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LENAIKA (Festschrift für Carl Werner Müller zum 65. Geburtstag am 28. Januar 1996) || TIBI TUAEQUE...

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TIBI TUAEQUE REIPUBLICAE Zur praefatio des Livius von Severin Koster Nach einem Grundsatz der Redelehre sollen die Leser durch die Ein- leitung attenti, dociles und benevoli werden 1 . Unter diesem Gesichts- punkt gehören auch die praefationes der literarischen Texte zu den an- ziehendsten Abschnitten und erfreuen sich auch besonderer Zuwendung. Zugleich fordern sie oft die Frage heraus, ob sie zuerst oder zuletzt ge- schrieben worden sind. Da man verständlicherweise erst ganz am Schluß weiß, was über das ganze Werk mitzuteilen ist, spricht viel dafür, die praefatio als das zuletzt Geschriebene anzusehen. Ebenso ist aber einzu- räumen, daß ein Vorwort verfaßt werden kann, ohne daß ein Wort des Haupttextes niedergeschrieben ist. Daneben ist mit anderen Möglich- keiten zu rechnen, etwa Ergänzungen oder Überarbeitungen. Sooft die praefatio des Livius schon gelesen, gedeutet und gelobt worden ist 2 , so scheint dennoch nicht befriedigend geklärt zu sein, ob sie einem einzigen Entwurf entstammt und an wen sie eigentlich gerichtet ist. Diese Fragen stellen sich um so mehr, als das Werk des Livius eines der umfangreichsten der lateinischen Literatur ist. Es war auf 142 Bücher berechnet und nahm vierzig Lebensjahre des Livius in Anspruch. Eine Veränderung der programmatischen Aussagen der praefatio ist von daher gesehen nichts Unwahrscheinliches, selbst wenn Livius die Gele- genheit wahrgenommen hat, einzelne Editionsteile mit weiteren, wenn auch weitaus kürzeren Einleitungen zu versehen, wie das bei Buch 6, 21 und 31 der Fall ist. Man darf vermuten, daß es auch zu den verlorenen Büchern derartige Einleitungen gegeben hat 3 . 1 Vgl. rhet. Her. 1,4,6 sqq. Ferner H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 3 1990, § 263-273. L. Amundsen, Notes to the preface of Livy, SO 25 (1947) 31-35, 3If. 2 Literatur verzeichnet bei W. Kißel, Livius 1933-1978. Eine Gesamtbiblio- graphie, ANRW Π 30. 2 (1982) 899-997; bes. 931-932 und 982. 3 Vgl. H.J. Mette, Livius und Augustus, Gymn. 68 (1961) 269-285; 274. Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 12/17/13 10:22 AM
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TIBI TUAEQUE REIPUBLICAE

Zur praefatio des Livius

von Severin Koster

Nach einem Grundsatz der Redelehre sollen die Leser durch die Ein-leitung attenti, dociles und benevoli werden1. Unter diesem Gesichts-punkt gehören auch die praefationes der literarischen Texte zu den an-ziehendsten Abschnitten und erfreuen sich auch besonderer Zuwendung. Zugleich fordern sie oft die Frage heraus, ob sie zuerst oder zuletzt ge-schrieben worden sind. Da man verständlicherweise erst ganz am Schluß weiß, was über das ganze Werk mitzuteilen ist, spricht viel dafür, die praefatio als das zuletzt Geschriebene anzusehen. Ebenso ist aber einzu-räumen, daß ein Vorwort verfaßt werden kann, ohne daß ein Wort des Haupttextes niedergeschrieben ist. Daneben ist mit anderen Möglich-keiten zu rechnen, etwa Ergänzungen oder Überarbeitungen.

Sooft die praefatio des Livius schon gelesen, gedeutet und gelobt worden ist2, so scheint dennoch nicht befriedigend geklärt zu sein, ob sie einem einzigen Entwurf entstammt und an wen sie eigentlich gerichtet ist. Diese Fragen stellen sich um so mehr, als das Werk des Livius eines der umfangreichsten der lateinischen Literatur ist. Es war auf 142 Bücher berechnet und nahm vierzig Lebensjahre des Livius in Anspruch. Eine Veränderung der programmatischen Aussagen der praefatio ist von daher gesehen nichts Unwahrscheinliches, selbst wenn Livius die Gele-genheit wahrgenommen hat, einzelne Editionsteile mit weiteren, wenn auch weitaus kürzeren Einleitungen zu versehen, wie das bei Buch 6, 21 und 31 der Fall ist. Man darf vermuten, daß es auch zu den verlorenen Büchern derartige Einleitungen gegeben hat3.

