe der zeitgenössischenGesellschaft so unerbittlich und präzise beschreibt. Keinen,der die Literatur als Feld der Uneindeutigkeit so sehr aus-reizt und uns auf brüchigem Boden zurücklässt. Und dasalles mit dieser bewusst herausgearbeiteten Abwesenheitvon Stil, diesem Nicht-Stil der Sprache, der natürlich selbstein Stilphänomen ist.

«Ich habe weder etwas gegen diese oder jene Avantgar-de, noch bin ich gegen diese oder jene andere», hat Michel

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Houellebecq einmal in einem Interview gesagt. «Mir ist nurklar, dass ich mich durch die einfache Tatsache hervorhebe,dass ich mich weniger für die Sprache als für die Welt in-teressiere. Ich bin fasziniert von den bis dato unbekanntenErscheinungen der Welt, in der wir leben, und ich verstehenicht, wie es den anderen Dichtern gelingt, sich dem zu ent-ziehen: Leben sie denn alle auf dem Land? Jeder geht in denSupermarkt, liest Zeitschriften, jeder hat einen Fernseher,einen Anrufbeantworter … Es gelingt mir einfach nicht, die-sen Aspekt der Dinge hinter mir zu lassen, dieser Realitätzu entrinnen. Ich bin schrecklich zugänglich für die Welt,die mich umgibt.»1

Michel Houellebecq hat, seit seinen ersten Erfolgen mit«Ausweitung der Kampfzone» und «Elementarteilchen»,die Rolle des Provokateurs gesucht, wo immer sich eineÖffentlichkeit oder Halböffentlichkeit anbot. Das war zu-nächst die Rolle des «Dragueurs», die Selbststilisierung desvon Groupies umringten Schriftstellers. Es waren, nicht vielspäter, politische Provokationen wie die, der Islam sei «diebescheuertste Religion von allen». Dann folgte die Behaup-tung, die Prostitution abzuschaffen heiße, die Ehe unmög-lich zu machen. Ohne die Prostitution, die der Ehe als Kor-rektiv diene, werde die Ehe untergehen und mit ihr die Fa-milie und die gesamte Gesellschaft. Und eine Provokationlag auch in den Inszenierungen seines Körpers, wenn Hou-ellebecq eine Weile lang als scheinbar zahnloser Clochardauftrat und jedem Schönheitsideal der MediengesellschaftHohn zu sprechen schien.

Auf jede dieser Äußerungen folgte ein Aufschrei, ob inFrankreich oder hier in Deutschland. Die Zeitung «Le Mon-de» begann eine wahre Fehde gegen den Schriftsteller.Islamische Vereinigungen strengten Prozesse an. Reaktio-när, misogyn, islamophob, pornographisch  – Houellebec-qs Gegner stilisierten ihn zum Schreckgespenst. Jedes Malglaubte man dabei allerdings, den Autor, dessen Humor

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gerne unterschätzt wird, kichern zu hören. Denn im Grun-de genommen bedient sich Michel Houellebecq der Trickseines Taschenspielers. Durch seine öffentlichen Äußerun-gen, das will ich zeigen, verwischt er planmäßig die Grenzevon Figuren- und Autorenrede und gibt vor, die daraus re-sultierende allgemeine Aufregung nicht zu verstehen. Waser in Abrede stellt, ist eine Übereinkunft: nämlich die, dassLiteratur und öffentliche Rede zwei unterschiedliche Ortedes Sprechens sind, mit denen sich auch unterschiedlicheRegeln des Sprechens verbinden. Houellebecq spricht inder Öffentlichkeit nach den Maßgaben der Literatur. Genaudeshalb kann man seine Romane nicht lesen, ohne an denAutor zu denken, genau deshalb schleichen sich seine öf-fentlichen Äußerungen in die Lektüre seiner Bücher ein.

Auf welche politischen Aussagen lässt sich aber jemandfestlegen, der einräumt, dass es in seinen Büchern Stellengebe, aus denen man «radikal entgegengesetzte Schlüsse»ableiten könne? Wo steht Houellebecq politisch wirklich,und welche Rolle spielt das für seine Bücher? Ist es zuläs-sig, ihn als «Propheten» zu bezeichnen, wie das nicht we-nige machen, wenn man bedenkt, dass sein Roman «Unter-werfung» in Frankreich am Tag der Anschläge auf «Char-lie Hebdo» erschien? Wenn man weiß, dass er der «NewYork Times» ein Interview über «Plattform» gab, ein Inter-view, in dem der Journalist kritisierte, dass Houellebecq dieislamistische Gefahr überschätze – und das ausgerechnetam 11. September 2001 abgedruckt wurde? Inwiefern gehtes, wenn Houellebecq den Islam thematisiert, überhauptum diesen? Und wie kann es sein, dass ein Autor, der überso viele Jahre von allen möglichen Seiten angefeindet wor-den ist, für seinen Roman «Karte und Gebiet» dann plötz-lich doch den in Frankreich wichtigsten Literaturpreis, den«Prix Goncourt», gewinnt und mit einem Mal – zumindestvorübergehend – von allen geliebt wird?

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«Wer ist Michel Houellebecq?» Diese Frage möchte ichanhand meiner Begegnungen mit ihm, vor allem aber ent-lang seiner Werke, zu beantworten versuchen.

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Was wir nicht wissenSeit den Anfängen seines Erfolgs als Schriftsteller hat Mi-chel Houellebecq ziemlich viele Dinge gesagt, die man ihmnicht auf Anhieb glauben wollte. Das ironische Spiel – etwasvon sich zu erkennen zu geben und es bei nächster Gelegen-heit zu widerrufen – hat er perfektioniert. Das entsprichtseinem Humor. Es gibt aber einen Satz, den man ihm so-fort abnahm und der einen keine Sekunde lang auf die Ideebrachte, er könne Ausdruck seiner Koketterie sein: Wer sicheinen Reim auf ihn machen wolle, so Michel Houellebecq,der solle seine Bücher lesen, am besten in der Reihenfol-ge ihres Erscheinens. Sein Leben hingegen: eine denkbarschlechte Quelle.

Michel Houellebecqs Romane sind keine Geständnislite-ratur. Der Antrieb seines Schreibens ist kein autobiographi-scher. Das heißt nicht, dass es in seinem Werk keine auto-biographischen Bezüge gäbe. Es gibt sogar sehr viele – al-len voran die Tatsache, dass die Hauptfiguren seiner Roma-ne beinahe ausnahmslos Michel heißen und eine deutlicheÄhnlichkeit mit ihrem Erfinder haben. Dieser Autor achtetaber zugleich darauf, dass die Ähnlichkeiten nicht zu großwerden und immer genügend Spielraum für jene Ambigui-tät bleibt, die ihn an der Literatur interessiert. Literatur istfür ihn dazu da, Gewissheiten ins Wanken zu bringen, denZweifel zu nähren. Wie sehr ihm das gelingt, zeigt die Auf-regung, die jedes seiner Bücher auslöst.

