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Kampf auf dem Vulkan

Date post: 06-Jan-2017
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1.

Der dunkelhaarige Mann, der in dem kleinen Beiboot der Schwarzen Wellenreiterin zwischen den kaum mannshohen Felsen herumruderte, war sonnenverbrannt und dunkelhaarig. Er trug nichts außer einem knappen Lendenschurz, aber die breiten Ledergurte, die sich um Brust und Schultern spannten, waren mit vierundzwanzig Messern ausgerüstet. Der Mann stand im Heck des Bootes, hielt einen langen, schlanken Speer mit in dem Speerblatt eingefeilten Widerhaken in der Hand. Er spähte ins Wasser, während das Boot von der kaum wahrnehmbaren Strömung langsam zwischen den einzelnen roten Felsen hindurchgetrieben wurde.

»Warten!« murmelte der Gaukler. »Warten. Immer nur warten. Die Schiffe warten, Dragon wartet auf Cnossos, und ich warte auf die Fische.«

Es gab hier, im Bereich der vorgelagerten Felsbrocken, kaum Wellen. Anders war es in dem Einschnitt der öden Insel, vor der beide Schiffe vor Anker lagen. Die Stolz von Sodok war mit allen Freunden außer Dragon und Erbolix von der Insel der Kyrace abgefahren. Sie alle langweilten sich seit Tagen.

»Warten ... es ist eine Geduldsprobe!« murmelte

Gaunth. Langsam hob er den Speer und versuchte, unter den

kleinen grünen Wellen den großen Fisch zu sehen. Am Ende des Speers war ein dünnes, langes Tau befestigt. Gaunth vertrieb sich die Zeit auf seine Art. Er war in den wenigen Tagen – mit Hilfe Iwas und gewisser Würzkräuter des Kaufmannes Gabor – zum Fachmann für gebratenen Fisch geworden.

Der Fisch, ein langer, ruhig schwimmender Schatten, durch die Brechung des Wassers zu einem unruhigen Bild geworden, schwamm vor dem Bug des kleinen Bootes schräg auf den rechts liegenden Felsen zu.

Gaunth hob langsam, um die Beute nicht zu erschrecken, den Arm. Die lange, blinkende Schneide war dicht neben seinem Gesicht, neben seinem langen schwarzen Haar. Dann zuckte blitzschnell der Arm herunter, der Speer zischte eineinhalb Mannslängen durch die Luft und schnitt durch das Wasser. Die scharfen Augen des Mannes verfolgten den kurzen Flug. Die Schneide des Speers bohrte sich tief hinter den Kiemen des Fisches in den hellgrünen Körper.

Plötzlich schien das Wasser zu kochen und zu brodeln.

Der Fisch sprang hoch, schlug mit dem Schwanz und drehte sich um die Achse des Speeres. Die Seilschlinge ruckte um Gaunths linkes Handgelenk. Er

griff zu und zog langsam das Seil ein. Jetzt tauchte der Fisch schräg nach unten weg, der junge Mann federte in den Knien und stemmte sich gegen die Ruderbank. Ein harter Ruck ging durch das Boot, als das Seil den Bord berührte.

Dann straffte sich das dünne Tau. »Sie werden mich verprügeln, wenn ich schon wieder Fisch mitbringe und ihn brate!« lachte Gaunth. Vorsichtig zog er das Tau ein. Der Fisch wehrte sich, aber langsam färbte sich das Wasser in dünnen, fadenförmigen Streifen rot.

Endlich war das Tier neben dem Bord des Bootes, das jetzt, von dem Schwung getragen, zwischen den zahlreichen Felsen hinausglitt, einige Mannslängen auf das freie Meer hinaus. Am Horizont erhob sich die scharf zackige Silhouette der Insel der Kyrace.

Gaunth bückte sich, griff nach dem Speer und faßte ihn dicht hinter dem scharfgeschliffenen Blatt. Mit einem wilden Ruck riß er den heftig um sich schlagenden Fisch aus dem Wasser, hielt ihn mit dem Fuß fest und tötete ihn mit einigen wuchtigen Schlägen des Dolchgriffs.

Dann grinste er und blickte hoch. Vor ihm war die freie See. Genau voraus lag die

Felseninsel. Rechts davon ragte der Rundkegel des feuerspeienden Berges aus dem Wasser. Von der Insel der Kyrace war dieses kleine Inselchen, auf dem weder Baum noch Strauch wuchsen, eine Halbtagesfahrt mit

dem Schiff entfernt. Seit Tagen stand, in der trägen Luft fast unbewegt, eine dünne graue Rauchsäule am Himmel. Mitunter stank es in den feuchtwarmen Nächten nach Schwefel. Gaunth schleuderte mit einer knappen Handbewegung den Dolch in die Höhe. Während der Mann sich nach dem Fisch bückte und ihn zwischen die Ruderbänke gleiten ließ, überschlug sich der Dolch zweimal und bohrte sich dann zwei Finger tief in das feuchte Holz. Gaunth lachte kurz; mit solchen Gauklerkunststückchen und einer Menge anderer Taschenspielertricks unterhielt er die Mannschaften der zwei Schiffe.

Plötzlich fesselte weit voraus eine einzelne Welle seine Aufmerksamkeit. Er richtete sich auf, legte die Hand über die Augen und starrte den Punkt an. Das Bild, in der Hitze flimmernd, wurde deutlich.

»Was ist das? Ein Ungeheuer aus der tiefen See?« fragte er unwillig. In den Jahren, in denen er und seine Freunde, besonders aber Mainala, als Gaukler gehetzt und verfolgt worden waren, hatte er ein feines Gespür für Gefahr entwickelt. Diese Fähigkeit ließ ihn jetzt aufmerksam werden.

»So sieht es aus ... so stelle ich es mir vor!« knurrte er.

Er blickte genau hin. Er sah einen großen, glänzenden Kopf, von dem

lange Schnüre aus Algen und Gewächsen

herunterhingen und im Wasser nachschleiften. Von Zeit zu Zeit tauchte der häßliche Fischkopf unter. Flüchtig nahm Gaunth lange, weiße Zähne wahr. Der Kopf saß übergangslos, ohne ausgeprägten Hals, auf einem langgestreckten und geschuppten Schlangenleib. Dicht hinter dem Kopf saß eine menschliche Gestalt, in einen langen, blauen Mantel eingehüllt. Auch der Mantel glänzte wie die fettige Haut der Seeschlange. Aufschäumend brach sich das Wasser am Hals der Schlange, die mit kräftigen Bewegungen ihren Körper und den seltsamen Reiter durch das Wasser schob.

»Es gibt mehr Wunder, als man glaubt!« stellte Gaunth fest und bemerkte, daß der seltsame Reiter auf seinem unnatürlichen Reittier direkt auf die Insel der Kyrace zusteuerte. Natürlich hatte dies etwas zu bedeuten. Der Schauder, der den Gaukler befallen hatte, sagte ihm, daß es sich um eine Gefahr handelte, die auf sie alle zukam. Also Cnossos! Dies schien ein Vorbote dieses üblen Feindes zu sein.