1 Vgl. rhet. Her. 1,4,6 sqq. Ferner H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 31990, § 263-273. L. Amundsen, Notes to the preface of Livy, SO 25 (1947) 31-35, 3If.

2 Literatur verzeichnet bei W. Kißel, Livius 1933-1978. Eine Gesamtbiblio-graphie, ANRW Π 30. 2 (1982) 899-997; bes. 931-932 und 982.

3 Vgl. H.J. Mette, Livius und Augustus, Gymn. 68 (1961) 269-285; 274. Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf

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Die andere Frage mag befremdlich erscheinen, da in Ermangelung ei-ner Adressatennennung wie selbstverständlich der bekannte lector bene-volus4, hier also zunächst der römische Bürger und Zeitgenosse, gemeint sein muß. Er wäre selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn ein herausge-hobener, namentlich genannter Adressat zu finden wäre, dessen sich der Autor in jedem Fall durch Namensnennung sicher sein wollte.

Bevor diese Fragen an den Text der praefatio herangetragen werden, soll der Inhalt der einzelnen Sätze in Erinnerung gerufen werden: 1. (§ 1 und 2) Livius stellt die Frage, ob sich das Unternehmen ange-sichts der häufigen und vermeintlich immer besser werdenden Stoffbe-handlung überhaupt lohne. 2. (§ 3) Darauf gibt er keine direkte Antwort, sondern verspricht sich eine Förderung für seine eigene Person durch diese große Sache. 3. Falls er sich dabei keinen Namen unter den vorhandenen bedeutenden mache, sei es deswegen ja nicht so schlimm, weil eben diese Namen so bedeutend seien, daß es auf den einen nicht ankomme. Daher schade es nichts, wenn auch er sich am Stoff versuche. 4. (§4) Überdies sei die Fülle so angewachsen, daß sie schon an der ei-genen Größe leide. 5. Auch sei die Mehrzahl der Leser eher an den jüngsten Krisenzeiten interessiert. 6. (§ 5) Er lege aber einen Schwerpunkt auf die Frühzeit, um sich nicht gleich um die bedenkliche Jetztzeit Sorgen machen zu müssen.

7. (§ 6) Die Frühzeit habe allerdings auch ihre Probleme, vor allem die sagenhaften Geschehnisse vor und während der Gründung Roms, die ja einer zuverlässigen Dokumentation ermangelten. 8. (§ 7) Was sich da an Göttlichem und Menschlichem vermische, müsse man dem Altertum und dem Zweck der gewollten Erhöhung zugute hal-ten. 9. Für die kriegstüchtigen Römer gelte besonders, daß sie ihren Ur-sprung auf den Gott Mars zurückfuhren dürften. 10. (§ 8) Er, Livius, enthalte sich aber des Urteils über diese Dinge. 11. (§ 9) Er lege vielmehr Wert darauf, daß jeder erkennen könne, wie das Römische Reich groß geworden sei.

4 Antike Belege für den „wohlwollenden Leser" scheint es nicht zu geben. Nach Auskunft des Thesaurus findet sich die Junktur in den Epistulae Guiberti 9,217; 47,861. Femer bei Ioannes a Fonda, Cant. cant. serm. 120 prol. 123; Rupertus Tuitiensis, trin. 34 (op. spir. Sanct. I) p. 1827,183.

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12. Ebenso darauf, wie Rom nach und nach bis auf die Jetztzeit mora-lisch verfallen sei. 13. (§ 10) An der Dokumentation, die vorgelegt werde, solle der - nun direkt angeredete - Leser dies lernen. 14. Er solle das Gute daraus übernehmen, das Schlechte vermeiden.

15. (§ 11) Die Liebe zu seinem Unternehmen habe ihren Grund in der Größe Roms. 16. Diese Größe sei erst spät verdorben worden. 17. (§ 12) Reichtum und Überfluß hätten den Verfall verursacht. 18. Aber er wolle nicht mit diesen Klagen sein Werk beginnen. 19. (§ 13) Lieber würde er mit Gebeten anfangen, wie die Dichter, damit wenigstens der Anfang des Werkes gelinge.

