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Kapitel 10 Erwachsenenalter und...

Date post: 17-Sep-2018
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Kapitel 10 Erwachsenenalter und Alter 366 1 Entwicklung im Erwachsenenalter „Der Mensch kann als Mensch von allen Seiten entwickelt werden, aber nur nach den Gesetzen eines endlichen Wesens, das, um vollkommner zu werden, theilweise es werden muss, und das eben so wenig alles auf einmal werden, als alles auf einmal seyn, kann.“ Johann Nicolaus Tetens, 1777 Das vorliegende Kapitel betrachtet Erwachsenenalter und hohes Alter aus der Perspektive der Psychologie der Lebensspanne. Zunächst werden zentrale An- nahmen der Psychologie der Lebensspanne unter besonderer Berücksichtigung der zweiten Lebens- hälfte dargestellt (vgl. Kap. 1). Anschließend wird auf die Entwicklung intellektueller Fähigkeiten sowie auf die Entwicklung von Selbst und Persön- lichkeit vor dem Hintergrund der Lebensspannen- Konzeption näher eingegangen. renzierung und Expansion von Aufgaben, Kompe- tenzen und Ressourcen verbunden (Staudinger & Bluck, 2001). Hingegen verlangt das hohe Alter vor allem aufgrund biologisch bestimmter Einschrän- kungen die Konzentration der Kräfte und die Nut- zung vorhandener Stärken. Überwiegt im jungen und mittleren Erwachsenenalter das „Hineinwäh- len“ in verschiedene Bereiche des Lebens (z. B. Part- nerschaft, Beruf, Elternschaft), so gewinnt im weite- ren Verlauf des Erwachsenenalters und insbesonde- re im hohen Alter das „Abwählen“ von Bereichen und die Pflege der verbleibenden Bereiche an Bedeutung. Die Gestaltung und Bewältigung dieses Übergangs von Expansion zu Konzentration ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe des höheren Er- wachsenenalters (Baltes & Carstensen, 1996; Brandt- städter & Wentura, 1995). Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (Baltes, 1997b; Bal- tes & Baltes, 1990; Freund & Baltes, 2000; Riediger, Li & Lindenberger, 2006) thematisiert diesen Über- gang im Kontext einer allgemeinen Theorie er- folgreicher Entwicklung. 1 Entwicklung im Erwachsenenalter 1.1 Die generelle Architektur des Lebensverlaufs Die Psychologie der Lebensspanne nähert sich der Individualentwicklung über allgemeine und distale zu spezifischen und proximalen Beschreibungs- und Erklärungsebenen. Die theoretische Funktion der allgemeinsten Ebene besteht darin, die biologische und kulturelle Architektur des Lebenslaufs in ihren Kapitel 10 Erwachsenenalter und Alter Ulman Lindenberger 1 · Sabine Schaefer Mittleres und höheres Erwachsenenalter bezeichnen in etwa die Altersbereiche von 35 bis 65 sowie von 65 bis 80 Jahren; die Zeit nach dem 80. Lebensalter gilt als hohes Alter. ! Die Übergänge zwischen diesen Lebensphasen sind kontinuierlich, doch ihre Anforderungen und Mög- lichkeiten unterscheiden sich wesentlich. Das mittle- re Erwachsenenalter ist in der Regel mit einer Diffe- 1 Ulman Lindenberger dankt Paul Baltes und Ursula Staudinger für die intensive Zusammenarbeit an einem Buchkapitel (Baltes, Lindenberger & Staudinger, 1998; vgl. Baltes, Lindenberger & Staudinger, 2006), das als Grundlage einer früheren Version des vorliegenden Tex- tes gedient hat, sowie Yvonne Brehmer, Alexandra Freund und Jutta Kray für hilfreiche Kommentare.
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366 1 Entwicklung im Erwachsenenalter

„Der Mensch kann als Mensch von allen Seitenentwickelt werden, aber nur nach den Gesetzeneines endlichen Wesens, das, um vollkommner zuwerden, theilweise es werden muss, und das ebenso wenig alles auf einmal werden, als alles aufeinmal seyn, kann.“

Johann Nicolaus Tetens, 1777

Das vorliegende Kapitel betrachtet Erwachsenenalterund hohes Alter aus der Perspektive der Psychologieder Lebensspanne. Zunächst werden zentrale An-nahmen der Psychologie der Lebensspanne unterbesonderer Berücksichtigung der zweiten Lebens-hälfte dargestellt (vgl. Kap. 1). Anschließend wirdauf die Entwicklung intellektueller Fähigkeitensowie auf die Entwicklung von Selbst und Persön-lichkeit vor dem Hintergrund der Lebensspannen-Konzeption näher eingegangen.

renzierung und Expansion von Aufgaben, Kompe-tenzen und Ressourcen verbunden (Staudinger &Bluck, 2001). Hingegen verlangt das hohe Alter vorallem aufgrund biologisch bestimmter Einschrän-kungen die Konzentration der Kräfte und die Nut-zung vorhandener Stärken. Überwiegt im jungenund mittleren Erwachsenenalter das „Hineinwäh-len“ in verschiedene Bereiche des Lebens (z. B. Part-nerschaft, Beruf, Elternschaft), so gewinnt im weite-ren Verlauf des Erwachsenenalters und insbesonde-re im hohen Alter das „Abwählen“ von Bereichenund die Pflege der verbleibenden Bereiche anBedeutung. Die Gestaltung und Bewältigung diesesÜbergangs von Expansion zu Konzentration ist einezentrale Entwicklungsaufgabe des höheren Er-wachsenenalters (Baltes & Carstensen, 1996; Brandt-städter & Wentura, 1995). Das Modell der selektivenOptimierung mit Kompensation (Baltes, 1997b; Bal-tes & Baltes, 1990; Freund & Baltes, 2000; Riediger,Li & Lindenberger, 2006) thematisiert diesen Über-gang im Kontext einer allgemeinen Theorie er-folgreicher Entwicklung.

1 Entwicklung im Erwachsenenalter

1.1 Die generelle Architektur des Lebensverlaufs

Die Psychologie der Lebensspanne nähert sich derIndividualentwicklung über allgemeine und distalezu spezifischen und proximalen Beschreibungs- undErklärungsebenen. Die theoretische Funktion derallgemeinsten Ebene besteht darin, die biologischeund kulturelle Architektur des Lebenslaufs in ihren

Kapitel 10Erwachsenenalter und AlterUlman Lindenberger1 · Sabine Schaefer

Mittleres und höheres Erwachsenenalterbezeichnen in etwa die Altersbereiche von

35 bis 65 sowie von 65 bis 80 Jahren; die Zeitnach dem 80. Lebensalter gilt als hohes Alter.

!

Die Übergänge zwischen diesen Lebensphasen sindkontinuierlich, doch ihre Anforderungen und Mög-lichkeiten unterscheiden sich wesentlich. Das mittle-re Erwachsenenalter ist in der Regel mit einer Diffe-

1 Ulman Lindenberger dankt Paul Baltes und UrsulaStaudinger für die intensive Zusammenarbeit an einemBuchkapitel (Baltes, Lindenberger & Staudinger, 1998;vgl. Baltes, Lindenberger & Staudinger, 2006), das alsGrundlage einer früheren Version des vorliegenden Tex-tes gedient hat, sowie Yvonne Brehmer, AlexandraFreund und Jutta Kray für hilfreiche Kommentare.

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1.1 Die generelle Architektur des Lebensverlaufs 367

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invarianten Grundzügen zu definieren (Baltes,1997a) und auf diese Weise ein Rahmenmodell fürdie ontogenetische Betrachtung einzelner Inhaltsbe-reiche wie Intelligenz oder Selbst und Persönlichkeitauf spezifischeren Ebenen bereitzustellen.Strukturierende Altersfunktionen. Nach Paul Bal-tes (z. B. 1997a) wird die Architektur der Ontogene-se durch drei grundlegende, interdependente Alters-funktionen strukturiert:(1) Die positiven Auswirkungen des evolutionä-

ren Selektionsdrucks nehmen mit dem Alterab;

(2) der Bedarf an Kultur nimmt mit dem Alterzu;

(3) der Wirkungsgrad von Kultur lässt mit demAlter nach (Abb. 10.1).

Die Altersfunktionen werden im Folgenden kurzerläutert.

1.1.1 Die Abnahme evolutionärer Selektions-vorteile mit dem Alter

Die erste Komponente basiert auf einer evolutionä-ren Betrachtung altersbedingter Veränderungen inder Expression und dem biologischen Potential desmenschlichen Genoms. Im Mittelpunkt steht dieAnnahme, dass der Wirkungsgrad der evolutionärenSelektion nach der reproduktiven Phase (d. h. nachdem Lebensalter, in dem Nachkommenschaft gebo-ren und aufgezogen wird) deutlich und beschleunigtabnimmt. Diese Grundannahme wird durch indi-

rekte Selektionsvorteile, die mit dem Erreichen eineshöheren Lebensalters verbunden sind, wie zum Bei-spiel dem Nutzen der Großeltern für die Enkel,abgeschwächt, aber nicht außer Kraft gesetzt. Hinzukommt, dass in evolutionären Zeiträumen nur sehrwenige Menschen ein hohes Alter erreichten, so dassdie Wirkung der Evolution auf das höhere Erwach-senenalter auch deshalb von vornherein einge-schränkt ist. Ein besonders augenfälliges Anzeichendes abnehmenden Wirkungsgrads der evolutionärenSelektion ist die hohe Prävalenz und alterskorrelier-te Zunahme der Alzheimer-Demenz im Alter. EineKrankheit mit vergleichbar hoher Prävalenz wäre inder Kindheit evolutionär nicht stabil, das heißt, siehätte keinen Bestand.

1.1.2 Die Zunahme des Bedarfs an Kultur mit dem Alter

Der mittlere Teil von Abb. 10.1 veranschaulicht diezweite Annahme, den Zusammenhang zwischenlebenslanger Entwicklung und Kultur. Dabei ist derhier verwendete Kulturbegriff äußerst weit gefasst:Er bezieht sich auf alle psychischen, sozialen, mate-riellen und wissensbasierten Ressourcen, die dieMenschheit im Laufe ihrer historischen Entwicklungproduziert hat. Ein Buch fällt in diesem Sinne eben-so unter den Begriff Kultur wie die Krankenversi-cherung. Menschliche Entwicklung besteht in allenLebensphasen in der Interaktion kultureller undbiologischer Faktoren. Vor allem im Säuglings-, Kin-

Evolutionsgewinn:Wird geringer

Bedarf an Kultur:Nimmt zu

Effektivität von Kultur:Wird geringer

Lebensverlauf Lebensverlauf Lebensverlauf

Abbildung 10.1. Drei interdependente Wirkungen der Dynamik von Biologie und Kultur im Lebensverlauf.Individualentwicklung ist innerhalb des durch diese Dynamik vorgegebenen Rahmens plastisch (d. h. veränder- undoptimierbar). Das Ausmaß an Plastizität nimmt mit dem Alter ab (nach Baltes, 1997a)

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des- und Jugendalter dienen die Reifung und Plasti-zität (Veränderbarkeit) des neuronalen Systems alsein biologisches Gerüst für das Erzeugen kulturellgeprägter Entwicklungszugewinne. Nach der Aus-reifung des Frontalhirns, das heißt am Ende derAdoleszenz, lässt die strukturierende Kraft dieses rei-fungsbezogenen Gerüsts deutlich nach, ohne gänz-lich verloren zu gehen. Die Produktion von Ent-wicklungszugewinnen wird nunmehr zu einer kul-turellen Aufgabe unter zunehmend schwierigenbiologischen Bedingungen. Der historische Anstiegder Lebenserwartung sowie des relativen Anteils angesunden Jahren im Alter zeigt das Potential und diegrundlegende Funktion von Kultur in der zweitenLebenshälfte.

Der Wandel im Verhältnis zwischen Biologie undKultur lässt sich am Konzept der Entwicklungsauf-gabe (Havighurst, 1973) veranschaulichen. Entwick-lungsaufgaben strukturieren die Lebensspanne alseine Folge von Herausforderungen, die vom Indivi-duum als persönliche Entwicklungsziele wahr- undangenommen werden – zum Beispiel Erlernen derMuttersprache, Schulbildung, Berufsausbildung,Arbeit, Familie, Engagement für das Gemeinwesen,Pensionierung, Tod und Sterben. Um diese Entwick-lungsziele zu erreichen, bedarf es sozialer Institutio-nen sowie anderer Formen kultureller Unterstüt-zung. So hält die Schule Lesen, Schreiben und Rech-nen als Entwicklungsaufgaben des Kindesaltersbereit. Die Entwicklungsaufgaben der Kindheit sinddemnach ebenso wie die des Erwachsenalters sozialstrukturiert, ihre Abfolge und ihre Meisterungerfolgt jedoch, im Gegensatz zu denen des Erwach-senenalters, im Kontext der biologischen Reifung.

1.1.3 Abnahme des Wirkungsgrads von Kultur mit dem Alter

Zwar nimmt der Bedarf an Kultur zum Erreichenvon Entwicklungszugewinnen im Laufe des Lebenszu; die Effizienz kultureller Ressourcen beim Erzeu-gen von Entwicklungszugewinnen nimmt jedochmit dem Alter ab, da das biologische Potential einenegative Beziehung zum Alter aufweist. Dies schließtnicht aus, dass ältere Personen jüngeren aufgrund

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ihres größeren Vorwissens überlegen sind (s. unten).Zudem sind in vielen Bereichen die altersunabhän-gigen Unterschiede zwischen Personen groß, so dassältere Erwachsene mit hohen Fähigkeiten jüngerenErwachsenen mit geringeren Fähigkeiten durchausüberlegen sein können. Betrachtet man jedoch Per-sonen mit identischem Vorwissen, so folgen aus dernachlassenden Effizienz der Kultur zwei Vorhersa-gen:� Mit zunehmendem Lebensalter sind mehr mate-

rielle, soziale, ökonomische oder psychologischeRessourcen erforderlich, um ein hohes Funk-tionsniveau in einem bestimmten Gebiet zu er-halten oder neu zu erzeugen. Zum Beispiel be-dürfen ältere Erwachsene in Lernexperimenteneiner größeren Anzahl von Trainingssitzungen,um dasselbe Leistungsniveau zu erreichen wiejüngere.

� Das maximale Funktionsniveau liegt bei älterenErwachsenen niedriger als bei jüngeren. Zum Bei-spiel liegen die maximalen Gedächtnisleistungenälterer Erwachsener nach Instruktion und Trai-ning in einer Gedächtnistechnik deutlich unterden Leistungen junger Erwachsener (Baltes &Kliegl, 1992; Singer, Lindenberger & Baltes,2003).

Law of Practice. Für das Nachlassen des Wirkungs-grads kultureller Ressourcen gibt es neben derAbnahme des biologischem Potentials noch weitereGründe. Zum Beispiel ist es generell schwerer, inBereichen, in denen man bereits ein hohes Niveauerreicht hat, zu weiteren Gewinnen zu kommen, alsin Bereichen, die man neu erlernt (law of practice;vgl. Newell & Rosenbloom, 1981). Dies gilt zunächstunabhängig vom Alter. Ältere Erwachsene weisenaber aufgrund ihres höheren Alters eine höhereWahrscheinlichkeit auf, in den sie interessierendenBereichen bereits viel gelernt zu haben, und dieserUmstand kann weitere Leistungszugewinne zusätz-lich erschweren.

Die in Abb. 10.1 dargestellten Altersgradientenbegründen nach Baltes (1997a) die strukturelleDynamik zwischen Kultur und Biologie im Le-benslauf. Da historische und evolutionäre Prozessegrundsätzlich offen und unabgeschlossen sind, muss

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1.2 Veränderungen in der relativen Ressourcenallokation 369

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auch diese Dynamik als offen angesehen werden.Eine Umkehrung der Richtung der postuliertenAltersbeziehungen erscheint jedoch ausgeschlossen.

ten zu einer überwiegend erhaltenden und verlust-regulierenden Allokation von Ressourcen kann alsdas übergeordnete Ziel der psychischen Entwicklungim mittleren und späten Erwachsenenalter gelten(Ebner, Freund & Baltes, 2006; Staudinger et al.,1995). Dementsprechend nimmt der Umgang mitabnehmenden Ressourcen, zunehmenden Verlustenund der eigenen Endlichkeit in etlichen Theoriender psychischen Entwicklung im Erwachsenen-alter eine zentrale Stellung ein. Beispiele hierfür sind die späten Stufen der psychosozialen Entwick-lung (Erikson, 1959), die Gegenüberstellung assimi-lativer und akkommodativer Bewältigungsstrategien(Brandtstädter & Rothermund, 2002) sowie die The-orie der selektiven Optimierung mit Kompensationvon Baltes und Baltes (1990).

Das Verhältnis zwischen den drei Entwicklungs-zielen ist interaktiv und dynamisch; die Ziele kön-nen miteinander in Widerspruch geraten oder sichgegenseitig stützen. Die Verschiebung des relativenGewichts von Wachstum, Erhalt und Verlustregula-tion schließt Entwicklungszugewinne im Alter alsokeineswegs aus. Vielmehr geben die der biologischenAlterung geschuldeten Verluste auf individuellerund gesellschaftlicher Ebene beständig Anlass zurSuche nach Verhaltensweisen und sozialen Struktu-ren, die trotz nachlassender personaler Ressourcenin ausgewählten Bereichen Zugewinn und Erhaltermöglichen. Zum Beispiel können Kompetenzein-bußen hinsichtlich der praktischen Bewältigung des

Beibehaltung

Verlustregulation

WachstumZunahme

Kindheit Alter

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Abbildung 10.2. Mit zunehmendem Alter werdenweniger Ressourcen für Funktionszunahmen und mehrRessourcen für den Erhalt des Funktionsniveaus (Bei-behaltung) und die Regulation von Verlusten investiert(nach Staudinger et al., 1995)

Wie umfassend ist der Kulturbegriff, den dieAutoren vertreten? Schließt er zum Beispiel denmedizinischen Fortschritt ein? Nennen SieBeispiele für den nachlassenden Wirkungsgradkultureller Einflüsse im Alter. Wie würden Sie(zukünftig vielleicht mögliche) gentechnischeVeränderungen des Alterungsverlaufs imBiologie-Kultur-Schema verorten?

Denkanstöße

1.2 Veränderungen in der relativenRessourcenallokation

In funktionaler Hinsicht lassen sich Entwicklungs-ziele drei allgemeinen Kategorien zuordnen:� Zuwachs,� Aufrechterhaltung des bestehenden Funktions-

niveaus,� Regulation von Verlusten.Zuwachs bezieht sich auf das Erreichen höhererFunktionsniveaus, Aufrechterhaltung auf den Erhaltdes Funktionsniveaus unter erschwerten Bedingun-gen und Verlustregulation auf den adaptiven Um-gang mit nicht vollständig ausgleichbaren (d. h. zu-mindest partiell irreversiblen) Verlusten. Das Er-reichen dieser Ziele setzt in jedem Fall den Einsatzpsychischer, sozialer und materieller Ressourcenvoraus (z. B. Aufmerksamkeit, Anstrengung, Bewäl-tigungsstrategien, soziale Netzwerke, Zeit und Geld).Funktionserhalt und Verlustregulation werdenwichtiger. Die Architektur des Lebenslaufs bewirkt,dass sich die Anteile der Entwicklungsziele an derNutzung dieser Ressourcen im Laufe des Lebens ver-schieben. Im Laufe des Lebens wird ein zunehmen-der Anteil an Ressourcen in die Ziele Aufrechter-haltung und Verlustregulation investiert; der Anteilder in das Entwicklungsziel Zuwachs investiertenRessourcen nimmt entsprechend ab (Abb. 10.2). DerÜbergang von einer überwiegend zuwachsorientier-

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370 1 Entwicklung im Erwachsenenalter

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Alltags Zuwächse im sozialen Bereich nach sich ziehen, falls die entsprechenden Hilfeleistungen zurAufrechterhaltung und Pflege sozialer Kontakte ge-nutzt werden (Baltes & Carstensen, 1996). Die Ver-schränkung von Gewinn und Verlust sowie diedamit verknüpfte Multidimensionalität und Multi-direktionalität der Ontogenese gehören zu den theo-retischen Kernannahmen der Psychologie der Le-bensspanne.

Optimierung und Kompensation unterscheiden sichvor allem durch ihr komplementäres Verhältnis zuGewinnen (Optimierung) und Verlusten (Kompen-sation). Selektion, Optimierung und Kompensationkönnen bewusst oder unbewusst, aktiv oder passiv,intern oder extern erfolgen.

Ein Beispiel für passive Selektion ist es, wenn einKind in ein neusprachliches Gymnasium eingeschultwird, weil am Ort kein altsprachliches Gymnasiumvorhanden ist. Das Kind hat den neusprachlichenSchulzweig nicht aktiv gewählt. Vielmehr hat dieGelegenheitsstruktur eine Selektion bewirkt, die denweiteren Lebenslauf des Kindes beeinflussen kann(z. B. ist es unwahrscheinlich, dass es als Erwachse-ner einmal Altphilologe/in wird).

Ein Beispiel für unbewusste Optimierung ist impli-zites Lernen, durch das Regelhaftigkeiten der Umwelt(z. B. die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischenden Silben einer Sprache) beiläufig, das heißt ohneentsprechende Absicht erfasst und verhaltenswirksamwerden können (z. B. den Erstspracherwerb ermög-lichen).

Ein Beispiel für externe Kompensation ist die Verwendung eines Rollstuhles, wenn wegen ein-geschränkter Mobilität das Gehen nicht mehr mög-lich ist.

Mit Hilfe des SOK-Modells kann untersucht wer-den, in welchem Maße und in welcher Weise ver-schiedene Personen Entwicklungszugewinne maxi-mieren und Verluste minimieren. Dabei variierendie Zuordnungen von Gewinnen und Verlusten zubestimmten Zielen und Ereignissen in Abhängigkeitvon den Werten, den Ressourcen und der Lebensge-

Nennen Sie Beispiele älterer Menschen, die sichim hohen Alter trotz nachlassender Ressourcenin einem bestimmten Lebensbereich auf dasErzielen von Leistungszugewinnen konzentrie-ren. Diskutieren Sie Vor- und Nachteile dieserOrientierung.

Denkanstöße

Selektion bezeichnet die Auswahl von Funk-tionsbereichen, auf die sich die zu jedem Zeit-punkt der Lebensspanne begrenzten Ressourcenkonzentrieren, sie ermöglicht Spezialisierung.

Definition

1.3 Selektive Optimierung mit Kompensation

Das Modell der selektiven Optimierung mit Kom-pensation (SOK) entstand vorwiegend im Kontexttheoretischer Überlegungen zur erfolgreichen Ent-wicklung im Erwachsenenalter (Baltes & Baltes,1980, 1990; Freund & Baltes, 2000). Das SOK-Modellist eine allgemeine Entwicklungstheorie, die sich aufunterschiedliche Funktionen (z. B. Kognition undPersönlichkeit) sowie auf verschiedenen Analyseebe-nen (z. B. Ontogenese und Lernen) anwenden lässt.Es postuliert, dass erfolgreiche Entwicklung – defi-niert als gleichzeitige Maximierung von Gewinnenund Minimierung von Verlusten – durch das Zu-sammenspiel dreier übergeordneter Entwicklungs-prozesse hervorgebracht wird: Selektion, Optimie-rung und Kompensation.