»Es beginnt, Freunde!« murmelte er, setzte sich auf die Ruderbank und griff nach den Riemen. Allem Anschein nach hatte ihn der Fremde nicht gesehen. Selbst wenn er ihn gesehen hatte, so würde dies nichts ändern. Das Boot drehte sich, wurde schneller und glitt ruhig zwischen den Felsen auf die kahle Insel zu, in deren Sichtschutz beide Schiffe dicht nebeneinander vor Anker lagen. Nachdem Gaunth die Entfernung

zwischen den verstreuten Felstrümmern und der Bucht schnell zurückgelegt hatte, bog er in den Einschnitt ein, fuhr zwischen die beiden Schiffe und rief: »Gabor! Taihara! Kapitän Jaggar!« Die Köpfe beugten sich über die Reling. Gaunth wirkte aufgeregt. Der Kapitän schrie:

»Schon wieder Fisch. Das ist kein Grund, so zu brüllen, Gaukler!« Ungerührt rief Gaunth zurück: »Das ist auch nicht der Grund, weswegen ich schrie, Mann des Wassers! Ich erhebe meine Stimme, weil ich den Boten Cnossos‘ gesehen habe!«

»Schnell! Herauf mit dir! Hierher, auf die Wellenreiterin!«

»Ich komme.« Gaunth befestigte das Boot, hob den Speer mit dem

blutenden Fisch auf die Schulter und stieg die breite Strickleiter hinauf. Dann schilderte er seiner Zuhörerschaft, die immer größer wurde, was er gesehen hatte. Schließlich, als er, der Erschöpfung nahe, die Geschichte zum viertenmal wiederholt hatte, sagte Yina laut und herausfordernd:

»Jemand muß hinüber und Dragon warnen.« Jaggar faßte ihre Hand und versicherte

kopfschüttelnd: »Das ist unnötig. Denn der Bote unseres speziellen

Freundes Cnossos wird den Besuch seines Herrn ankündigen. Zu diesem Zweck muß er mit Kyrace

sprechen – und wo Kyrace ist, wird Dragon oder Agon-Dra nicht fern sein.«

»Darauf können wir uns verlassen!« sagte Yina und wurde wieder einmal, wie so häufig in den letzten Tagen, feuerrot. Gaunth zuckte mit den breiten Schultern und sagte, nicht unzufrieden :

»Dann brauche ich also nicht zur Insel hinüberzurudern und Agon-Dra zu warnen, nicht wahr?«

»Nein. Das ist überflüssig!« gab Kapitän Jaggar zu. »Ab jetzt ist es vorbei mit unserer Ruhe. Auch wird sich niemand mehr langweilen!«

Bis auf Erbolix und Dragon waren alle Freunde, auch die gesamten Mannschaften beider Schiffe, auf Wunsch oder besser Befehl der Kyrace abgefahren. Sie hatten kein Ziel angegeben; Dragon wußte jedoch, und auch Erbolix wußte es, daß sich die Schiffe im sicheren Versteck befanden, eine halbe Tagesreise von Kyraces Eiland entfernt.

Je länger ihr Aufenthalt auf dieser Insel gedauert hatte, desto mehr wußten sie aus Yinas Ausführungen und auch aus den wenigen Stunden, in denen sie mit Agon-Dra gesprochen hatten, daß er Kyrace verfallen war. Oder spielte er es nur? Yina überwachte die Gedanken Dragons und Kyraces. Die Entfernung der Schiffe von der Zauberinsel verursachte ihr dabei nicht die geringsten Schwierigkeiten.

Es waren allerdings sehr verschiedene Gedanken. Und aufregende. Und sehr viele Gedanken, die wenig mit der Verliebtheit der beiden dort drüben zu tun hatten. Hegon nahm den Gaukler zur Seite und brummte:

»Wenn es nötig sein sollte, können wir ja nachts zur Insel rudern.«

»Oder schwimmen!« knurrte Gaunth. Hegon winkte ab. Seit man ihn von N‘succa getrennt hatte, versuchte er alles nur Erdenkliche, um einen Grund zu haben, wieder zur Insel zu gelangen.

»Doch! Ich habe doch diese Schatzkammer in der Bucht des Kraken entdeckt. Von dort aus könnten wir den Palast erreichen und Dragon helfen.«

»Das könnten wir«, warf Yina scharf ein, »aber das brauchen wir nicht. Noch nicht. Ich werde wissen, was der Bote ankündigt.«

Jaggar sagte: »Das wirst du sicher erfahren können, Liebste.« Langsam ging Yina zur Reling und blickte zur Insel

hinüber. Was sie gesagt hatte, war nicht falsch gewesen, aber sie mußte etwas verschweigen. Was war es, was sie durch die Gedanken von Kyrace und Dragon erfahren hatte? Sie lauschte nicht ununterbrochen, aber sie hatte es sich zur Pflicht gemacht, hin und wieder entweder Kyrace oder Dragon zu belauschen.

Es schien deutlich, daß sich Dragon im Bann der Kyrace befand. Er war von ihr fasziniert, und dies dreiundzwanzig von vierundzwanzig Stunden am Tag. Sie verwendete alles, was sie hatte, um Dragon mehr und mehr in ihre Netze zu ziehen und in Abhängigkeit zu halten. Sie beherrschte die Mittel, um ihn ununterbrochen zu beschäftigen. Sie spann Fäden, die haarfein, aber unzerreißbar waren. Ihre Ausstrahlung, einmal kühl, einmal sinnlich, abweisend für wenige kurze Augenblicke und dann wieder über lange Zeit hinweg liebenswürdig. Sie ließ sich mit Agon-Dra um die Insel rudern, trank Wein und schwamm mit ihm, saß im Schatten und sprach, verführte und ließ sich verführen. Sie versuchte, einen Traum, den jeder Mann träumte, zur Wirklichkeit werden zu lassen.

Der Mann neben ihr befand sich in diesem Traum. Er kam nicht mehr dazu, nachzudenken. Jeden Tag

vergaß er mehr und mehr von seiner Aufgabe. Er konzentrierte sich nicht mehr auf Cnossos und auf sein Vorhaben, Cnossos zu besiegen, sondern er ließ die Stunden an sich vorüberziehen wie einen Festzug aus lauter unvergeßlichen Augenblicken.

Aber es gab Stunden, in denen er erwachte. Und deshalb war Yina sicher, daß Dragon im

entscheidenden Augenblick wissen würde, was er zu tun hatte.

Daß Yina, noch vor kurzer Zeit ein unberührtes und

unerfahrenes Mädchen, hin und wieder Vorstellungen, Wünsche und Gedanken von einer Klarheit aufnahm, die keinerlei Zweifel offenließ, war natürlich. Yina erschrak manchmal über die unverhüllte Sinnlichkeit, die sie überflutete, aber sie dachte dann schnell an etwas anderes und zog sich aus diesem Kontakt. Aber auch die Neugierde trieb sie dazu, immer wieder einmal in diesen Rausch der Sinne hineinzuhorchen. Selbst Kapitän Jaggar, ein rauher Bursche, merkte dies.

Yina drehte sich um und wiederholte noch einmal: »Ich bin sicher, daß König Dragon wissen wird, was

er zu tun hat. Ich werde euch sagen, wenn ihm eine deutliche Gefahr droht.«

Gabor bückte sich, tätschelte seine Konkubine und fing mit der linken Hand sein weißes Baumhörnchen ein.

»Außerdem ist der Bote von Cnossos noch lange keine Armee!« stellte er trocken fest. »Und schließlich ist auch Erbolix auf der Insel versteckt. Er wird ebenfalls eingreifen.«

Sie alle sorgten sich – ob mit ernsthaftem Grund oder ohne, das würden sie erfahren. Wenn es Dragon gelang, mit Cnossos ohne die Hilfe seiner Freunde fertig zu werden, dann würden sie sowohl erleichtert als auch enttäuscht sein, aber sie schmiedeten zahlreiche Pläne, wie sie ihm helfen konnten. Einer der besten schien der Vorschlag Hegons zu sein, auf dem

Weg über die Schatzkammer vorzustoßen. Aber bis jetzt drohte noch keine Gefahr. Wenn Yina allerdings in diesem Augenblick mit ihrer Gabe, die Gedanken Dragons aufzuspüren, auf der Insel gewesen wäre, hätte sie etwas Erstaunliches feststellen können ...

Es war die Stunde des Tages, in der alles still und bewegungslos war. Nicht einmal die Grillen waren zu hören. Dragon öffnete die Augen und sah über sich das Blätterdach eines Baumes. Licht und Blätter bildeten ein verwirrendes Muster. Er ließ den Arm fallen und faßte den Pokal an, den neben seiner Liege mit den dicken, seidenen Polstern. Der Wein roch leicht säuerlich. Dragon hob den Kopf und stellte fest, daß er erstens lange geschlafen hatte und zweitens auf der Terrasse allein war.