Der Text läßt sich in drei Großabschnitte gliedern. Der erste umfaßt Satz 1-6 (= § 1-5), der zweite Satz 7-14 (= § 6-10), der dritte Satz 15-19 (= § 11-13)5. Der Text ist desweiteren durch einen Wechsel von positi-ven und negativen Wertungen und, damit verbunden, von auffallenden Wiederholungen bestimmt. Sie beziehen sich auf den Aufstieg zur Größe und den jeweiligen Verfall.

Der Kontrast zwischen einst und jetzt, wie er in § 5 (aetas nostra), § 9 (vitia nostra) und § 12 (nuper) deutlich wird, zeigt, daß Livius in der Tat seine praefatio nach dem ersten, zweiten oder auch dritten Abschnitt hätte beenden können, ohne daß man etwas Wesentliches vermißt hätte. Daher liegt es nahe zu fragen, warum dreimal die gleichen Grundge-danken auftauchen. Eine stilistische Absicht allein, etwa die Erzielung einer eindringlichen Klimax, wird man nicht als ausreichende Erklärung annehmen. Näher liegt eine zeitlich gestufte Ergänzung nach dem glei-chen Gegensatz von tunc und nunc. Ein auffallender Unterschied wäre die zunehmende Zurücknahme der erzählenden ersten Person6, für die im

5 Andere Gliederungsvorschläge in Auswahl: A Commentary on Livy Books 1-5 by R.M. Ogilvie, Oxford 1965, 25ff.: acht Abschnitte: §§ 1-3; 4; 4-5; 6-7; 7-9; 9-10; 11-12; 13; ders. dagegen in den Oxford Classical Texts (Titi Livi Ab urbe condita, recogn. R.M. Ogilvie. TomusI, libri 1-5, Oxford 1974): zwei Abschnitte: §§ 1-5; 6-13. Wiederum anders: Τ. Livius, Römische Geschichte Buch I-IH, Lat. u. dt. hrsg. von H.J. Hillen, Darmstadt/München/Zürich 1987: fünf Abschnitte: §§ 1-5; 6-7; 8-10; 11-12; 12-13.

6 § 1 facturus sim, perscripserim, scio, sciam, ausim, videam. § 3 mea, me, meo, consoler. § 5 ego, petam, me, repeto, avertam, nostra. Im zweiten Teil: § 8 equi-dem, ponam. § 9 mihi nostra, possumus. Im dritten Teil: § 11 me, § 13 nobis, in-ciperemus. Vgl. K. Thraede, Ausserwissenschaftliche Faktoren im Liviusbild der

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ersten Abschnitt noch fünfzehn Formen im Singular, eine im Plural zu verzeichnen ist, im zweiten drei im Singular und zwei im Plural, im drit-ten Teil schließlich nur noch eine Singularform und zwei Pluralformen. Doch kann eine solche Feststellung allenfalls beiläufiges Argument sein, um eine Schichtenanalyse zu befürworten.

Viel bezeichnender ist, daß in Satz 13 und 14 völlig unvermittelt die zweite Person Singular auftaucht und so ein Adressat eingeführt wird, der ohne Namensnennung in einer Du-Anrede erscheint, ohne daß der Leser auf eine solche Vereinzelung aus den in Satz 5 genannten legentes vorbereitet worden ist. Nun gibt es allzeit die Möglichkeit, ein solches Du in einem „man" aufgehen zu lassen und es unbetont und verallgemei-nernd zu deuten. So geschieht es denn auch in den bisherigen Interpreta-tionen. Allerdings hat O. Leggewie seinerzeit offenbar ein Unbehagen verspürt und den Satz 14 (§ 10) so übersetzt „daraus magst du für dich und das Staatswesen, dessen Glied du bist, gewinnen, was du nachahmen möchtest". K. Vretska7 hat gegen diese zu freie Übersetzung Einspruch erhoben, ohne das eigentliche Problem benannt zu haben. Es steckt in der Tat in der allzu freien Übersetzung des Ausdrucks tibi tuaeque rei pu-blicae. Genauer gesagt geht es um die Frage, ob, und wenn, an wen eine solche Ausdrucksweise überhaupt zur Zeit der Abfassung gerichtet sein konnte. Konnte um das Jahr 27 v. Chr., der von der überwiegenden Zahl der Interpreten angenommenen Abfassungszeit der praefatio8, der als Leser gedachte römische Bürger so angesprochen werden? Konnte Livius diesem gegenüber so sprechen, als gehe es gewissermaßen um den

neueren Forschung, in: G. Binder (Hg.), Saeculum Augustum H, Darmstadt 1988, 394-425,424 zur zwiespältigen Haltung des Livius in der praefatio.