Eine Ausnahme hat er allerdings gemacht. Oder er hatsich dazu hinreißen lassen, es auszuprobieren und etwasüber sein Leben festzuhalten, und zwar in Form eines Tage-buchs. Es sind nur ein paar Tage, einer im Februar – genau-er gesagt der 26. Februar 2005, der 47. Geburtstag von Mi-chel Houellebecq – und ein paar aufeinanderfolgende Au-gusttage im selben Jahr. Houellebecq hat gerade das Ma-

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nuskript seines Romans «Die Möglichkeit einer Insel» ab-geschlossen und an seinen Verleger geschickt. Hinter ihmliegt eine Zeit intensiver Arbeit, er weiß, dass ihm sein Le-ben jetzt leer vorkommen wird. Er ist überzeugt davon, ge-rade ein «Meisterwerk» abgeliefert zu haben, und ebensosicher, dass das, was er in diesem Moment zu schreibenbeginnt, keinerlei Bedeutung hat: «Ich halte nicht viel vonAutobiographien und von Tagebüchern kaum mehr; ich be-trachte sie als primitive Formen des Schaffens, mit denenman weder an die Wahrheit des Romans herankommt nochan den Grad reiner Emotion wie in der Dichtung.» Wenner sich dem nun trotzdem widme, dann nur, weil er geradeaußerstande sei, irgendetwas anderes zu tun. Im Übrigenwisse er auch jetzt schon, dass daraus kein Buch entstehenwerde.2

Und dann fängt er – am 20. August 2005 um drei Uhrmorgens – tatsächlich ganz von vorne an: «Ich bin im Jahr1956 oder 1958 geboren», schreibt er, «ich weiß es nicht.Wahrscheinlicher ist 1958. Meine Mutter hat mir immer er-zählt, mein Geburtsjahr falsch angegeben zu haben, damitich, anstatt mit sechs, schon mit vier Jahren zur Schule ge-hen konnte. Sie war überzeugt davon, dass ich hochbegabtsei – weil ich mir mit drei Jahren anscheinend selbst dasLesen beigebracht habe. Als sie eines Abends nach Hausekam, war ich zu ihrer großen Überraschung dabei, in al-ler Ruhe Zeitung zu lesen.» Ob seine Mutter aber tatsäch-lich nur gute Absichten verfolgt habe, als sie das Datumfälschte, wisse er nicht. Sie sei immer eine Expertin daringewesen, die Dinge rückblickend so zu erzählen, dass siefür sie schmeichelhaft waren. «Ich erinnere mich, wie iches einmal – ziemlich schüchtern – gewagt habe, ihr vorzu-werfen, dass sie sich in den Jahren meiner Kindheit viel-leicht nicht genügend um mich gekümmert hätte, und wieich mir dann die Schilderung ihrer Jahre als Ärztin für Ar-me in La Réunion angehört habe, die sie in ein heroisches

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Licht setzte. Ging es nach ihr, war sie eine Art Mutter Te-resa der Medizin, die niemals zögerte, sogar mitten in derNacht aufzustehen, um einer schwarzen Frau in einer verlo-renen Berghütte bei der Geburt zu helfen (es folgte die Be-schreibung des vom Sturm zerfurchten Wegs, der mit demLandrover gestreiften Abhänge). Tatsächlich, wie ich spä-ter erfahren musste, arbeitete sie vor allem als Vertretungund nahm sechs Monate Urlaub im Jahr.» Es sei also gutmöglich, dass sie ihn zwei Jahre älter gemacht habe, um ihneinfach schneller loszuwerden.3

Die Sache mit der Hochbegabung hat Michel Houelle-becq aber gefallen. Er erinnert sich daran, wie er in derSchule einen Intelligenztest machen musste und begeistertfeststellte, einen IQ von mehr als 140 zu haben. Er suchtedaraufhin noch nach anderen Tests, um 150 zu erreichen,was, so Houellebecq, rückblickend etwas armselig erschei-ne, ihm aber auch bewusst mache, dass er von seinem fünf-zehnten Lebensjahr an versucht habe, sich als Persönlich-keit zu entwerfen: als ein Überlegener; jemand, der sichschwebend in den hohen Sphären der Welt der Gedankenbewegt. Zugleich, schreibt er, sei er in der Gesellschaft an-derer und vor allem im Umgang mit Mädchen schrecklichverhaltensgestört gewesen und habe unter entsetzlichenkörperlichen Komplexen gelitten, obwohl es dazu eigentlichgar keinen Grund gegeben habe. Erst kürzlich habe er einaltes Foto gefunden, auf dem er in der Mitte einer Gruppevon Jungen und Mädchen zu sehen sei. Es war beinahe einSchock für ihn, festzustellen, dass er auf diesem Bild der an-ziehendste Junge von allen war: «Offen gestanden finde ichmich selbst umwerfend.» Wirklich komisch (oder eben tra-gisch) sei eben nur, dass er es jetzt, im Jahr 2005, geschaffthabe, zu der Person zu werden, für die er sich damals hielt:Auf neuen Fotos sehe er in den allermeisten Fällen tatsäch-lich grauenhaft aus; seine intellektuellen Fähigkeiten dage-gen hätten Früchte getragen und aus ihm – «unnötig, da

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irgendeine falsche Bescheidenheit vorzuspielen – einen derwichtigsten Schriftsteller meiner Generation» gemacht.4

Schon früh hat Michel Houellebecq versucht, sich als Persön-lichkeit zu entwerfen.

Nur eine Sache hätte er damals schon richtig wahrge-nommen, etwas, das bis heute geblieben sei: «meine un-glaubliche, anormale Empfindlichkeit; meine unkontrollier-bare Emotionalität; meine erschütternde Verletzlichkeit».Er müsse hier noch einmal auf seine Mutter zurückkom-men, ein letztes Mal. Es klinge hart, aber als er ein Babygewesen sei, habe seine Mutter ihn nicht genug liebkostund gestreichelt. Sie sei einfach nicht zärtlich gewesen, dassei alles und erkläre den Rest. Heute noch leide er furcht-bar, wenn eine Frau sich weigere, ihn zu streicheln, undzwar so sehr, dass er lieber auf jeden Versuch der Verfüh-

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rung verzichte, als sich dem auszusetzen: «In diesen Mo-menten glaube ich zu sterben, wirklich ausgelöscht zu wer-den.» Und er wisse, so schreibt er (und das klingt dann tat-sächlich sehr pathetisch), dass er bis zu seinem Tod «einganz kleines zurückgelassenes Kind» bleiben werde, «das,hungrig nach Zärtlichkeit, vor Angst und Kälte schreit».5

So beginnt der autobiographische Versuch von Michel Hou-ellebecq im Jahr 2005  – und die heiklen Punkte werdenschnell benannt: das Geburtsdatum, der Name und, vor al-lem, die Mutter. Michel Houellebecq, das scheint verbürgt,wurde als Michel Thomas am 26. Februar 1958 auf der In-sel La Réunion geboren. Seine Mutter, Janine Ceccaldi, ar-beitete dort als Ärztin, sein Vater, René Thomas, war Berg-führer. Er ist kein halbes Jahr alt, da brechen die Eltern zueiner Afrikareise auf, während der das Baby bei der Groß-mutter väterlicherseits im Pariser Vorort Clamart unterge-bracht wird. Als sie von der Reise zurückkehren, trennensich die Eltern, die Mutter geht zurück nach La Réunion (siebekommt dort ein zweites Kind von einem anderen Mann);der Vater zieht nach Frankreich – und Michels Großelternmütterlicherseits holen den Jungen zu sich nach Algerien.So wächst Michel Thomas in Algier auf, bis das Land 1962unabhängig wird und die Mutter des Vaters ihn in Frank-reich wieder bei sich aufnimmt. Sie wird zum wichtigstenMenschen in Michels Kindheit: Henriette Houellebecq lau-tet ihr Mädchenname, den Michel 1978 anzunehmen be-schließt. Es ist ein seltener und aufgrund des «elle»-Lautesweiblich klingender Name; ein Name, den der von Houel-lebecq verehrte französische Oulipo-Schriftsteller GeorgesPerec in einem Wortspiel sicher in «Où est le bec» trans-formiert hätte, wie Michels Freund Yan Céh einmal speku-lierte.6 Wobei «bec» ja vieles zugleich bedeuten kann: dieSpitze einer Feder, das Mundstück eines Instruments, derSchnabel eines Vogels.