Er stand auf. Langsam ging er bis zur Brüstung und spähte hinab. Er konnte die Insel mit dem feuerspeienden Berg erkennen, der freilich jetzt nur Rauch spie. Die Insel mit den vorgelagerten Felsen, mit den kleinen Steinbrocken, erkannte er nur noch schemenhaft. Dort warteten die Freunde.

Die Freunde! Plötzlich dachte er intensiv an sie. Dort drüben

waren sie und machten sich Sorgen um ihn. Yina würde wissen, was er in den Tagen und Nächten gedacht und getan hatte – es war fast immer nur das

eine gewesen. Dragon holte tief Luft und vertrieb den Nebel aus den Gedanken, der sich aus wohltuender Müdigkeit zusammensetzte, aus Weingenuß und aus Gedanken an Kyrace. Er spannte seine Muskeln und entschloß sich blitzschnell. Er verließ die Terrasse, lief durch eine Flucht aus kleinen Grotten und kleinen Sälen, vorbei an einigen erstaunten Dienern und Sklavinnen, über die erste Treppe abwärts. Er wollte ins Wasser, hinunter in das kühle Wasser, er wollte allein sein und Ruhe für eigene Gedanken haben, die nichts mit dieser Frau zu tun hatten.

Dragon wurde schneller. Er rannte über schmale Pfade, die mit kostbaren Platten im feuchten Rasen belegt waren. Sein Ziel war die kleine Sandbucht, die Hegon als »Bucht des Kraken« bezeichnet hatte. Dort würde er Ruhe haben. Er verließ den unmittelbaren Bereich des Palasts und sprang auf die Steintreppe hinaus, die in Spiralen nach unten führte.

Es wurde kühler, er hörte, wie die auslaufenden Wellen der Brandung über den Strand zischten. Dann fiel ihm plötzlich der Himmelswagen ein, von dem Hegon und die Sklavin gesprochen hatten. Er rannte weiter. Es war für ihn fast ein Akt der Loslösung, der Befreiung von der ununterbrochenen Leidenschaft Kyraces.

»Das ist es!« sagte Dragon. Ihm war, als erwache er aus einem Traum. Er lief über eine Felsenbrücke,

rannte um ein paar Steine herum und hinaus auf den Sand des kleinen Strandes. Die Sonne des Nachmittags erreichte gerade noch den äußersten Rand der Bucht. Dragon verschob sein Bad und lief nach rechts auf die Säulen zu. Hegon hatte von einem geheimen, nicht einsehbaren Zugang zum Palast gesprochen – und er hatte vergessen, was Hegon gesagt hatte, beziehungsweise er hatte nicht genau zugehört. Jedenfalls wußte er sehr deutlich, daß hinter dem Loch des Kraken der Himmelswagen stand.

Vorsichtig ging Agon-Dra über den Sand, über die raschelnden Algenreste, durch die seichten Pfützen des stinkenden Wassers. Er mußte sich erst an das Halbdunkel gewöhnen, aber dann sah er mehr und mehr Einzelheiten.

Teile eines Skeletts lagen in einer Nische. »Ich kann nicht mehr erkennen, ob es ein Mensch

war oder ein Tier«, flüsterte er. Das Echo warf seine Worte zischend zurück. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß.

Dann kam er, vorbei an einigen Löchern, durch die Licht hereinfiel, an den Rand des dunklen Loches. Er beugte sich vor und spähte ins Wasser. Keine Bewegung, nur ein einzelner träger Fisch. Weit unten erkannte er eine Öffnung, aus der Meerwasser und Licht in den Schlund hereindrangen.

Er sah den Himmelswagen und erkannte die Form

schlagartig wieder. »Tatsächlich! Ein Gleiter aus den Tagen von

Atlantis!« keuchte er auf, mehr erschrocken als verblüfft.

Einige schnelle Schritte trugen ihn über den Steg aus Stein. Er ruderte einmal mit den Armen, weil er das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Dann war er im rückwärtigen Teil der Höhle. Er bahnte sich einen Weg zwischen tönernen Urnen, zwischen halb vermoderten Kisten mit rostigen Metallbeschlägen. Schließlich stand er direkt vor dem Gleiter.

»Langsam ...«, murmelte er. Wieder griffen seine Gedanken zurück in die

Vergangenheit. Namen und Begriffe tauchten auf. Männer und Frauen und solche technischen Begriffe wie »Überlebensstation«, »Gleiter« und ähnliches. Er bückte sich und langte nach dem Griff an der Tür des geschlossenen Fahrzeugs. Seine Finger schlossen sich um den Hebel im Innern der Vertiefung. Er zögerte, den Hebel zu drücken – er befürchtete die erste Enttäuschung.

Wo bin ich, dachte er langsam und betroffen. Wer bin ich?

Ebenso wie Cnossos, der Balamiter, ein Überbleibsel aus einer fernen Vergangenheit. Wie fern war sie? Wieviel Jahrhunderte oder Jahrtausende waren vergangen? Er wußte es noch nicht, aber es ließ sich

sicher rekonstruieren. Eines Tages würde er es wissen und vermutlich erschrecken, denn die Reste, die er aus der Zeit fand, an die er sich entsann, waren selten und meist zerstört, zeigten die Spuren großen Alters, auch dieser Gleiter hier.

Er, Dragon, befand sich in einer merkwürdigen Stimmung und in einer Lage, die nicht anders war. Er begann immer unruhiger zu werden. Hier war er, als Geliebter von Kyrace, deren Erbe ebenfalls wie auch er aus jener atlantischen Vergangenheit stammte. Er war hier, weil er auf Cnossos wartete, auf den skrupellosen Gegner aus der Vergangenheit.

Dragon griff zu und fühlte, wie sich der Hebel bewegte.

»Wie ist dieses Fahrzeug hierher gekommen?« murmelte er verwirrt. Er wandte mehr Kraft an und riß an der Tür, nachdem der Riegel hörbar klickend ausgerastet war. Eine finstere Vorahnung erfüllte ihn; auf welche Überraschungen würde er noch stoßen?

Die Tür glitt auf. Dragon zuckte zusammen, als er augenblicklich sehen konnte, daß sich verschiedene kleine Lichtquellen des Innern einschalteten. Offensichtlich hatte die verschlossene Tür das Innere des Gleiters hervorragend abgedichtet, so daß seine Hand, als sie über die Fläche des Fahrersitzes glitt, fast sauber blieb.

»Und durch welches Wunder ist die Beleuchtung

intakt geblieben?« rätselte er weiter. Er bückte sich und spähte ins Innere der Maschine.

Dann faßte er sich und schwang sich auf den Sitz. Die Form dieses Gleiters war ihm ebenfalls bekannt. Er fühlte, wie der Anblick dieses schnittigen Gefährts, das für die schnelle Überwindung von Entfernungen im offenen Gelände geschaffen war, in ihm noch andere Assoziationen auslöste.

Als ob ich gestern zum letztenmal hier gesessen hätte! dachte er verzweifelt. Er lehnte sich in die Polster, berührte flüchtig die Armaturen und das Steuer und war nahe daran, die Taste zu drücken, die den Gleiter beziehungsweise dessen Maschinen aktivierte, als seine Augen im halben Dunkel auf ein Schild fielen. Es war aus Metall, Schriftzeichen waren darin und Zahlen ... sie summierten sich zu einem Eindruck, der immer stärker wurde, ihn zu überwältigen drohte.

»Nein!« ächzte er. »Nein! Dieser Name! Diese Angaben ... das ist ...«

Die Erinnerung erfaßte ihn und überschwemmte ihn wie eine mächtige Welle. Er schloß die Augen und fühlte, wie er zitterte und wie ihm am ganzen Leib der kalte Schweiß ausbrach. Das, was er dort auf dem Schild las, und das, was auf ihn einstürmte, war so ungeheuerlich, daß es ihm den Verstand zu rauben drohte.