Optimierung dient der Produktion von Ent-wicklungsgewinnen und bezieht sich auf denErwerb, die Verfeinerung und die Anwendungvon Ressourcen zum Erreichen von Entwick-lungszielen.Kompensation dient der Aufrechterhaltung desFunktionsniveaus bei Verlusten und bezeichnetsomit den Erwerb, die Verfeinerung und dieAnwendung von Ressourcen, die diesen Ver-lusten entgegenwirken (vgl. Baltes, 1997b).

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1.3 Selektive Optimierung mit Kompensation 371

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schichte der Person. Die Anwendung des Modellsauf eine bestimmte Biographie verlangt folglich vieleVermittlungsschritte und empirisch begründete Set-zungen. So sind bei der Definition der Entwick-lungsziele neben der Verhaltenskompetenz der Per-son (objektives Kriterium) auch deren Werte undSelbst-Konzeptionen (subjektive Kriterien) zu be-rücksichtigen (Montada, 1996).

Handlungstheoretische AusformulierungVerbindet man das SOK-Modell mit einer akti-ven Konzeption des Subjekts der Entwicklung (vgl.Kap. 1), so gelangt man zu einer handlungstheoreti-schen Ausformulierung des SOK-Modells (s. Tab.10.1; Freund & Baltes, 2000).Elektive und verlustbasierte Selektion. Selektionthematisiert nunmehr die Auswahl von Handlungs-zielen. Dabei wird zwischen elektiver (auswählender)und verlustbasierter Selektion unterschieden. ElektiveSelektion bezeichnet die Notwendigkeit, aus einerFülle von Handlungszielen diejenigen auszuwählen,die den eigenen Werten und Kompetenzen möglichstgut entsprechen. Verlustbasierte Selektion besteht imVerändern oder Aufgeben von Zielen als Reaktion aufantizipierte oder bereits eingetretene Verluste an Ver-haltens- und Handlungsspielraum, etwa aufgrund

altersbedingter Verluste an Ressourcen. Bei beidenFormen von Selektion ist zu beachten, dass Ziele nichtisoliert voneinander verfolgt werden, sondern sichgegenseitig stützen oder behindern (Riediger, 2001).Optimierung des Handlungsgefüges. Optimie-rung bezeichnet aus handlungstheoretischer Sicht dieAnwendung und Ausgestaltung von Mittel-Zweck-Relationen bei der Zielverfolgung. Ebenso wie zwi-schen verschiedenen Zielen bestehen auch zwischenHandlungsmitteln positive und negative Wechselwir-kungen. So kann Verhalten, das als Handlungsmittelfür ein bestimmtes Ziel fungiert (z. B. regelmäßigesJoggen zum Erhalt der körperlichen Fitness), zu-gleich auch einem anderen Ziel dienen (z. B. subjek-tivem Wohlbefinden). Schließlich kann dieses Mittelauch ein Ziel im Kontext anderer Handlungen dar-stellen (z. B. im Kontext von Veränderungen derwöchentlichen Zeitplanung mit dem Ziel, ausrei-chend Zeit für regelmäßiges Joggen zu schaffen).Kompensation. Die Notwendigkeit zur Kompensa-tion stellt sich aus handlungstheoretischer Sicht wiefolgt dar. Erstens ist Entwicklung ohne Verlust alleindeshalb unmöglich, weil sich Handlungsmittel fürverschiedene Ziele aufgrund struktureller Unver-träglichkeit und beschränkter Ressourcen gegensei-tig behindern. Eine Person, die sowohl sehr gut Ten-

Selektion Optimierung Kompensation(Ziele/Präferenzen) (zielbezogene Mittel) (Mittel zur Entgegenwirkung des

Verlusts zielbezogener Mittel)

Elektive Selektion � Erwerb neuer Fertigkeiten/ � Substitution von Handlungs-Ressourcen mitteln

� Bildung von Zielen � Orchestrierung von Fertigkeiten � Mobilisierung latenter Reserven� (hierarchisches) Zielsystem � Übung � vermehrte Übung� Auswahl von Zielen � Anstrengung � vermehrte Anstrengung� Kontextualisierung von Zielen � Investieren von Zeit � vermehrtes Investieren von Zeit� Zielverpflichtetheit � Aufmerksamkeitsfokussierung � Aufmerksamkeitsfokussierung

� Modellierung erfolgreicher Anderer � Modellierung erfolgreicherVerlustbasierte Selektion � Nutzen von Gelegenheiten Anderer, die kompensieren� Rekonstruktion der Zielhierarchie � Gebrauch externer Hilfe � Gebrauch externer Hilfe� Anpassung des Zielstandards � (Selbst-)Motivierung � (Selbst-)Motivierung� Bildung neuer Ziele � therapeutische Intervention� Fokussierung auf wichtigstes Ziel

Tabelle 10.1. Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK) aus handlungstheoretischerPerspektive (nach Baltes et al., 1995)

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372 2 Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter

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nis als auch sehr gut Geige spielen möchte, wird dieErfahrung machen, dass ihre rechte Hand für dasweiche Führen des Geigenbogens zu hart wird(strukturelle Unverträglichkeit). Zudem wird es ihrschwer fallen, beide Fertigkeiten mit ausreichenderIntensität zu üben (Ressourcenbeschränkung).

Zweitens führt die alterungsbedingte Abnahmebiologisch bestimmter kognitiver, sensorischer undgesundheitlicher Ressourcen der Person im Laufe desErwachsenenalters zu einem kontinuierlichen undim hohen Alter sich beschleunigenden Verlust anHandlungsmitteln. Bei knappen Ressourcen erfor-dert erfolgreiche Entwicklung die Auswahl von Ziel-bereichen sowie die Anwendung optimierender undkompensierender Mittel innerhalb dieser Bereiche.Der zusammengesetzte Begriff der „selektiven Opti-mierung mit Kompensation“ bringt diese Koordina-tion von Selektion, Optimierung und Kompensationzum Ausdruck.

Vor dem Hintergrund der Überlegungen zurArchitektur des Lebensverlaufs, der Dynamik vonGewinn und Verlust sowie der SOK-Theorie werdenim Folgenden zwei wesentliche Bereiche der Ent-wicklung in der zweiten Lebenshälfte näher betrach-tet: die intellektuelle Entwicklung sowie der Bereichvon Selbst und Persönlichkeit.

zu erhalten oder zu verbessern. Entwicklungszielekönnen einem Zuwachs, der Aufrechterhaltung derbestehenden Leistungsfähigkeit oder einer Regulationbereits aufgetretener Verluste dienen.Das Modell der selektiven Optimierung mit Kom-pensation. Dieses Modell von Paul und MargretBaltes (Baltes & Baltes, 1980, 1990) bietet einenAnsatz für die Definition erfolgreicher Entwicklung:� Selektion bezeichnet die Auswahl von Funktions-

bereichen,� Optimierung den Erwerb, die Verfeinerung und

die Anwendung von Ressourcen zum Erzielenvon Entwicklungsgewinnen,

� Kompensation bezeichnet den Ressourceneinsatzbei Verlusten.

2 Intellektuelle Entwicklungim mittleren und höherenErwachsenenalter

2.1 Zweikomponentenmodelle der intellektuellen Entwicklung

Biologische und kulturelle Determinanten. Zwei-komponentenmodelle der intellektuellen Entwick-lung (Baltes, 1987; Cattell, 1971; Horn, 1982; Tetens,1777) unterscheiden zwischen biologischen und kul-turellen Determinanten kognitiver Leistungen. Empi-risch stützen sie sich vor allem auf die Konsistenz derUnterschiede zwischen alterungsanfälligen und alte-rungsresistenten intellektuellen Fähigkeiten (Jones &Conrad, 1933; siehe Abb. 10.3). Alterungsanfällig sindvor allem Leistungen, die auf Schnelligkeit, Genauig-keit und Koordination elementarer kognitiver Prozes-se basieren. Typische Beispiele sind das Denkvermö-gen im Sinne von Induktion und Deduktion beigeringem Vorwissen, das räumliche Vorstellungsver-mögen, die Wahrnehmungsgeschwindigkeit und dieMerkfähigkeit. Alterungsanfällige Fähigkeiten zeigenin der Regel einen schnellen Anstieg im Kindes- undJugendalter, eine annähernd lineare Abnahme imErwachsenenalter sowie eine Beschleunigung diesesRückgangs im hohen Alter.

Diskutieren Sie die in „Denkanstoß 1.2“gefundenen Beispiele im Rahmen der Theorieder selektiven Optimierung mit Kompensation.

Denkanstöße

Zusammenfassende ÜberlegungenDie generelle Architektur des Lebensverlaufs. DasKonzept der biologischen und kulturellen Architekturdes Lebenslaufs nach Baltes (1997) geht davon aus,dass die positiven Auswirkungen des evolutionärenSelektionsdruckes mit dem Alter abnehmen, währendder Bedarf an Kultur mit dem Alter zunimmt.Zugleich lässt der Wirkungsgrad der Kultur mit demAlter nach, das heißt, die Wahrscheinlichkeit nimmtab, vom gezielten Einsatz kultureller Ressourcen zuprofitieren und das eigene Funktionsniveau dadurch

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2.1 Zweikomponentenmodelle der intellektuellen Entwicklung 373

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Abbildung 10.3. Querschnittliche Altersgradienten von fünf intellektuellen und zwei sensorischen Fähigkeiten imAltersbereich von 25 bis 101 Jahren. Die fluiden (mechanischen) intellektuellen Fähigkeiten Wahrnehmungsgeschwin-digkeit, Denkfähigkeit und Merkfähigkeit sowie die sensorischen Fähigkeiten Sehschärfe und Hörschwelle zeigen abdem jungen und mittleren Erwachsenenalter negative Beziehungen zum Alter. Hingegen sind bei den vorwiegendkristallinen (normativ-pragmatischen) Fähigkeiten Wissen (Wortschatz) und Wortflüssigkeit erst im höheren Er-wachsenenalter negative Beziehungen zum Alter erkennbar. N = 144, Altersbereich = 25–101 Jahre. Alle Leistungensind in T-Scores abgetragen (Mittelwert = 50, SD = 10) (nach Baltes & Lindenberger, 1997)

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374 2 Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter

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Im Vergleich zu den alterungsanfälligen Fähigkeitennehmen Leistungen in Aufgaben, die das Niveau vonFertigkeiten und die Größe und Qualität vonWissensbeständen erfassen, im Kindes- und Jugend-alter zwar ebenfalls zu; jedoch herrschen im Erwach-senenalter Stabilität und Wachstum vor, und erst imhohen Alter fallen die Leistungen wieder ab. Ein typi-sches Beispiel für eine Fertigkeit ist das Kopfrechnen,ein Beispiel für einen Wissensbestand sind verbaleFähigkeiten, wie sie im Wortschatz zutage treten. DerUnterschied zwischen Fertigkeiten (d. h. prozedura-lem Wissen) und Wissensbeständen (d. h. deklarati-vem Wissen) ist fließend und besteht in erster Liniedarin, dass Fertigkeiten weitgehend automatisiertsind, während Wissensbestände bewusst verfügbar

sind (zum ontogenetischen Verhältnis der beidenWissensformen vgl. Karmiloff-Smith, 1992).Mechanik und Pragmatik. Neben dem Modell derbiologisch bestimmten Mechanik und der kulturellgeprägten Pragmatik der Kognition von Paul Baltes(1987, 1997a, b) sind zwei weitere Zweikomponen-tenmodelle historisch und konzeptuell besondersbedeutsam. Johann Nicolaus Tetens (1736–1807)führte im Jahre 1777 die Unterscheidung zwischenabsoluten Vermögen und relativen Vermögen ein. Inseiner Darstellung der Unterschiede zwischen denbeiden Vermögensformen finden sich bereits allewesentlichen Bestimmungsstücke der nachfolgendenModelle (Lindenberger, im Druck).

Unter der Lupe

Abbildung 10.4. Johann Nicolaus Tetens (1736–1807)

Johann Nicolaus Tetens: Vordenker der Psychologie der Lebensspanne

Johann Nicolaus Tetens (1736–1807) gilt als Vordenker und Begründer der Psychologie der

Lebensspanne. Er wurde 1736 in Tetenbüll (Nord-deutschland) geboren und starb 1807 in Kopen-hagen. Von 1760 bis 1776 war er Professor derPhysik und Metaphysik an der Akademie in Büt-zow. Anschließend lehrte er als Professor derPhilosophie und Mathematik in Kiel. 1789beendete er die akademische Laufbahn und beganneine erfolgreiche Karriere als Finanzbeamter derdänischen Regierung.

Die Bedeutung von Tetens für die Psychologieder Lebensspanne gründet vor allem in seinemHauptwerk, den 1777 veröffentlichten „Philo-sophischen Versuchen über die menschliche Naturund ihre Entwickelung“. In diesem Werk unter-nahm Tetens den Versuch einer umfassenden Dar-stellung psychischer Eigenschaften und Prozesseaus entwicklungspsychologischer Perspektive. Die„Philosophischen Überlegungen“ gliedern sich inzwei Bände mit insgesamt 14 Versuchen zu psycho-logischen und erkenntnistheoretischen Themen.Die Mehrzahl der entwicklungspsychologischenÜberlegungen finden sich im 14. und letzten Ver-such mit dem bezeichnenden Titel „Über diePerfektibilität und Entwickelung des Menschen“.Dieser Essay umfasst 467 Seiten oder 29 Prozent

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Handlung. Aber, wie es scheint, nicht ingleichem Maße. Denn die Kinderseele ent-wickelt in den ersten Jahren die Vermögenstärker, als die Kenntnisse. In der Folge derJahre höret aber die Zunahme der Vermögenauf, wenn gleich die Kenntnisse im Wachsennoch fortfahren. Die Einsichten vermehren sich noch lange in dem Mannesalter, ohne daßdie Verstandesvermögen selbst an innererabsoluten Stärke, die sich zeigen müßte, wenndas Vermögen auf ganz neue Objekte ver-wendet würde, merklich größer werden sollten.Die Seelenkräfte haben wie die Körperkräfteihre natürlichen Perioden, und erreichen ihrMaximum, von dem an sie wiederum abneh-men. Das Gesicht und das Gehör wird an sichnicht stärker, wenn die Jugend zurückgelegetist. Die Phantasie und die Leidenschaftenerreicht ihre größte Höhe, ehe die Vernunftvöllig zur Reife kommt. Und alsdann mögendie Thätigkeiten fortdauern; man mag die Kraftüben, sich mit ihren mannigfaltigen Wirkungenbekannter und sich solche geläufiger machen:so können neue relative Fähigkeiten erhaltenwerden; aber die innere Intension der Vermögenerhält keinen merklichen Zuwachs mehr.(Tetens, 1777, Band 2, S. 431–433, Hervor-hebungen im Original)

Tetens entfaltet hier alle wesentlichen Bestim-mungsstücke von Mechanik und Pragmatik, nurnennt er sie absolute und relative Vermögen. DieDefinition des Begriffspaars selbst ist weitgehendanalog, und die unterschiedlichen Altersgradien-ten von Mechanik und Pragmatik dienen alsBeleg für die Plausibilität der Unterscheidung.Die Vorstellung, dass die Mechanik vor allem inneuartigen Aufgaben, für die noch kein Wissenvorliegt, zum Ausdruck kommt, antizipiert jeneÜberlegungen, die zur Entwicklung von Tests derfluiden Intelligenz führten. Und schließlichgelangt Tetens zu der visionären Einsicht, dass dieabsoluten Vermögen weniger leicht zu modifizie-ren sind als die relativen.

des Gesamtwerks und ist mehr als doppelt so um-fangreich wie die anderen 13 Essays.

Im Folgenden wird die Bedeutung von Tetensan einigen exemplarischen Zitaten verdeutlicht,die sich auf zentrale Themen psychischerEntwicklung im Erwachsenenalter beziehen.Absolute und relative Vermögen. Die wohlfrappierendste Vorwegnahme aktueller Konzeptio-nen und Erkenntnisse findet sich auf dem Gebietder intellektuellen Entwicklung über die Lebens-spanne. Man stößt bei Tetens auf eine wechsel-seitige Bestimmung „absoluter“ und „relativer“Vermögen, deren Grundstruktur mit aktuellen Zweikomponentenmodellen der intellektuellenEntwicklung übereinstimmt (vgl. Baltes, 1987;Cattell, 1971).Zum Beispiel:

Aus dem, was vorher über die Vergrößerungder Seelenvermögen bemerkt ist, folget vonselbst, daß man einen Unterscheid zu machen habe, zwischen dem Zuwachs anKenntnissen und Ideenreihen, wovon dierelativen Vermögen abhängen, diejenigennämlich, die sich auf die Bearbeitungbesonderer Arten von Gegenständen beziehen; und zwischen dem Anwachs der absoluten Vermögen, in so ferne sieFähigkeiten sind, auf gewisse Weise zu wirken,ihr Objekt sey welches es wolle. Die Ideen-reihen sind eine Armatur des Vermögens;sie geben Fertigkeiten in besondern Arten von Kenntnissen und Handlungen. JederGelehrte urtheilt am fertigsten über Sachen,die zu seinem Fache gehören, ohne deswegenmehr Verstand zu besitzen; und jeder Hand-werker ist Meister seiner Arbeit, obgleich seine Kräfte, welche dadurch thätig sind,nichts vor ebendenselbigen Kräften in andernMenschen voraus haben. Anfangs nimmt mitden Kenntnissen von den Objekten dasVermögen, auf solche Objekte zu wirken, undzugleich die absolute Größe der Kraft zu; eswächst das Materielle mit der Form der

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Tetens wendet seine Unterscheidung zwischenabsoluten und relativen Vermögen auch auf daskognitive Altern an und argumentiert, dass dieGrenzen der relativen Vermögen ontogenetischspäter erreicht werden als die Grenzen in denabsoluten Kräften:

Die relativen Vermögen, oder besondereGeschicklichkeiten, müssen gleichfalls im Men-schen ihr Maximum erreichen, und erreichenes, wie die Erfahrung von allen Virtuosen leh-ret. Doch ist dieser Punkt von dem Punkt desGrößten in den absoluten Kräften unterschie-den. Die letztern haben oft genug ihre höchsteStufe schon erreicht, wenn die Fertigkeiten ingewissen bestimmten Arten zu handeln nichtnur sich vervielfältigen und also an Ausdeh-nung zunehmen, sondern auch an innerer Stär-ke und Geschwindigkeit noch fortwachsen.Dieses Wachsthum kann weit in die Periodeder Abnahme der absoluten Kräfte hineinge-hen. (Tetens, 1777, Band 2, S. 728–729, Her-vorhebungen im Original)

Plastizität als Wesensmerkmal des Menschen.Plastizität ist für Tetens ein zentrales Merkmalmenschlicher Entwicklung. Besonders bekannt istdie folgende Passage:

Allemal aber kann die Frage: was kann aus dem Menschen werden, und was und wie sollman es aus ihm machen? nur gründlich undbestimmt beantwortet werden, wenn dietheoretische: was ist der Mensch? was wird er und wie wird er es in den Umständen undunter dem Einflusse der moralischen undphysischen Ursachen, unter denen er in der Welt sich befindet? vorher bestimmt unddeutlich beantwortet ist. (Tetens, 1777, Band 2,S. 373)

Weiter heißt es:

Der Mensch ist unter allen empfindenden Mit-geschöpfen auf der Erde das meist perfektibleWesen, dasjenige, was bey seiner Geburt am

wenigsten von dem ist, was er werden kann,und die größte Auswickelung annimmmt.Es ist das vielseitigste, das beugsamste Wesen,das am mannigfaltigsten modificiret werdenkann, seinem ausgedehnten Wirkungskrais, zudem es bestimmt ist, gemäß. (Tetens, 1777,Band 2, S. 740–741, Hervorhebungen imOriginal)

Aber der Grundcharakter der Menschheit, dievorzügliche Modifikabilität, und Anlage zurSelbstthätigkeit, sie mag sich wenig oder vielentwickeln, und auch bey den verschiedenenIndividuen von verschiedener Größe seyn,gehöret unter die unveränderlichen Kennzei-chen der Menschheit, die man allenthalbenfindet, wo es Menschen giebet. (Tetens, 1777,Band 1, S. 766)

Dabei widmet sich Tetens neben den aus heutigerSicht als genetisch bedingt zu bezeichnendenindividuellen Unterschieden auch den kulturellenund historischen Gegebenheiten, die aus seinerSicht die Vervollkommnung des Menschenfördern oder behindern können. Er antizipiertdamit das Potential der Kultur als Produzentenpositiver Entwicklungsverläufe im Erwachsenen-alter.

Die Vervollkommnung im Geschlecht kann nurwachsen durch die Verbesserung der äußernMittel, welche die Entwickelung befördern.(Tetens, 1777, Band 2, S. 767)

Das Wirksamste, was zur Erhebung derMenschheit in dem nachfolgenden Geschlechtegeschehen kann, beruhet aufder Einrichtung und Festsetzung der äußern Ursachen, durch deren Einfluß die Naturkraft am leichtesten und am vollkommensten entwickelt wird. (Tetens, 1777,Band 2, S. 775)

Gewinne und Verluste. Auch bei Tetens findetsich die Vorstellung, dass Gewinne und Verlustesich wechselseitig bedingen. In der folgenden

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Fluide und kristalline Fähigkeiten. Auf dem Gebietder standardisierten Erfassung intellektueller Fähig-keiten sind Zweikomponentenmodelle vor allemdurch die Theorie fluider und kristalliner Fähigkeitennach Cattell (1971) und Horn (1982, 1989) vertreten.Während diese Theorie den Rahmen der standardi-sierten Leistungsmessung (d. h. der psychometrischenForschungstradition) selten verlässt, besteht der theo-retische Anspruch des Mechanik-Pragmatik-Modellsdarin, die mit der standardisierten Leistungsmessungerhobenen Befunde mit kognitions-, evolutions- undkulturpsychologischen sowie entwicklungsbiologi-schen Erkenntnissen zu verbinden (s. auch Baltes,1997; Baltes et al., 1998).

Im Folgenden werden die Mechanik und Prag-matik der Kognition sowie ihre wechselseitigenBeziehungen zunächst in drei getrennten Ab-schnitten näher bestimmt. Anschließend werdenBefunde zu zentralen Themen der intellektuellenEntwicklung über die Lebensspanne vor dem Hin-tergrund des Modells zusammengefasst und erläu-tert.