7 Vgl. O. Leggewie, Die Geisteshaltung der Geschichtsschreiber Sallust und Livius, nachgewiesen an den Vorreden ihrer Werke, Gymn. 60 (1953) 343-355 und die Entgegnung: K. Vretska, Die Geschichtsschreiber Sallust und Livius, Gymn. 61 (1954) 191-203.

8 Zur Datierung vgl. M. v. Albrecht, Geschichte der römischen Literatur I, Berlin 21994, 661 und E. Mensching, Zur Entstehung und Beurteilung von Ab urbe condita, Latomus 45 (1986) 572-589, bes. 576. Zu einer möglichen zweiten Auflage, insbesondere im Hinblick auf Augustus, s. T.J. Luce, The Dating of Livy's First Deca-de, TAPhA 96 (1965) 209-240, zusammengefaßt 238. Wenig präzise zur späteren Än-derung A. Manzo, Considerazione sulla praefatio Liviana, Aevum Ant. 4 (1991) 279-292, 283. Nicht über 27 v. Chr. hinabgehend: E. Badian, Livy and Augustus, in: W. Schuller (Hg.), Livius. Aspekte seines Werkes, Konstanz 1993, 9-38, 17f. Eine frü-here Datierung, jedoch ohne die praefatio miteinzubeziehen, schlägt R. Syme vor, Livius und Augustus, in: R. Klein (Hg.), Prinzipat und Freiheit, Darmstadt 1969, 94-135, bes. 94ff. (Ndr. aus HSCIPh 64 [1959] 27-87).

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persönlichen Besitz des einzelnen Bürgers oder auch nur um sein Identi-fikationsobjekt Staat?

Uns Heutigen ist es selbstverständlich geworden, dem Einzelnen ein solches demokratisches Staatsbewußtsein zuzuschreiben, das auf einer Devise „l'etat c'est toi" beruht. Dieses uns geläufige Staatsdenken auf die Zeit des Livius zu übertragen, widerspricht der römischen republi-kanischen Staatsauffassung und der Livius allgemein zugesprochenen republikanischen Gesinnung9. Entweder stammt dieser Satz nicht von ihm, oder er ist zu einer späteren Zeit von ihm in den Text gesetzt wor-den, als es nicht mehr unmöglich war, so zu sprechen. Das aber muß dann geraume Zeit nach 27 v. Chr. der Fall gewesen sein.

Daß eine solche Formulierung im Sinn der libera res publica nicht möglich war, läßt sich lexikographisch erhärten, insofern Cicero nir-gends, sooft er auch von der res publica als der „Sache des Volkes" spricht, res publica mea oder res publica tua sagt, sondern immer nur nostra res publica10.

Auch bei Livius findet sich diese Ausdrucksweise nur hier. Bezeich-nenderweise aber kommt sie in einer Zeit vor, in der so zu sprechen op-portun oder gar üblich war. Man wird sich diese Zeit leicht ausrechnen können, wenn man eine andere Formulierung bei Livius vergleicht, die sehr deutlich auf die Problematik hinfuhrt: 38,14,12 findet sich der Aus-druck tua tyrannis, 8,33,8 tua dictatura, 40,15,7 tuum regnum. Es geht also um eine spezifische Bezeichnung einer Form von Alleinherrschaft,

9 Vgl. E. Burck, Das Geschichtswerk des Titus Livius, Heidelberg 1992, 164-174 „Augustus". Vgl. auch L. Wickert, Horaz und Augustus, in: G. Binder (wie Anm. 6) 288-313 (Ndr. aus WüJbb 2 [1947] 158-172). 10 Vgl. R. Stark, Ciceros Staatsauffassung, La Nouvelle Clio 6 (1954) 56-69. Ferner E. Burck, Zum Rombild des Livius, AU 3 (1957) 34-75 (Ndr., in: E. Burck, Vom Menschenbild in der römischen Literatur. Ausgewählte Schriften, hrsg. von E. Lefevre, Heidelberg 1966, 321-353; 35). Ferner H. Oppermann, Die Einleitung zum Geschichtswerk des Livius, AU 7 (1955) 90-98 (Ndr. in: E. Burck [Hg.], Wege zu Livius, Darmstadt 1967, 169-180, 175f.). Weiteres zum Staatsbegriff vgl. V. Pöschl, Römischer Staat und griechisches Staatsdenken bei Cicero. Untersuchungen zu Ciceros Schrift De re publica, Berlin 1936, 42f. Ders., Grundwerte römischer Staats-gesinnung in den Geschichtswerken des Sallust, Berlin 1940, 75f., wo res publica ge-gen factio und tyrannis abgesetzt wird. - Zur allmählichen Ausbildung einer „Prinzi-pats-Diktion" vgl. die aufschlußreichen Beobachtungen von W. Orth, Der Triumvir Octavian. Bemerkungen zu Inschriften aus Aphrodisias, Epigraphica Anatolica 3 (1984) 61-81, bes. 79ff. Vgl. L. Wickert (wie Anm. 9) 298f.: zu Horaz, der carm. 4,14 von milite tuo und epist. 2,1,18 von tuus populus spreche, im Hinblick auf Augustus. Vgl. dens., Der Prinzipat und die Freiheit, in: R. Klein (wie Anm. 8) 94-135, bes. 116ff. (Ndr. aus Symbola Coloniensia, Festschrift J. Kroll, Köln 1949,111-141).