Keuchend und zitternd gab er sich der Erinnerung hin. Er konnte seine Augen nicht von dem Schild mit den eingravierten Koordinaten losreißen.

2.

Niemand sah ihn ... Das Tier unter ihm, dieses Fabelwesen, das plötzlich

neben den Booten am Strand aufgetaucht war, wurde langsamer und langsamer. Die mächtigen Muskeln des dunkelblau schimmernden Körpers mit den handgroßen Schuppen bewegten sich langsamer und geschmeidiger. Die breite Bugwelle vor dem Hals wurde kleiner, aus dem zischenden Schäumen des Wassers wurde ein dunkles Gurgeln. Dann näherten sich die ersten Felsen.

»Dort hinüber. Zu der trockenen Platte!« sagte der Schwarze Kurier.

Das Tier gehorchte ihm. Es wandte den breiten Kopf, stieß stinkenden Atem aus und brachte den Körper durch ein paar schnelle Bewegungen der breiten Schwanzspitze schräg durch das Wasser, bis der Reiter dicht neben einer der steinernen Platten des

Felsens saß. »Halt.« Der Schwarze Kurier griff nach dem Stein, zog sich

halb aus der Vertiefung hinter dem Hals des Tieres aus dem tiefen Meeresgrund heraus und schwang behende einen Fuß auf den Felsen. Dann zog er sich vorwärts, kam auf die Beine und blieb aufrecht stehen. Die Fischaugen des Ungeheuers sahen ihn an.

»Ich brauche dich nicht mehr!« sagte der Kurier. Es war ein aufrechter, schlanker Mann

unbestimmbaren Alters. Er besaß einen starken Körper und ein ebenmäßig geschnittenes Gesicht, aus dem im Augenblick nichts anderes sprach als Gleichgültigkeit. Unter einem dichten, feuchten Schopf schwarzen Haares brannten in der dunkelbraunen Haut des Gesichts große Augen. Er hob die Hand und breitete seinen dünnen Mantel aus. Noch während das Meeresungeheuer sich drehte, mehrmals heftig mit dem Schwanz schlug und dann in die Richtung davonschwamm, aus der sie beide gekommen waren, trocknete der Mantel. Der Schwarze Kurier sah sich um, bemerkte keinen einzigen Wächter und ging dann die schräge Platte aufwärts, auf einige weißen Säulen und einige Treppenstufen zu, die von hier aus gerade noch zu erkennen waren. Eine deutliche Drohung ging von der schwarzgekleideten, dunkelhäutigen Gestalt aus, als sie sich auf den Weg machte. Als sei es

plötzlich kälter geworden. Der Schwarze Kurier zeigte nicht die geringste

Überraschung, als er eine Treppe fand, die in Kurven und Spiralen aufwärts führte. Mit schnellen Sprüngen eilte er die Stufen aufwärts, umrundete Felsen und schenkte den kleinen Zonen aus Pflanzen, Ziersteinen und sprudelnden Quellen keinerlei Beachtung.

Es war, als spüre er nicht die geringste Ermattung. Während er, noch immer ungesehen, schnell die

Treppe nahm, trocknete seine Kleidung völlig. Wie durch Zauberei blieben aber keinerlei weiße Ränder des salzigen Wassers übrig. Sein Auftrag war, Kyrace zu sprechen und nur ihr auszurichten, was man ihm aufgetragen hatte.

Er kam in den Bereich der stechenden Sonne, rannte weiter und befand sich schließlich nach erstaunlich kurzer Zeit auf dem kleinen, runden Platz, der ihm beschrieben worden war. Umsäumt von Grotten und abgestützten Felsüberhängen, von Säulen und vielen wuchernden und blühenden Pflanzen mit überirdisch schönen Blüten, und jetzt sah der Schwarze Kurier auch einige kleine Gruppen von Mägden oder Dienerinnen, die in den Grotten arbeiteten und schwatzten. Ein großer, weichlicher Mann kam auf ihn zu.

»Was willst du?« fragte er ruhig. »Und woher kommst du?«

Der Kurier deutete lässig nach Süden und erwiderte: »Der Herr des Südens schickt mich. Ich will Kyrace

sprechen. Deine Herrin?« Der Kastrat neigte den Kopf und sagte mit

seidenweicher, schmeichelnder Stimme: »Sie ist meine Herrin. Sie ist die Herrin dieser

zauberhaften Insel, wie du wohl wissen solltest. Du kommst von Cnossos?«

Hochmütig blickte ihn der Bote an und senkte kurz den Kopf.

»Ja. Wo ist Kyrace?« Der Aufseher über die Dienerinnen hob die Hand

und erklärte leise: »Sie ist in ihrem Palast. Ich werde versuchen,

nachsehen zu lassen, ob sie dich empfängt, Mann.« Der Schwarze Kurier lachte verächtlich auf, schob

den schweren Mann zur Seite und ging auf die bronzenen Türflügel zu. Nach einigen Schritten erhob sich hinter ihm die helle Stimme des Beschnittenen. Er rief:

»Du brauchst es nicht zu versuchen, Bruder. Dieses Tor ist für jeden verschlossen, der hier fremd ist. Glaube es mir.«

Der Kurier schien einzusehen, daß er kein Glück hatte. Aber bisher war er es gewohnt gewesen, immer geradeaus auf sein Ziel zuzugehen und es auch zu erreichen. Das war in diesem Fall besonders wichtig,

denn Cnossos selbst hatte ihm die Botschaft mitgegeben und befohlen, sie auszurichten.

Er drehte sich um und musterte den Beschnittenen genauer. Als er sah, wie sich die Augen des anderen überrascht weiteten, wandte er wieder den Kopf. Die hohen, schmalen Torflügel hatten sich einen Spalt weit geöffnet. Ein schlankes Mädchen mit langem dunklem Haar kam auf die Plattform über der ersten Stufe heraus und legte den Finger an die Lippen.

»Leise!« sagte sie. »Kyrace schläft!« Der Schwarze Kurier ließ sein Gegenüber stehen,

sprang die wenigen Stufen hinauf und sah das Mädchen kühl und gelassen an.

»Ich bin der Abgesandte von Cnossos, dem Herrn des Südens. Er sandte mich aus, um deiner Herrin eine wichtige Botschaft zu überbringen.«

»Ich höre!« sagte N‘succa, die Lieblingsdienerin Kyraces. Sie war von diesem dunkelhäutigen Fremden keineswegs angetan. Sie trauerte Hegon nach, der zusammen mit dem anderen Gefolge Agon-Dras die Insel verlassen hatte – und auch sie zurückgelassen hatte.

»Du bist nicht Kyrace!« Es war keine Frage, sondern eine mißmutige

Feststellung. »Nein, aber ich kann dich lange oder weniger lange

warten lassen. Sei also so höflich, wie wir alle glauben,

daß dein Herr mächtig ist. Ich werde Kyrace wecken und ihr berichten, daß du wartest. Warte hier!«

Sie nickte lächelnd, drehte sich um und schlüpfte durch das Tor, das sich hinter ihr schloß. Ungeduldig wartete der Schwarze Kurier. In drei Tagen würde Cnossos hier sein, und mit ihm seine Mannschaft. Das Meer war seit Tagen ruhig, fast schon einen Mond lang, und die Schiffe kamen sicher gut voran. Der Eunuche zog sich wieder in den kühlenden Schatten zurück, aber auf geheimnisvolle Weise waren die Arbeitsgeräusche der Mägde leiser geworden. Auch lachten und scherzten sie nicht mehr. Langsam ging der Kurier in der brütenden Sonnenhitze hin und her. Er verschwendete keinen Blick auf die kostbaren Steinarbeiten und die leuchtenden Blüten und Früchte, die aus den Zweigen der Gewächse herunterhingen. Endlich öffneten sich wieder die Torflügel, und N‘succa winkte.