2.1.1 Die Mechanik der Kognition

Passage beleuchtet er den möglichen Verlust imGewinn:

Eine schwere Frage ist es, wie die Grenze zu finden sey, bis wohin die Perficirung eines Vermögens gehen dürfe, ohne das Eben-maß in der Entwickelung aller zu stören, das zur besten Vervollkommnung des ganzen Menschen und zur längsten Erhal-tung desselben erfordert wird? Die Vollkommenheit an einer Seite wird alsdennein Größtes, in Hinsicht der Vollkommenheitdes Ganzen. Denn bis hieher erhöhet sie die letztere; aber darüber hinaus mindert sie sie. Hierauf läßt sich schwerlich einebestimmte Antwort geben, die zugleich allgemein auf alle einzelne Personen paßte.(Tetens, 1777, Band 2, S. 628, Hervorhe-bungen im Original)

Schließlich spekuliert Tetens über die Chance deskompensatorischen Gewinns im Verlust am Beispieldes Nachlassens der Sinnesleistungen im Alter:

Ehe der Alte es gewiß wird, daß ein wahresUnvermögen eingetreten, glaubt er eine Weile, es möchten nur zufällige Hindernisse daseyn. Er versucht schärfer zuzusehen und auf-merksamer zuzuhören, wenn schon das Augeund Ohr gelitten hat, in der Meinung,es fehle an seiner Aufmerksamkeit, daß dieEmpfindungen nicht mehr so lebhaft unddeutlich sind … Und daraus folgt …, daß die Seelenvermögen … noch wohl im Anfang etwas zunehmen, weil sie gereizet werden mit einer größern Intension zu wirken, um das zu ersetzen, was von der Seitedes Körpers abzugehen anfängt. (Tetens, 1777,Band 2, S. 746–747)

Die Mechanik der Kognition repräsentiertden Einfluss der Biologie auf die intellek-

tuelle Entwicklung. Sie bezeichnet die biologi-sche Komponente der kognitiven Leistungs-fähigkeit und des kognitiven Entwicklungs-potentials.

!

Wie schon Tetens (1777) bemerkte, sind die Ursa-chen für den Zuwachs der Mechanik zu Beginn desLebens von den Ursachen für die Abnahme in derzweiten Lebenshälfte grundsätzlich verschieden. Inder Embryogenese, dem Säuglingsalter und der frü-hen Kindheit reflektieren die Altersveränderungender Mechanik den interaktiven Aufbau neuronalerStrukturen, bei dem Reifung und Erfahrung in evolu-tionär optimierter Weise ineinander greifen (Bjork-lund, 1997; Elman et al., 1996; Wellman & Gelman,1992). Dieser Vorgang findet in der kognitiven Alte-rung keine direkte Entsprechung. Vielmehr sind dieontogenetisch späten, negativen Altersveränderun-gen der Mechanik als indirekte Auswirkungen des

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nachlassenden phylogenetischen Selektionsdruckssowie weiterer alternsbezogener Dysfunktionenanzusehen. Trotz dieser grundsätzlichen Verschie-denheit scheinen mechanische Leistungen, derenneuronale Strukturen relativ spät ausreifen (wie z. B.die weiter unten dargestellten „exekutiven Funktio-nen“), in der Regel auch stärker von der kognitivenAlterung betroffen zu sein als andere Aspekte derMechanik („Ribot’sches Gesetz“; Ribot, 1882). Dieskönnte daran liegen, dass diese auch evolutionär späten Leistungen auf zahlreichen und komplex verknüpften Verarbeitungswegen aufbauen und des-wegen störanfälliger sind als andere.

2.1.2 Die Pragmatik der Kognition

fluide Fähigkeiten (d. h. ihr „mechanisches“ kognitivesPotential) in allgemein relevante Wissensbereiche. Diedabei entstehenden normativ-pragmatischen Wis-sensbestände werden als kristalline Fähigkeiten be-zeichnet. Aufgrund der Investitionsbeziehung ist zuerwarten, dass Leistungszuwächse in kristallinenFähigkeiten den Zuwächsen in fluiden Fähigkeiten, aufdenen sie aufbauen, ontogenetisch nachfolgen. Außer-dem sollten fluide Fähigkeiten stärker mit dem gegen-wärtigen Leistungsniveau des Gehirns, kristallineFähigkeiten hingegen stärker mit soziobiographischenFaktoren verknüpft sein. Die Daten der BerlinerAltersstudie belegen, dass diese Divergenz der Bezie-hungen fluider und kristalliner intellektueller Fähig-keiten zu vorwiegend biologischen und vorwiegendkulturellen Korrelaten auch im hohen Alter zu beo-bachten ist (Lindenberger & Baltes, 1997; s. Abb. 10.5).Personenspezifisches pragmatisches Wissen. Per-sonenspezifisches pragmatisches Wissen zweigt vonnormativen Pfaden des Wissenserwerbs ab. Es resul-tiert aus personenspezifischen, idiosynkratischenKonstellationen von Erfahrung, Motivation, Hand-lungskontrollerleben und bereichsspezifischer sowiegenereller Begabung. Aufgrund ihrer relativ geringenAllgemeinheit entgehen diese Wissensbeständezumeist einer Erfassung durch standardisierte Tests.Angemessener ist hier die Untersuchung mit demExpertiseparadigma (Ericsson & Lehmann, 1996),das die Bedingungen und Prozesse der Genese vonHöchstleistungen in verschiedenen Bereichen (z. B.Schach, Sport, bestimmte Berufe) näher untersucht.Expertise. Ein großer Teil kognitiver Zugewinne immittleren Erwachsenenalter geht auf den Erwerbvon personenspezifischem pragmatischem Wissenzurück. Dementsprechend beziehen sich entwick-lungspsychologische Untersuchungen zu personen-spezifischen Wissensbeständen vorwiegend auf dasErwachsenenalter. Zumeist werden die Leistungenvon Experten und Novizen innerhalb und außerhalbdes betreffenden Wissensbereichs miteinander ver-glichen. Zu den klassischen Beispielen gehören dieExpertisebereiche Schach (Charness, 1981), Karten-spiele (Bosman & Charness, 1996) und Musik(Krampe & Ericsson, 1996). Die Ergebnisse dieserArbeiten lassen zwei Schlussfolgerungen zu.

Die Pragmatik der Kognition erfasst die kulturelle Dimension der intellektuellen

Entwicklung. Sie lenkt die Aufmerksamkeit aufdie funktionale Bedeutung kulturgebundenenWissens, das sowohl internal (d. h. neuronal,z. B. in semantischen Netzwerken) als auchexternal (z. B. in Büchern) repräsentiert wird.

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Entwicklungsveränderungen in der Pragmatikreflektieren somit den Erwerb kulturell verankerterBestände deklarativen und prozeduralen Wissens,die den Individuen im Laufe der Sozialisationzugänglich gemacht werden. Einige der dem Erwerbpragmatischen Wissens dienenden Sozialisations-vorgänge finden sich nur in manchen Gesellschaf-ten, sind dort jedoch normativ (z. B. allgemeineSchulpflicht), andere sind universell (z. B. informel-le Unterweisung durch Mentoren) und wiederumandere sind hoch spezialisiert und idiosynkratisch(z. B. professionelle Expertise).Normativ-pragmatische Wissensbestände. Indivi-duelle Unterschiede in normativen Aspekten der Prag-matik sind mit Bildungschancen und anderen Aspek-ten sozialer Ungleichheit korreliert und gut im Rah-men der psychometrischen Tradition messbar undbeschreibbar. So „investieren“ Personen während derSchulzeit und in späteren Abschnitten der Ontogenese

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Insbesondere gibt es kaum Hinweise darauf, dass dieMechanik der Kognition durch den Erwerb vonExpertenwissen im Erwachsenenalter verändert wird(Krampe & Ericsson, 1996; Salthouse, 1991a). Wer-den Effekte jenseits des Inhaltsbereichs der Expertisebeobachtet, so ist in den meisten Fällen eher voneinem Transfer pragmatischen Wissens (mit positi-ven oder negativen Auswirkungen) auszugehen alsvon mechanischen Veränderungen.

Der zweite Befund betrifft das Vermögen derPragmatik, die Konsequenzen mechanischer Al-ternsverluste auszugleichen (Bosman & Charness,1996; Krampe & Ericsson, 1996; Lindenberger et al.,1992).

Die beobachteten positiven Auswirkungen bereichs-spezifischen Wissens auf das Leistungsniveau in aus-gewählten Funktionsbereichen stützen die Annah-men des SOK-Modells über die Voraussetzungenerfolgreicher Entwicklung im Erwachsenenalter. Obderartiges Wissen kompensatorisch, das heißt alsReaktion auf antizipierte oder bereits eingetreteneVerluste, oder optimierend, das heißt unabhängigvon alternsbedingten Verlusten, erworben wurde, istim Nachhinein meist nicht eindeutig zu entscheiden(s. auch Bosman & Charness, 1996).

Soziobiographische MerkmaleSensorik/Sensomotorik

Hör-schwelle

Bildung SozialeSchicht

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) Wahrnehmungsgeschwindigkeit

Wissen

Berufs-prestige

Gleich-gewicht

Seh-schärfe

Einkommen

Abbildung 10.5. Fortbestand der divergenten Beziehung mechanischer und pragmatischer Fähigkeiten zu biologischenund kulturellen Einflusssystemen im hohen Alter. Die mechanische Fähigkeit Wahrnehmungsgeschwindigkeit ist stär-ker mit sensorisch-sensomotorischen Variablen verknüpft als die pragmatische Fähigkeit Wissen (Wortschatz). Umge-kehrt korreliert das Wissen höher mit sozialstrukturell-biographischen Variablen als die Wahrnehmungsgeschwindig-keit. Die sensorisch-sensomotorischen Variablen repräsentieren das biologische Einflusssystem, die sozialstrukturell-biographischen Variablen das kulturelle. N = 516, Altersbereich = 70–103 Jahre (nach Lindenberger und Baltes, 1997)

Die positiven Auswirkungen der Expertiseüberschreiten äußerst selten die Grenzen des entsprechenden Bereichs.

! Erworbenes Wissen befähigt alterndeIndividuen lokal, das heißt in Bezug auf den

selegierten Expertisebereich, die negativenAuswirkungen der alternsbedingten Abnahmeder Mechanik auszugleichen oder zumindestabzuschwächen.

!

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2.1.3 Mechanik und Pragmatik: Evolutionäreund ontogenetische Abhängigkeiten

In jüngerer Zeit haben nativistisch orientierte For-schungen zur Säuglingsentwicklung die evolutionärvorstrukturierte Natur menschlicher Informations-verarbeitung hervorgehoben (vgl. Kap. 11). Expe-rimentalmethodische Innovationen der Säuglings-forschung haben deutlich gemacht, dass Säuglingenicht als kognitive „Tabula rasa“ betrachtet werdenkönnen, wie dies durch extreme Versionen kon-struktivistischer oder behavioristischer Theoriebil-dung nahe gelegt wird. Vielmehr entwickeln Men-schen, ähnlich wie Mitglieder anderer Arten, ihr Ver-halten bereits vor der Geburt und beginnen ihrextrauterines Leben mit leistungsfähigen Lernme-chanismen und bereichsspezifisch wirksamen „con-straints“ (Spezifikationen oder Randbedingungen;s. auch Elman et al., 1996; vgl. Kap. 11 und 12). Diesbetrifft zum Beispiel Wahrnehmungsleistungen imBereich der Sprache und des Gesichtererkennenssowie grundlegendes Wissen in physikalischen, bio-logischen, sozialen und numerischen Bereichen(Wellman & Gelman, 1992). Die Pragmatik der Kognition baut auf diesen vorstrukturierten, derMechanik zuzurechnenden Kernbereichen auf,indem sie diese, die spezifischen Erfordernisse undAngebote von Kultur, Biographie und Kontextberücksichtigend, weiterentwickelt oder sich in Analogie zu ihnen herausbildet (Stern, 2002). Diedafür erforderlichen Prozesse der Erweiterung, desAnbaus und der analogen Konstruktion (Siegler &Crowley, 1994) erzeugen Wissensformen (z. B. dieEuklidische Geometrie) und Verhaltensmuster (z. B.Auto fahren), die nicht als direkte Konsequenz desevolutionären Selektionsdrucks angesehen werdenkönnen.Interaktion zwischen Mechanik und Pragmatik.Demnach ist kognitive Entwicklung von Anfang anauf Interaktionen zwischen Pragmatik und Mecha-nik angewiesen. Qualität und Funktion dieser Inter-aktionen verändern sich im Laufe der Ontogenese.Vor allem in der frühen Kindheit stellt die Pragma-tik das Medium (d. h. den Inhalt) und somit aucheine strukturelle Voraussetzung für den Aufbau derMechanik dar. Zum Beispiel bedürfen sprachwirksa-

me Lernmechanismen einer bestimmten Sprache alsDatenbasis, um zur Herausbildung grammatischerStrukturen beitragen zu können. Darüber hinausbestimmen reifungs- und alterungsbedingte Verän-derungen von Zustand und Potential der Mechanikdie Fähigkeit zum Erwerb weiteren pragmatischenWissens sowie die Wahrscheinlichkeit, mit der ein-mal erworbenes Wissen erhalten und in bestimmtenKontexten eingesetzt werden kann. Der Unterschiedim Höchstleistungsalter zwischen Turnier- und Kor-respondenzschach kann hier als Beispiel dienen(Bosman & Charness, 1996).

Das mittlere Alter, in dem Personen zum erstenMal Weltmeister werden, beträgt beim Korres-pondenzschach zirka 46 Jahre und beimTurnierschach zirka 30 Jahre. Beim Korre-spondenzschach hat man drei Tage Zeit, überden nächsten Zug nachzudenken; beim Turnier-schach sind es im Durchschnitt drei Minuten.

Die Unterschiede im Höchstleistungsalter reflek-tieren vermutlich die relative Wichtigkeit vonkognitiver Geschwindigkeit und Schachwissen.Generell können Unterschiede im Höchstleis-tungsalter zwischen Fertigkeiten als Variationenontogenetischer Kompromisse zwischen dem

Beispiel

Der Russe Garri Kasparow (geb. 1963) ist einer dererfolgreichsten Schachspieler der Welt

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Zugleich zeigen die Arbeiten im Rahmen des Exper-tiseparadigmas, dass und in welcher Weise die Prag-matik der Kognition intellektuelle Leistungen inwissensreichen Bereichen zu steigern vermag. So

schwächt pragmatisches Wissen die Auswirkungenmechanischer Leistungsgrenzen ab und setzt sie in einigen Fällen nahezu vollständig außer Kraft(Gobet & Simon, 1996). Somit verlagert sich das Potential intellektuellen Zugewinns und Leis-tungserhalts im Laufe des Lebens zunehmend aufdie selektive Pflege und kompensatorische Erweite-rung wertgeschätzter und lebenswichtiger Wissens-bestände (Baltes & Carstensen, 1996; Brandtstädter,1998)

Alter zu Beginn des Fertigkeitserwerbs, der fürden Fertigkeitserwerb benötigten Zeit und demalternsbedingten Nachlassen der Mechanikangesehen werden.

Innerhalb der Lebensspannenpsychologie gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, ob intel-lektuelle Entwicklungszugewinne im Erwachse-nenalter einer strukturalistischen, stufenhaftenLogik folgen und als Bewegung zu höheren Denkformen beschrieben werden können (z. B. Labouvie-Vief, 1982) oder ob funktio-nalistische Zugänge, die die lokale und graduelleNatur von Wissenserwerb, selektiver Spezialisie-rung und Transfer betonen, eine angemessenereoder zumindest sparsamere und besser überprüf-bare Beschreibung von Entwicklungszugewinnenim Erwachsenenalter darstellen (Lindenberger,2001). Das im vorliegenden Kapitel vertreteneZweikomponentenmodell kann als typischer Vertreter des funktionalistischen Zugangs gelten.Postformale Stufen? Die Suche nach Stufen der intellektuellen Entwicklung im Erwachsenen-alter wurde vor allem durch Piagets Theorie derkognitiven Entwicklung inspiriert (Chapman,1988). Im Sinne strukturalistisch-konstruktivisti-scher Theoriebildung werden eine oder mehrere„postformale“ oder „dialektische“ Stufen der kognitiven Entwicklung postuliert, die der Stufeder formalen Operationen folgen sollen. In derkonzeptuellen Definition dieser Stufen werdenAspekte der Persönlichkeitsentwicklung, zumBeispiel Generativität und Reflexion im SinneEriksons (1959), und Aspekte des logischen Den-kens, wie zum Beispiel das Bewusstsein und die

Akzeptanz von Widersprüchen, miteinander ver-knüpft (Labouvie-Vief, 1982; Pascual-Leone,1983). Überzeugende empirische Belege für dasVorhandensein derartiger Stufen sind jedoch schwer zu finden.

Trotz seiner konstruktivistischen und dialekti-schen Erkenntnistheorie (Chapman, 1988) hatPiaget selbst keine weiteren Stufen nach den formalen Operationen postuliert. Stattdessen hat er zumindest bei einer Gelegenheit (Piaget,1972) argumentiert, dass Jugendliche undErwachsene nicht unbedingt in allen, sondernzunächst in den ihnen besonders vertrauten Wissensbereichen formal-operational dächten.Diese Erwartung ist mit dem Zweikomponen-tenmodell der intellektuellen Entwicklung vereinbar, da das Potential für Entwicklungs-zugewinne nach der Kindheit mit Faktoren verknüpft wird, die eher innerhalb von Berei-chen als über Bereiche hinweg angesiedelt sind (d. h. mit dem Erwerb pragmatischen Wissens).Erwerb besonders verallgemeinerbaren Wis-sens. Folgt man dieser Umdeutung, so kann die strukturalistisch-konstruktivistische Suchenach höheren Denkformen als Suche nach Wissen mit großer verallgemeinerbarer Bedeu-tung und Anwendbarkeit dargestellt werden.Wissen über grundlegende Angelegenheiten des Lebens erfüllt diese Bedingungen in ideal-typischer Weise (Baltes & Staudinger, 1993).

Unter der Lupe

Entwicklungszugewinne im Erwachsenenalter: Stufenkonzeptionen und funktionalistischeZugänge

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382 2 Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter

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2.2 Relative Stabilität intellektuellerLeistungen über die Lebensspanne

Die folgenden drei Abschnitte dienen der Be-trachtung von Entwicklungsveränderungen in dreiAspekten der intellektuellen Leistungsfähigkeit: (1)Veränderungen in der relativen Stabilität oder demAusmaß, in dem interindividuelle Unterschiede inspäteren durch interindividuelle Unterschiede infrüheren Abschnitten der Ontogenese vorhergesagtwerden können; (2) Veränderungen in der Heritabi-lität oder dem Ausmaß, in dem interindividuelleUnterschiede in intellektuellen Leistungen auf gene-tische Unterschiede zurückgehen (vgl. Kap. 1 und 2);(3) Veränderungen im Ausmaß des Zusammenhangs(d. h. der Kovariation) zwischen verschiedenenintellektuellen Fähigkeiten. Eine integrative Analysevon Entwicklungsveränderungen über diese dreiAspekte und verschiedene Altersbereiche hinwegträgt zu einem besseren Verständnis der Variabilitätintellektueller Leistungen im Erwachsenenalter bei.

Einschränkend sei vorausgeschickt, dass derGroßteil der Befunde zur relativen Stabilität nachdem Säuglingsalter auf unspezifischen Maßen intel-lektueller Leistungsfähigkeit basiert (d. h. auf sogenannten IQ-Tests). Diese Maße stellen Konglome-rate mechanischer und normativ-pragmatischer

Komponenten dar, die unterschiedlich weit vomGeneralfaktor der Intelligenz (d. h. vom Zentrumdes Raums intellektueller Fähigkeiten) entfernt sind;ihre Undifferenziertheit verdeckt unter anderemstrukturelle Eigenschaften der intellektuellen Ent-wicklung.

2.2.1 Verhalten im Säuglingsalter als Prädiktor intellektueller Leistungsfähigkeit

Es mag abwegig erscheinen, dem Säuglingsalter imRahmen dieses Kapitels einen eigenen Abschnitt zuwidmen. Insbesondere bei der Betrachtung der rela-tiven Stabilität ist es jedoch erforderlich, das Er-wachsenenalter in den Kontext der gesamten Le-bensspanne einzubetten, um seine Besonderheitendeutlicher hervortreten zu lassen.Habituations- und Wiedererkennungsverhalten.Im Gegensatz zu früheren Befunden mit standar-disierten Maßen der Säuglingsentwicklung habenneuere Arbeiten mit Habituations- und Wiederer-kennungsparadigmen (vgl. Kap. 11 und 12) ein be-achtliches Ausmaß an relativer Stabilität zwischenSäuglingsverhalten und Intelligenz im Kindesalterzum Vorschein gebracht (McCall & Carriger, 1993).Beide Paradigmen basieren auf den theoretischenPerspektiven des operanten Konditionierens sowiedes Informationsverarbeitungsansatzes und bezie-hen sich auf die Tendenz von Säuglingen, ihr Ver-halten in Abhängigkeit früherer Begegnungen mitdem experimentellen Reiz zu verändern (z. B. Nach-lassen der Aufmerksamkeit im Falle der Habituationoder Bevorzugung neuer Stimuli im Falle derWiedererkennung). So lässt das Interesse an einemvisuellen Reiz (z. B. einem roten Quadrat) nach,wenn er wiederholt gezeigt wird, das heißt, die Blick-dauer verkürzt sich (Habituation). Zeigt man denbekannten Reiz zusammen mit einem neuen (z. B.

Durchaus in Einklang mit den Absichten struk-turalistischer Überlegungen könnte der Erwerbderartigen Wissens der zunehmenden Fragmen-

tierung des Denkens durch Wissensbeständegeringerer Generalisierbarkeit entgegenwirken(vgl. Staudinger, 1997, Kap. 33).

Halten Sie sich die Art der Fragen in derFernsehshow „Wer wird Millionär?“ vor Augen.Diskutieren Sie, wie Pragmatik und Mechanikbei der erfolgreichen Beantwortung der Fragenzusammenwirken. Nennen Sie mögliche Fragen,die vorwiegend normatives kulturelles Wissenerfordern, und Fragen, die Expertenwissen voraussetzen. Begründen Sie Ihre Zuordnungen.

Denkanstöße

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2.2 Relative Stabilität intellektueller Leistungen über die Lebensspanne 383

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einem blauen Dreieck), so wird der neue Reiz in derRegel bevorzugt angeschaut (Wiedererkennen desalten und Präferenz für das neue Objekt). Die mitden beiden Paradigmen erfassten individuellenUnterschiede beziehen sich zum einen auf dieSchnelligkeit der Habituation und zum anderen aufdie Stärke der Präferenz für das neue Objekt. Im All-gemeinen sind individuelle Unterschiede im Habitu-ations- und Wiedererkennungsverhalten im Alterzwischen zwei und acht Monaten moderat mit Stan-dardtests der Intelligenz korreliert, die im Alter zwi-schen einem und acht Jahren verabreicht werden(Median der Korrelationen: r = .45; nach Berück-sichtigung der Reliabilität der Tests: r = .70; McCall& Carriger, 1993).Inhibition und Bevorzugung des Neuen. Demnachist relative Stabilität, das heißt die Kontinuität interin-dividueller Unterschiede, im Gegensatz zu früherenVermutungen zumindest im Bereich intellektuellerLeistungen bereits im Säuglingsalter nachweisbar. ZurErklärung der Existenz relativer Stabilität zu Beginnder Ontogenese ist unter anderem der Vorschlaggemacht worden, dass Säuglinge, die sich schneller anReize gewöhnen und die eine stärkere Präferenz fürneue Objekte zeigen, eher in der Lage sind, Hand-lungstendenzen, die mit bereits bestehenden Reprä-sentationen verknüpft sind, zu hemmen. Im oben ge-nannten Beispiel sind sie besser in der Lage, die mitder Repräsentation des roten Quadrats verbundeneHandlungstendenz des Hinschauens zu unterdrückenund sich einem neuen Reiz zuzuwenden. DieseAnnahme entspricht der Vorstellung, dass Inhibitionund Bevorzugung des Neuen übergreifende Merk-male der Intelligenz darstellen (McCall, 1994).