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die das Gemeinwesen als persönlichen Besitz versteht. Nichts macht das deutlicher als der erste Beleg für den Ausdruck tua res publica. Er steht bei Seneca, clem. 1,51, wo er im Sinn eines „l'etat c'est toi" Nero ge-genüber verwendet ist, wie auch 1,19,8 ein weiteres Mal. Auch auf sich selbst bezogen wendet Seneca diese Aussage einmal an, benef. 4,32,4: prout occasio et rei publicae meae facultas tulit. Bemerkenswert ist dagegen, daß der Ausdruck bei Tacitus nicht vorkommt. Seine Gesin-nung ließ es offenbar nicht zu, auch nur ein einziges Mal diese Wort-verbindung zu wählen.

Daraus muß gefolgert werden, daß in dieser ganz frühen Zeit des be-ginnenden Prinzipats niemand, auch nicht der, auf den die Aussage allein gemünzt sein kann, nämlich Augustus, so hat angeredet werden können. Erst als die Alleinherrschaft des Augustus als faktisch vorhanden und allgemein als unanstößig empfunden wurde, darf mit einer solchen For-mulierung gerechnet werden. Das dürfte frühestens seit der Säkularfeier des Jahres 17 v. Chr. möglich gewesen sein11. Denn schon 27 v. Chr. Livius eine Wendung der Gesinnung oder gar eine sarkastisch-resignie-rende, alles durchschauende Bemerkung zuzutrauen, ist sehr unwahr-scheinlich, zumal Augustus selbst alles tat, die alte res publica als schönen Schein leuchten zu lassen.

Die Vermutung, zumindest Satz 13 und 14 (§ 10) als späteren Ein-schub anzusehen, soll nun durch weitere Erwägungen gestützt werden, ebenso, daß der Angeredete nur Augustus sein kann.

Ein Hinweis darauf kann aus dem Wort augustiora, Satz 8 (§ 7), gewonnen werden. Die neueste Untersuchung dazu von R. von Haehling sieht in diesem Begriff, wie viele andere auch, keinerlei Bezugnahme auf Augustus12. Die Livius-Konkordanz weist dreimal den Eigennamen Augustus aus, zwölfinal das Adjektiv augustus, dieses immer in quasi-religiösen Zusammenhängen. Es erscheint dreimal im Positiv, fünfmal im Komparativ, viermal im Superlativ. Die komparativischen Belege stellen

11 Vgl. Mette (wie Anm. 3) 271. Ferner K.M. Girardet, Die Entmachtung des Konsulates im Übergang von der Republik zur Monarchie und die Rechtsgrundlage des augusteischen Prinzipats, in: Pratum Saraviense. Festgabe für Peter Steinmetz, hrsg. von W. Görler und S. Koster, Stuttgart 1990, 89-126, bes. 118ff.

12 Vgl. R. von Haehling, Zeitbezüge des T. Livius in der ersten Dekade seines Geschichtswerkes: nec vitia nostra nec remedia pati possumus, Stuttgart 1989 (Historia ES 61). Ferner J. Glucker, Augustiora, Grazer Beiträge 19 (1993) 51-101, der den Ausdruck eher religionsbezogen denn als eine Anspielung auf Augustus auf-faßt. Vgl. auch Mette (wie Anm. 3) 283f. Weiteres bei Kißel (wie Anm. 2) 930 zum Thema „Livius und Augustus".