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Er habe gestern Abend ein paar Seiten einer Biographiegelesen, die ein Journalist namens Demonpion über ihn ge-schrieben habe und die nun erscheine, so Michel Houelle-becq weiter in seinem Tagebuch. Es gebe ein paar Dingein seinem Leben, die für ihn selbst ein Rätsel seien und dieaufzuklären er sich sehr wünsche. Zum Beispiel: «Warumwurde ich, als wir 1962 Algerien verließen, zu meiner Groß-mutter väterlicherseits (Houellebecq) geschickt, anstatt beimeiner Großmutter mütterlicherseits zu bleiben (Ceccal-di)? Wenige Menschen wissen das. Die Seiten der Biogra-phie, die ich im Internet gelesen habe, zeigen aber ganzklar, dass Demonpion für seine Angaben über jene Jahre nureine einzige Quelle gefunden hat: meine Mutter, die allenGrund hat, zu lügen, um ihre wahren Beweggründe zu ka-schieren.»

Und da ist plötzlich klar, was ihn antreibt; warum er die-sen autobiographischen Versuch tatsächlich unternimmt:Michel Houellebecq sieht sich, angesichts der in jenen Ta-gen erscheinenden Darstellung seines Lebens außerstan-de, etwas anderes zu tun, als auf diese zu reagieren. Erwill dem Journalisten Demonpion nicht das Feld überlas-sen und nicht die Deutungshoheit über sein Leben. Wennder Biograph bei der Beantwortung der Frage «Wer ist Mi-chel Houellebecq?» als eine der wichtigsten Quellen Hou-ellebecqs Mutter anführt, dann kommt dem Sohn das wieeine Aufforderung vor, sich zu wehren und ihren Aussagen«seine Version des Spiels» entgegenzusetzen. Ein Kampfwird ausgetragen. Und diesem Kampf verdanken wir denautobiographischen Text eines Autors, der eigentlich derMeinung ist, sein Leben helfe nicht weiter, wenn man her-ausfinden wolle, wer er sei.

Allerdings ist es nicht so, dass die Biographie von Denis De-monpion, die ein Jahr später unter dem Titel «Michel Hou-

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ellebecq. Die unautorisierte Biografie» im Verlag Schwarz-kopf & Schwarzkopf auch auf Deutsch erscheint, für denSchriftsteller überraschend kommt. Er wusste im Vorfelddavon, denn Demonpion, der bei der Wochenzeitschrift «LePoint» arbeitete, hatte ihn kontaktiert, was den Schriftstel-ler kurzzeitig auf die Idee brachte, einfach selbst eine Auto-biographie zu schreiben, damit alle Fragen ein für alle Malgeklärt seien. Dann aber, so Houellebecq, hatte er einenEinfall, den er noch viel hinreißender fand: Er würde De-monpion die Biographie recherchieren und schreiben las-sen, der könnte ihm dann das Manuskript schicken, sobaldes fertig sei. Er würde es lesen und dem Ganzen seine Fuß-noten hinzufügen. So würde er in keiner Weise in den Texteingreifen, und Demonpion könnte ihm im Gegenzug seinenganzen Respekt erweisen, indem er ihm bei den Kommenta-ren in den Fußnoten freie Hand ließe. Houellebecqs Lektorbeim Verlag Flammarion, Raphaël Sorin, schaltete sich ein.Er schrieb Demonpion eine E-Mail, in der er ihm den Vor-schlag genauer erklärte. Der Biograph hatte gesagt, dasser Michel Houellebecq unbedingt treffen wolle; der wieder-um antwortete, er würde nur einwilligen, wenn Demonpi-on den Vorschlag annähme. «Er überlegte und lehnte ab;ich finde, dass das schade ist.»7 Anschließend habe er dasInteresse an «Demorpions» Projekt verloren (Houellebecqschreibt den Namen des Biographen, den er zwischendurchgern auch mal nur «diesen Menschen» nennt, von nun anabsichtlich falsch: «morpion» heißt auf Französisch Filz-laus). Er habe ihm keine Steine in den Weg gelegt. WennLeute ihn, Houellebecq, gefragt hätten, ob sie DemonpionAuskunft geben sollten, dann habe er sie gebeten, es nichtzu tun. Aber von sich aus habe er nichts gegen ihn unter-nommen.

Denis Demonpions Biographie ist ein aufdringlichesund im Tonfall unangenehmes Enthüllungsbuch: «Mit sei-nem kränklich anmutenden Erscheinen, das vor Angriffen

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schützt, gefällt sich Michel Houellebecq in hochmütiger Ge-heimnistuerei. Das vorliegende Buch will dieses Geheim-nis lüften.»8 Demonpions sogenannte Enthüllung fängt mitdem Namen an: «Die auffälligste Manipulation besteht inder Änderung seines Familiennamens: Die Tatsache, dasser den Namen seiner Großmutter väterlicherseits annimmt,anstelle des eigenen, war für mich Anlass zur Verwun-derung.» Es geht beim Geburtsjahr weiter, das Demonpi-on unverständlicherweise noch einmal verdreht: «Houelle-becq ist nicht 1958 geboren, das Geburtsdatum, zu dessenVerbreitung er selbst beigetragen hat, sondern bereits zweiJahre früher.»9 Und es betrifft auch die Mutter, die keines-wegs tot sei, wie der Schriftsteller einmal behauptete, weilsie nach der Auseinandersetzung bei ihrer letzten Begeg-nung für ihn tatsächlich gestorben war. Sie gab dem Bio-graphen an ihrem Wohnort La Réunion sogar ein Interview.

Neuer Name, neues Geburtsdatum, neue Familienge-schichte  – Demonpion empört sich: «Michel Houellebecqkonstruiert sein Leben wie seine Romane – sorgfältig, flei-ßig und methodisch.» Er sei keineswegs der bemitleidens-werte Antiheld, als der er sich ausgebe, sondern ein versier-ter Medienprofi, der Informationen über seine Person be-wusst lanciere. Warum auch nicht, möchte man entgegnen.Wenn Thomas Pynchon sich seit 1963 von der Öffentlichkeitabschottet, wirft ihm dies ja auch niemand vor. Demonpi-on aber schäumt vor Empörung. Er schildert eine Szene, inder Michel Houellebecq eines Abends zusammen mit einemFreund, dem Schriftsteller Frédéric Beigbeder, in dessenWohnung sitzt und beide sich leicht angetrunken darüberunterhalten, wie sie sich als Teenager auf Partys Körbe ein-fingen. Als sie das Lied «Nights in White Satin» hören, be-ginnt Houellebecq auf einmal zu weinen: «Sie haben alleSlow getanzt und ich war ganz allein», erinnert er sich. «Soheult er sich aus in den Alkoholdünsten und der unglückli-chen Erinnerung an die Partys der Teenagerzeit», lästert

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Demonpion. Er teilt Einzelheiten über Houellebecqs Ver-dauung als Baby mit. Ist Houellebecq einmal verliebt, ge-steht Demonpion ihm dies allenfalls in Anführungszeichenzu, als «Verliebtheit». Auch den Mord an einem Kanarien-vogel wirft er ihm vor – als hätte nicht selbst Heinrich Hei-ne einmal aus Eifersucht einen Papagei getötet. Stets un-terstellt er Houellebecq die niedersten Beweggründe, dochletztlich mit wenig Wirkung: «Demonpion will beweisen,was für ein schlechter Mensch Michel Houellebecq ist, unddiskreditiert dadurch nur sich selbst.»10 Beim Lesen miss-traut man bald jeder Zeile dieses Buches, das Michel Hou-ellebecqs Leben in allen psychologischen Winkelzügen undDetails rekonstruiert. Dabei sind durchaus auch interessan-te und Erkenntnis stiftende Gesprächsprotokolle von Weg-gefährten darunter, die sehr zuverlässig erscheinen. Dochsetzt der Grundton sie oft in ein schlechtes Licht.