»Sie war wach, meine Herrin. Sie wartet auf dich, auf der Terrasse.«

»Ich komme!« sagte der Schwarze Kurier und folgte dem Mädchen. Hüftenschwenkend glitt sie vor ihm her über kühle Steinfliesen, über kostbare, zusammengeheftete Felle und über Teppiche in glühenden Mustern, durch halbe Grotten und Höhlen, über einen Irrgarten aus Treppen, Rampen, um Felsen herum und durch kleine Zonen von Grün. Schließlich

kamen sie beide durch einen Bogen, der halb aus gewachsenem Fels und halb aus einer zierlichen Mauer bestand, auf eine halb überdachte Terrasse hinaus.

Der Schwarze Kurier sah geradeaus die Felsen, dahinter das Meer und weit am Horizont die Insel des rauchenden Berges. Dort gab es eine Öffnung, die ins Innere der Welt führte. Aus einem riesengroßen Sessel, der mit Fellen und Decken und Kissen ausgefüllt war, erhob sich eine hochgewachsene, schlanke Frau. Sie wirkte größer, weil ihr Haar hochgesteckt war.

Der Schwarze Kurier ging die dreißig Schritte bis zu einem niedrigen Tisch und verneigte sich. Dann zog er von seinem Finger einen schweren, goldenen Ring mit mehreren geschliffenen Steinen, die wie kaltes Feuer funkelten.

»Mein Herr, Cnossos, schickt dieses kleine Geschenk durch mich – und eine Botschaft.«

Kyrace betrachtete ihn nicht ungnädig. Ihre Augen glitten über die schwarze Kleidung, sie prägte sich das Aussehen des Mannes ein. Sie spürte auch denselben Hauch, diese Ausstrahlung, die unten die Mägde zum Verstummen gebracht hatte. Langsam streckte sie die Hand aus. Der Kurier blickte auf schmale, edel geformte Finger ohne jeden Schmuck. Er legte den schweren Ring, der sich seltsam kalt anfühlte, in die weiße Hand.

»Ich danke für dieses Geschenk. Und wie lautet die

Botschaft?« fragte Kyrace. Ihre grünen Augen- oder waren sie grau mit goldenen Punkten darin? – musterten ihn. Der Bote begegnete dem Blick furchtlos und sagte:

»Der Herr des Südens ist auf dem Weg hierher. In etwa drei Tagen wird er hier anlegen, er und sein prächtiges und großes Gefolge. Und er wird um dich werben mit Klugheit, Stärke und Macht.«

Kyrace lächelte versonnen und blickte N‘succa an. Beide dachten in diesem Augenblick dasselbe: Agon-Dra, der unvergleichliche Mann aus Lu‘ur, war nicht im Palast. Oder wenigstens nicht hier.

»In drei Tagen also!« stellte Kyrace leise fest. Wie ein dünner Schleier, gewirkt aus Spinnenfäden, umgab sie das fast durchsichtige Gewand. Der Bote ließ keine Regung erkennen.

»So ist es. Er bittet dich um Gastfreundschaft für ihn und sein Gefolge. Ich weiß, daß die Boote voller kostbarer und einmaliger Geschenke sind. Ich bin nur ein bedeutungsloser und kleiner Kurier, der von der Herrlichkeit des Herrn des Südens erzählt.«

Kyrace gab N‘succa einen Wink. Die Sklavin ging an den Tisch und schüttete Wein in einen der herumstehenden Pokale.

»Du erzählst höchst wirkungsvoll von der Pracht deines Herrn!« stellte Kyrace fest.

Sie griff nach dem Pokal und reichte ihn über die

Breite des Tisches hinweg dem Schwarzen Kurier. Der Mann registrierte, daß sie bewußt einen bestimmten Abstand beachtete.

»Ich werde Cnossos ebenso willkommen heißen wie dich jetzt!« versprach die schöne Herrin der Insel. Der Kurier wußte, daß sie versuchte, ihn genau zu erkennen, aber da er nichts zu verstecken hatte, blieb er ruhig. Er nahm den Pokal entgegen und trank einen Schluck. Der Wein war stark und schwer und fuhr durch seinen Magen wie Feuer.

»Ich danke dir, Kyrace«, sagte er. »An welcher Stelle kann ich warten, bis mein Herr hier landet?«

Kyrace deutete auf N‘succa und warf ihren Kopf zurück. Eine Strähne ihres hellbraunen Haares löste sich und fiel in ihren Nacken.

»Das Mädchen wird dir zeigen, wo du schlafen kannst. Sie wird auch dafür sorgen, daß du Essen bekommst.« Der Schwarze Kurier verbeugte sich und ließ sich von N‘succa wieder aus dem Palast führen, der nichts anderes war als ein verwirrendes Spiel von Gängen und Höhlungen, auf das beste ausgebaut. Schließlich stand er wieder auf dem kleinen Platz und hatte seinen Fleck gefunden, an dem er schlafen konnte. In seine Gedanken mischte sich das einschläfernde Murmeln einer Quelle. Einmal glaubte er, auf einem Ast ein seltsames Wesen zu sehen; halb Mensch, halb Zwerg, merkwürdig gekleidet und mit

unzähligen Runzeln in dem Gesicht eines kleinen, verärgerten Kindes.

Als er genau hinsah, war dieses Wesen verschwunden. Er schüttelte den Kopf und dachte darüber nach, daß Kyrace als Zauberin bekannt war.

Mura ... Tobos ... Atlantis ... die Überlebensstation ... das

Chaos des Unterganges der großen, blühenden Insel ... seine eigene Flucht ...

»Jetzt begreife ich alles!« schrie Dragon. Er kauerte in dem geöffneten Gleiter, jenem

Himmelswagen, den Hegon entdeckt hatte. Die letzte Erinnerung war mit aller Macht über ihn gekommen. Er hatte das Bild seiner Geliebten vor Augen. Er sah den klugen, alten Tobos und den Balamiter, den Mann aus der anderen Welt.

ER WUSSTE JETZT ALLES! Seine Erinnerung sagte ihm, wie die

Zusammenhänge waren oder gewesen waren. Auf dem Schild hatte er vor kurzer Zeit die Koordinaten jener Überlebensstation gefunden, in die er hatte fliehen wollen. Sie lag an der Küste des Nordmeeres. Dieser letzte – vorläufig letzte! – Erinnerungsanstoß hatte ihm gesagt, was alles geschehen war, wie die Zusammenhänge waren.

»Die Schuld am Untergang von Atlantis«, sagte er

sich, mühsam zur Ruhe kommend, »trägt der Balamiter.«

Dragon zitterte. Sein Körper war schweißüberströmt. Er war aus einem unirdisch schönen Traum erwacht. Von jetzt an sah er sich mit anderen Augen, sah die Welt um ihn herum mit weitaus schärferem Blick, und auch Kyrace durchschaute er. Jetzt erst war er in der Lage, über sich zu verfügen.

»Die erste, die das spüren muß, wird Kyrace sein.« Fast tat sie ihm leid, denn er wußte, daß sie sich

ehrlich in ihn verliebt hatte. Aber auch er war ihr verfallen. Während er noch vor Stunden nicht die Kraft gehabt hätte, sich aus ihren Umarmungen zu befreien, so hatte er sie jetzt. Nicht, daß er ihre Umarmungen in der nächsten Zeit nicht mehr genießen würde – weit gefehlt!

»Es ist nur recht und billig«, sagte er und starrte die Anzeigen und die Schalter an, von denen er jetzt wußte, daß sie noch funktionierten und daß er mit ihrer Hilfe den Himmelswagen steuern konnte, »daß auch Kyrace nicht immer gewinnt. Auch sie wird bezahlen müssen.«

Wieder verschmolzen Mura und Kyrace, Amee und Maratha zu einer Person. Sie trennten sich, verschwanden – und ließen ihn zurück. Voll neuer Erinnerungen und brandneuem, scharfem Wissen, aber

trotzdem erschöpft und ausgehöhlt. Erkenntnisse waren auch für ihn teuer zu bezahlen. Langsam schob er sich seitlich aus dem Gleiter hinaus und schloß langsam die Tür. Die Lichter im Innern erloschen.