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immer einen Vergleich zum normal menschlichen Ausmaß und Gebaren dar. Demzufolge erscheinen auch die in der praefatio (§ 7) genannten primordia urbium „erhabener, erlauchter", als es die nüchterne Ein-schätzung des Historikers zuläßt.

Betrachtet man nun den weiteren Zusammenhang dieses Satzes, so stellt sich dem kundigen Leser bei den Worten ante conditam con-dendamve urbem die Erinnerung an die Thematik Vergils ein, zumal von poeticis fabulis die Rede ist, die gegen die incorrupta monumenta der Historiker abgesetzt werden, § 6. Mit dem Ausdruck miscendo humana divinis ist der Schritt nicht weit zum historisch-mythologischen Epos, dessen gattungskonstituierendes Merkmal eben eine solche Vermischung der göttlichen und menschlichen Handlungsebenen ist. Tritt dann noch hinzu, daß das römische Volk am ehesten Mars als seinen Gründer anzu-sehen das Recht hat, so ist mitzuhören, daß Vergil eher der julischen Gründungsvariante gefolgt ist und Venus mit Anchises bevorzugt hat. Beide Auffassungen sindpoeticae fabulae im Urteil des Livius.

Dieser Befund einer Anspielung bestätigt die Kenntnis der ver-gilischen Konzeption in der Aeneis. Daß Livius mit der Darstellung Vergils kritisch umgeht und sich mit ihr auseinandersetzt, berechtigt dazu, auch eine wortspielerische Nebenbedeutung fur den Begriff augustiora anzunehmen, insofern er über die primordia urbium damit auf die Gründungsversuche des Aeneas allgemein anspielt oder eben nur Lavinium oder nur Rom am Ende meint. In jedem Fall aber drängt sich seine Interpretation auf, daß der Dichter Vergil durch diese Varianten-wahl die Gründungsgeschichte Roms „augustusgemäßer" gemacht habe. Diese Tendenz kann aber nur dann wirksam geworden sein, als die Aeneis allgemein bekannt war, also kaum vor ihrer Veröffentlichung im Jahre 19 v. Chr. Insgesamt wäre darin eine distanzierte Stellungnahme des Historikers dem Dichter gegenüber zu sehen, aber auch ansatzweise Kritik an der von Augustus gern gesehenen Ideologisierung der Ge-schichte und Unterstützung der Poesie als „verfälschender" monumenta, zumindest im Urteil des Livius.

Dazu paßt dann auch, daß der Paduaner seine Erzählung nicht mit dem profugus Aeneas beginnt, sondern mit dem flüchtigen Trojaner Antenor, der auch eine Stadt, Patavium, gegründet hat. Dann erst folgt Aeneas und der Inhalt einer Aeneis dergestalt, daß die Varianten deutlich werden, die Vergil nicht aufgenommen und gestaltet hat. Damit wird die Ausschließlichkeit der staatsepischen Version hinfallig.

Dies alles spricht dafür, den zweiten Abschnitt der praefatio insge-samt als eine spätere Einfügung anzusehen, die frühestens nach 19 v.

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Chr. vorgenommen wurde, sich also auch dem angenommenen Datum 17 v. Chr. fugt.

Eine weitere Beobachtung kann diese Annahme bestätigen. Im selben Abschnitt findet sich ein Begriff, der für die Zeitgenossen von einer ge-wissen Aktualität gewesen sein dürfte: monumentum. Im § 6 steht er im Plural, womit, dem Wortgebrauch zufolge, häufig literarische Zeugnisse gemeint sind, in § 10 im Singular, mit dem vor allem ein architektoni-sches Werk bezeichnet wird13. Da monumentum insofern im Jahre 23 v. Chr. eine besondere Bedeutung erhalten hat, als Horaz sein Oden-Werk als ein monumentum aere perennius herausgegeben hatte, dürfte der-selbe Begriff bei Livius nicht ohne Blick auf das literarische Werk des Horaz und damit zugleich auch auf das architektonische des Augustus am Tiber zu verstehen sein, das Mausoleum Augusti. Nach Meinung ei-niger Forscher ist dieses schon im Jahre 28 v. Chr. fertig gewesen, auch mit einer Inschrift versehen gewesen, die jeweils zu markanten politi-schen Zeitpunkten erweitert worden ist14. Ein solcher Einschnitt ist auch das Jahr 23 v. Chr. gewesen, als das Bauwerk wegen einer lebensbe-drohenden Krankheit des Augustus beinahe seine Zweckbestimmung er-reicht hätte. Aber auch abgesehen davon fiel dieser monumentale Grab-bau den Römern allzeit ins Auge, so daß ein Zusammenhang auch ohne eine epigraphische Bezugnahme wahrscheinlich ist. Mit einer solchen und einer weiteren auf Horaz wirkt freilich derselbe Ausdruck bei Livius viel nachhaltiger und zugespitzter. Auch Livius hat mit seinem monu-mentum ein Gegenstück zu dem des Augusteers Horaz und zu Augustus selbst geschaffen, ein Werk, das den Bau des Princeps an Zeitlosigkeit und Wert übertrifft, so wie Horaz es schon für sich verkündet hatte, aber auch die Werke der Poesie, da der Historiker für sich einen noch höheren Wert beansprucht, als die fabulae der Dichter ihn je erreichen können, selbst wenn es die eines Vergil und Horaz sind.