Vielleicht hätte den Schriftsteller das alles nicht weitergestört. Vielleicht hätte er sogar Spaß an den Ungenauig-keiten und Fehlern gehabt, die in der Biographie zu findensind und die das Verwirrspiel um seine Person nur weiterantrieben. Aber dass die Worte der Mutter unwiderspro-chen zur Geltung kamen, änderte alles. Es brachte ihn sosehr auf, dass er gleich auch allen anderen, die Demon-pion Auskunft gegeben hatten (er ließ sich die Liste derrund 130 in der Danksagung genannten Namen von jeman-dem am Telefon vorlesen, der das Buch bereits hatte), dieFreundschaft aufkündigen wollte: «Alle meine Freunde ha-ben mich betrogen. Fast alle», schreibt er. Er wolle eine pri-vate Untersuchung starten, wen der Biograph zu Recht ge-nannt habe und wen zu Unrecht. «Keine meiner Liebschaf-ten hat mich verraten. Absolut keine», fügt er noch erleich-tert hinzu. «Keine der Frauen, mit denen ich im Laufe mei-nes Lebens eine Liebesbeziehung gehabt habe (nicht ein-mal dann, wenn die Beziehung schlecht ausgegangen ist,wenn es schreckliche Momente gegeben hat, haben sie ein-

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gewilligt und sich ihm mitgeteilt). (…) Sie haben es nichtgetan. Es gehört uns.»11

Michel Houellebecq schloss 1978 sein Studium derAgrarwissenschaft ab, das er zusammen mit einem Freund,dem heutigen Künstler und Schriftsteller Pierre Lamalattie,begonnen hatte (schon damals im grünen Parka, der späterzu seinem Markenzeichen werden sollte, wie der Freundsich erinnert; schon damals mit der Eigenart, seine Rededurch langes Schweigen zu unterbrechen und nur ab undzu ein «hum?» oder «oui?» einzuwerfen).12 Michel sei inder Studienzeit weder politisch rechts noch links, wedergläubig noch sportlich gewesen, so Lamalattie. Er habe ei-ne Literaturzeitschrift mitgegründet, «Karamazov», in derer unter verschiedenen Pseudonymen schrieb. Und er ha-be einen Film mit dem Titel «Cristal de souffrance» («Kris-tall des Leidens») gedreht, denn das Kino interessierte ihnals Kunstform zu diesem Zeitpunkt fast mehr als die Lite-ratur.13 Nach seinem Abschluss als Landwirtschaftsinge-nieur bewarb er sich mit Erfolg um einen Studienplatz inder Sektion für Film der «École nationale supérieure Lou-is-Lumière», die er jedoch 1981 verließ, weil er kein Geldmehr hatte14: «Ich mochte Murnau und Dreyer sehr; ichmochte auch all das, was man den deutschen Expressionis-mus genannt hat – auch wenn der wichtigste bildliche Be-zugspunkt dieser Filme wahrscheinlich mehr die Romantikals der Expressionismus ist. Sie studieren die Faszinationder Reglosigkeit, die ich versucht habe, in Bilder, später inWorte umzusetzen.»15 1980 heiratet er, ein Jahr später wirdsein Sohn Étienne geboren. Die Ehe hält nicht lange, Mi-chel Houellebecq leidet unter Depressionen und begibt sichin Behandlung. Als Informatiker nimmt er 1983 eine Stelleim Beratungsunternehmen Unilog an, wechselt aber baldins französische Landwirtschaftsministerium. Seine zweiteFrau, Marie-Pierre Gauthier, lernt er im Büro des VerlagsLa Différence kennen, wo sie arbeitet. Ab 1991 sind sie of-

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fiziell ein Paar und heiraten sieben Jahre später, zwei Mo-nate vor Erscheinen des Romans «Elementarteilchen».

Michel Houellebecq im September 1995, ein Jahr nach Erschei-nen von «Ausweitung der Kampfzone» in Frankreich.

Auslöser seiner Wut über Demonpions Biographie ist dievon der Mutter kolportierte Version ihrer letzten Begeg-

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nung, die ebenfalls im Jahr 1991 stattfand. Die Mutter istzu Besuch in Paris, gemeinsam mit Houellebecqs Sohn Éti-enne kommt es zu einem Treffen. Janine Ceccaldi erinnertsich – Demonpion zufolge – an diese Begegnung so: «Ichwollte sie zu einem guten Essen einladen, am liebsten thai-ländisch, das mögen wir gerne. Aber sie bestanden auf Mc-Donald’s, wo ich also mit ihnen hingegangen bin. Ich habenichts gegessen, aber das Essen bezahlt. (…) Wie immerhat Michel nur von sich erzählt. An dem Tag wollte er unbe-dingt wissen, wie es seiner Nénenne ging, seinem Kinder-mädchen, für das er sich bis dahin niemals interessiert hat-te. Dann sprachen wir über seine kurz zurückliegende Er-fahrung mit der Exhumierung der toten Großmutter. In An-betracht meines Alters und seiner Verantwortung, sich dar-um zu kümmern, wenn ich einmal sterben sollte, teilte ichihm meinen letzten Willen mit. Ich erzählte ihm von meinemWunsch, bei meinem Vater in Algerien beigesetzt zu wer-den, dort ist ein Platz frei und die Toten werden nicht behel-ligt. Das gefiel ihm offenbar gar nicht. Wir kamen darüberauf den Golfkrieg zu sprechen, ein Ereignis, das mich zu-tiefst erschüttert hat. Und zu meiner großen Überraschungerhob sich mein Michel, der niemals Interesse für irgend-etwas außer sich selbst gezeigt hat, vor allem nicht für ir-gendetwas Politisches, plötzlich zum unerbittlichen Inqui-sitor.» Er habe sich aufgeregt, auf die Araber geflucht, dieSchwarzen, «diese Primitiven». «Mein Sohn war bis dahinein friedlicher und gleichgültiger Mensch, der schrieb unddessen einzige Sorge es war, auf Kosten verschiedener Per-sonen zu leben. Er war freundlich, höflich, liebenswürdigund sogar recht liebevoll. Urplötzlich treffe ich ihn als ultra-rechten Fanatiker wieder, der sagt, dass man die Kanakenplattmachen müsse.» Das sei alles wegen ihrer «bescheu-erten Religion», habe er gesagt, woraufhin ihr Enkel auf-gestanden sei und zu ihm gesagt habe: «Papa, es ist nicht

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gut, schlecht über die Religion zu reden.» Janine Ceccaldikommentiert: «Sympathisch, der Enkel.»16

Michel Houellebecq will und kann das so nicht stehenlas-sen. Sein autobiographisches Fragment liest sich wie eineRichtigstellung aus gegebenem Anlass, wie eine Korrektur:Ihr letztes Treffen habe tatsächlich zusammen mit seinemSohn stattgefunden, und sie hätten auch über den erstenGolfkrieg gestritten, wobei «meine Mutter Saddam Husseinwie wild verteidigte», schreibt er. «Es war nur so, dass meinSohn die Position der Amerikaner vertrat und nicht ich, unddass es in Wirklichkeit ihre Unterhaltung war, die, als sieschärfer wurde, zum Bruch führte.» Ihr «sympathisch, derEnkel» habe ihm beinahe ein Lächeln abgetrotzt, oder bes-ser: ein krampfhaftes Lachen. Wie unbeugsam proamerika-nisch sein Sohn war, habe auch er erst in diesem Gesprächbegriffen. «Er hatte nachgedacht und für sich allein einesehr umfassende Argumentation entwickelt. Er war ja erstzehn Jahre alt und hielt der Alten, ohne schwach zu wer-den, stand. Es kann sein, dass ich am Ende etwas Öl insFeuer gegossen habe, mit ein paar anti-islamischen Belei-digungen, aber das war überflüssig, es war schon heftig ge-nug, ohne dass ich mich einmischte. Im Grunde erinnere ichmich nicht gut daran, was ich gesagt haben kann. Woranich mich aber sehr gut erinnere, ist, immer deutlicher ge-spürt zu haben, wie von Minute zu Minute meine Hoffnungwuchs, dass dieser unvorhergesehene Streit zu einem un-verhofften Ergebnis führen könnte: dass er nämlich die Vor-aussetzungen für den endgültigen Bruch zwischen mir undmeiner Mutter schaffen und damit auch ihren Besuchen ingroßen Abständen (einmal im Jahr, wenn überhaupt) ein En-de machen würde, deren Notwendigkeit ich immer wenigerverstand, weil auf der Hand lag, dass sie meine Frau hasste,sich in keiner Weise für ihren Enkel interessierte und dieBeziehung zwischen ihr und mir aus einer Mischung vonUnausgesprochenem und Wut bestand, die keine Chance