»Was jetzt?« fragte er. Er fühlte sich elend. Er brauchte noch Ruhe und Einsamkeit.

Mit schleifenden Schritten verließ er die Schatzkammer und vergaß, nach dem verborgenen Eingang zum Palast zu suchen. Er schlich durch den Gang und kam hinaus in den warmen Sand. Das Rauschen der Brandung schlug an seine Ohren und brachte ihn mit jedem auf und abschwellenden Intervall ein wenig mehr in die Gegenwart zurück.

»Dragon!« sagte er sich. »Du hast eine schwere Stunde hinter dir. Die Stunde der Erkenntnis. Aber eine noch schwerere Stunde wird kommen, wenn Cnossos erscheint.«

Er dachte an die Teile seiner Ausrüstung, die er in einem Raum des Palastes untergebracht hatte. Wem würde sich Kyrace zuwenden? Sicherlich würde sie zwischen ihm und Cnossos denselben Kampf verlangen wie zwischen Arric dem Rothaarigen und ihm.

»Aber in einer größeren Arena!« versprach er sich grimmig. Dann zog er sich langsam aus, rannte über den Sand und warf sich mit einem mächtigen Sprung in das kühle, salzige Wasser. Schlagartig fühlte er sich

wohler. Er schwamm mit langen Zügen hinaus, tauchte in die geheimnisvolle, schwerelose Welt zwischen der Oberfläche und dem sandigen Grund ein und erinnerte sich schmerzlich der Sterne und der Flüge ins Weltall. Das alles haben wir verloren! Das alles hat diese Welt durch Cnossos und seine verdammten Freunde verloren, dachte er voller Schmerz und bitterer Resignation.

Er kam hoch, prustete und warf sich auf den Rücken. Jetzt fühlte er wieder seine Muskeln. Die Tage des Wohllebens hatten ihn ein wenig erschlaffen lassen. Aber jeder Stoß schien ihm die Kraft zurückzubringen – auch hier mußte er sich sämtliche Kräfte für den entscheidenden Kampf mit Cnossos aufbewahren. Aber noch war es nicht soweit. Cnossos würde, kaum hier gelandet, nicht gleich kämpfen. Auch darüber mußte er noch, mitten in der bezauberten, verzaubernden Stimmung der heutigen Liebesnacht, mit Kyrace reden.

Ihre Verliebtheit mußte ihm helfen! Er schwamm, ruhiger und selbstbewußter

geworden, auf den Strand zu und ließ sich von der Sonne und dem lauen Wind trocknen. Dann zog er sich an und stieg nachdenklich die unzähligen Stufen hinauf und kam in den Palast, aber nicht über den Vorplatz, den er einst als Gast und Freund Gabors betreten hatte.

»Ich muß alles sorgfältig bedenken. Nichts darf dem Zufall überlassen werden«, schwor er sich.

Kyrace, in deren Erbgut sich zweifellos auch starke Anteile von Cnossos befanden, verfügte über starke magische Kräfte der Illusion. Kyrace war nicht nur eine Liebeskünstlerin, sondern auch eine Virtuosin, was die Erzeugung von Illusionen betraf. Er wußte, daß sie jedem Lebewesen auf dieser Insel Dinge vorspiegeln konnte, die den Verstand des Betroffenen hoffnungslos ruinierten.

Aber sie konnte nicht in die Zukunft blicken, wie jene blinde Seherin Maratha, die er einstmals geliebt hatte.

Auch konnte sie ihren Verstand nicht in andere Gegenden versetzen und dort die Geschehnisse miterleben. Aber immer dann, wenn sie Illusionen erzeugt hatte, war sie keineswegs erschöpft gewesen.

Und jetzt standen sie alle vor einer Bewährungsprobe. Er, Kyrace und auch Cnossos.

Die Chancen, zu gewinnen, standen für alle Teile gleich. Und auch die Möglichkeit, zu verlieren, war hoch.

Dragon, jetzt wieder als Agon-Dra, betrat den vertrauten Palast und begann Kyrace zu suchen. Er mußte mit ihr reden.

3.

Jetzt, am frühen Abend, wiegten sich beide Schiffe in unregelmäßigem Takt in der langen Dünung. Die Masten pendelten hin und her wie gigantische Finger. Auf den Schiffen herrschte eine erwartungsvolle Ruhe. Die Mannschaften wußten, daß sich die Entscheidung anbahnte; der Bote des Cnossos – sie waren sicher, daß es sich bei Gaunths Beobachtung nur um einen Kurier gehandelt haben konnte! – war das Startsignal gewesen für eine Kette von Ereignissen, die, hoffentlich, mit dem Tod Cnossos‘ endeten.

Kapitän Jaggar ging leise und behutsam auf Yina zu, die im Bug der Wellenreiterin stand und schweigend hinüberstarrte zur fast unsichtbaren Silhouette der Felseninsel.

Jaggar legte Yina die Hand auf die Schulter. »Woran denkst du?« fragte er.

In ihrem Verhältnis zueinander hatte sich sehr viel geändert, seit es voll in sein Bewußtsein gedrungen war, daß Yina, wann immer sie wollte, auch seine Gedanken belauschen konnte.

»Ich bin in Gedanken bei Dragon«, sagte sie. »Was

tut er?« »Nun«, sagte sie und lehnte sich gegen seine breite

Brust. »Er beschäftigt sich mit Kyrace. Aber er hat sich geändert ... lasse mich nachdenken.«

»Ich warte.« Während sich Yinas Verstand und ihre

Vorstellungskraft eine halbe Tagesreise weit weg befanden, während sie mit Dragons Augen sah und mit Dragons Gedanken dachte, wartete Jaggar. Er war als Mensch zugänglicher geworden, aber als Kapitän hatte er noch immer die eiserne Hand. Sein Schiff befand sich in ausgezeichneter Verfassung. Er hielt es in Bereitschaft – sie konnten innerhalb von ganz kurzer Zeit losmachen, die Anker lichten und hinüber zur Insel segeln oder nötigenfalls sogar rudern. Die Waffen lagen bereit, die Mannschaft war ausgeruht und kräftig. Und sie alle haßten Cnossos, denn es gab nur wenige von ihnen, die nicht einen Teil ihres Schicksals diesem verbrecherischen Gestaltwandler verdankten; einen bösen Teil des Schicksals.

»Dragon ist jetzt gelungen, was wir alle gehofft haben!« versicherte Yina plötzlich. »Er hat sich aus den Liebesnetzen Kyraces befreit!«

»Der Ärmste«, grinste Jaggar respektlos. »Wie ist das passiert?«

»Er fand den Himmelswagen, von dem Hegon erzählte«, erklärte Yina. »Er merkte, daß es etwas war,

das er aus seiner Vergangenheit kannte. Als er sich hineinsetzte, erfolgte eine Art Zusammenbruch. Er wurde dadurch frei und sieht nun alles mit anderen Augen.«

»Das läßt hoffen!« gab Jaggar zu. »Was gibt es noch von Interesse?«

»Er bereitet sich innerlich auf den Kampf mit Cnossos vor. Eben hat ihm Kyrace berichtet, daß der Schwarze Kurier des Cnossos die Insel betreten hat. Sie wundern sich, wie er dies tun konnte, da man kein Boot fand.«

»Wann kommt Cnossos?« fragte Jaggar erregt. Yina schwieg und schickte ihre irrenden Gedanken

hinüber zur Insel, forschte dort nach, kam wieder zu sich und erwiderte:

»In drei Tagen, Jaggar.« Sie sah ihn an, dann legte sie ihre Arme um seinen

Hals. Unter ihnen wiegte sich das Schiff. Die Spannung ließ ein bißchen nach, aber sie wußten, daß jetzt die Gefahr namens Cnossos zu ihnen her unterwegs war. Sie hatten keine Illusionen – der Kampf würde hart werden, und er mußte auch mit List, nicht nur mit Gewalt und Kraft geführt werden.