Sieht man nun auf die beiden Sätze des § 10, findet man darin eine höfliche, doch entschieden wirkende Handlungsanweisung, die sowohl auf die monumenta als auch auf die äußerst abschätzige Beurteilung der Zeit Bezug nehmen, so in Satz 12 in § 9: donec ad haec tempora, quibus nec vitia nostra nec remedia pati possumus, perventum est.

Hintergrund dafür bildet, auch wiederum mit Blick auf die nach 17 v. Chr. entstandene Odendichtung des Horaz, der Verfall der Sitten im

13 Vgl. Thes. s.v. monumentum p. 1464,28sqq. und 1463,6sqq. 14 Vgl. E. Komemann, Monumentum Ancyranum, RE XVI (1935) 211-231;

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Staat, jenes fast topische Motiv der moralischen Geschichtsschreibung in Rom, für die Sallust der bekannteste und hervorstechendste Vertreter ist15. Der Satz des Livius stellt den Restaurationsbemühungen des Augustus kein gutes Zeugnis aus, im Gegenteil, er übt Kritik an seinen Maßnahmen, indem er von unerträglichen Heilungsversuchen spricht. Wenn dieser Satz nicht nur auf das traditionelle, sallustische Motiv ab-zielt, sondern genauso aktuell ist, wie der ganze Abschnitt aktuell zu sein scheint, so verweisen die vitia nostra auf moralische Laster und die re-media auf deren Heilungsversuche. Es drängt sich daher ein Bezug auf die berüchtigten Ehegesetze des Jahres 18 v. Chr. auf6 , in weiterem Sinn natürlich auch die Maßnahmen zur Festigung der mores im allgemeinen.

Mit dem Appell an Augustus richtet er dessen Aufmerksamkeit in auffallender Betonung auf omnis exempli documenta, offenbar also auch solche, die fehlgehende Maßnahmen darstellen und eine Gefahr für den Staat sind. Man mag sich wundern, wie deutlich und direkt Livius dem Princeps Anweisungen gibt und seine Meinung unterbreitet. Doch findet eine solche Kühnheit eines erklärten Nicht-Parteigängers ihre Er-klärung in der literarischen Konvention des politischen Sendschreibens, wie wir es z.B. aus der Hand des Sallust an Caesar kennen. Die Echtheit der Briefe vorausgesetzt, zeigt sich, daß Livius auffallend oft auf sie in dieser praefatio zurückgegriffen hat, und zwar so wortnah, daß die all-gemein bekannten Bezugnahmen auf den sogenannten echten Sallust demgegenüber zwar nicht weniger gültig, wohl aber nicht mehr so allein beherrschend sind.

Von den insgesamt fünf Stellen17 soll besonders epist. 2,13,8 hervor-gehoben werden: ceterum deos immortales obtestor, ut quocumque

15 Vgl. A.D. Leeman, Werden wir Livius gerecht? Einige Gedanken zu der Praefatio des Livius, Helikon 1 (1961) 28-39 (Ndr. in: E. Burck, Wege zu Livius, [wie Anm. 10] 200-214, 203fF.). Femer H. Drexler, Die moralische Geschichtsauffassung der Römer, Gymn. 61 (1954) 168-190. E. Lefövre, Argumentation und Struktur der moralischen Geschichtsschreibung der Römer am Beispiel von Sallusts Bellum Iugur-thinum, Gymn. 86 (1979) 249-277. Vgl. auch Amundsen (wie Anm. 1) 32ff.