2.2.2 Relative Stabilitätnach dem Säuglingsalter

Aus noch unbekannten Gründen bleibt die Höheder Korrelation zwischen Maßen des Habituations-verhaltens im Säuglingsalter (d. h. 2 bis 8 Monate)und Maßen der Intelligenz im Kindesalter (d. h.1 bis 12 Jahre) ontogenetisch stabil oder nimmt mitgrößerem zeitlichen Abstand sogar noch zu. ImGegensatz hierzu nehmen nach dem Säuglingsalter

die Korrelationen zwischen den Messungen mitzunehmendem zeitlichen (d. h. ontogenetischen)Abstand zwischen den Messungen ab. Zugleichnimmt die Höhe von Korrelationen, die sich aufdenselben Zeitraum zwischen Messzeitpunktenbeziehen, von der Kindheit über das Jugendalter bisins mittlere und späte Erwachsenenalter deutlich zu.So fanden Humphreys und Davey (1988) Ein-Jahres-Stabilitäten von r = .86 für den Altersbereichzwischen fünf und sechs Jahren und von r = .90 fürden Altersbereich zwischen acht und neun Jahren.Hertzog und Schaie (1986) berichteten, dass die Sie-ben-Jahres-Stabilitäten eines reliabilitätskorrigiertenAggregats mehrerer intellektueller Fähigkeiten, dasals valider Indikator der generellen Intelligenz geltenkann, im Alter zwischen 25 und 67 Jahren zwischenr = .89 und r = .96 variierten; die entsprechendengeschätzten Ein-Jahres-Stabilitäten befinden sichnahe bei r = 1.0.Interpretation. Die beobachteten Veränderungender relativen Stabilität über die Lebensspanne lassensich im Kontext der gleichzeitig erfolgenden Verän-derungen im Niveau der intellektuellen Leistungsfä-higkeit interpretieren (Molenaar et al., 1991). Nachdieser Vorstellung verändern sich interindividuelleUnterschiede zu Beginn der Ontogenese relativschnell, weil die Ausgangsgröße des intellektuellenRepertoires zunächst gering ist und dann schnellzunimmt, so dass eine größere Menge an neuer Vari-anz pro Zeiteinheit entsteht als in den nachfolgen-den Lebensabschnitten. Diese Überlegung führt zuder komplementären Vorhersage, dass es im hohenAlter nicht nur zu Rückgängen im Niveau der intel-lektuellen Leistungsfähigkeit, sondern auch zu einerpartiellen Neuordnung individueller Unterschiedekommen sollte (Ghisletta & Lindenberger, 2001;Lindenberger & Baltes, 1994).

Zeichnen Sie eine Graphik individueller Ent-wicklungsverläufe, die drei Bedingungen erfüllt:(a) Der Mittelwert der Leistungen nimmt zu;(b) die Unterschiede in der Leistungsfähigkeitzwischen den Personen nehmen zu; (c) die indi-

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2.3 Heritabilität

Um Missverständnisse zu vermeiden, sei daranerinnert, dass sich Heritabilitätskoeffizienten auf dasAusmaß beziehen, in dem individuelle Unterschiedein einem Verhaltensmerkmal mit interindividuellenUnterschieden in der genetischen Ausstattung zu-sammenhängen (vgl. Kap. 1). Sie enthalten alsokeine direkten Informationen über Mechanismender Genexpression, und sie variieren mit dem Grö-ßenverhältnis umweltbedingter und genetischerVarianzen. Außerdem bleiben Einflüsse unberück-sichtigt, die Leistungen aller Mitglieder der Popula-tion in gleichem Ausmaß erhöhen oder erniedrigen.Zunehmende Heritabilität in der ersten Lebens-hälfte. Genetisch bedingte individuelle Unterschie-de kommen unmittelbar in der Mechanik zum Aus-druck. Jedoch können sie sich, vermittelt durch dieontogenetische Interaktion zwischen Mechanik undPragmatik, auch auf die Pragmatik auswirken. Ähn-lich wie die relative Stabilität nimmt auch die He-ritabilität in der ersten Lebenshälfte zu, mit Wertenvon 40 % bis 50 % in Kindheit und Jugend undWerten bis zu 80 % im mittleren Erwachsenenalter(McGue et al., 1993). Im Gegensatz dazu habenUmwelteinflüsse, die den Zwillingen bzw. den Ge-schwistern gemeinsam sind, selten über die Kindheithinaus Bestand. Die Zunahme der Heritabilität derintellektuellen Leistungsfähigkeit mit dem Lebensal-ter stützt die Vermutung, dass Jugendliche undErwachsene, zumindest in den untersuchten Gesell-schaften, eher als Kinder die Möglichkeit haben,Umwelten aufzusuchen (d. h. zu selegieren), dieihrem genetischen Potential entsprechen (Scarr &

McCartney, 1983). In Bezug auf Heritabilität imhohen Alter legen Untersuchungen der SwedishAdoption Twin Study of Aging (SATSA) nahe, dassdie Heritabilität genereller Intelligenz im hohenAlter wieder auf einen (nach wie vor hohen) Wertum 60 % zurückgeht (McClearn et al., 1997).Mögliche Gründe. Die vorangegangenen Zusam-menfassungen zeigen, dass relative Stabilität undHeritabilität sich offensichtlich in ähnlicher Weiseüber die Lebensspanne verändern. Zum besserenVerständnis der ontogenetischen Dynamik dieserParallelität bedarf es längsschnittlich und multiva-riat angelegter verhaltensgenetischer Untersuchun-gen über die gesamte Lebensspanne. Derartige Un-tersuchungen könnten die Vermutung stützen, dassdie relative Stabilität intellektueller Leistungen immittleren Erwachsenenalter im Vergleich zu anderenLebensabschnitten aus zwei Gründen besondershoch ist: (1) Die genetischen Varianzquellen habensich auf hohem Niveau stabilisiert (d. h., der relativeAnteil an genetischen Varianzquellen ist hoch, undes kommt nur wenig neue genetische Varianz überdie Zeit hinzu). (2) Die Umweltbedingungen, derenUnterschiedlichkeit wegen der erwähnten personen-spezifischen Selektionen in diesem Lebensabschnitthöher mit genetischen Unterschieden korreliert istals in der Kindheit, weisen in diesem Lebensab-schnitt ebenfalls eine relativ hohe Stabilität auf.

In ähnlicher Weise könnte die aufgrund des weni-ger wirksamen Selektionsdrucks nachlassende Koor-dination der Genexpression im hohen Alter zu Abnah-men in der relativen Stabilität, der Heritabilität unddem Leistungsniveau führen. Paradoxerweise würdedieser Vorgang in dem Maße, in dem er nicht mitgenetischen interindividuellen Unterschieden korre-liert ist, in verhaltensgenetischen Versuchsplänen alsZunahme personenspezifischer Umweltfaktoren (non-shared environmental variance) zutage treten.

viduellen Unterschiede in der Ausgangsleistunghängen positiv mit den individuellen Unter-schieden in den Leistungsgewinnen zusammen.Dabei soll die X-Achse die Zeit und die Y-Achsedie Leistung darstellen, und die Leistungs-veränderungen der einzelnen Personen von Zeitpunkt 1 zu Zeitpunkt 2 sollen durch Geraden kenntlich gemacht werden.

Spekulieren Sie, wie individuelle Unterschiedeim Nachlassen des Investments in vormalsnormative Leistungsbereiche deren Heritabilitätim höheren Alter verändern können.

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2.4 Fähigkeitsstruktur

Gemäß der Differenzierungshypothese der Intelli-genz oder des von Spearman (1927; s. auch Deary &Pagliari, 1991) erklärten „Gesetzes der nachlassen-den Gewinne“ steht das Ausmaß an positiver Kova-riation zwischen verschiedenen intellektuellen Fä-higkeiten, das heißt die relative Stärke des General-faktors der Intelligenz, in gegenläufiger Beziehungzum durchschnittlichen Fähigkeitsniveau einer Po-pulation. Das Ausmaß an Kovariation zwischen ver-schiedenen Fähigkeiten nimmt demnach mit zuneh-mendem Leistungsniveau ab. Konkret könnte diesbedeuten, dass zwei Fähigkeiten, zum Beispiel derWortschatz und die Wahrnehmungsgeschwindig-keit, in einer Population von Personen mit über-durchschnittlicher genereller intellektueller Leis-tungsfähigkeit niedriger miteinander korreliert sindals in einer Population von Personen mit unter-durchschnittlicher Leistungsfähigkeit.Veränderliches Gewicht des Generalfaktors. DieDifferenzierungshypothese beruht zum Teil auf derVorstellung, dass niedrige Leistungen vorwiegenddurch ein Ensemble bereichsübergreifender leis-tungsbegrenzender Faktoren verursacht werden,hohe Leistungen hingegen ein intaktes kognitivesSystem voraussetzen und vorwiegend durch be-reichsspezifische Bedingungen begrenzt werden. Ausentwicklungspsychologischer Sicht legt die Differen-zierungshypothese nahe, dass der Generalfaktor derIntelligenz im Laufe der Kindheit in Folge der Rei-fung und Ausdifferenzierung des Gehirns sowie imZuge des Erwerbs bereichsspezifischer Wissensbe-stände an Gewicht verliert, vom Jugendalter bis insspäte Erwachsenenalter relativ konstant bleibt undim hohen Alter aufgrund der Zunahme umfassenderBegrenzungen der Effizienz der Informationsverar-beitung erneut zunimmt.Differenzierung und Dedifferenzierung. Befundeaus dem Kindesalter (Deary et al., 1996) und demhohen Alter (Lindenberger & Baltes, 1997) stützendie Auffassung der intellektuellen Entwicklung überdie Lebensspanne als Abfolge von Differenzierungund Dedifferenzierung. Besonders deutlich sind dieBefunde der Berliner Altersstudie für das hohe Alter

(Baltes & Lindenberger, 1997; Lindenberger & Baltes,1994, 1997). Im Einzelnen konnte gezeigt werden:� Die querschnittlichen Altersgradienten mecha-

nischer und normativ-pragmatischer intellektuel-ler Fähigkeiten konvergieren im hohen Alter undergeben ein Bild des generalisierten linearen Leis-tungsrückgangs (Richtungsdedifferenzierung).

� Die Interkorrelationen verschiedener intellektuel-ler Fähigkeiten sind im hohen Alter deutlich höherund gleichförmiger als im Erwachsenenalter(intrasystemische Kovarianzdedifferenzierung).

� Grundlegende sensorische und sensomotorischeFähigkeiten (z. B. Sehschärfe, Hörschwelle undGleichgewicht), die ebenfalls deutliche alternsbe-dingte Einbußen zeigen, weisen im hohen Alterwesentlich stärkere korrelative Beziehungen zuintellektuellen Fähigkeiten auf als im Erwachse-nenalter (Anstey et al., 1993; Lindenberger & Bal-tes, 1994; Baltes & Lindenberger, 1997) (intersys-temische Kovarianzdedifferenzierung).

Die Gleichzeitigkeit und Stärke dieser drei Befundelässt die Suche nach bereichsübergreifend wirk-samen Alterungsvorgängen des Gehirns ratsamerscheinen (S.-C. Li & Lindenberger, 1999; s. auchAbschn. 2.6 über Determinanten von Altersunter-schieden in der Mechanik).

Welche „bereichsübergreifend wirksamenAlterungsvorgänge“ des Gehirns könnten mitdem generellen Nachlassen der kognitivenLeistungsfähigkeit im Alter zusammenhängen?

Denkanstöße

2.5 Historische und ontogenetischePlastizität

Veränderungen intellektueller Leistungen über dieLebensspanne können als Antezedens, Korrelat undFolge einer Vielzahl unterschiedlicher Einflussgrö-ßen fungieren. Aufgrund dieser mehrfach bestimm-ten (überdeterminierten) Natur wird das Leistungs-niveau, im Rahmen der von der Mechanik gesetztenaltersabhängigen Grenzen, auch durch Veränderun-

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gen der dinglichen und soziokulturellen Umweltbeeinflusst. Manche dieser Veränderungen sind his-torischer Art und betreffen ganze Gesellschaften(z. B. Verbesserungen in der Ernährung), anderesind auf kleine Personengruppen beschränkt underfordern wesentlich weniger Zeit (z. B. kognitiveInterventionen).

2.5.1 Kohorteneffekte, Periodeneffekte undgesellschaftlicher Wandel

Altersgradienten intellektueller Fähigkeiten werdendurch Einflusssysteme historischer Art moduliert, sozum Beispiel durch zeitlich stabile Unterschiede zwi-schen Personen unterschiedlicher Geburtsjahrgänge(Kohorteneffekte), durch den spezifischen Einflussbestimmter historischer Ereignisse über alle Alters-gruppen hinweg (Periodeneffekte) sowie durchgenerelle und zeitlich ausgedehnte Veränderungenin den Umweltbedingungen, die alle Mitglieder derGesellschaft sowie die nachfolgenden Generationenbetreffen (gesellschaftlicher Wandel). Es ist metho-disch schwierig, den Einfluss dieser drei Größen zubestimmen (Baltes, 1968; Schaie, 1965; vgl. Kap. 1).

Nachweis von historischen EinflüssenEin erster Schritt zur Bestimmung von Wirkungendes generellen gesellschaftlichen Wandels besteht indem Vergleich von Personen desselben chronologi-schen Alters zu verschiedenen historischen Zeit-punkten. Mit einigen Ausnahmen (z. B. Kopfrech-nen; Schaie, 1996) ergeben derartige Vergleichedurchweg, dass in jüngeren Zeiten höhere Leistun-gen erzielt werden (Flynn, 1987). Es ist unwahr-scheinlich, dass diese Zunahmen auf Veränderungenin der genetischen Zusammensetzung der Popula-tion oder auf verzerrende Effekte der Stichproben-ziehung zurückgehen. Vielmehr kommen in diesenZunahmen vermutlich gesundheitliche (z. B. ernäh-rungsbezogene), ausbildungs- und arbeitsbezogeneFaktoren zum Ausdruck.

Untersuchungen, deren Erhebungsplan einemKohorten-Sequenzdesign folgt, erlauben Altersver-gleiche unterschiedlichen Typs: querschnittliche undlängsschnittliche Vergleiche sowie Vergleiche unab-

hängiger (d. h. zu jedem Messzeitpunkt neu gezoge-ner) Stichproben identischer Geburtsjahrgänge. ImFalle der Seattle Longitudinal Study, der derzeitumfangreichsten Kohorten-Sequenzstudie zur intel-lektuellen Entwicklung im Erwachsenenalter (Schaie,1996), führten querschnittliche Altersvergleiche ei-nerseits und Vergleiche unabhängiger Stichprobenidentischer Geburtsjahrgänge andererseits zu äußerstähnlichen Schätzungen durchschnittlicher Altersver-änderungen (Salthouse, 1991b). Dieses Ergebnisstand im Gegensatz zu längsschnittlichen Beobach-tungen am gleichen Datensatz, die (ebenfalls nachstatistischer Kontrolle der Effekte gesellschaftlichenWandels) negative Altersveränderungen von deutlichgeringerem Ausmaß erkennen ließen. Die Konver-genz zwischen den querschnittlichen Ergebnissenund Befunden, die auf unabhängigen Stichprobenidentischer Geburtsjahrgänge beruhen, sowie dieDiskrepanz dieser Ergebnisse zu genuin längsschnitt-lichen Befunden deuten darauf hin, dass die positiveAbweichung der längsschnittlich beobachteten Ver-läufe zumindest teilweise auf Übungseffekte undStichprobenausfall mit positiv selegierender Wir-kung zurückzuführen ist. Demnach hatte die zuneh-mende Vertrautheit mit den Tests einen positivenEinfluss auf die Leistungen an nachfolgenden Mess-zeitpunkten (Übungseffekte), und Personen mithöheren Leistungen sowie mit positiveren bzw. weni-ger negativen Veränderungen über die Zeit konntenmit größerer Wahrscheinlichkeit an nachfolgendenMesszeitpunkten beobachtet werden als Personenmit niedrigeren Leistungen und negativeren bzw.weniger positiven Veränderungen (Stichprobenaus-fall mit positiv selegierender Wirkung).

Längsschnittliche Untersuchungen, deren Wertzur Identifikation von interindividuellenUnterschieden intraindividueller Veränderungenunbestritten ist, führen nicht unbedingt zugenaueren Schätzungen der durchschnittlichenGröße von Entwicklungsveränderungen in derPopulation als Untersuchungen mit querschnitt-lichen Erhebungsplänen.

Fazit

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2.5.2 Kognitive Intervention im Alter:Aktivierung des Lernpotentials

Im Vergleich zur Analyse historischer Einflusssys-teme stellt kognitive Intervention einen direkterenWeg dar, das Ausmaß an Plastizität in unterschied-lichen Bereichen intellektueller Leistungen zubestimmen, als kohortenvergleichende Forschung.Die folgende Darstellung konzentriert sich auf zweiInhaltsbereiche, die eng mit der Mechanik der Kog-nition verknüpft sind: die fluide Intelligenz imengen Sinne (d. h. das Denkvermögen im Zusam-menspiel von Induktion und Deduktion) sowie dasepisodische Gedächtnis (d. h. die Fähigkeit zum Ein-prägen und Abrufen neuer Informationen). DieseEingrenzung geschieht aus drei Gründen. Erstensstammt die überwiegende Zahl der empirischenArbeiten aus diesen beiden Bereichen. Zweitens sindfluide Intelligenz und episodisches Gedächtnis aufeinem Analyseniveau angesiedelt, dessen Validitätdurch zahlreiche Untersuchungen zur Faktoren-struktur intellektueller Fähigkeiten besonders gutdokumentiert ist. Drittens ist die Frage der Trainier-barkeit dieser Funktionsbereiche von besonderemtheoretischen und praktischen Interesse, weil quer-schnittliche und längsschnittliche Untersuchungendarin übereinstimmen, dass das durchschnittlicheLeistungsniveau in beiden Bereichen im Laufe desErwachsenenalters nachlässt (Schaie, 1996). Im Fol-genden werden vier zentrale Befunde der kognitivenInterventionsforschung zusammengefasst (s. auchLindenberger, 2000b).

Dabei variiert die Größe der Leistungszugewinne inAbhängigkeit von manchen, aber nicht allen Eigen-schaften der Intervention. So gilt für Interventionenim Bereich der fluiden Intelligenz, dass reine Test-wiederholung zu geringeren Leistungssteigerungenführt als ausgedehntes selbstgesteuertes Üben bzw.angeleitetes Trainieren, die zu ähnlich großen Leis-tungsgewinnen führen (z. B. Baltes et al., 1989;s. Abb. 10.6, S. 388).

Die bereits erwähnte, in Umfang und Anlage ein-zigartige Seattle Longitudinal Study (Schaie, 1996)verbindet die querschnittliche und längsschnittlicheBeobachtung mehrerer Geburtsjahrgänge über dasgesamte Erwachsenenalter mit Trainingsstudien aufdem Gebiet der fluiden Intelligenz im Alter. DieseVerknüpfung erlaubt den Nachweis, dass die Grö-ßenordnung der in den Trainingsstudien erzieltenLeistungsgewinne in etwa dem Ausmaß des zuvorüber 15 bis 20 Jahre beobachteten längsschnittlichenVerlustes entspricht (z. B. Schaie, 1996; Schaie &Willis, 1986). Ferner deuten die Ergebnisse einigerStudien im Bereich episodischer Gedächtnisleistun-gen darauf hin, dass die durch Training und Übenerzeugten Leistungszugewinne in den trainiertenAufgaben über mehrere Monate und bisweilen Jahreerhalten bleiben (z. B. Stigsdotter Neely & Bäckman,1993).

Gesunde ältere Erwachsene zeigen folglich einbeträchtliches Ausmaß an kognitiver Plastizität, undzwar sowohl in Bezug auf Testleistungen im Bereichder fluiden Intelligenz (Schaie & Willis, 1986) alsauch bei dem Erwerb und der Nutzung vonGedächtnistechniken (Verhaeghen et al., 1992). Imhohen Alter besitzt dieser Befund jedoch nur einge-schränkte Gültigkeit. Zum Beispiel sind die imhohen Alter erzielbaren Trainingszugewinne aufdem Gebiet episodischer Gedächtnisleistungendeutlich niedriger und weniger optimierbar als inanderen Abschnitten des Erwachsenenalters (Singer,Lindenberger & Baltes, 2003; Willis & Nesselroade,1990).Reaktivierung von Strategien. Die Tatsache, dassselbstgesteuertes Üben bei fluiden Testleistungen oftgenauso wirksam ist wie angeleitetes Trainieren, hatzu der Vermutung geführt, dass die Wirksamkeit der

Kognitive Plastizität bleibt bei geistiggesunden älteren Erwachsenen bis ins hoheAlter erhalten.

!

Eine kognitive Interventionsstudie besteht zumeistaus einem Prätest, einer Intervention, die sich übermehrere Sitzungen erstreckt, sowie einem Posttest.Das typische Ergebnis von Studien dieser Art ist ein-deutig: Geistig gesunde ältere Erwachsene zeigendeutliche Leistungszugewinne in jenen Maßen, dieim Zentrum der kognitiven Intervention stehen.

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kognitiven Intervention bei älteren Erwachsenen inerster Linie auf einer Reaktivierung vorhandenerund nicht so sehr auf dem Lernen neuer Strategienund Heuristiken beruht (Baltes et al., 1989).

Schließlich sind die interventionsbedingten Leis-tungsgewinne bei Personen mit beginnenden oderfortgeschrittenen dementiellen Erkrankungen deut-lich reduziert oder nicht mehr nachweisbar. Aus diesem Grund kann eine Verminderung kognitiverPlastizität zur Frühdiagnose dementieller Erkran-kungen genutzt werden (Baltes et al., 1995a).

Ein zweiter, ebenfalls gut abgesicherter Befund be-steht in der Begrenztheit der interventionsbedingtenLeistungszugewinne auf die jeweils geübten odertrainierten Aufgaben. Leistungszugewinne treten inder Regel nur bei jenen Aufgaben auf, die trainiertworden sind, sowie bei Aufgaben, die äußerlich undstrukturell eine sehr hohe Ähnlichkeit zu den trai-nierten Aufgaben aufweisen. Hingegen zeigen Auf-gaben, die sich in ihren äußeren Merkmalen von dertrainierten Aufgabe deutlich unterscheiden, auchdann keine oder nur sehr geringe Transfereffekte,wenn sie derselben intellektuellen Fähigkeit zuge-rechnet werden können. Abbildung 10.6 veran-schaulicht diesen Befund ebenfalls (s. auch Baltes et al., 1989). Der positive Transfer ist offensichtlicheng an die Oberflächenmerkmale der benutztenAufgaben gebunden.