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hatten, zerstreut zu werden.» Als er mit seinem Sohn auf-stand, um zu gehen, habe er gewusst, dass er seine Mutternie wiedersehen würde – «ich zitterte vor Freude».17

So waren zwei Versionen einer Geschichte in der Welt undeine Menge weiterer Gerüchte, die sich um diese Versionenrankten. Wie immer, wenn es Gerede gibt, blieb davon et-was hängen und wurde in der Presse weitergetragen. Alsder Schriftsteller Salman Rushdie zehn Jahre später für Mi-chel Houellebecq Partei ergriff, der nach Erscheinen seinesRomans «Plattform» im Sommer 2001 in einem Interviewmit der Zeitschrift «Lire» den Islam «die bescheuertste Re-ligion von allen» genannt hatte, wurde er zum Opfer die-ser Gerüchteküche. Michel Houellebecq, so Rushdie, hei-ße in Wirklichkeit Michel Thomas. «Er nahm den Mädchen-namen seiner Mutter an, nachdem diese einen Muslim hei-ratete und zum Islam übertrat. In unserem Zeitalter desPersonenkults, wo als unerschütterliche Wahrheit gilt, dassdas Leben eines Schriftstellers den Schlüssel zu seinen Ro-manen enthält, wo die Fiktionalität der Fiktion regelmäßigignoriert wird und wo Romane als Wirklichkeit in Verklei-dung gelten, wird dieses Detail aus Houellebecqs Leben beivielen ein lautes ‹Aha!› hervorrufen oder schon hervorge-rufen haben.»18 So ging Rushdie, ohne es zu wollen, in dieFalle.

Michel Houellebecq hat den Fehler richtiggestellt, aller-dings ohne ihn Salman Rushdie anzulasten. Er habe schonin der französischen Presse lesen können, dass seine Mut-ter zum Islam konvertiert sei. Die englische Presse habedem dann offenbar noch ein knuspriges Detail hinzugefügt,nämlich dass seine Mutter einen Muslim geheiratet habe.«Nichts von alldem ist wahr. Meine Mutter hat in ihremLeben viel Unsinn gemacht, aber das nicht. Die englischePresse hat sich auch ausgedacht, dass ich als ‹Pseudonym›den Namen meiner Mutter gewählt habe. Houellebecq war

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der Name meiner Großmutter väterlicherseits, die meineMutter hasste.» Salman Rushdie treffe aber keine Schuld.Er wird es in der Presse gelesen haben. Wie Houellebecqselbst gehöre er der Generation an, die sich nicht von demGedanken lösen könne, dass das, was in der Zeitung stehe,wahr sei; ihm gehe das auch immer noch so.19

Es gibt in Michel Houellebecqs Werk, gerade zu Beginn sei-ner schriftstellerischen Laufbahn, eine Reihe von Büchern,die dem Leser eine autobiographische Lesart geradezu auf-zudrängen scheinen. Dazu gehört schon «Rester vivant»,«Lebendig bleiben», das 1991 als einer seiner ersten Texteveröffentlicht wurde. Denn bereits in diesem kleinen Buchtaucht eine Figur namens «Michel» auf. Schon hier legtder Autor also die autobiographischen Häppchen wie Köderaus, an denen sich seine Leser, so sie es denn möchten, sattessen dürfen. Er tut das, indem er den «Michel» im Textdem echten Michel ähnlich sehen lässt oder die Erzählungso anlegt, dass mit dem einen zugleich auch der andere ge-meint sein könnte: «Michel ist fünfzehn. Kein Mädchen hatihn bisher je geküsst. Er würde gern mit Sylvie tanzen; aberSylvie tanzt mit Patrice, und ganz offensichtlich macht ihrdas Spaß», heißt es gleich zu Beginn. «Er ist gelähmt; dieMusik durchdringt ihn bis in sein Innerstes. Ein traumhaf-ter Slow von unwirklicher Schönheit. Er hat nicht gewusst,dass man derart leiden kann. Seine Kindheit ist bis zu die-sem Zeitpunkt glücklich gewesen.» Und in diesem Ton gehtes weiter: «Michel wird nie den Kontrast zwischen seinemim Leid erstarrten Herzen und der erschütternden Schön-heit der Musik vergessen. Seine Sensibilität ist dabei, sichzu entwickeln.»20 «Ein Leitfaden» heißt der Untertitel desBuchs. «Lebendig bleiben» erzählt von den Verletzungen,aus denen Literatur entsteht; das Beispiel von «Michel» isteines von vielen.

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Ob das Buch so konzipiert sei wie Rainer Maria Rilkes«Brief an einen jungen Dichter», wurde Houellebecq ein-mal gefragt. Ja, sagte der, aber näher dran sei man wohlmit Baudelaires «Ratschlägen an junge Literaten», weil Ril-ke, als er den «Brief» schrieb, schon ein erfahrener Dichtergewesen sei, während Baudelaire, als er seine «Ratschlä-ge» erteilte, noch nichts publiziert hatte. Es handelt sichum einen poetologischen Text, was man aber erst auf denzweiten Blick realisiert. Auf den ersten denkt man bei «Mi-chel» selbstverständlich an Michel Houellebecq und ist so-fort versucht, das, was man über diesen erfährt, mit denzwei oder drei Dingen abzugleichen, die man über Houel-lebecqs Leben weiß.

Das gilt auch für «Ausweitung der Kampfzone», seinenersten Roman. Der Ich-Erzähler ist hier ein mittlerer An-gestellter bei einer Software-Firma, der Dienststellen desLandwirtschaftsministeriums mit einem neuentwickeltenComputerprogramm vertraut machen soll. «Am Freitag-abend war ich bei einem Arbeitskollegen eingeladen. Unge-fähr dreißig Leute, alles mittlere Führungskräfte, fünfund-zwanzig bis vierzig Jahre alt», heißt der erste Satz des Ro-mans.21 Und in der Angestelltenwelt ist dieses Buch dannauch zu Hause: «Lange bevor das Wort in Mode kam, hatmeine Firma eine regelrechte ‹Unternehmenskultur› entwi-ckelt (Schaffung eines Logos, Verteilung von Sweat-Shirtsan die Angestellten, Motivationsseminare in der Türkei).»Der Ich-Erzähler im Bürokosmos stellt sich als Experte inder Analyse von Gruppendynamiken und Hierarchien her-aus: «Die Gruppe besteht aus gut fünfzehn Personen; vorallem Sekretärinnen und mittlere Führungskräfte, vermut-lich Techniker. Sie sehen nicht sonderlich bösartig aus,aber auch nicht so, als würde die Informatik sie groß in-teressieren. (…) Ich bemerke sofort, von wo Gefahr droht:von einem ziemlich jungen, großgewachsenen, schlankenund wendigen Typ mit Brille. Er sitzt ganz hinten, wie um

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die anderen zu überwachen; ich nenne ihn insgeheim ‹dieSchlange›, aber schon während der Kaffeepause stellt ersich mit dem Namen Schnäbele vor. Er ist der künftigeChef der gerade entstehenden Informatikabteilung, und erscheint sehr zufrieden damit.»22 Wie sollte man da nicht anden sechsunddreißigjährigen Computerspezialisten Houel-lebecq denken, ehemals angestellt bei einer IT- und Consul-tingfirma mit ausgeprägter Unternehmenskultur, bei derNationalversammlung und beim Landwirtschaftsministeri-um? Lag es nicht nahe, dass er seine Erfahrungen in denAngestelltenbüros der Firma und der Behörde in den Ro-man hatte einfließen lassen?