Zur gleichen Stunde, am südlichen Ufer des Meeres, herrschte im Lager des Herrn des Südens eine ausgelassene Stimmung.

Die zehn großen Paddlerboote lagen auf dem Strand, nur zu einem Drittel im Wasser. Die Prunkbarke schaukelte in den kurzen Wellen. Sie hatten die Boote und die Barke in vielen Tagesmärschen über Land transportiert und hier, endlich, in das Wasser der Flachen See gesetzt. Hier entsprach der Name des Meeres auch der Tatsache; man konnte fünfhundert Mannslängen geradeaus im Wasser gehen, und dann erst stand man bis zum Kinn darin.

Einige Zelte waren an dem menschenleeren Gestade aufgeschlagen worden. Sie standen auf einer freien Fläche aus Sand. Hinter ihnen begann der Wald. Dort sammelten die zehn Uh-toth, hundert der Krieger und Ruderer und ein paar Dutzend Sklavinnen Holz für die Feuer. Ein mitgeführtes Tier wurde geschlachtet und ausgeweidet.

Cnossos, der Balamiter, sah dies alles mit gemischten Gefühlen. Er befand sich in einer merkwürdigen Lage; ein ähnliches Geschehen war seit langem nicht mehr geplant worden. Wieder einmal versuchte er, ein neues Reich aufzubauen, eine kleine Festung, die ihm gehörte und gehorchte. Aber dieses Mal nicht allein, sondern mit der Hilfe einer Frau. Zusammen jedoch würden sie eine nicht mehr übersehbare Macht abgeben.

»Dieser verfluchte Dragon!« brummte Cnossos und

ballte die schwarze Faust. Er saß scheinbar gelockert auf dem prunkvollen

Sessel, der sonst auf dem Hinterdeck der Barke befestigt war. Die Niederlagen, die ihm Dragon bereitet hatte, waren zu groß gewesen. Er mußte sich ausruhen, mußte nachdenken und seine Kräfte und Hilfsmittel zählen. Jedenfalls saß der Fremde, der angeblich schlafende Gott, der langsam sein Königreich immer weiter ausdehnte, wie ein Stachel in seinem Fleisch.

»Kyrace muß mir helfen. Sie wird mir helfen, wenn ich sie erst einmal richtig von mir begeistert haben werde!« sagte er sich.

Sein Bote mußte ihn inzwischen angekündigt haben. Der Ring, den er Kyrace als Geschenk gemacht hatte, stammte von irgendeinem Opfer seiner vielen Kämpfe und Schlachten um die Macht auf dieser Erde. Sein Rückzug war abgeschnitten, und sein Reich war in Gefahr – dank Dragon.

»Ich habe alles sehr genau und sehr gewissenhaft vorbereitet«, sagte Cnossos sich. Er war nicht unzufrieden.

Seine zweihundert Krieger, die zugleich Ruderer waren und ausgesuchte Kämpfer, die ihm aufs Wort gehorchten, würden in den Booten hinter seiner Barke herrudern. In den langen, schlanken Booten waren auch die vielen Ausrüstungsgegenstände verstaut und die Waffen. Auch die fünfzig ausgesuchten

dunkelhäutigen Sklavinnen, ein Geschenk an Kyrace, würden morgen beim ersten Sonnenstrahl in die Boote steigen.

Zweihundert Krieger ... Auch sie, seine Untertanen, aus seinem

dämonischen Fürstentum abkommandiert zu diesem Vorstoß auf die Insel der Zauberin. Es waren starke, hochgewachsene Männer. Ihre Haut war schwarz wie Ebenholz. Die Ziernarben ihrer Körper bildeten verwirrende Muster. Sie waren in Leder und Löwenfelle gekleidet. Die Rachen und Köpfe der präparierten Löwen waren auseinandergespreizt, mit Leder und Metall versteift und bildeten grauenhafte Helme. Die schwarzen Krieger waren mit Bögen und gefüllten Pfeilköchern, Schilden und Speeren bewaffnet. Ausnahmslos waren sie wahre Künstler in der Handhabung der Speere.

Mit einem langgezogenen Schrei starb ein zweites Schlachttier. Die ersten Flammen züngelten in der Mitte der mächtigen Holzstöße auf. Die Sklavinnen begannen, alles für ein kräftiges Essen zu richten.

Cnossos grinste, als er daran dachte, wie er sich selbst verändert hatte. Seine Maske war vollkommen. Niemand, der ihn schon einmal gesehen hatte, würde ihn wiedererkennen.

Natürlich war er mit königlichen Prunkgewändern ausgestattet. Viele Menschen hatten lange daran

gearbeitet; einige seiner prachtvollen und kostbaren Waffen und Schmuckstücke hatten sich vor vielen Jahren oder Jahrhunderten im Besitz von echten Königen befunden.

Cnossos sah aus, wie sich Kyrace vermutlich einen jungen Fürsten, den Herrn des Südens vorstellte. Ein schmales Gesicht, nicht so schwarz wie die Haut der Krieger, eine gerade Nase und volle Lippen, die aber keineswegs wulstig waren. Auch das Haar war nicht so stark gekräuselt und wesentlich länger und gepflegter als das der Ruderer. In dieser Maske würde er Kyrace gegenübertreten.

»Gut so! Und mit Kyraces Unterstützung werde ich Dragon vernichten!« schwor er sich. Hoffentlich sah Kyrace, wenn die elf Boote auf die Insel zusteuerten und in den Hafen einliefen. Es war ein prächtiger Anblick. Cnossos stand auf, reckte seine breiten Schultern, prüfte seine schwellenden Muskeln und war zufrieden mit seinem Aussehen. Er ließ sich von einer Sklavin einen Becher Wein geben und sah zu, wie die Männer den Braten drehten.

Agon-Dra saß auf der breiten Brüstung und sah hinunter auf das Meer. Noch immer war die Flotte von Cnossos nicht zu sehen. Kyrace sah ihn fragend an, dann setzte sie sich auf das Polster neben ihn.

»Du fühlst dich wohl?« fragte sie leise.

»Ja«, sagte er und streichelte ihren Arm. »Ich habe niemals in meinem Leben eine solch schöne Zeit erlebt.«

Irrte er sich, oder merkte sie, daß er sich aus ihrer Verstrickung gelöst und einen gewissen Abstand gewonnen hatte?

»Was wird sich für dich ändern«, fragte er vorsichtig, »wenn Cnossos hier landet?«

»Nichts. Oder nicht viel. Er wirbt um mich, und ich kann ihn nicht abweisen. Du kennst ihn?«

»Ja!« sagte er. »Dies ist eine lange Geschichte.« »Mein Liebling! Wir haben alle Zeit der Welt. Ich

möchte alles von dir wissen, also warum erzählst du mir nicht, was mit Cnossos geschehen ist?«

Dragon seufzte und legte seinen Arm um ihre Schultern. Sie schmiegte sich eng an ihn und legte den Kopf schräg.

Er berichtete ihr, daß Cnossos und er alte Feinde waren. Er erzählte einige Geschichten, die halb wahr und halb falsch waren; der Kern jedoch war richtig. Es war für ihn wichtig, daß Cnossos ihn nicht erkannte, und hier könne sie, Kyrace, ihm helfen. Sie sagte es sofort zu.

»Außerdem weiß ich, daß der Herr des Südens mit Mitteln kämpft, die nicht die eines Kriegers sind. Er schreckt nicht davor zurück, Gewalt anzuwenden, wo immer er anders nicht weiterkommt. Außerdem

versteht er sich trefflich darauf, seine Gestalt zu wandeln; er tritt in Hunderten von Gestalten auf, und niemand kann ihn erkennen. Auch Gift verwendet er gern, und er besitzt große Kenntnis von allen nur möglichen Giften.«

»Diese Kenntnisse habe ich auch!« gab Kyrace zu. Sie lachte unbeschwert auf.