Abbildung 10.6. Typisches Ergebnis einer Trainingsstudie im Bereich der fluiden Intelligenz (Baltes et al., 1989).Geübt bzw. trainiert wurden der ADEPT Figural Relations. Im Vergleich zur Kontrollgruppe (Messwiederholung ohneIntervention) war selbstgesteuertes Üben genauso effektiv wie angeleitetes Trainieren. Dies deutet darauf hin, dass dasangeleitete Training in erster Linie bereits vorhandene Strategien und Heuristiken reaktivierte. Der positive Transferder Intervention beschränkte sich auf Aufgaben derselben Fähigkeit mit hoher äußerlicher Ähnlichkeit; bereits für denRaven Matrizentest ließen sich keine trainings- oder übungsbedingten Leistungszugewinne nachweisen. Dies stützt dieAnnahme, dass die Intervention eher auf dem Niveau aufgabenspezifischer Fertigkeiten als auf dem Niveau aufgaben-übergreifender Fähigkeiten wirksam war. (ADEPT steht für “Adult Development and Enrichment Project”, einem derersten Forschungsprogramme zur kognitiven Intervention im Erwachsenenalter; siehe auch Baltes & Willis, 1982.)

Der positive Transfer trainierter oder geübter Leistungen auf andere Aufgaben

derselben oder verwandter Fähigkeiten ist in derRegel gering.

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Bei der Mehrzahl der Studien ist das Ausmaß unddie Intensität der Intervention zu gering, um zu den Leistungsobergrenzen vorzustoßen (Testing-the-limits). Dies erkennt man unter anderem daran,dass die im Laufe des Trainings beobachteten Leis-tungszugewinne linear sind, so dass kein Anlass zuder Vermutung besteht, die Probanden hätten sichden Obergrenzen ihrer Leistungsfähigkeit genähert.Aus entwicklungspsychologischer Sicht sind Alters-unterschiede an den Leistungsobergrenzen jedochvon großem theoretischen Interesse (Baltes, 1997a;Kliegl & Baltes, 1987; s. auch den nächsten Ab-schnitt). Im Normalbereich werden Leistungendurch zahlreiche Faktoren beeinflusst, so zum Bei-spiel durch präexperimentelle (d. h. durch bereitsvor der Untersuchung bestehende) Unterschiede inder Vertrautheit mit dem Aufgabenmaterial. Trai-niert man Personen über einen längeren Zeitraumin einer neu erlernten Fertigkeit, so lassen sich dieseunerwünschten Einflüsse weitgehend unterdrücken.Zudem verschiebt sich dann der Kontext der Mes-sung in Richtung der Leistungsobergrenzen, undman gelangt zu einer besseren Abschätzung des ehe-dem latenten Entwicklungspotentials der Personenim trainierten Bereich.Testing-the-limits. Ein gutes Beispiel für diese For-schungsstrategie des Testing-the-limits ist der Er-werb und das Training mit der Methode der Orte,einer Fertigkeit zum seriellen Erinnern von Wortlis-ten. Individuelle Unterschiede in Gedächtnisleistun-gen mit der Methode der Orte sind mit einem sehr breiten Bündel fluider intellektueller Fähigkei-ten korreliert, so zum Beispiel mit der Wahrneh-mungsgeschwindigkeit, dem Denkvermögen sowiemit dem bildlichen und räumlichen Vorstellungsver-mögen (Kliegl et al., 1990). Trainiert man junge undältere Erwachsene in der Methode der Orte, so treten sowohl das latente Potential der älteren Pro-banden als auch die ausgeprägten Altersunterschie-de in der Größe dieses latenten Potentials deutlich

zutage. Zum Beispiel erreichte bei einer Untersu-chung von Baltes und Kliegl (1992) am Ende desTrainings kein einziger der älteren Erwachsenen diemittlere Leistung der jungen Erwachsenen. DieLänge des Trainings, die nachlassenden Trainings-gewinne und die hohe Stabilität der Leistungsun-terschiede am Ende des Trainings erlauben denSchluss, dass die beobachteten Altersunterschiedebei den Obergrenzen der Leistungsfähigkeit außer-ordentlich stabil und vermutlich irreversibel sind.Dies entspricht den allgemeinen Annahmen deroben dargestellten Architektur des Lebenslaufs (s. Abb. 10.1, S. 367).

Altersunterschiede zwischen jungen undälteren Erwachsenen nehmen an denLeistungsobergrenzen zu.

!

Die Koordination mehrerer Wahrnehmungs-und Handlungsstränge ist für ältere

Erwachsene besonders schwierig.

!

Kognitiv-experimentell angelegte Trainingsstudiendeuten darauf hin, dass ältere Erwachsene besondersdann gegenüber jungen Erwachsenen im Nachteilsind, wenn gleichzeitig an mehreren Aufgaben oderAufgabenaspekten gearbeitet werden soll. Dies istzum Beispiel der Fall, wenn Probanden mehrereAufgaben mit ähnlichen Wahrnehmungs- undHandlungsanforderungen gleichzeitig oder abwech-selnd ausführen sollen. Die entsprechenden Alters-unterschiede bleiben auch nach intensivem Übenerhalten (Frensch et al., 1999; Kray & Lindenberger,2000; Mayr & Kliegl, 1993). Koordinationschwierig-keiten sind vermutlich auch der Grund dafür, dassAltersunterschiede zwischen jungen und älterenErwachsenen in typischen Tests der fluiden Intel-ligenz wie dem Raven-Matrizentest auch dann zu beobachten sind, wenn man den Probandenunbegrenzt viel Zeit zur Aufgabenbearbeitung gibt.Denn die Anforderung, mehrere Informations-einheiten gleichzeitig aktiv zu halten und aufeinan-der zu beziehen, bleibt bei diesen Aufgaben auchdann erhalten, wenn der Zeitdruck gering ist (s. auch den Abschnitt zu den basalen Determinan-ten von Altersveränderungen in der Mechanik derKognition).

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Generalisierbarkeit interventionsbedingterLeistungszugewinne: Fähigkeiten versusFertigkeitenBetrachtet man die Befunde im Zusammenhang, sodrängt sich eine klassische Frage der Trainingsfor-schung auf (vgl. Hasselhorn, 1995b; Weinert, 1983):Was wird durch Training verändert, Fähigkeiten oderFertigkeiten? Die Beantwortung dieser Frage ist fol-genreich. Wir wissen von korrelativen Untersuchun-gen, dass intellektuelle Fähigkeiten, wie sie mit stan-dardisierten psychometrischen Tests erfasst werden,eine hohe Alltagsrelevanz (ökologische Validität) auf-weisen, insbesondere im hohen Alter (Lindenberger& Reischies, 1999). Wenn kognitive Interventionennun das Fähigkeitsniveau veränderten, so wäre es ausangewandter Sicht sinnvoll, ältere Personen in jenenTests der fluiden Intelligenz zu trainieren, die sich alsgute Indikatoren der zu verändernden Fähigkeiterwiesen haben. Nähme man zum Beispiel an, dasssich die Wahrnehmungsgeschwindigkeit trainierenließe, dann sollte ein Training mit dem Zahlen-Symbol-Test des Hamburg-Wechsler-Intelligenztestsnicht nur zu Leistungssteigerungen in diesem Testführen, sondern die Wahrnehmungsgeschwindigkeitder trainierten älteren Erwachsenen generell verbes-sern. Diese Verbesserung sollte positive Auswirkun-gen auf all jene Aspekte des täglichen Lebens haben,die das schnelle Wahrnehmen und Vergleichenvisueller Reize erfordern.Trainierbar sind Fertigkeiten. Betrachtet man je-doch die Befunde zur kognitiven Intervention imZusammenhang, so legen die gegenwärtigen Befun-de den Schluss nahe, dass das kognitive System aufder Ebene von Fähigkeiten kaum verändert wird.Was verbessert oder erlernt wird, sind vorwiegendFertigkeiten, also aufgaben- und kontextspezifische“elements of skill” (Thorndike, 1906). Die engenGrenzen des positiven Transfers sowie die Interven-tionsresistenz der Altersunterschiede in den Leis-tungsobergrenzen sind deutliche Indizien für dieRichtigkeit dieser Annahme. Aus der Sicht des SOK-Modells unterstreichen diese Ergebnisse die ent-wicklungspsychologische Bedeutung der Selektionvon Zielbereichen, da die positiven Auswirkungenvon Optimierung und Kompensation vorwiegend

innerhalb der selegierten Bereiche beobachtet wer-den.Steigerung des Kompetenzerlebens. Daraus folgtnicht, dass Trainingsprogramme, die sich mit Intel-ligenztests oder alltagsfernen Gedächtnistechnikenbefassen, aus angewandter Perspektive obsolet sind.(Als Methoden der Grundlagenforschung sind sie esohnehin nicht.) Es gibt nämlich Hinweise darauf,dass die Teilnahme an derartigen Trainingsprogram-men zu Steigerungen des Erlebens intellektuellerKompetenz führen und durchaus positive Wirkun-gen auf die subjektive Befindlichkeit und das Erle-ben des eigenen Handlungspotentials haben können(Dittmann-Kohli et al., 1991).Kognitiver Aufwand neuer Fertigkeiten. Soll mitdem Training jedoch eine unmittelbare, nicht überdas Kontrollerleben vermittelte Steigerung der kog-nitiven Alltagskompetenz erreicht werden, so solltebei der Entscheidung, was trainiert oder geübt wer-den soll, jenen Fertigkeiten der Vorzug gegeben wer-den, die eine bestimmte Person für die kompetenteBewältigung ihres Alltags tatsächlich gebrauchen (d. h. möglichst unmittelbar einsetzen) kann. Beialterungsbedingt abnehmenden Ressourcen ist ausder Sicht des SOK-Modells anzunehmen, dass Fer-tigkeiten, die die kompensatorische Nutzung exter-ner Hilfsmittel ermöglichen, für die erfolgreicheBewältigung des Alltags an Bedeutung gewinnen(K.Z.H. Li et al., 2001). Es muss jedoch bedacht wer-den, dass nahezu jede neue Fertigkeit, einschließlichdes Erlernens der angemessenen Verwendung einesexternen Hilfsmittels, mit kognitivem Aufwand ver-bunden ist. Dieser Aufwand dürfte bei denjenigenam ehesten ins Gewicht fallen, die derartiger Fertig-keiten am dringlichsten bedürfen. An diesem Para-dox kognitiver Intervention führt kein Weg vorbei(vgl. Schönpflug, 1998).

Im mittleren und höheren Erwachsenenalterkönnen mit wenigen Trainings- oder Übungs-sitzungen deutliche Leistungszugewinne erzieltwerden. Zugleich legen die weitgehende Abwe-senheit oder geringe Größe positiven Transfers

Fazit

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2.5.3 Altersunterschiede in der Mechanik:Purifizierung der Messung

In vielen Fällen können Altersunterschiede oderAltersveränderungen, wie sie in herkömmlichenQuerschnitt- oder Längsschnittuntersuchungen be-obachtet werden, nicht als reiner und direkter Aus-druck von Altersveränderungen in der interessieren-den Entwicklungsdimension angesehen werden. Diesgilt in besonderem Maße für Entwicklungsverände-rungen in der kognitiven Mechanik. So können sichPersonen unterschiedlichen Alters systematisch imAusmaß an aufgabenspezifischer Vorerfahrung unter-scheiden. Weiterhin wird der Kontext der Messungdurch Faktoren beeinflusst, die zwar mit dem Alterverknüpft sind, jedoch nicht oder nur mittelbar mitAltersveränderungen in der Mechanik der Kognition.Beispiele hierfür sind wissensbasierte Einflüsse inForm von aufgabenrelevanten Strategien und Heuris-tiken, die der Pragmatik der Kognition zugerechnetwerden müssen, sowie motivationale und emotionaleFaktoren wie Testängstlichkeit und Erregungsniveau.

Vorteile von Messungen an der Leistungsgrenze.Folgt man diesen Überlegungen, so beruht unserWissen über Altersveränderungen in der Mechanikder Kognition größtenteils auf Messungen einge-schränkter Gültigkeit (Validität). Daraus ergibt sichdie Forderung, zu Indikatoren interindividuellerUnterschiede im mechanischen Leistungspotentialzu gelangen, die möglichst wenig durch pragmati-sche und andere Einflüsse kontaminiert sind. Dieoben eingeführte Strategie des Grenztestens oderTesting-the-limits ist für diesen Zweck besonders gutgeeignet. Werden Personen unterschiedlichen Altersdurch intensives Üben oder Training sowie durchleistungsabhängige Veränderungen der Aufgaben-schwierigkeit möglichst nahe an ihre asymptoti-schen Leistungsmaxima herangeführt, so lassen sichdie an diesen Grenzen zutage tretenden Altersunter-schiede mit größerer Sicherheit auf die Mechanikder Kognition zurückführen als Altersunterschiedeim normalen Leistungsbereich. Bestehen theoreti-sche Annahmen über Interaktionen von Lernprozes-sen mit reifungs- bzw. alterungsbedingten Verände-rungen, so kann Testing-the-limits auch zu einembesseren Verständnis der entsprechenden Mechanis-men sowie der Streubreite ontogenetischer Verände-rungen beitragen (Lindenberger & Baltes, 1995).

Es erscheint sinnvoll, Testing-the-limits auf diegesamte Lebensspanne sowie auf verschiedeneAspekte der Mechanik der Kognition auszudehnen,um zu ontogenetisch umfassenden und validen Ent-

auf andere Tests derselben Fähigkeit sowie dieInterventionsresistenz der Altersunterschiede inden Leistungsobergrenzen den Schluss nahe,dass die beobachteten Leistungsverbesserungenprimär pragmatischen Aspekten der Kognitionzu verdanken sind. Gemäß dieser Interpretationkönnen gesunde ältere Erwachsene ein großesSpektrum an kognitiven Fertigkeiten reaktivie-ren, trainieren oder üben sowie neu erlernen.Die entsprechenden Erwerbsprozesse folgenlernpsychologischen Gesetzen und erfordernvermutlich keine Veränderungen in der kogni-tiven Mechanik. Ihre Auswirkungen sind lokalerNatur und beziehen sich unmittelbar auf das,was trainiert wurde. Demnach sollte sichkognitive Intervention im Alter unter demGesichtspunkt des praktischen Nutzens aufFertigkeiten konzentrieren, die möglichstunverändert in den Alltag der betreffendenPerson integriert werden können und dort zumErhalt adaptiver Verhaltensmuster beitragen.

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Alter in Jahren

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Vor Testing-the-limits

Abbildung 10.7. Hypothetische Altersgradienten vor undnach Testing-the-limits der Mechanik der Kognition. Eswird angenommen, dass Testing-the-limits pragmatischeEinflüsse zurückdrängt und aus diesem Grund das Alterder höchsten Leistungen erniedrigt (s. auch Lindenber-ger, 2000a; vgl. Denney, 1984)

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392 2 Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter

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wicklungsfunktionen zu gelangen. Für den Bereichder Mechanik der Kognition kann erwartet werden,dass sich das Lebensalter der höchsten Leistung beiderartigen Untersuchungen im Vergleich zur Leis-tungsmessung im Normalbereich systematisch zu-gunsten jüngerer Altersbereiche verschieben sollte,da der Einfluss der Pragmatik minimiert wird (s. Abb. 10.7, S. 375; vgl. Denney, 1984).

So konnten Brehmer, Li, Müller, von Oertzen undLindenberger (2007) in einer Studie mit 9- bis 10-jährigen und 10- bis 11-jährigen Kindern sowie jün-geren und älteren Erwachsenen zeigen, dass Perso-nen aller Altersgruppen nach Instruktion in derMethode der Orte ihre episodische Gedächtnisleis-tung verbessern konnten. Allerdings waren die Leis-tungsgewinne, die im Anschluss an die Instruktiondurch Training (Testing-the-limits) erzielt werdenkonnten, für Kinder und jüngere Erwachsene deut-lich stärker ausgeprägt als für die älteren Studien-teilnehmer (s. Abb. 10.8).

2.6 Determinanten der mechanischenEntwicklung im Erwachsenenalter

Ein wesentliches Anliegen der kognitiven Alternsfor-schung besteht darin, die Natur und Anzahl derUrsachen von Altersunterschieden in der Mechanikder Intelligenz im Erwachsenenalter und im hohemAlter zu bestimmen. Ähnlich wie in anderen Berei-chen der Entwicklungspsychologie stellt die Ver-knüpfung (Konfundierung) zwischen chronologi-schem Alter und biologischen Alterungsprozessendieses Forschungsfeld vor besondere methodischeund konzeptuelle Probleme (Baltes et al., 1988; Lin-denberger & Pötter, 1998). Angesichts dieser Kon-fundierung entscheiden sich die meisten Forscherfür eine von zwei theoretischen Orientierungen, dieRessourcenorientierung und die Prozessorientie-rung. Die Erstere lässt kognitives Altern als eher ein-heitlich, die Letztere als eher vielgestaltig erscheinen.Ressourcenorientierung. Vertreter der Ressourcen-orientierung postulieren zunächst eine möglichstkleine Anzahl von Ursachen (kognitiven Ressour-cen) zur Erklärung negativer Altersunterschiede imErwachsenenalter und hohen Alter. Eine typischeRessource in diesem Sinne ist die Verarbeitungsge-schwindigkeit (s. unten). Gemäß der Geschwindig-

Abbildung 10.8 Plastizität episodi-scher Gedächtnisleistungen über dieLebensspanne. Die verschiedenenAbschnitte der Interventionsstudie –vor Instruktion, direkt nach Instruk-tion sowie nach Training – dienender Abschätzung des Ausgangsnive-aus, des Ausgangspotentials und desEntwicklungspotentials (vgl. Baltes,1987; Kliegl & Baltes, 1987). In derdargestellten Studie waren Personenaller Altersgruppen in der Lage, ihreLeistungen durch Instruktion undTraining einer Gedächtnisstrategiezu steigern. Im Einklang mit theore-tischen Postulaten der Psychologieder Lebensspanne zeigten Kinder

und jüngere Erwachsenen ein größeres Ausmaß an Entwicklungspotential als ältere Erwachsene. Die Werte derjüngeren Erwachsenen direkt im Anschluss an die Instruktion lassen sich wegen Deckeneffekten nicht eindeutiginterpretieren. Modifiziert nach Brehmer, Li, Müller, von Oertzen und Lindenberger (2007)

Diskutieren Sie, wie Selektionseffekte die in Testing-the-limits-Studien beobachteten Alters-unterschiede beeinflussen könnten.

Denkanstöße

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keitshypothese lassen intellektuelle Leistungen des-wegen mit dem Alter nach, weil die ihnen zugrundeliegenden kognitiven Prozesse langsamer ablaufenals im jungen Erwachsenenalter. Der Vorteil einersolchen Hypothese ist Sparsamkeit: Eine große Zahlvon negativen Veränderungen in der intellektuellenLeistungsfähigkeit wird mit einer einzigen erklären-den Variable in Verbindung gebracht. Diese Spar-samkeit wird jedoch mit einem Mangel an kog-nitionspsychologischer und neuropsychologischerPlausibilität erkauft. Zum Beispiel erscheint dieAnnahme einer generellen und gleichförmigen Ver-langsamung kognitiver Prozesse mit dem Alter ausneurokognitiver Sicht kaum haltbar.Prozessorientierung. Im Gegensatz zur Ressour-cenorientierung wird bei der Prozessorientierungangenommen, dass die Anzahl der Ursachen vonAltersveränderungen in der Mechanik der Intel-ligenz im Erwachsenenalter groß ist, da sich daskognitive System aus einer Vielzahl verschiedenerProzesse und Strukturen zusammensetzt. Jede intel-lektuelle Leistung basiert auf einer spezifischenKombination von Prozessen. Dementsprechend be-dürfen Altersveränderungen in verschiedenen Leis-tungen jeweils einer eigenen Erklärung auf derGrundlage der an ihr beteiligten Prozesse. Der Vor-teil prozessbasierter Erklärungen liegt zunächst inder größeren kognitionspsychologischen und neuro-psychologischen Plausibilität. Erkauft wird diesjedoch mit einem Mangel an Sparsamkeit, da nacheiner großen Zahl spezifischer und nicht nach einerkleinen Zahl übergreifender Erklärungen gesuchtwird.Übergreifende und spezifische Ursachen. Vermut-lich beruhen Altersveränderungen in der Mechanikauf einer Mischung übergreifender und spezifischerUrsachen. Übergreifende Ursachen lassen sich gutals Ressourcen beschreiben, spezifische Ursacheneher als Prozesse. Deswegen ist es sinnvoll, beideOrientierungen zu verfolgen und miteinander zuverknüpfen (s. auch Lindenberger & Kray, 2005; vgl.Kliegl et al., 1994).

Innerhalb der Ressourcenorientierung hat sichdas theoretische und empirische Interesse auf dreiKonstrukte konzentriert:

2.6 Determinanten der mechanischen Entwicklung im Erwachsenenalter 393

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� die Verarbeitungsgeschwindigkeit oder die Ge-schwindigkeit, mit der elementare kognitive Ope-rationen ausgeführt werden können;

� das Arbeitsgedächtnis oder die Fähigkeit, In-formationen in einem oder mehreren Kurzzeit-speichern zu erhalten und zu transformieren;

� Inhibition oder die Fähigkeit, irrelevante Infor-mationen automatisch oder intentional zu hem-men.

Verarbeitungsgeschwindigkeit. Zur Zeit erscheintdie Verarbeitungsgeschwindigkeit, und zwar ins-besondere dann, wenn sie mit relativ komplexenMaßen der Wahrnehmungsgeschwindigkeit gemes-sen wird, als stärkster Prädiktor von Altersunter-schieden in anderen Aspekten der kognitiven Mechanik (Lindenberger et al., 1993; Verhaeghen &Salthouse, 1997). Psychometrisch definierte Wahr-nehmungsgeschwindigkeit ist aber vermutlich keineeinfache und einheitliche Ursache oder „basaleDeterminante“ von Altersveränderungen der kogni-tiven Mechanik (z. B. im Sinne neuronaler Ge-schwindigkeit), sondern eine zusammengesetzteGröße mit relativ hohem Arbeitsgedächtnisanteil. Sohaben Versuche, ein einheitliches biologisches Kor-relat altersbedingter Unterschiede in der Verarbei-tungsgeschwindigkeit zu identifizieren, bislang zukeinem positiven Ergebnis geführt.Arbeitsgedächtnis. Der Erklärungsgehalt des Ar-beitsgedächtniskonstrukts ist ebenfalls schwer be-stimmbar. Erstens werden Altersveränderungen desArbeitsgedächtnisses oft mit Veränderungen derVerarbeitungseffizienz oder Verarbeitungsgeschwin-digkeit sowie mit Hemmungsprozessen in Verbin-dung gebracht. Zweitens besteht eine wesentlicheFunktion des Arbeitsgedächtnisses in der Kontrollezielgerichteten Handelns und Denkens. Diese Funk-tion rückt das Arbeitsgedächtnis in das Zentrumintelligenten Verhaltens und führt zu der Frage, obman dann überhaupt noch von einer „basalenDeterminante“ sprechen kann.Inhibition. Inhibition (Hemmung) wird im Er-wachsenenalter zum einen mit Aufgaben erfasst, beidenen Personen eine starke Handlungstendenzunterdrücken müssen, um zur angemessenen Ant-wort zu gelangen. Ein Beispiel hierfür ist der Stroop-

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394 2 Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter

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Test. Bei diesem Test sind die Farbwörter „grün“ und„rot“ in kongruenter (d. h. grün in grüner und rotin roter) oder inkongruenter (d. h. grün in roter undrot in grüner) Farbe geschrieben. Sollen unterinkongruenten Bedingungen möglichst schnell dieFarbwörter benannt werden, so müssen die Farbein-drücke gehemmt werden.