16 Vgl. L. Ferrero Raditsa, Augustus' Legislation Concerning Marriage, Pro-creation, Love Affairs and Adultery, ANRW Π 13 (1980) 278-339 und F. Delia Corte, Le leges Iuliae e l'elegia romana, ANRW Π 30,1 (1982) 539-558. D. Kienast, Augustus. Prinzeps und Monarch, Darmstadt 1982, 95. Vgl. auch W. Stroh, Ovids Liebeskunst und die Ehegesetze des Augustus, Gymn. 86 (1979) 323-352.

17 Zum Vergleich: § 3 pro virili parte - epist. 1,8,10 α me quidem pro virili parte dictum. § 7 miscendo humana divitiis - epist. 2,8,4 divina cum humanis per-miscet. § 9 domi militiae - trotz idiomatischer Verwendung (z.B. bei Liv. insgesamt 20mal) aufgrund der relativen Häufigkeit in den epist.: 2,1,3; 2,2,4; 2,7,3. § 9 nec

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modo ages, ea res tibi reique publicae prospere eveniat. Sie hat die „Staatsformel", die der livianischen gleichkommt, aber eben nur beinahe. Denn nicht einmal hier erlaubt sich ein ausgesprochener Parteigänger, dem Begriff rei publicae im Hinblick auf Caesars erhoffte Zukunft das Possessivpronomen hinzuzufügen.

Die Bezugnahmen auf Sallusts Briefe sind deswegen so erheblich, weil durch sie ganz besonders der Appellcharakter zum Ausdruck kommt, der Sendschreiben eigentümlich ist und der den § 10 der prae-fatio entsprechend charakterisiert. Livius wollte wohl keinen Verrat an seiner politischen Grundeinstellung begehen, sah aber, daß eine Rück-kehr zur libera res publica in alter Form nicht mehr möglich war. Er machte das Beste aus seiner Situation und appellierte an den, der auf un-absehbare Zeit das Heft in der Hand behalten würde.

Ob die Einfügung von ihm selbst ausging oder ob Augustus eine ent-sprechende Erwähnung gefordert hatte, wie bei Horaz18, muß offen blei-ben. Wenn eine Forderung des Augustus vorlag, ist die Reaktion des Livius zurückhaltend ausgefallen. Für seine Zeitgenossen wäre sie aber auch ohne Namensnennung als eine solche erkennbar gewesen.

Daß die Moderne sie nicht so aufgefaßt hat, liegt an der Befangenheit zeitgebundener Vorstellungen. Die Zurückhaltung des Livius, in der sich ein gewisser Mut zur Kritik versteckt, ist wohl Ausdruck jener patavini-tas, von der schon in der Antike gesprochen wurde. Bisher hat man sie meist nur auf Sprache und Stil bezogen. Es dürften aber diejenigen For-scher recht haben, die sie auch und vor allem in der politischen Haltung des Livius feststellen wollen19. Die Entfernung Paduas von Rom, der lange Aufenthalt und schließlich der Tod in der Heimatstadt entsprechen der Distanz, die Livius dem stadtrömischen Geschehen gegenüber gehabt hat.

Wenn er aber den Text der praefatio einer erneuten Durchsicht un-terzogen und ihn ergänzt hat, dabei in Satz 2 (§ 3) dem römischen Volk

remedia pati possumus - epist. 2,8,3 haec ego magna remedia contra divitias statuo. § 13 die Götteranrufung: cum precationibus deorum dearumque - epist. 1,8,10 ea di immortales adprobent beneque evenire sinant und 2,13,18 (s.o.). - Vgl. K. Thraede (wie Anm. 6) 412 Anm. 25 mit zu scharfer Kritik die Anspielung auf Vergils Geor-gica und die Götteranrufung betreifend.

18 Vgl. E. Lefövre, Horaz. Dichter im augusteischen Rom, München 1993,265. 19 P.S. Walsh, Die Latinität des Livius, in: E. Burck, Wege zu Livius (wie

Anm. 10), 511-539, 535ff. spricht sich für ein rein stilistisches Verständnis des Be-griffes aus, Mette (wie Anm. 3) 285 vorsichtig auch für ein politisches. Zum Hinter-grund vgl. A.D. Leeman (wie Anm. 15) 209-211.

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Tibi tuaeque rei publicae 263

den Titel princeps terrarum beließ und nicht Augustus damit versehen hat, der princeps senatus seit 28 v. Chr. war, zeigt auch diese Wort-wahl, daß er es bei der namenlosen Anrede belassen wollte.

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