Diese offensiv ausgelegten Spuren, die auf sein eigenesLeben verweisen, gipfelten schließlich 1998 in dem Roman,mit dem Michel Houellebecq berühmt wurde: «Elementar-teilchen». Da gab es eine Mutter, die ihre Söhne verließ,weil sie ihre sexuelle Freiheit ausleben wollte. Es gab eineJugend bei den Großeltern, das Leben als Angestellter, dieTage vor dem Computer, die Arbeitslosigkeit, die Depres-sion und die Psychiatrie.23 Vor allem aber hieß die egoisti-sche lieblose Roman-Mutter aus der Achtundsechziger-Ge-neration, die alles Mögliche tat, außer sich um die eigenenKinder zu kümmern, Janine Ceccaldi. Sie trug also den Na-men der Mutter des Schriftstellers Michel Houellebecq undschien auch sonst so manches mit ihr gemein zu haben.

Der Roman erzählte, dass sie im französischen Algerienaufgewachsen war, Medizin studiert und geheiratet hatte.«Das Paar führte, was man später eine moderne Ehe nen-nen sollte», hieß es, und «die mühselige Pflege, die das Auf-ziehen eines kleinen Kindes erfordert, erschien dem Paarsehr bald unvereinbar mit ihrem Ideal der persönlichenFreiheit». Einer der Söhne wurde zu den Großeltern nachAlgier geschickt. Michel, dem mit einem anderen Mann ge-zeugten zweiten Sohn, ging es nicht besser. Sein Vater fand«das kleine Wesen» auf dem Boden rutschend zwischen «ei-

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ner Pfütze aus Urin oder Exkrementen», brachte ihn beiseiner eigenen Mutter unter und war alsbald in Tibet ver-schollen. Am Ende des Romans trafen sich die beiden Söhneam Sterbebett der Mutter, wo der eine sie mit den Wortenbegrüßte: «Du bist eben eine alte Schlampe … Du verdienstes zu verrecken.»24

Die echte Janine Ceccaldi holte, nachdem ihr das Buch indie Hände gefallen war, zum Gegenschlag aus. Im Jahr 2008veröffentlichte sie unter dem Namen Lucie Ceccaldi, wiesie inzwischen genannt werden wollte, in Frankreich ihreAutobiographie mit dem Titel «L’Innocente», «Die Unschul-dige», der «Le Monde» die dritte Seite widmete (mehrereVerlage hatten das Buch vorher abgelehnt). In einer Vorbe-merkung an den Leser erklärte die damals Dreiundachtzig-jährige zwar, eine «Abrechnung» mit dem berühmten Sohnwerde es nicht geben.25 Doch teilte sie im Nachwort, dasder Verlag Scali zur Bedingung für die Veröffentlichung ge-macht hatte, dann kräftig aus: «Michel und ich werden wie-der miteinander reden, wenn er sich mit den ‹Elementar-teilchen› in der Hand öffentlich hinstellt und sagt: Ich binein Lügner (…) und bitte um Entschuldigung», konnte mandort lesen. «Mein Sohn soll zum Teufel gehen, mit wem erwill. (…) Ob er noch ein Buch schreibt, interessiert michnicht die Bohne. Aber falls er das Pech hat, noch einmalmeinen Namen auf irgendein Ding zu setzen, dann kriegter eine Krücke in die Zähne, so viel ist sicher!»26

Sich selbst präsentierte sie dagegen als eine schon im-mer bewundernswert unabhängige Frau, die es ebensoschwer hatte mit einer tyrannischen Mutter und einer en-gen bürgerlichen Moral im kolonialen Frankreich; die ger-ne Tänzerin geworden wäre, sich noch während des Pé-tain-Regimes bei den Kommunisten engagierte, die keineAngst vor Schlägereien hatte, Madagaskar und Indien be-reiste, sich beim Bergsteigen in einen Bergführer verliebteund diesen schon vor der Geburt des gemeinsamen Kindes,

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des späteren Michel Houellebecq, mit einem schönen Tau-cher auf La Réunion betrog, wo sie inzwischen eine Stelleangetreten hatte.27

Dieser Schlagabtausch, der Kampf um die Deutungsho-heit, führt nur zu deutlich vor Augen, wie sehr die auto-biographische Lesart der Werke von Michel Houellebecqtatsächlich ins Leere führt. Die Bezüge sind da, und natür-lich schöpft er schreibend aus dem Vollen. Bloß präsentierter, wie die Mutter feststellen muss, dabei zum einen im-mer nur eine Wahrheit, nämlich seine eigene. Zum ande-ren wählt er aus, verfremdet, übertreibt. Er fiktionalisiert;und erzeugt damit jenen Bedeutungsspielraum, mit dem erGewissheiten – und das heißt auch: biographische Gewiss-heiten – erschüttern will und den Zweifel nährt. Das Spielmit wiedererkennbaren Details, die auf das Leben oder diePerson des Autors verweisen, gehört somit zu seinen litera-rischen Verfahren. Die Ähnlichkeiten sind augenscheinlich,selbst wenn der Leser nur wenig über den Autor Houelle-becq weiß, so plakativ legt er sein Spiel an. Die biographi-sche Spur führt aber nie direkt zur Person des Autors, son-dern immer knapp an ihr vorbei.

Am Ende, darin ist er konsequent, erschüttert er auchdie Wahrheit seiner autobiographischen Notizen: «Mour-ir II», «Sterben II», heißt ein dem Tagebuch nachgeschobe-ner Text, der mit keinem Datum versehen ist und den Ein-druck erweckt, als sei er viele Jahre danach entstanden.Seine Tagebuchaufzeichnungen von damals aufs Neue zulesen, schreibt Houellebecq darin, habe ihm einige Sorgenbereitet. Wenn er in seinem Leben etwas hervorgebrachthabe, das in Anspruch nehmen wolle, ein «autobiographi-sches Fragment» zu sein, dann sei es nicht unwahrschein-lich, dass er einmal mehr Komödie gespielt haben könnte.Er hätte aber Schlimmeres erwartet: «Alles, was mich an-geht, meinen Vater, meine Mutter usw., ist fast ausnahms-los richtig. Wirklich entgleiten tun die Dinge dort, wo ich

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von mir spreche, allein von mir. Meine Selbstdarstellung alsarmes kleines Katzenbaby, das von seiner Mutter verlassenwurde, ist zwar sehr anrührend: Ich erkenne darin, nichtohne eine gewisse Verlegenheit, allerdings eine Strategie,mit der ich in meiner Jungend und sogar noch danach Mäd-chen angemacht habe. Das zog bei allen Mädchen, bei de-nen die Geschichte ein Gefühl der Mütterlichkeit auslöste:also ungefähr 98 Prozent aller Mädchen. Manchmal klapp-te es sogar bei Dreizehnjährigen, die Hormone, es ist ver-rückt, wenn man daran denkt.»28

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Michel Houellebecq mit seinem Welsh Corgi Clément undseinem Freund Frédéric Beigbeder vor dem Restaurant«Drouant» in Paris.