Zum anderen wird vermutet, dass der effizienteWechsel zwischen Aufgaben neben der Aktivierungder zu beginnenden auch die Inhibition der zu ver-lassenden Aufgabe erfordert (Allport et al., 1994).

Weise mit Altersunterschieden im Verhaltenzusammenhängen. Auf neuroanatomischer Ebenesind hier vor allem Veränderungen des Stirnhirns zunennen (z. B. der dorsolaterale präfrontale Kortex;vgl. Raz, 2000). In neurochemischer Hinsicht ist dieAbnahme von Rezeptoren des NeurotransmittersDopamin eng mit negativen Altersunterschieden inder intellektuellen Leistungsfähigkeit verknüpft(Bäckman et al., 2000). Die beiden Phänomenekönnten miteinander zusammenhängen, weil diefunktionale Integrität des Stirnhirns unter anderemauf dopamingestützte Verarbeitungswege angewie-sen ist (Raz, 2000).Stirnhirn und exekutive Funktionen. Die be-sonders stark ausgeprägten alterskorrelierten anato-mischen Veränderungen des Stirnhirns stehen mitder Beobachtung im Einklang, dass einige Eigen-schaften des kognitiven Systems, die bestimmte Are-ale des Stirnhirns beanspruchen, besonders starkvon der kognitiven Alterung betroffen sind. DieseEigenschaften betreffen die Regulation und Koordi-nation von Verhalten und werden gemeinhin als„exekutive Funktionen“ oder kognitive Kontrollebezeichnet (Duncan et al., 1996; Smith & Jonides,1999). Eine Vielzahl an Befunden legt nahe, dassnegative Altersunterschiede im Erwachsenenaltervor allem dann besonders groß sind, wenn hoheAnforderungen an kognitive Kontrolle gestellt wer-den. Typische Beispiele sind die Koordination vonHandlungen und Wahrnehmungsinhalten (Frenschet al., 1999; Mayr & Kliegl, 1993), die Unterdrü-ckung reizgetriebener Handlungstendenzen (Salt-house & Meinz, 1995), die gleichzeitige Bearbeitungmehrerer Aufgaben (Korteling, 1994; K.Z.H. Liet al., 2001) sowie der Wechsel zwischen Aufgabenbei geringer Unterstützung durch externe Hinweis-reize und hoher Mehrdeutigkeit der Aufgabensitu-ation (Kray & Lindenberger, 2000). Die empirischenArbeiten zum Altern der kognitiven Kontrolle zeigenzugleich, wie prozess- und ressourcenorientierteSichtweisen durch neurowissenschaftliche Überle-gungen ineinander überführt werden können (S.-C.Li et al., 2001).

Man stelle sich vor, man solle die Karten einesSkatspiels zunächst einige Minuten lang nachFarbe sortieren – Pik und Kreuz auf einen Stapel, Herz und Karo auf den anderen. Wirdunmittelbar anschließend das Sortierkriteriumgewechselt – zum Beispiel Karten mit Figurenauf einen Stapel, Karten mit Zahlen auf denanderen –, so verlangt dies neben der Aktivie-rung der neuen auch die Hemmung der bislang ausgeführten Aufgabe.

Beispiel

Es gibt Hinweise darauf, dass die Inhibition nichtmehr handlungsrelevanter Aufgaben bei älterenErwachsenen weniger effizient erfolgt als bei jünge-ren Erwachsenen (z. B. Mayr & Liebscher, 2001;Zacks et al., 1996). Allerdings ist es schwierig, Alters-unterschiede in der Hemmung von Altersunter-schieden in der Aktivierung abzugrenzen. Dement-sprechend ist die Größe des Beitrags der Hemmungzu Altersveränderungen in der Mechanik insgesamtderzeit schwer bestimmbar.Kognitive Neurowissenschaften des Alterns. Injüngerer Zeit wird die Suche nach biologischen Kor-relaten der mechanischen Entwicklung im Erwach-senenalter durch den Einbezug der kognitiven Neu-rowissenschaften als „cognitive neuroscience ofaging“ grundlegend transformiert (Cabeza, 2001;S.-C. Li et al., 2001; Raz, 2000). Die kognitiven Neu-rowissenschaften des Alterns untersuchen, welcheanatomischen, neurochemischen und funktionalenVeränderungen des Gehirns in besonders starker

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2.7 Das Dilemma behavioralen Alterns aus neurokognitiver Sicht 395

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2.7 Das Dilemma behavioralen Alterns aus neurokognitiver Sicht

Die soeben zusammengefassten Befunde zu Alters-veränderungen in der Mechanik verweisen zudemauf ein Dilemma des kognitiven Alterns – oder, ge-nauer und allgemeiner gesagt, auf ein grundlegendesDilemma behavioralen Alterns, an dem nebenkognitiven auch motorische und sensorische Aspek-te des Verhaltens teilhaben. Auf der einen Seitenimmt der Bedarf an kognitiver Kontrolle unseresVerhaltens mit dem Alter zu, weil die Zuverlässigkeitder Sinne und des Bewegungsapparats nachlässt.Belegt wird dies unter anderem durch den starkenRückgang der Sinnesleistungen mit dem Alter(Fozard et al., 1990; Winter, 1991), die deutliche Zu-nahme von Doppelaufgabenkosten bei der gleichzei-tigen Ausführung sensomotorischer und intellek-tueller Aufgaben (K.Z.H. Li et al., 2001; Lindenber-ger et al., 2000; Schaefer et al., 2006; Teasdale et al.,1993) sowie die bereits erwähnten hohen Korrela-tionen zwischen intellektuellen, sensorischen undsensomotorischen Leistungen im hohen Alter (Bal-tes & Lindenberger, 1997; Lindenberger & Baltes,1994, 1997).

Auf der anderen Seite finden sich, wie oben darge-stellt, deutliche, durch entsprechende neuroana-tomische und neurochemische Befunde gestützteHinweise auf eine Abnahme der Effektivität kogniti-ver Kontrolle im Erwachsenenalter. Die Kombina-tion der beiden Befunde ergibt die Bestimmungs-stücke des Dilemmas: Verhalten ist zunehmend aufkognitive Kontrolle angewiesen, doch lässt deren

Finden Sie kognitive Aufgaben oder Alltagsakti-vitäten, die zugleich hohe Anforderungen anVerarbeitungsgeschwindigkeit, Arbeitsgedächtnisund Inhibition stellen. Beschreiben Sie, wie dieseKomponenten bei der Aufgabenbearbeitungzusammenwirken.

Denkanstöße

Man stelle sich das Überqueren einer Straßemit lebhaftem Autoverkehr durch eine 20-jähri-ge und eine 80-jährige Person vor. Der 80-jähri-gen Person wird diese Leistung in der Regel einweitaus höheres Maß an kognitiver Kontrolle(im Sinne von Aufmerksamkeit und Konzentra-tion) abverlangen als der 20-jährigen.

Beispiel

� Wegen des abnehmenden Hörvermögenswird sie nicht im Blickfeld befindliche nahende Fahrzeuge später wahrnehmen;

� wegen der geringeren Sehkraft wird sie weniger gut erkennen, welche Fahrzeuge mit dem Blinker Abbiegen signalisieren undwelche nicht, und es wird ihr schwerer fallen,die Geschwindigkeit nahender Fahrzeuge zubestimmen;

� wegen der Abnahme des Gleichgewichtssinnswerden die Schritte vom Bürgersteig auf dieStraße und von der Straße zurück auf denBürgersteig eher zu Störungen des Gleich-gewichts führen;

� wegen der Abnahme des Gleichgewichtssinnssowie der geringeren Kraft und Zuverlässig-keit des Bewegungsapparats wird das eigent-liche Überqueren der Straße mehr Zeit erfordern.

Die 80-jährige Person wird versuchen, die negativen Auswirkungen dieser sensorischenund sensomotorischen Funktionseinbußendurch den erhöhten Einsatz an kognitiver Kontrolle abzuschwächen. Sie wird vielleicht einGespräch unterbrechen, um nahende Fahrzeugebesser hören zu können; sie wird den Blinker-bereich der nahenden Fahrzeuge bewusst inAugenschein nehmen, um festzustellen, werabbiegt und wer nicht; sie wird die Schritte vomBürgersteig auf die Straße und von der Straßezurück auf den Bürgersteig planen und über-wachen; und sie wird vielleicht Berechnungenanstellen, wie schnell sie gehen muss, um während der Grünphase die andere Straßenseitezu erreichen.

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396 2 Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter

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Funktionsniveau in besonders starkem Maße mitdem Alter nach.

wicklung vertreten, das der biologischen Mechanik diePragmatik erworbenen Wissens gegenüberstellt. DasModell stützt sich unter anderem auf die Existenz alte-rungsanfälliger und alterungsresistenter intellektuellerFähigkeiten (Jones & Conrad, 1933). Es berücksichtigtjedoch neben psychometrischen auch evolutionspsy-chologische, kognitiv-experimentelle und expertisebe-zogene Überlegungen und Forschungstraditionen, umzu einer breiteren Repräsentation der intellektuellenEntwicklung im Erwachsenenalter zu gelangen.Normatives und personenspezifisches Wissen. ImGegensatz zur Mechanik bietet die auf erworbenemWissen basierende Pragmatik Möglichkeiten desEntwicklungszugewinns bis ins späte Erwachsenen-alter. Innerhalb der Pragmatik kann zwischen nor-mativen und personenspezifischen Wissenskörpernunterschieden werden. Normatives Wissen wird imKontext allgemeiner Sozialisationsvorgänge (z. B. inder Schule) erworben; individuelle Unterschiede indiesem Wissen lassen sich gut mit psychometrischenMethoden erfassen (z. B. Wortschatztests). Perso-nenspezifisches Wissen zweigt vom normativen Pfadab, ist in Inhalt und Ausmaß variabel und eher imRahmen des Expertiseparadigmas erfassbar. Hiersind vor allem Wissenskörper im Kontext der beruf-lichen Biographie von Bedeutung.Mechanik und Pragmatik interagieren. Mechanikund Pragmatik sind ontogenetisch miteinander ver-bunden und beeinflussen sich gegenseitig. Das Entste-hen pragmatischer Wissensbestände in der Kindheitinteragiert in vielfältiger und im Einzelnen noch zuerforschender Weise mit dem evolutionär prädispo-

Kognitives Altern kann als Verknappungeiner zunehmend nachgefragten Ressource

begriffen werden.

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Aus der Sicht des SOK-Modells können die negativenAuswirkungen dieses Dilemmas unter anderemdadurch abgeschwächt werden, dass der Kontrollauf-wand alltagsrelevanter Aufgaben und Situationendurch den Einsatz kompensatorischer Hilfsmittelund Umwelten reduziert wird (K.Z.H. Li et al., 2001).

Überlegen Sie, welche kompensatorischen Hilfsmittel für eine 80-jährige Person, welchedie Strasse überquert, hilfreich sein könnten,um das Ausmaß an notwendiger kognitiverKontrolle zu reduzieren.

Denkanstöße

Zusammenfassende ÜberlegungenAus Sicht der Psychologie der Lebensspanne lassensich folgende Aspekte der intellektuellen Entwick-lung im Erwachsenenalter und im Alter besondershervorheben:Zweikompenentenmodell. Um die ontogenetischeDynamik zwischen Biologie und Kultur bei der intel-lektuellen Entwicklung abbilden zu können, wird einZweikomponentenmodell der intellektuellen Ent-

Der Begriff des Alterns wird häufig ergänzt, umdie Vielfalt an Alternsformen besser nachzeichnenzu können (vgl. Thomae, 1983). Von besondererBedeutung sind die Spezifikationen normal,pathologisch, erfolgreich und differentiell (Schaefer & Bäckman, im Druck).Normales Altern. Normales Altern kann zweierleibedeuten. Erstens kann es sich auf den statisti-

schen Normbegriff beziehen. In diesem Fallbezeichnet normales Altern einen Erwartungs-wert, der sich an den durchschnittlichen odertypischen Entwicklungsverläufen aller Überleben-den der jeweiligen Altersgruppen orientiert.Zweitens kann normales Altern als Altern ohnechronische Krankheiten definiert werden. In die-sem Fall soll der eigentliche Alterungsprozess vom

Unter der Lupe

Altern: Normal, pathologisch, erfolgreich und differentiell

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2.7 Das Dilemma behavioralen Alterns aus neurokognitiver Sicht 397

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nierten Aufbau von kortikalen Strukturen und kogni-tiven Kernbereichen (Elman et al., 1996). In späterenPhasen des Lebenslaufs kann der Erhalt und Erwerbpragmatischen Wissens die negativen Auswirkungenmechanischer Leistungsrückgänge abschwächen. InÜbereinstimmung mit generellen Prinzipien derDynamik zwischen Biologie und Kultur über dieLebensspanne gewinnt die kompensatorische Funk-tion der Pragmatik mit dem Alter an funktionalerBedeutung, verliert jedoch an Effizienz.Differenzierung und Dedifferenzierung. Heritabi-lität (d. h. die Größe des Beitrags genetischer Fakto-

ren zu interindividuellen Unterschieden in intellek-tuellen Leistungen), relative Stabilität (d. h. das Aus-maß an ontogenetischer Kontinuität interindivi-dueller Unterschiede), normativ-pragmatisches Wis-sen sowie die Differenziertheit der Struktur intellek-tueller Fähigkeiten nehmen von der Kindheit bis insspäte Erwachsenenalter zu und im hohen Alter wie-der ab. Die Parallelität dieser vier Entwicklungsfunk-tionen über die Lebensspanne stützt das Konzept derGen-Umwelt-Korrelation (Scarr & McCartney, 1983;vgl. Kap. 1). Sie bezeugt die Synergie zwischen sozial-struktureller und genetischer Differenzierung über

Altern mit Krankheit abgegrenzt werden, daswiederum als pathologisches Altern definiertwird. Da zahlreiche Krankheiten wie Alzheimer-Demenz, Diabetes und kardiovaskuläre Erkran-kungen im Alter zunehmend häufiger auftreten,ist die Abgrenzung zwischen normalem und pathologischem Altern insbesondere im hohenAlter empirisch und theoretisch schwierig. ZumBeispiel lässt sich bei strenger Definition norma-les Altern nur an einer kleinen Minderheit derüber 95-Jährigen beobachten. Normales Altern imSinne der statistischen Norm und im Sinne derKrankheitsfreiheit sind im hohen Alter also besonders weit voneinander entfernt. Dennoch istdie Definition normalen Alterns als Altern ohneKrankheit wissenschaftlich produktiv, denn siewirft wichtige Fragen auf: Unter welchen biologi-schen und kulturellen Bedingungen kann Alternso krankheitsfrei wie möglich verlaufen? Welchekörperlichen und geistigen Abbauprozesse sindnach gegenwärtigem Kenntnisstand Teil des normalen Alterns und welche sind als Krankheitvom normalen Altern abzugrenzen? Sind die entsprechenden Grenzen klar zu ziehen oder eherfließend?Erfolgreiches Altern. Erfolgreiches Altern kannmit objektiven Indikatoren wie Gesundheit undLanglebigkeit sowie mithilfe subjektiver Kriterienwie Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit erfasst werden. Sinnvoll erscheint eine Individuali-

sierung der Erfolgskriterien sowie eine Orientie-rung an den Zielen und Werten der alternden Per-son (vgl. Montada, 1996). Das Modell der selekti-ven Optimierung mit Kompensation (Baltes & Bal-tes, 1990) sowie die Theorie des assimilativen undakkommodativen Bewältigungsverhaltens (Brandt-städter & Rothermund, 2002; Brandtstädter &Wentura, 1995) spezifizieren Bedingungen undProzesse, die erfolgreiches Altern ermöglichen.Differentielles Altern. Differentielles Alternmeint zunächst den Umstand, dass verschiedenePersonen in unterschiedlicher Weise altern. Sonimmt die Unterschiedlichkeit zwischen Personenin der kognitiven Leistungsfähigkeit vom jungenzum höheren Erwachsenenalter eher zu als ab(Nelson & Dannefer, 1992). Im Altersbereich ab70 Jahren gibt es jedoch keine starken Hinweiseauf eine weitere Zunahme der interindividuellenVariabilität (Lindenberger & Baltes, 1997), undzwar vermutlich deshalb, weil Personen mit besonders niedrigen Funktionsniveaus und besonders ungünstigen Entwicklungsverläufeneine erhöhte Sterbewahrscheinlichkeit aufweisen(Lindenberger, Singer & Baltes, 2002). In einemweiteren Sinne verweist der Begriff des differen-tiellen Alterns auf die Forschungsstrategie, durchdie Analyse individueller Unterschiede zum Verständnis der invarianten und variablen Merk-male der Entwicklung im Erwachsenenalter undAlter beizutragen.

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398 3 Die Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit im Erwachsenenalter

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die Lebensspanne, zumindest unter den in industria-lisierten Gesellschaften westlichen Typs vorhandenenMöglichkeiten der Individualentwicklung.Plastizität. Intellektuelle Leistungen lassen sich überdie gesamte Lebensspanne positiv verändern. Mitwenigen Ausnahmen (z. B. Personen mit Alzheimer-Demenz oder die meisten Personen im sehr hohenAlter; Singer, 2000) können Personen aller Alters-gruppen Leistungszugewinne erzielen. Die in kogni-tiven Interventionsstudien bei älteren Erwachsenenbeobachtete weitgehende Abwesenheit positivenTransfers auf andere Tests derselben Fähigkeit, dieInterventionsresistenz der Altersunterschiede in denLeistungsobergrenzen sowie weitere Befunde legenjedoch den Schluss nahe, dass die beobachteten Leis-tungsverbesserungen primär pragmatischen Aspek-ten der Kognition zu verdanken sind.Erfassung mechanischer Leistungsveränderun-gen. Standardmaße der Mechanik der Kognition(z. B. Tests der fluiden Intelligenz) sind durch indi-viduelle Unterschiede in aufgabenrelevanter Vor-erfahrung und andere pragmatische Einflüsse konta-miniert. Um die Altersgradienten der Mechanik derKognition genauer zu bestimmen und die Identifi-kation kritischer Komponenten und Mechanismenzu erleichtern, bedarf es der Purifizierung der Mes-sung durch Methoden, die geeignet sind, die Ober-grenzen des mechanischen Leistungspotentials einerPerson zu bestimmen. Werden solche Methoden(z. B. Testing-the-limits) eingesetzt, so ergibt sich,wie vom Zweikomponentenmodell postuliert undim Einklang mit allgemeinen Überlegungen zurArchitektur des Lebenslaufs, eine deutlichere Alters-trennung der Leistungen als mit üblichen Verfahren.Determinanten der mechanischen Entwicklung.Als basale Determinanten oder Schrittmacher dermechanischen Entwicklung werden zurzeit vorallem Altersveränderungen in der Verarbeitungsge-schwindigkeit, der Arbeitsgedächtniskapazität undder Inhibition in Betracht gezogen. Alle drei Kon-strukte weisen Mängel in der theoretischen und ope-rationalen Definition auf und lassen eine direkteAnbindung an neuronale Veränderungen kaum zu.In jüngster Zeit ist mit der neurokognitiven Alterns-forschung eine Forschungsrichtung entstanden, die

versucht, kognitive Veränderungen mit neuroanato-mischen, neurochemischen und neurofunktionalenAltersveränderungen in Beziehung zu setzen (s. auch„Unter der Lupe“, S. 381).

3 Die Entwicklung von Selbstund Persönlichkeit im Erwachsenenalter

3.1 Forschungstraditionen im Bereich von Selbst und Persönlichkeit

Im Bereich der Entwicklung von Selbst und Persön-lichkeit im Erwachsenenalter lassen sich zunächstdrei Forschungstraditionen unterscheiden:� Persönlichkeit;� Selbstkonzept, Selbstdefinition, Identität;� Selbst-regulative Prozesse.Eine integrative Betrachtung der Entwicklung vonSelbst und Persönlichkeit im Erwachsenenalter stehtvor dem Problem, dass diese drei Traditionen oftunverbunden nebeneinander stehen. In jüngererZeit mehren sich jedoch die Versuche, Befunde undDenkweisen der drei Traditionen aufeinander zubeziehen (Caspi & Bem, 1990; Freund & Baltes,2000; Greve, 2000b; Staudinger, 2000; Staudinger &Pasupathi, 2000; vgl. Filipp & Brandtstädter, 1975;s. auch Kap. 19 und 33). In allen drei Forschungs-traditionen stehen Fragen nach Kontinuität undWandel des Erlebens und Verhaltens über die Le-bensspanne im Vordergrund.Persönlichkeitsforschung. Die Persönlichkeitsfor-schung beschreibt Personen als Träger von Eigen-schaften und Verhaltensdispositionen und orientiertsich an psychometrischen Methoden. Ihr Hauptan-liegen besteht darin, die Entstehung, Stabilität undVeränderung von Persönlichkeitsstrukturen nach-zuweisen. Dabei liegt der Schwerpunkt zumeist aufdem Ausmaß an struktureller Stabilität, Niveausta-bilität und relativer Stabilität über die Lebensspan-ne (Costa & McCrae, 1994a, 1995). Ein weiteresArbeitsfeld auf diesem Gebiet ist die Erforschung

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3.1 Forschungstraditionen im Bereich von Selbst und Persönlichkeit 399

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von Veränderungen in Merkmalszusammenhän-gen innerhalb derselben Person (z. B. Nesselroade,1989).Selbstkonzept, Selbstdefinition und Identität. DieBegriffe Selbstkonzept, Selbstdefinition und Identitätbezeichnen verschiedene Ansätze, denen gemein ist,dass sie Individuen als Produzenten dynamischerSelbststrukturen ansehen (z. B. Filipp, 1979; Markus& Wurf, 1987). Dabei betont der Begriff der Identitätdie soziale Bedeutung dieser Strukturen (Straub,2000). Verschiedene Kontexte oder Situationen akti-vieren unterschiedliche Ausschnitte und Inhaltsbe-reiche der Selbststruktur. Markus und Wurf (1987)sprechen in diesem Zusammenhang vom aktivierten(working) Selbstkonzept. Versucht Persönlichkeits-forschung, die Person „von außen“ zu sehen, so ver-sucht die Forschung zum Selbst zumeist zu erfassen,wie Personen „sich selbst“ „von innen“ erleben unddefinieren. Trotz dieser Divergenz der Ziele und Per-spektiven verwenden beide Forschungstraditionenvorwiegend Selbstauskünfte in Form von Fragebögenund dergleichen mehr.Selbst-regulative Prozesse. Schließlich befasst sichdie Forschung zu Selbst-regulativen Prozessen mitder Regulation des Selbst im Kontext von Erlebenund Verhalten, so zum Beispiel bei der Planung,Kontrolle, Korrektur und Bewertung von Handlun-gen (Greve, 2000b). Selbst-regulative Prozesse dienendem Erlangen, Aufrechterhalten und Wiedergewin-nen von angestrebten Selbst-Zuständen. In vielenFällen sind dies Zustände, die mit Kohärenz, Konti-nuität und Sinnhaftigkeit in Verbindung gebrachtwerden. Eine große Anzahl unterschiedlicher Theo-rien und Konstrukte fällt in diesen Bereich, so zumBeispiel Selbstevaluationen, Zielorientierungen, Be-wältigungsverhalten (Coping), Kontrollüberzeugun-gen, Selbstwirksamkeitsurteile und emotionale Regu-lation. Aus Sicht der Psychologie der Lebensspannebestehen die Anliegen dieser Forschungstradition vorallem darin, alterskorrelierte Veränderungen in derFunktionalität verschiedener Selbst-regulativer Pro-zesse zu erkunden sowie Grenzen und MöglichkeitenSelbst-bezogener Anpassungsleistungen zu bestim-men. Folgende theoretische Ansätze sind hier vonbesonderer Bedeutung:

� Akkommodation und Assimilation als Selbst-regulatorische Prozesse (Brandtstädter & Rother-mund, 2002),

� primäre versus sekundäre Kontrolle (Heckhausen& Schulz, 1995),

� die handlungstheoretische Ausgestaltung der be-reits vorgestellten Metatheorie der selektiven Op-timierung mit Kompensation (Freund & Baltes,2000).

Personale und subpersonale Perspektive. Bevordie drei Forschungstraditionen im Einzelnen be-trachtet werden, sei darauf aufmerksam gemacht,dass die Attribute von Selbst, Persönlichkeit, Iden-tität und so weiter zum einen als Explanans undzum anderen als Explanandum der Entwicklung imErwachsenenalter angesehen werden können (vgl.Brandtstädter, 1991). Sieht man die handelnde Per-son (im Rahmen ihrer persönlichen und kontex-tuellen Möglichkeiten) als Produzenten ihrer Ent-wicklung und als ihres Glückes (oder Unglückes)Schmied, so verfolgt man eine personale Perspek-tive. Hier stellen die Wünsche, Ziele und Absichtendes Selbst zulässige Handlungserklärungen dar. Diesentspricht der Sichtweise des Subjekts als „aktivem“Gestalter seiner Entwicklung (vgl. Kap. 1).

Aus subpersonaler Sicht dienen derartige Kon-struktionen als Ausgangspunkt von Erklärungen,jedoch nicht als deren Endpunkt. Dementsprechendwerden zahlreiche Funktionen, die dem Selbstkon-zept personal zugeschrieben werden, als Selbst-regu-latorische Prozesse mit dem Instrumentarium derExperimentellen Psychologie subpersonal erforscht.Ein Beispiel hierfür ist die Untersuchung der wahr-nehmungs- und handlungsleitenden Funktion desSelbstkonzepts im Rahmen von Reaktionszeitexperi-menten mit Hinweisreizen (primes; siehe z. B. Wen-tura et al., 1997; Wiese & Freund, 2001).Selbst-regulative Prozesse und exekutive Funktio-nen. Die Erforschung Selbst-regulativer Prozesseweist Ähnlichkeiten mit der Erforschung „exekutiverFunktionen“ auf. In beiden Fällen stehen Fragen derHandlungssteuerung und Handlungskontrolle imVordergrund (vgl. Gollwitzer & Moskowitz, 1996;Smith & Jonides, 1999). Typische Beispiele fürgemeinsame Forschungsthemen sind die Wirkungen

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von Erwartungen und Einstellungen auf Wahrneh-men und Handeln sowie die Prozesse, die Personenbefähigen, an einer Absicht in der Gegenwart ablen-kender Reize festzuhalten. Aus diesem Grunde wei-sen die Arbeiten zu Selbst-regulativen Prozessen in-nerhalb des Inhaltsbereichs der Entwicklung vonSelbst und Persönlichkeit die stärksten Bezüge zurkognitiven Alternsforschung auf. Die Erforschungder Entwicklung Selbst-regulativer Prozesse stelltsomit einen möglichen Weg dar, die konzeptuelleund empirische Kluft zwischen den Bereichen Kogni-tion/Intelligenz und Selbst/Persönlichkeit zu über-brücken. So könnte die Widerstandsfähigkeit (Resi-lienz) des Selbst im Alter – das heißt die Fähigkeitalter Menschen, trotz zahlreicher körperlicher undkognitiver Einbußen sowie sozialer Verlusterlebnisseihren Selbstwert zu erhalten (vgl. Kap. 33) – auchdamit zusammenhängen, dass die entsprechendenSelbst-regulatorischen Prozesse in hohem Maße wis-sensbasiert sind (also einen hohen pragmatischenAnteil aufweisen; vgl. Staudinger & Pasupathi, 2000).Denkbar wäre außerdem, dass diese Prozesse Teiledes kognitiven Systems beanspruchen, die wenigerstark mit dem Alter nachlassen. Neuere neurofunk-tionale und neuroanatomische Befunde stimmen mitdieser Vermutung überein (Philipps & Della Sala,1998).

Im Folgenden werden empirische Befunde zurEntwicklung im mittleren und höheren Erwachse-nenalter sowie im hohen Alter dargestellt. Dabeiwird versucht, die disparaten Befunde aus demBlickwinkel der Psychologie der Lebensspanne auf-einander zu beziehen und zu integrieren.

3.2 Persönlichkeit im Erwachsenenalter

Das Ausmaß an Kontinuität von Struktur, Niveau undinterindividuellen Unterschieden in Persönlichkeitsei-genschaften (traits) steht im Zentrum der am Begriffder Persönlichkeit ausgerichteten entwicklungspsy-chologischen Forschung. Dabei orientiert sich einGroßteil der Arbeiten an den „Big Five“ (Costa &McCrae, 1995), das heißt an den Dimensionen Neuro-tizismus, Extraversion, Offenheit, Verträglichkeit undGewissenhaftigkeit (vgl. Kap. 20). Der wohl am weites-ten verbreitete Fragebogen zur Persönlichkeit, derNEO (z. B. Costa & McCrae, 1995), erfasst dieseDimensionen dadurch, dass Personen einschätzen, inwelchem Maße entsprechende Eigenschaftswörter aufsie selbst zutreffen. Einige typische Beispieladjektivefür jede der Eigenschaften seien genannt:� Neurotizismus: ruhig – unruhig, empfindlich –

selbstbewusst, robust – verletzlich� Extraversion: reserviert – zugewandt, zurückge-

zogen – gesprächig, spontan – gehemmt� Offenheit für Neues: einfallslos – phantasievoll,

kreativ – unkreativ, konventionell – originell� Verträglichkeit: misstrauisch – vertrauensvoll,

penibel – großzügig, kritisch – nachsichtig� Gewissenhaftigkeit: oberflächlich – bewusst, zu-

verlässig – unzuverlässig, ziellos – ehrgeizig.Es ist unstrittig, dass die Big Five im mittleren undhöheren Erwachsenenalter ein beträchtliches Ausmaßan Entwicklungsstabilität aufweisen. Werden zweioder mehr Messzeitpunkte oder Altersgruppen mit-einander verglichen, so können vier verschiedene Sta-bilitätsformen voneinander unterschieden werden:(1) strukturelle Stabilität oder die Stabilität der

Anzahl, der Variabilität sowie der Beziehungender Persönlichkeitsdimensionen untereinander(d. h. Varianzen und Kovarianzen);

(2) relative Stabilität oder die Stabilität von Ausprä-gungsunterschieden zwischen Personen;

(3) Niveaustabilität oder die Stabilität des Niveaus derAusprägung von Persönlichkeitseigenschaften;

(4) Profilstabilität oder die Stabilität des Ausprä-gungsmusters einer bestimmten Person.

Die Erfassung der relativen Stabilität sowie der Pro-filstabilität erfordert längsschnittliche Erhebungsplä-

Bitte ordnen Sie die folgenden Begriffe den dreiForschungsbereichen Persönlichkeit, Selbstkon-zept/Selbstdefinition/Identität und Selbst-regulative Prozesse zu: Gewissenhaftigkeit,Selbstevaluation, Bewältigungsverhalten, Verträg-lichkeit, Zielorientierungen, possible selves,Selbstwertgefühl, Neurotizismus.

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ne, damit untersucht werden kann, in welchem Aus-maß sich die Unterschiede zwischen Personen bezie-hungsweise das Profil einer Person über die Zeit ver-ändert haben. Im Folgenden gehen wir auf jede dervier Stabilitätsformen gesondert ein. Insgesamt er-gibt sich der Eindruck einer beeindruckend hohenStabilität von Persönlichkeitseigenschaften über dieLebensspanne. Bei der Bewertung dieses Ergebnissesist jedoch zu bedenken, dass die in Persönlichkeits-fragebögen enthaltenen Items im Laufe der Jahrzehn-te aus einem anfänglich weit größeren Pool ausge-wählt worden sind. Dabei dienten unter anderemeine klare Faktorenstruktur sowie hohe Test-Retest-Stabilitäten als Auswahlkriterien. Demnach stehendie heutzutage zum Beispiel zur Messung der Big Fiveverwendeten Items am Ende eines langwierigenSelektionsprozesses, in dessen Verlauf sie sich zurErfassung stabiler interindividueller Unterschiedebewährt haben. Sie stellen somit weder eine erschöp-fende noch eine zufällige Auswahl aller möglichenpersönlichkeitsbeschreibenden Dimensionen dar.

3.2.1 Strukturelle StabilitätEin hohes Ausmaß an struktureller Stabilität (In-varianz) erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es sich beiden in verschiedenen Altersabschnitten untersuchtenPersönlichkeitsdimensionen um vergleichbare Kon-strukte handelt. Deswegen stellt die Überprüfungstruktureller Stabilität eine Voraussetzung für dieUntersuchung der anderen Stabilitätsformen dar. Dieempirischen Befunde zu den Big Five sprechen für einhohes Ausmaß an struktureller Stabilität nach demzehnten Lebensjahr. Die Fünf-Faktoren-Struktur lässtsich in verschiedenen Lebensaltern und verschiedenenPopulationen replizieren, und das Muster der Inter-korrelationen zwischen den fünf Dimensionen ist hin-reichend ähnlich. Eine Untersuchung strukturellerStabilität in jüngeren Altersgruppen stößt auf metho-dische und substantielle Schwierigkeiten.

3.2.2 Relative StabilitätDas Ausmaß an relativer Stabilität in den Big Fivewurde mehrmals zusammengefasst (z. B. Costa &

McCrae, 1994a). Insgesamt ergibt sich ein Bild ho-her relativer Stabilität, mit mittleren Korrelationenum r = .65 bei Zeitabständen zwischen sechs unddreißig Jahren. Auch hier nimmt die Höhe der Kor-relation in der Regel mit zunehmendem zeitlichenAbstand ab. Bei der Einschätzung der Befunde ist zuberücksichtigen, dass die berichteten Korrelationennicht reliabilitätsbereinigt sind, das heißt, bei Be-rücksichtigung des Messfehlers würden sich nochhöhere Werte ergeben. Auf der anderen Seite könn-te selektiver Stichprobenausfall die Werte erhöhthaben, falls Personen mit starken Persönlichkeitsver-änderungen eine geringere Wahrscheinlichkeit auf-weisen sollten, mehr als einmal beobachtet zu wer-den, als Personen mit geringen Veränderungen.Berücksichtigt man diese Argumente und versucht,das Ausmaß an relativer Stabilität zwischen dem 30. und dem 80. Lebensjahr zu bestimmen, so ergibtsich als vorsichtige Schätzung ein Wert um 50 Pro-zent. Costa und McCrae gelangen hingegen zu deretwas weiter gehenden Einschätzung, dass drei Fünf-tel der reliablen Varianz von Persönlichkeitseigen-schaften über die gesamte Lebensspanne stabil seien(Costa & McCrae, 1994a).

3.2.3 NiveaustabilitätDie Mehrzahl der Befunde zur Niveaustabilität beruhtauf Korrelationen der Big Five mit dem Alter in quer-schnittlichen, altersheterogenen Stichproben (z. B.Costa & McCrae, 1992). Generell hängt Alter in diesenStichproben mit weniger als 3 Prozent der Varianz deruntersuchten Eigenschaften zusammen. Schwach ne-gative Korrelationen ergeben sich für Neurotizismus(r = –.15), Offenheit (r = –.16) und Extraversion(r = –.16), schwach positive für Verträglichkeit(r = .18) und Gewissenhaftigkeit (r = .05). Im Durch-schnitt ergibt sich somit das Bild, dass Personen imLaufe des Erwachsenenalters niedrigere Werte auf denDimensionen Offenheit, Extraversion und Neuroti-zismus aufweisen, dafür aber etwas umgänglicher undzuverlässiger werden. Es muss jedoch daran erinnertwerden, dass dieses Bild zumindest teilweise auch aufhistorische Einflüsse wie zum Beispiel den gesell-schaftlichen Wandel zurückgehen könnte.

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Befunde der Berliner Altersstudie weisen darauf hin,dass im hohen Alter deutlichere Altersunterschiedeund Altersveränderungen in Persönlichkeitseigen-schaften zu beobachten sind (Smith & Baltes, 1999)als im Erwachsenenalter. Zum Beispiel zeigten sichim Altersbereich von 70 bis 103 Jahren im Quer-schnitt negative Altersbeziehungen für Extraversion(r = –.19) und Offenheit (r = –.20). Längsschnitt-liche Beobachtungen der Berliner Altersstudie übereinen Zeitraum von bis zu sechs Jahren führten zuähnlichen Befunden (Smith et al., 2001). Offensicht-lich verliert die Tendenz des Selbstsystems, Stabilitätzu erzeugen und aufrechtzuerhalten, an Wirksam-keit, wenn die Intensität und Dauer von Stressoreneine gewisse, von Person zu Person vermutlich vari-able Grenze überschreiten (vgl. Kunzmann et al.,2000; Staudinger et al., 1995).

3.2.4 ProfilstabilitätIn einem umfassenden Sinn bezieht sich die Stabi-lität von Persönlichkeit insbesondere auf die relativeStabilität des Profils der Ausprägungen relevanterEigenschaften. Fragen ließe sich zum Beispiel, obeine Person, die im Alter von 20 Jahren ein hohesMaß an Extraversion und Offenheit, ein geringesAusmaß an Neurotizismus sowie ein durchschnittli-ches Ausmaß an Umgänglichkeit und Gewissenhaf-tigkeit aufwies, im Alter von 70 Jahren ein ähnlichesProfil aufweist, und zwar sowohl im Vergleich zusich selbst als auch im Vergleich zu anderen Perso-nen ihres Alters. Diese Frage entspräche einemdurchaus berechtigten Begriff von Persönlichkeit,der intraindividuellen Veränderungen und interin-dividuellen Unterschieden im Profil der Eigenschaf-ten zentrale Bedeutung beimisst. EntsprechendeAuswertungen werden nur selten unternommen (s. aber z. B. Helson & Wink, 1992). Da die relativeStabilität der Profile die relative Stabilität aller pro-filkonstituierenden Eigenschaften voraussetzt, kannsie nicht höher (aber durchaus geringer) ausfallenals die relative Stabilität der instabilsten Eigenschaft.Persönlichkeit im Sinne eines Profils von Eigen-schaften ist demnach bei weitem weniger stabil, alsdie isolierte Betrachtung einzelner Eigenschaften

vermuten lässt. Dies könnte unter anderem daranliegen, dass Personen im Laufe ihres Lebens unter-schiedlichen Entwicklungsaufgaben begegnen, derenBewältigung verschiedene Persönlichkeitsmerkmaleunterschiedlich stark erfordert und beeinflusst.

3.2.5 Persönlichkeit und erfolgreicheEntwicklung

Unter dem Gesichtspunkt der Validität stellt sich dieFrage, in welchem Maße Persönlichkeitseigenschaf-ten mit verschiedenen Aspekten erfolgreicher Ent-wicklung zusammenhängen. Die empirische Unter-suchung dieser Frage steht vor methodischen undkonzeptuellen Problemen. So bestehen die relevan-ten Daten zumeist aus Selbstauskünften, sowohl inBezug auf Persönlichkeitseigenschaften (z. B. denBig Five) als auch in Bezug auf Indikatoren erfolg-reicher Entwicklung (z. B. subjektives Wohlbefin-den). Ein Teil der beobachteten Beziehungen zwi-schen Persönlichkeit und Entwicklungserfolg dürftesomit darauf zurückgehen, dass Selbstauskünfte mitSelbstauskünften in Beziehung gesetzt werden(gemeinsame Methodenvarianz). Ein zusätzliches,von dieser allgemeinen Problematik abgrenzbaresProblem liegt vor, wenn die Items der miteinanderin Beziehung gesetzten Skalen einander ähneln(Itemähnlichkeit). Typische Beispiele sind die Ähn-lichkeit zwischen dem Item „Mir ist oft weinerlichzumute“ (Neurotizismus) und dem Item „traurig“(emotionales Wohlbefinden, invers kodiert) sowiezwischen dem Item „Ich bin ein fröhlicher, gutgelaunter Mensch“ (Extraversion) und dem Item„fröhlich“ (positive Emotionen).Kriterien erfolgreicher Entwicklung. Aus me-thodischen und konzeptuellen Gründen ist es sinn-voll, neben subjektiven auch objektive Kriterien beider Definition erfolgreicher Entwicklung zu berück-sichtigen. Das Verwenden derartiger Kriterien ver-weist auf Werte, die begründet werden können, abernicht von jedem geteilt werden müssen. Kriterienwie gute Gesundheit und hohe intellektuelle Leis-tungsfähigkeit sind allerdings in hohem Maße kon-sensfähig. Auch allgemein anerkannte objektive Kri-terien des Entwicklungserfolgs lassen sich jedoch

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nicht ohne weiteres auf die einzelne Person anwen-den, wenn hierbei die Möglichkeiten und Grenzender Person und des jeweiligen Kontextes angemessenberücksichtigt werden sollen. So stellen Tätigkeitender erweiterten Alltagskompetenz (wie das Besuchenöffentlicher Veranstaltungen) für eine Person ohnegrößere motorische Einschränkungen eine geringereHerausforderung dar als für eine gehbehinderte Per-son.Empirische Befunde. Vor dem Hintergrund diesereinschränkenden Bemerkungen werden im Folgen-den exemplarisch einige Befunde zum Verhältniszwischen Persönlichkeit und Entwicklungserfolg be-richtet (vgl. Kap. 33).

Als subjektive Kriterien des Entwicklungserfolgskommen unter anderem die Valenzen Selbst-bezoge-ner Gefühle und Erlebnisse in Betracht. Hier zeigtsich, dass Personen mit hoher Extraversion dazuneigen, ihre eigene Befindlichkeit eher mit positivenGefühlen zu beschreiben als Personen mit niedrigerExtraversion. Hingegen berichten Personen mithohen Werten auf der Neurotizismusskala vermehrtnegative Gefühle (Costa et al., 1981) – man beachtejedoch das Problem der Itemähnlichkeit. Ähnlichberichten Personen mit hoher Extraversion eherpositive Erlebnisse aus ihrem Leben, während Perso-nen mit hohen Neurotizismuswerten eher negativeErlebnisse berichten (Magnus et al., 1993). Schließ-lich zeigt Gewissenhaftigkeit positive Beziehungenzum subjektiven Wohlbefinden (vgl. Kap. 33), dasals zentraler Indikator des subjektiven Entwick-lungserfolgs angesehen wird (Baltes & Baltes, 1990).

Hinsichtlich objektiver Kriterien sind Offenheitfür Neues und Verhaltensflexibilität mit einer Viel-zahl kognitiver Leistungen positiv korreliert (Schaieet al., 1991). Zum Beispiel zeigten Personen mithohen Werten für Offenheit höhere Leistungen inAufgaben zu Lebenswissen und Weisheit (Staudin-ger et al., 1997) sowie ein größeres Ausmaß anerweiterter Alltagskompetenz (Baltes et al., 1999a).Erklärungen. Eine entwicklungspsychologisch pro-duktive Erklärung von Zusammenhängen zwischenPersönlichkeit und Entwicklungserfolg erfordertTheorien, die Entwicklungsunterschiede im Erlebenund Verhalten miteinander verknüpfen. Die ver-

schiedenen Forschungstraditionen im Bereich vonSelbst und Persönlichkeit verfolgen hier unter-schiedliche theoretische Ansätze. Persönlichkeitsthe-orien fassen Eigenschaften traditionell als Quellenindividueller Unterschiede im Erleben und Verhal-ten auf. Hingegen begreifen Theorien des SelbstEigenschaften vorwiegend als Resultat Selbst-bezo-gener Prozesse. (Der Unterschied zwischen den bei-den Ansätzen verhält sich mithin analog zum Unter-schied zwischen Ressourcen- und Prozessorientie-rung im Bereich der kognitiven Entwicklung.) Folgtman der Selbst-orientierten Deutung, so bringenPersönlichkeitseigenschaften individuelle Unter-schiede im Umgang mit Selbst-bezogenen Informa-tionen zum Ausdruck, die den zukünftigen Umgangmit derartigen Informationen und somit auch densubjektiven und objektiven Entwicklungserfolg zubeeinflussen vermögen. Eine derartige Sichtweisehat den Vorteil, dass sie die Veränderbarkeit vonEigenschaften in stärkerem Maße thematisiert alsder persönlichkeitsorientierte Ansatz.

3.2.6 Stabilität ist nicht allesBetrachtet man die empirischen Arbeiten zur Ent-wicklung wichtiger Persönlichkeitsdimensionen wieden Big Five, so überwiegt der Eindruck vonNiveaustabilität, relativer Stabilität und Struktursta-bilität. Man könnte einwenden, dass diese Stabilitätin sich selbst bereits eine hinreichende Erklärunginterindividueller Unterschiede im Bereich Selbstund Persönlichkeit darstellt, zumal verhaltensgeneti-sche Studien darauf hinweisen, dass in Stichprobenklinisch unauffälliger Personen etwa 50% der indi-viduellen Unterschiede in den Dimensionen der BigFive mit stabilen genetisch bedingten Unterschiedenverknüpft sind (Loehlin, 1993). Eine solche Sicht-weise ist aus mehreren Gründen psychologischunproduktiv. Erstens kann, wie oben dargestellt, Sta-bilität im lebenszeitlichen Verlauf als Resultat derWirkung Selbst-regulativer Prozesse verstanden wer-den, das heißt als das immer wieder herzustellendeVermögen des Selbst, unter veränderten personalenund sozialen Bedingungen Stabilität zu produzieren.Zweitens sind die beobachteten Stabilitäten durch-

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aus nicht perfekt. Vielmehr gibt es, auch nachBerücksichtigung des Messfehlers (der die beobach-tete Stabilität erniedrigt, jedoch nicht im Sinne einerVeränderung der wahren Werte gedeutet werdendarf), Anzeichen dafür, dass zumindest einige Perso-nen ihr Persönlichkeitsprofil im Laufe des Erwach-senenalters tatsächlich verändern. Eine prozess-orientierte Betrachtung der Mechanismen und Kor-relate dieser Veränderungen kann zu einem besserenVerständnis der Plastizität im Bereich von Selbst undPersönlichkeit beitragen.