So wischt er die Bedeutung dessen, was er im Jahr 2005notiert hatte und was unter dem unmittelbaren Eindruckder gerade erschienenen Biographie im Verdacht stand, imAffekt geschrieben worden zu sein, zumindest halb wieder

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weg. So arm dran sei er nun auch wieder nicht gewesen.Ein weiteres Mal beweist er damit seine eigene Unzuverläs-sigkeit, als wolle er seinen Lesern zuraunen: Misstraut mir,wie ich mir selbst misstraue. Man könne, fügt er noch hinzu,im strengen Sinn nicht einmal sagen, dass er gelogen habe,als er sich als armes vernachlässigtes Baby schilderte. DieWahrheit sei: Er wisse nichts, absolut gar nichts über dieJahre seiner frühesten Kindheit. Seine Mutter sei in seinenersten Lebensjahren sehr wahrscheinlich gar nicht anwe-send gewesen. Er habe den Eindruck, sie erst sehr viel spä-ter und eher zufällig kennengelernt zu haben. Eine Kinder-frau habe es gegeben; von Anfang an müsse es eine gege-ben haben, anders sei das gar nicht vorstellbar: «Wenn dieLiebe einmal da ist, kommt es kaum mehr oder gar nichtdarauf an, woher sie kommt.»29

Ist damit alles nur ein Verwirrspiel der Erzählinstanzen,mit dem er die Leser seiner Bücher in den Figuren ver-geblich deren Autor suchen lässt? Natürlich nicht. Es gehtum mehr, um weit mehr sogar. Michel Houellebecq legtes darauf an, die psychologische Lesart seiner Bücher insLeere laufen zu lassen. Doch bedeutet das nicht, dass dieKindheitserfahrungen und das Gefühl, insbesondere vonder Mutter verlassen worden zu sein, weil dieser ihr eige-nes esoterisches Projekt der Selbstfindung in Selbsterfah-rungskursen, spirituellen Camps und Sekten wichtiger warals ihr Sohn, in seinem Werk keine Rolle spielen. «Sie habenmich der Obhut meiner Großeltern überlassen, sodass ichsie während meiner Kindheit sehr selten gesehen habe. Ingewisser Weise waren sie die Vorreiter der anschließendengroßen Welle der familiären Auflösung», hat Michel Hou-ellebecq im April 1996 in einem Interview mit der franzö-sischen Zeitschrift «Les Inrockuptibles» über seine Elterngesagt und mit diesen Worten angedeutet, wofür die Erfah-rungen seiner Kindheit ein Motor waren. Denn Michel Hou-

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ellebecq schreibt in «Ausweitung der Kampfzone» und nochviel mehr in «Elementarteilchen» gegen etwas an: gegenden Mythos 1968.

Wenn das Jahr 1968 für viele «das große Gefühl» bedeu-tet, dann sicher nicht für Michel Houellebecq. Der deut-sche Publizist Klaus Hartung, der in den sechziger Jahrenim Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) war,später Redakteur bei der «taz» und der «Zeit», hat in ei-nem rückblickenden Jubiläumsartikel einmal hervorgeho-ben, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit Achtundsech-zig ohne Freude am Paradox kaum denkbar sei: «Die Listder Geschichte war mindestens so mächtig wie die Revolte:68 scheiterte an dem, was es wollte, und war erfolgreich mitdem, was es nicht wollte. Wir bekämpften die repräsenta-tive Demokratie und ernteten eine gestärkte repräsentati-ve Demokratie. Wir bekämpften den Staatsapparat und be-kamen eine liberale Staatsgewalt. Die obrigkeitshörige Be-amtenschaft und der Untertanengeist verschwanden. DieRevolte strapazierte  – und vitalisierte die formale Demo-kratie.» Daneben, so Hartung, habe es auch lineare Er-folgsgeschichten gegeben: «die Frauenbewegung oder dieVeränderung der Kindererziehung, die mit den Kinderlä-den begann»; die Veränderungen bei «Verhaltensnormen,Lebensformen, Bildung und Sozialpolitik». Ein buntes Ge-misch aus alternativer Kultur und Sozialstaat sei hier ent-standen. «Der Staat sollte Kreativität freisetzen, jugendli-che Delinquenten nur therapieren und Einzelfallgerechtig-keit herstellen; Ausländer retteten uns vor dem Deutsch-sein; Eltern versagten nicht, sondern brauchten finanzielleZuwendungen, Schuleschwänzen war keine Frage der Dis-ziplin, sondern der Therapie. Ein unübersehbarer Teppichvon Initiativen, Beratungen, Kommissionen, Forschungenbreitete sich aus.»30

Von Michel Houellebecq könnte ein solches Resümeeweiter nicht entfernt sein. Für ihn ist 1968 das womöglich

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erfolgreichste kapitalistische Projekt der Geschichte. Nichttrotz, sondern wegen Achtundsechzig sitze das kapitalisti-sche System heute fester im Sattel als jemals zuvor. Aufverbreiterter Geschäftsgrundlage wurde es leistungsfähi-ger durch Liberalisierung, attraktiver durch Entkrampfungder Lebensstile – ein immenser Legitimationsgewinn. Acht-undsechzig verstärkte massiv ohnehin ablaufende Indivi-dualisierungsprozesse, ohne die der Siegeszug der globa-len Unterhaltungsindustrie, von Bill Gates und Ben & Jer-ry’s nicht denkbar wäre. 1968, das ist die Einführung desMarktes in bisher ungeschützte Bereiche. Der Mai 1968, soMichel Houellebecq, habe nur dazu gedient, «die wenigenmoralischen Regeln zu brechen», die dem «gefräßigen Laufbis dahin noch im Wege standen», schreibt er in «Die Weltals Supermarkt».31

Statt also den Mythos Achtundsechzig und die damit ver-bundenen Erzählungen fortzuschreiben, hat Michel Hou-ellebecq von Beginn an «die sozial-darwinistische darkside der sogenannten Befreiungen und Bewusstseinser-weiterungen» zur Sprache gebracht: Suizide, Demütigun-gen, Konsumzwänge, Depressionen, Sarkasmen, Ausbeu-tungen.32 Und die Art und Weise, wie er dies tat, die Un-beugsamkeit, mit der er 1968 deutete, legte durchaus na-he, dass sie aus der untergründigen Wut seiner Lebenser-fahrung befeuert wurden. Er war mit dieser Perspektive,die die dunkle Seite des gesellschaftlichen Umbruchs inden Blick nahm, nicht allein. Frank Zappa hatte es vor ihmgemacht (mit dem Mothers-of-the-Invention-Album «We’reOnly in It for the Money» [1968] und dem berühmten In-terview mit der «East Village Other», das in Rolf DieterBrinkmann und Ralf-Rainer Rygullas «Acid. Neue amerika-nische Szene» nachzulesen ist). Oder der italienische Film-regisseur und Dichter Pier Paolo Pasolini. «Die KPI an dieJugend!» heißt eines seiner Gedichte, das 1968 in der Zeit-schrift «Nuovi Argomenti» erschien: «Die Journalisten aus

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aller Welt (mitsamt denen vom Fernsehen) lecken euch (wieman, glaube ich, immer noch sagt in der Sprache der Uni)den Arsch. Ich nicht, Freunde. Ihr habt Gesichter von Va-tersöhnchen. Die rechte Art schlägt immer durch. Ihr habtdenselben bösen Blick. Ihr seid furchtsam, unsicher, ver-zweifelt (ausgezeichnet!), aber ihr wisst auch, wie man ar-rogant, erpresserisch und sicher ist: kleinbürgerliche Vor-rechte, Freunde. Als ihr euch gestern in Valle Giulia geprü-gelt habt mit den Polizisten, hielt ich es mit den Polizisten!Weil die Polizisten Söhne von armen Leuten sind. Sie kom-men aus Randzonen, ländlichen oder städtischen. Was michangeht, so kenne ich sehr wohl die Weise, wie sie als Kin-der oder Jungen gelebt haben, die Weise, die kostbaren tau-send Lire, den Vater, auch er ein Junge geblieben wegendes Elends, das keine Autorität verleiht.»33

Michel Houellebecq hat nie aufgehört, die «Linksintel-lektuellen» zu beschimpfen und sie für ihre Ideologisierun-gen zu verachten. Entsprechend grob fällt bis heute die«Retourkutsche der ehemaligen Revolutionäre» aus: Hou-ellebecq sei «reaktionär, anti-feministisch, dekadent, mie-sepetrig, Sex-besessen»34, urteilten sie, ohne tatsächlich zubegreifen, was dessen literarisches Projekt ist: der melan-cholisch-kontemplative und erschrockene «Blick in den Ur-wald der sozio-ökonomischen Machtkämpfe», der Blick aufdie «in Permanenz stimulierten und schamlos ausgebeute-ten Begierden».35 Ob er alles verdamme, was 1968 angeht,wurde Michel Houellebecq einmal in einem Interview ge-fragt. «Ja», antwortete der, «alles».36

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Endnoten1 Michel Houellebecq: Interventionen. Essays. Aus demFranzösischen von Hella Faust, Köln 2016, S. 83.2 Michel Houellebecq: «Mourir», in: Agathe Novak-Le-chevalier (Hrsg.): Michel Houellebecq – Cahier de l’Her-ne. Paris 2017, S. 273 – 280, hier S. 273 f. (übersetzt von J. E.). Houellebecq stellte den Text zunächst ins Netz. Spä-ter veröffentlichte ihn die Zeitschrift «Ligne de risque».3 Ebenda, S. 274.4 Ebenda, S. 275.5 Ebenda.6 Yan Céh: «(Que le Soleil) Brille sur Toi, Ô DiamantFou», in: Agathe Novak-Lechevalier (Hrsg.): Michel Hou-ellebecq – Cahier de l’Herne. Paris 2017, S. 200 – 204, hierS. 202.7 Michel Houellebecq: «Mourir», in: Agathe Novak-Le-chevalier (Hrsg.): Michel Houellebecq – Cahier de l’Her-ne. Paris 2017, S. 273 – 280, hier S. 278.8 Denis Demonpion: Michel Houellebecq. Die unauto-risierte Biografie. Aus dem Französischen von BarbaraGrabski, Berlin 2006, S. 11. Im Folgenden S. 14, 12.9 Ebenda, S. 22.10 Brigitte Preissler: «Michel Houellebecq frisierte seineBiographie», in: Die Welt vom 15. September 2006, S. 29.11 Michel Houellebecq: «Mourir», in: Agathe Novak-Le-chevalier (Hrsg.): Michel Houellebecq – Cahier de l’Her-ne. Paris 2017, S. 273 – 280, hier S. 279.12 Pierre Lamalattie: «Un ermite au Nouveau Palace.Michel Houellebecq, étudiant à l’Agro», in: Agathe No-vak-Lechevalier (Hrsg.): Michel Houellebecq – Cahier del’Herne. Paris 2017, S. 23 – 26, hier S. 23.13 Ebenda, S. 25.

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14 Vgl. Ralf Krämer: «Angst spielt keine Rolle». Inter-view mit Michel Houellebecq, in: Planet Interview vom24. Juni 2009 (online).15 Im Gespräch mit Jean-Yves Jouannais und ChristopheDuchâlet, in: Michel Houellebecq: Interventionen. Essays.Aus dem Französischen von Hella Faust, Köln 2016, S. 44.16 Denis Demonpion: Michel Houellebecq. Die unauto-risierte Biografie. Aus dem Französischen von BarbaraGrabski, Berlin 2006, S. 110 ff.17 Michel Houellebecq: «Mourir», in: Agathe Novak-Le-chevalier (Hrsg.): Michel Houellebecq – Cahier de l’Her-ne. Paris 2017, S. 273 – 280, hier S. 277 f.18 Der Text erschien zunächst im Guardian und wurdeam 3. Oktober 2002 in Libération und in einer deutschenÜbersetzung in der Weltwoche nachgedruckt. Allerdingskorrigierte die Redaktion der Weltwoche das betreffendeZitat und machte in der deutschen Version aus dem Mäd-chennamen der Mutter bereits den der Großmutter. Sal-man Rushdie: «Backlash der Wohlmeinenden. Der Schrift-steller Michel Houellebecq hat den Islam als ‹dümmsteReligion› bezeichnet. Jetzt steht er in Frankreich vor Ge-richt. Zu Unrecht», in: Weltwoche vom 10. Oktober 2002.19 Michel Houellebecq: «Commentaire sur l’article deSalman Rushdie», in: Agathe Novak-Lechevalier (Hrsg.):Michel Houellebecq – Cahier de l’Herne. Paris 2017, S. 122.20 Michel Houellebecq: Lebendig bleiben. Aus demFranzösischen von Hinrich Schmidt-Henkel und HellaFaust, Köln 2006.21 Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone. Ro-man. Aus dem Französischen von Leopold Federmair, Ber-lin 1999, S. 7.22 Ebenda, S. 57.23 Vgl. Thomas Steinfeld: Das Phänomen Houellebecq.Köln 2001, S. 22.

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Page 37: Leseprobe aus · Michel Houellebecq war schon damals der bekannteste und umstrittenste Schriftsteller Frankreichs. Und so wun-derte ich mich, dass es möglich sein sollte, ihn ohne

24 Michel Houellebecq: Elementarteilchen. Roman. Ausdem Französischen von Uli Wittmann, Köln 1999, S. 291.25 Lucie Ceccaldi: L’Innocente. Récit. Paris 2008, S. 7.26 Ebenda, S. 404 (Übersetzung J. E.).27 Vgl. Johannes Wetzel: «Michel Houellebecq streitetmit seiner Mutti», in: Die Welt vom 5. Mai 2008, S. 28.28 Michel Houellebecq: «Mourir II», in: Agathe No-vak-Lechevalier (Hrsg.): Michel Houellebecq – Cahier del’Herne. Paris 2017, S. 280 (Übersetzung J. E.).29 Ebenda.30 Klaus Hartung: «1968 – Das große Gefühl», in: DerTagesspiegel vom 11. April 2008 (online).31 Michel Houellebecq: Interventionen. Essays. Aus demFranzösischen von Hella Faust, Köln 2016, S. 75. Diese Po-sition zu 1968 fasst auch Alexander Cammann zusammen:«Party war 1968 immer», in: die tageszeitung vom 13. Mai2008 (online).32 Clemens Pornschlegel: «Die dunkle Seite. MichelHouellebecq hat ein Buch über Schopenhauer geschrie-ben», in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8. Oktober 2017, S. 42.33 Pier Paolo Pasolini: Ketzererfahrungen – «Empirismoeretico», Schriften zu Sprache, Literatur und Film. Über-setzt von Reimar Klein, München 1979, S. 187 ff.34 Clemens Pornschlegel: «Die dunkle Seite. MichelHouellebecq hat ein Buch über Schopenhauer geschrie-ben», in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8. Oktober 2017, S. 42.35 Ebenda.36 Dirk Fuhrig: «Gute Aussichten im Genlabor. MichelHouellebecq über Swingerclubs und die Freuden derkünstlichen Fortpflanzung», in: Frankfurter Rundschauvom 20. Oktober 1999.

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