Selbst-Konzeptionen zur Strukturierung von Ent-wicklungsübergängen und Herausforderungen undverknüpfen sie mit positiven Erwartungen undSelbstwirksamkeitsüberzeugungen (Hooker, 1992).

3.3.2 Themen und Motive als Entwicklungs-ziele: Altersunterschiede in Auswahlund Priorisierung

Aus Sicht des SOK-Modells ist selektive Optimie-rung mit Kompensation für erfolgreiche Entwick-lung sowohl bei zunehmenden als auch bei abneh-menden Ressourcen von Bedeutung. Zum Beispielermöglichen bei zunehmenden Ressourcen elektiveSelektion und Optimierung Spezialisierung (z. B. imBeruf), auf die erfolgreiche Entwicklung angewiesenist. Bei abnehmenden Ressourcen wiederum müssenZiele in eine Rangreihe gebracht (priorisiert) wer-den, damit manche beibehalten und andere abge-wählt werden können. Unter diesem Blickwinkelkönnen Selbst-Strukturen und Persönlichkeitsmerk-male ähnlich wie intellektuelle Fähigkeiten als per-sonale Ressourcen gelten, die in Interaktion mitalterskorrelierten Entwicklungsaufgaben und Anfor-derungen die Zielauswahl beeinflussen.Zielverschiebungen. Betrachtet man die Inhaltewertgeschätzter Ziele als Funktion des Alters, so zei-gen sich Verschiebungen im berichteten Einsatz anAnstrengung und Zeit in verschiedene Themen,Motivsysteme und Entwicklungsaufgaben (Freund,1995; Kruse et al., 1999; Staudinger, 1996a). In eineraltersvergleichenden Untersuchung zu Lebensinvest-ments kommt dies deutlich zum Ausdruck (Stau-dinger, 1996a; s. Tab. 10.2). Im Altersbereich von 25bis 35 Jahren sind die Ziele Arbeit, Freunde, Familieund Unabhängigkeit vorherrschend. Im Altersbe-reich von 35 bis 54 Jahren rückt die Familie an dieerste Stelle, gefolgt von Arbeit und Freunden; alsviertes Ziel wird nunmehr statt Unabhängigkeitkognitive Leistungsfähigkeit genannt. Im Altersbe-reich von 55 bis 65 Jahren erscheint zum ersten Maldie Gesundheit unter den vier wichtigsten Zielen,während die Wichtigkeit der Arbeit abnimmt. Imhohen Alter tritt als neues Thema das Nachdenkenüber das Leben hinzu.

Von welcher Persönlichkeitseigenschaft würdenSie erwarten, dass die relative Stabilität hoch, dieNiveaustabilität jedoch niedrig ist?

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3.3 Selbstkonzeptionen und Selbst-regulative Prozesse

3.3.1 Plurale Selbst-StrukturMit den Arbeiten zum Selbst (vgl. auch Kap. 19)rücken die Struktur und der Inhalt von Selbstkon-zeptionen stärker in der Vordergrund, als dies in derpersönlichkeitsorientierten Forschung möglich ist.Etliche Untersuchungen (z. B. Cross & Markus,1991) weisen darauf hin, dass eine diversifizierte undplurale Struktur bevorzugter „Selbst-Konzeptionen“– etwa als Berufstätige, Partnerin, Mutter und Hob-bymusikerin – die Anpassung an veränderte Ent-wicklungsbedingungen erleichtert und zum Beispielpositiv mit geistiger Gesundheit korreliert. ÄltereErwachsene, die ihr Selbst im Sinne reichhaltiger,positiv eingeschätzter, miteinander verbundenersowie in der Gegenwart verankerter Selbst-Konzep-tionen definieren, können mit negativen ge-sundheitlichen Veränderungen besser umgehen alsandere Personen (Freund, 1995). Der von Markusund Mitarbeitern eingeführte Begriff der „possibleselves“ bringt den Anpassungsvorteil einer pluralenund zugleich kohärenten Selbst-Struktur besondersgut zum Ausdruck (Cross & Markus, 1991). Dem-nach nutzen Personen erwünschte oder befürchtete

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3.3.3 Soziale und temporaleVergleichsprozesse

Auch in schwierigen Lebenssituationen sind diemeisten Menschen in der Lage, ein hohes Maß anWohlbefinden und Lebenszufriedenheit aufrecht-zuerhalten. Eine mögliche Ursache für dieses „Zu-friedenheitsparadox“ (vgl. Kap. 19 und 33) ist darinzu sehen, dass Individuen im Laufe des Lebens ihreSelbst-Konzeptionen und Motivsysteme an altersty-pische personale und soziale Erfordernisse und Vo-raussetzungen anpassen, etwa im Sinne des Modellsder selektiven Optimierung mit Kompensation.Soziale und temporale Vergleichsprozesse erfüllenim Kontext dieser lebensgeschichtlichen Anpas-sungsleistungen eine wichtige Selbst-regulatorischeFunktion (Filipp, 1979).

funktional (d. h. selbstwertstabilisierend), wenn Res-sourcen zur Verbesserung fehlen und Verluste regu-liert werden müssen. Die entsprechenden empiri-schen Befunde stimmen überwiegend mit diesenBefunden überein.

Altersbereich in Jahren 25–34 35–54 55–65 70–84 85–105

Rangreihe des Invest- � Beruf � Familie � Familie � Familie � Gesundheitments � Freunde � Beruf � Gesundheit � Gesundheit � Familie

� Familie � Freunde � Freunde � Kognitive � Nachdenken� Unab- � Kognitive � Kognitive Leistungs- über das Leben

hängigkeit Leistungs- Leistungs- fähigkeit � Kognitivefähigkeit fähigkeit � Freunde Leistungs-

fähigkeit

Tabelle 10.2. Altersunterschiede im Lebensinvestment vom jungen Erwachsenenalter bis zum hohen Alter. Die vierBereiche mit dem höchsten Ausmaß an berichtetem Investment von Zeit und Anstrengung entsprechen den zentralenEntwicklungsaufgaben des jeweiligen Altersbereichs (nach Staudinger, 1996a)

Soziale Vergleichsprozesse bestehen in derRegel in einem Vergleich zwischen einer Refe-renzgruppe und der eigenen Person auf einerSelbst-relevanten Dimension (z. B. Gesundheitoder kognitive Fitness).

Definition

Üblicherweise wird zwischen Abwärts- und Auf-wärtsvergleichen unterschieden. Aufwärtsvergleichegelten als funktional (d. h., sie motivieren An-strengungen in Richtung auf ein erreichbares Ziel),wenn eine Verbesserung auf der entsprechendenDimension möglich ist. Abwärtsvergleiche gelten als

Temporale Vergleichsprozesse beziehen sichzumeist auf einen Vergleich von Personen mitsich selbst über die Lebenszeit.

Definition

Ryff (1991) konnte zeigen, dass Personengruppenunterschiedlichen Alters sich in der durchschnitt-lichen Einschätzung des gegenwärtigen Funktionsni-veaus in verschiedenen Aspekten der Persönlichkeit(z. B. Autonomie und soziale Beziehungen) nichtvoneinander unterschieden. Bei einer Variation deszeitlichen Bezugspunkts ergaben sich jedoch Unter-schiede zwischen den Altersgruppen. Junge Erwach-sene bewerteten ihre eigene Zukunft positiver undihre eigene Vergangenheit negativer als ältere Er-wachsene. Ältere Erwachsenen hingegen nahmeneine vergleichsweise positive Bewertung ihrer Ver-gangenheit vor. Bei jüngeren Erwachsenen könntedie positive Bewertung der Zukunft als motivieren-der „Aufwärtsvergleich mit sich selbst“ wirken. Hin-gegen könnte die positive Bewertung der Vergangen-heit bei den älteren Erwachsenen angesichts abneh-mender Ressourcen und abnehmender Lebenszeitden Selbstwert und das Zutrauen in die eigenen

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Fähigkeiten positiv beeinflussen. Demnach bestimmtsich die Wirkung temporaler Vergleichsprozesse aufSelbstwert und Wohlbefinden durch ihre Funktionim Kontext der subjektiven Konstruktion des eigenenLebenslaufs; für ältere Personen, deren Leben größ-tenteils in der Vergangenheit angesiedelt ist, hat dieBewertung von Vergangenheit und Zukunft eineandere Funktion als für Personen jüngeren Alters.

3.3.4 Bewältigungsverhalten (Coping)Das Konzept der Entwicklungsaufgabe eignet sich in besonderer Weise für eine Betrachtung des Le-benslaufs aus bewältigungstheoretischer Sicht (vgl.Kap. 19). Demnach stellen EntwicklungsaufgabenHerausforderungen (Stressoren) dar, die Personenauf unterschiedliche Weise bewältigen können.Generell scheint die Resilienz (Widerstandsfähig-keit) des Selbst gegen Stressoren zu steigen, wennPersonen auf eine Vielzahl unterschiedlicher Bewäl-tigungsformen zurückgreifen können (Greve, 2000a;Staudinger et al., 1995; vgl. Kap. 33). Dieser Befundähnelt den Ergebnissen zur pluralen Selbst-Strukturund lässt den allgemeinen Schluss zu, dass ein großes Repertoire an Selbst-Definitionen und Be-wältigungsformen die Wahrscheinlichkeit erhöht,den Anforderungen einer bestimmten Herausforde-rung angemessen begegnen zu können. Selbst-Defi-nitionen und Bewältigungsformen sind in diesemSinne, ähnlich wie kognitive Fähigkeiten, als perso-nale Ressourcen anzusehen.Herausforderungen und Ressourcen. Das Ausmaßan Stress, definiert als das Verhältnis von Herausfor-derungen zu Ressourcen, bliebe im Laufe des Lebenskonstant, wenn sich beide in ähnlicher Weise mit demAlter veränderten. So sind die Unterschiedlichkeitund der Umfang der Entwicklungsaufgaben des mitt-leren Erwachsenenalters beeindruckend (z. B. Arbeit,Familie, Partnerschaft). Das durchschnittliche Niveauan Stress ist in dieser Lebensphase jedoch nichtzwangsläufig höher als in anderen Lebensabschnitten,da Personen in diesem Alter auch über relativ vieleRessourcen verfügen. Im höheren Erwachsenenalterkommt dieses Gleichgewicht jedoch ins Wanken,unter anderem deshalb, weil die Häufigkeit nicht

kontrollierbarer Verlustereignisse kontinuierlichzunimmt (z. B. Tod und Krankheit nahe stehenderPersonen, Abnahme der eigenen Gesundheit usw.).Dennoch finden sich bis ins hohe Alter zumeist keinevermehrten Anzeichen für missglücktes Bewälti-gungsverhalten wie Unzufriedenheit oder Depressi-vität (Brandtstädter & Rothermund, 2002).Assimilative und akkommodative Bewältigung.Somit stellt sich die Frage, welche Formen desBewältigungsverhaltens bei zunehmenden Verlustenund nachlassenden Ressourcen als adaptiv geltenkönnen. In diesem Zusammenhang hat sich, ne-ben verwandten Zweigliederungen (Heckhausen &Schulz, 1995; Lazarus & Launier, 1978), die Unter-scheidung zwischen assimilativem und akkomodati-vem Bewältigungsverhalten als besonders ertrag-reich erwiesen (Brandtstädter, 1998; Brandtstädter &Rothermund, 2002).

Assimilatives Bewältigungsverhalten umfasstalle Formen problemorientierten Handelns, diedie Entwicklung in Richtung auf persönlicheZiele und Maßstäbe befördern oder die Diskre-panz zwischen Situation und Entwicklungszielendurch Veränderung der Umwelt reduzieren. ImGegensatz dazu erleichtert akkommodativesBewältigungsverhalten das Aufgeben nichterreichbarer Ziele, die Reduktion des Anspruchs-niveaus und die positive Neubewertung bessererreichbarer Ziele.

Definition

Während assimilatives Bewältigungsverhalten alsomit dem „zähen Festhalten“ an einmal gewähltenZielen einhergeht, zeichnet sich akkommodativesVerhalten durch die „flexible Zielanpassung“ an dieRessourcenlage aus. Daraus folgt, dass bei dauerhaftreduzierten Entwicklungsmöglichkeiten (Ressour-cen) akkommodatives Verhalten gerade nicht mitHoffnungslosigkeit, Resignation und Depressionverknüpft ist. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Inmehreren empirischen Untersuchungen konntenachgewiesen werden, dass Hoffnungslosigkeit undHilflosigkeit mit Defiziten in der flexiblen Zielan-

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passung in Verbindung stehen (Brandtstädter &Renner, 1990; vgl. Brandtstädter, 1998). Die Modifi-kation oder Aufgabe nicht erreichbarer Ziele istsomit als geglücktes Bewältigungsverhalten und alsVoraussetzung erfolgreichen Alterns anzusehen.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht bezeichnetBewältigungsverhalten demnach den Versuch, inwechselnden Lebenslagen die angemessene Balancezwischen dem zähen Festhalten an Zielen und der fle-xiblen Zielanpassung zu finden. Im Übergang vommittleren zum höheren Erwachsenenalter steht Be-wältigungsverhalten unter anderem im Zeichen ab-nehmender biologischer Ressourcen. Personen, dieunter diesen Bedingungen wichtige Ziele zu früh oderunwichtige Ziele zu spät aufgeben, machen von ihrenRessourcen weniger angemessen Gebrauch als Perso-nen, die an wichtigen Zielen festhalten können, weilsie unwichtige aufgeben. Dabei ist zu bedenken, dassZiele nicht „einfach so“ aufgegeben werden können,denn die Selbst-regulativen Prozesse, die akkommo-datives Bewältigungsverhalten zulassen, sind derintentionalen Kontrolle offenbar nicht unmittelbarzugänglich (Brandtstädter & Rothermund, 2002).Zielkongruenz. Des Weiteren können selegierteZiele einander in unterschiedlichem Ausmaß stützenoder behindern. Eine höhere Zielkongruenz (d. h.eine positivere Summe der Differenzen zwischenstützenden und behindernden Zielbeziehungen) hatden Vorteil, dass der Wirkungsgrad der eingesetztenRessourcen steigt. Die Bewertung der adaptivenFunktion flexibler Zielanpassungen für die erfolgrei-che Entwicklung im Erwachsenenalter hat demnachzu berücksichtigen, ob und in welchem Ausmaß dieKongruenz der verbleibenden bzw. modifiziertenZiele im Laufe der Anpassung zunimmt. In Überein-stimmung mit dem Modell der selektiven Optimie-rung mit Kompensation gibt es Hinweise darauf, dassdie Zielkongruenz im Laufe des Erwachsenenalterstatsächlich steigt (Riediger, 2001).

An dieser Stelle wird deutlich, dass die Theoriedes assimilativen und akkommodativen Bewälti-gungsverhaltens und das Modell der selektiven Opti-mierung mit Kompensation zu komplementärenVorhersagen über die Bedingungen erfolgreicherEntwicklung im Alter gelangen. Das Verhältnis zwi-

schen den beiden Konzeptionen lässt sich in etwawie folgt charakterisieren.� Assimilatives Bewältigungsverhalten unterstützt

Optimierungsprozesse im Kontext elektiv sele-gierter Ziele.

� Akkommodatives Bewältigungsverhalten unter-stützt verlustbasierte Selektionsprozesse wie dasAbwerten schwer erreichbarer Ziele, die Redefini-tion der Indikatoren des Zielbereichs (Greve,2000a) sowie das gänzliche Aufgeben unerreich-barer Ziele.

Kompensation weist sowohl assimilative als auchakkommodative Züge auf. Sie unterstützt zunächstassimilatives Bewältigungsverhalten, da am überge-ordneten Ziel festgehalten wird und zu diesem ZweckRessourcen beansprucht werden. Sie kann jedochzumindest bei mittlerer Ressourcenlage akkommoda-tives Bewältigungsverhalten befördern, wenn das Ziel,an dem festgehalten wird, aufgrund der kompensato-rischen Prozesse weniger Ressourcen zu seiner Errei-chung beansprucht als zuvor (und sich insoferngewandelt hat). Folglich werden kompensatorischeProzesse durch ein Bewältigungsverhalten gefördert,das zwischen den Extremen angesiedelt ist und als„flexible Zielverfolgung“ bezeichnet werden könnte.Auch aufgrund dieser vermittelnden Funktion dürftekompensatorischen Prozessen beim erfolgreichenÜbergang vom mittleren zum höheren Erwachsenen-alter eine zentrale Bedeutung zukommen (siehe auchRothermund & Brandtstädter, 2001).

Im Alter von 83 Jahren erleidet Frau Meiereinen Oberschenkelhalsbruch. Beschreiben Siemögliche Konsequenzen dieses Ereignisses unterBezug auf folgende Begriffe und Theorien:possible selves, assimilatives versus akkomoda-tives Bewältigungsverhalten, selektive Optimie-rung mit Kompensation.

Denkanstöße

Zusammenfassende ÜberlegungenDie Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit imErwachsenenalter wird im Rahmen dreier For-schungsrichtungen erforscht:

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(1) Persönlichkeitspsychologie,(2) Theorien über Selbstkonzept, Selbstdefinition

und Identität,(3) Theorien über Selbst-regulative Prozesse.Persönlichkeitspsychologie. Die Persönlichkeits-psychologie sieht Personen als Träger von Eigen-schaften und Verhaltensdispositionen. Hier sind dieDimensionen Neurotizismus, Extraversion, Offen-heit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit („BigFive“) am häufigsten untersucht worden. Für dieseEigenschaften findet sich ein hohes Ausmaß anstruktureller Stabilität nach dem zehnten Lebens-jahr. Auch die relative Stabilität, also die Stabilitätvon Ausprägungsunterschieden zwischen Personen,ist recht hoch. In Bezug auf die Niveaustabilitätergeben sich schwach negative Korrelationen mitdem Alter für Neurotizismus, Offenheit und Extra-version sowie schwach positive Korrelationen fürVerträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Hohe Extra-version und Gewissenhaftigkeit gehen mit höheremsubjektivem Wohlbefinden einher, während Per-sonen mit hohen Neurotizismuswerten vermehrtnegative Gefühle berichten. Bei der Interpretationdieser Ergebnisse ist jedoch zu beachten, dass so-wohl die Persönlichkeitseigenschaften als auch dieEinschätzung des subjektiven Wohlbefindens aufSelbstberichten beruhen und sich die Items der Ska-len in nicht unerheblicher Weise überlappen. Posi-tive Korrelationen mit einer Vielzahl kognitiver Leis-tungen finden sich zudem für die DimensionenOffenheit für Neues und Verhaltensflexibilität.Theorien über Selbstkonzept, Selbstdefinitionund Identität. Empirisch konnte gezeigt werden,dass sich junge und ältere Erwachsene in dem be-richteten Lebensinvestment in verschiedene Ent-wicklungsaufgaben unterscheiden. So nimmt zumBeispiel die Gesundheit im höheren Alter einen prominenteren Stellenwert ein als im mittlerenErwachsenenalter. Soziale und temporale Vergleich-sprozesse können von älteren Erwachsenen herange-zogen werden, um ihre Selbstkonzeptionen undMotivsysteme an alterstypische personale und sozialeErfordernisse und Voraussetzungen anzupassen.Selbstkonzeptionen und Selbst-regulative Pro-zesse. Das adaptive Zusammenspiel von assimilati-

408 3 Die Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit im Erwachsenenalter

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vem und akkomodativem Bewältigungsverhalten(Brandtstädter, 1998) vermag zu erklären, warum esMenschen im hohen Alter oftmals gelingt, sich trotzzunehmender Verluste wohl zu fühlen. Bei der assi-milativen Bewältigung wird die Umwelt durch pro-blemorientiertes Handeln verändert, um die eigenenZiele zu erreichen. Bei der akkomodativen Bewälti-gung stehen das Aufgeben nicht erreichbarer Ziele,die Reduktion des Anspruchsniveaus und die posi-tive Neubewertung besser erreichbarer Ziele imVordergrund. Die persönlichen und situativen Vo-raussetzungen für den Übergang von assimilativenzu akkomodativen Bewältigungsverhalten sind einwichtiger Gegenstand der Persönlichkeitsentwick-lung.

Weiterführende LiteraturBaltes, P.B., Lindenberger, U. & Staudinger, U.M. (2006). Lifespan the-

ory in developmental psychology. In W. Damon & R. M. Lerner

(Eds.), Handbook of child psychology (6th ed., Vol. 1). Theoretical

models of human development (pp. 569–664). New York: Wiley.

� Eine ausführliche Darstellung der Psychologie der Lebensspanne.

Brandtstädter, J. & Lindenberger, U. (im Druck). Entwicklungspsycho-

logie der Lebensspanne: Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer.

� Dieses Lehrbuch vermittelt einen aktuellen Überblick über die

zentralen Themen und Forschungsbereiche der Lebensspannen-

Entwicklungspsychologie mit zahlreichen theoretischen und

anwendungsorientierten Beiträgen.

Freund, A.M., Li, K.Z.H. & Baltes, P.B. (1999). Successful develop-

ment and aging: The role of selection, optimization, and com-

pensation. In J. Brandtstädter & R.M. Lerner (Eds.), Action and

self-development: Theory and research through the life span (pp.

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� Dieser Beitrag erläutert das Modell der selektiven Optimierung

mit Kompensation im Sinne einer Theorie erfolgreicher Entwick-

lung.

Li, S.-C., Lindenberger, U. & Sikström, S. (2001). Aging cognition:

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Cognitive Science, 5, 479–486.

� Das Altern der Mechanik der Intelligenz wird aus neurokogni-

tiver Sicht dargestellt.

Lindenberger, U. (2001). Lifespan theories of cognitive development.

In N.J. Smelser & P.B. Baltes (Eds.), International encyclopedia of

the social and behavioral sciences (Vol. 13, pp. 8848–8854).

Amsterdam, NL: Elsevier Science.

� Eine vergleichende Darstellung unterschiedlicher Theorien der

intellektuellen Entwicklung über die Lebensspanne.

Lindenberger, U. & Baltes, P.B. (1997). Intellectual functioning in old

and very old age: Cross-sectional results from the Berlin Aging

Study. Psychology and Aging, 12, 410–432.

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3.3 Selbstkonzeptionen und Selbst-regulative Prozesse 409

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� Eine Zusammenfassung der Befunde der Berliner Altersstudie

zur intellektuellen Leistungsfähigkeit im Alter.

Staudinger, U.M. & Lindenberger, U. (Eds.) (2003). Understanding

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recht, NL: Kluwer Academic Publishers.

� Die Lebensspannenpsychologie wird als theoretischer Rahmen

benutzt, um ein vielschichtiges Bild der menschlichen Entwick-

lung zu zeichnen.

Staudinger, U.M. & Pasupathi, M. (2000). Life-span perspectives on

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house (Eds.), The handbook of aging and cognition (2nd ed.,

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� Selbst und Persönlichkeit im Erwachsenenalter werden aus der

Perspektive der Psychologie der Lebensspanne übersichtlich und

differenziert dargestellt.

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