»Sprichst du die Wahrheit?« Sie nickte und verscheuchte mit einer

Handbewegung seine Sorgen. Agon-Dras Erzählung hatte offensichtlich richtig geklungen.

»Wenn Cnossos landet, werden wir weitersehen«, versicherte Kyrace halblaut. »Ich glaube dir, daß er nicht gerade ein Lamm ist. Aber warten wir erst einmal ab, was er in Wirklichkeit für ein Mann ist. Du kennst ihn angeblich, aber ich kenne ihn nicht. Ich bin durchaus in der Lage, mir selbst ein Bild zu machen. Glaube mir, ich habe in meinen langen Jahren schon eine große Anzahl von Anbetern und Freiern weggeschickt. Und meiner Großmutter und meiner Mutter ist es nicht anders ergangen.«

»Du beruhigst mich!« stellte Agon-Dra trocken fest. »Und was geschieht, wenn Cnossos schöner, stärker und klüger ist als ich?«

Sie warf ihm ein undefinierbares Lächeln zu und entgegnete:

»Dieses Risiko mußt du nun einmal eingehen, mein

Geliebter. Aber ich vermag es mir nicht vorzustellen, daß es jemanden gibt, der dich übertrifft!«

Agon-Dra lachte kurz. Ironie war ein völlig neuer Zug an Kyrace! Er hatte sie bisher nicht wahrnehmen können. Aber bisher hatte er viel nicht gemerkt: weil er sich in einem ununterbrochenen Rausch der Sinne befunden und die Vernunft ausgeschaltet hatte, fühlte er sich wohl. Bis vor einigen Tagen der Verstand wieder einsetzte, geschockt von der Schrifttafel im Gleiter, auf der die Koordinaten von der Überlebensstation vermerkt waren, in die sich unter Umständen Mura geflüchtet hatte.

Die Station war sein nächstes Ziel, falls er die Tage hier überlebte und von Cnossos nicht umgebracht wurde. Jedenfalls kannte Kyrace nicht die ganze Wahrheit, und sie würde sie auch nicht erfahren.

Außerdem eilte die Zeit ... Amee und das Königreich, das er befriedet hatte,

und das sich langsam ausdehnen sollte und auch ausdehnte. Seine Pflichten drückten ihn, aber die Entfernung machte einiges aus und auch die Gegenwart Kyraces. Langsam erwachte er aus seinen Gedanken, sah der Frau in die Augen und sagte:

»Du wirst mir also helfen, so daß mich Cnossos nicht erkennt?«

»Sei ganz unbesorgt. Es wird alles zu deinem Besten geschehen!« versicherte sie und drängte sich in seine

Umarmung. Er hob sie mit einem Ruck auf und trug sie über die Terrasse auf den schweren Vorhang zwischen den Säulen zu. Hinter ihnen schwang der dunkle Stoff wieder zusammen.

Es war ein nebliger Morgen. Das Sonnenlicht wurde durch den Dunst gefiltert und verwandelte ihn in ein glühendes, leuchtendes Medium. Feuchtigkeit glitzerte auf den Steinen. Von der großen Terrasse, von der sie einen prächtigen Blick über den Hafen hatten, konnten sie nur dreihundert Mannslängen weit auf das vollkommen ruhige Meer hinausblicken. Agon-Dra hob den Kopf und spähte hinunter.

»Ist das der Schwarze Kurier? Er muß es sein!« brummte er.

Er deutete in den Hafen. Dort, in der Mitte des leeren Kais, stand eine einzelne Gestalt, in einen leichten schwarzen Mantel gehüllt. Sie warf einen langen Schatten. Düster glühte die Sonne hinter dem Nebelvorhang. Agon-Dra flüsterte: »Er wartet auf Cnossos!« Plötzlich erfaßte ihn Unruhe. Er aß nicht mehr weiter und spülte die letzten Brocken mit Wein hinunter. Kyrace betrachtete ihn sinnend und nachdenklich. Fürchtete er sich vor Cnossos, oder schien es ihr nur so? Dann weiteten sich ihre Augen, und sie vergaß ihre Gedanken schnell wieder. Aus dem Nebel schob sich wie ein übernatürliches Wesen eine

Barke. Ein langes, schmales Boot, das sich zum Heck zu verbreiterte. Es war schwarz, mit dunkelroten und goldenen Verzierungen. Im Heck war ein weißes Sonnensegel gespannt.

»Cnossos!« sagten Kyrace und Agon-Dra gleichzeitig. Wieder überschwemmten Haß und kalte Wut die Überlegungen des Mannes, aber er beherrschte sich meisterhaft und lächelte Kyrace zurückhaltend zu.

»Dein nächster Freier!« stellte er fest. Sie lachte hell auf und streichelte seine Hand. »Du scheinst wirklich Angst vor ihm zu haben,

Agon-Dra?« Er beugte sich über den Tisch und sah aus dem

Augenwinkel die Lieblingssklavin N‘succa, die im Hintergrund wartete.

»Ich habe Angst, daß er die Macht hat, uns zu trennen. Ich könnte nicht mehr weiterleben ohne dich!« sagte er. Es war eine Lüge, aber sie kam ihm leicht von den Lippen.

»Warte!« Kyrace hob die Hand, stand auf und stellte sich neben ihn an die Brüstung der Terrasse. Jetzt konnten sie bereits deutlich erkennen, was sich dort unten abspielte. Es war zweifellos die Ankunft des Cnossos. Die Barke ...

Sie wurde von mindestens dreißig Ruderern angetrieben. Die Riemen waren lang und ebenfalls schwarz und rot. Sie tauchten im gleichmäßigen,

schnellen Takt ein und wurden weit durchgezogen. Es war eine gleitende und schnelle Bewegung. Die prachtvolle Barke, die am Bugsteven eine verzierte Fratze trug, deren Anblick die Wellen beruhigen sollte, besaß in der Mitte eine Art langgestrecktes Haus mit Türen und Fenstern; die Ruderer saßen unter Deck im Schatten. Wahrscheinlich sind es Untote! durchfuhr es Dragon. Er kannte diese lebendigen Leichen, die erst dann starben, wenn Cnossos seinen Willensgriff um ihren abartigen Verstand lockerte oder wenn sie einen Kopf kürzer gemacht wurden.

Die Barke, von etwa zehn Booten gefolgt, schob sich schnell und auf geradem Kurs auf den Felseneinschnitt des geschützten Hafens zu. In Dragon erwachte die alte, bekannte Spannung, die er immer dann gefühlt hatte, wenn er sich in der Nähe des Balamiters befand. Auch sie war ein Überbleibsel aus der Zeit von Atlantis.

Die Barke, die drei Spuren hinter sich ließ – das eigene Kielwasser und die zwei Reihen der eingetauchten Riemen –, glitt lautlos näher. Unter dem Sonnensegel nahmen Kyrace und Agon-Dra kurz einen prächtigen Sessel wahr, der mit bunten Fellen ausgelegt war. Darin saß eine schwarzhäutige Gestalt in heller Kleidung. Ein guter, wirksamer Gegensatz, überlegte der Atlanter. Dunkle Haut und helle Kleidungsstücke. Also wird Cnossos, der

Gestaltwandler, in dem Aussehen eines dunkelhäutigen Prinzen hier erscheinen, jung, männlich, groß und herausfordernd.

»Der schwarzgekleidete Bote erwartet seinen Herrn am Hafen«, meinte Dragon, der sich inzwischen wieder gefaßt hatte. »Willst du ihnen nicht entgegengehen, Kyrace?«

Kyrace zuckte mit ihren runden Schultern. »Ich? Ich bin die Herrin der Insel! Cnossos wird an

die Pforten des Palastes klopfen müssen.« Er nickte. »Wie ich!« murmelte er. »Wie jeder!« bestätigte Kyrace und widmete sich

wieder dem eindrucksvollen, aber keineswegs lieblichen Schauspiel. Die Barke, die jetzt von einigen Sonnenstrahlen getroffen wurde, leuchtete auf. Erst jetzt enthüllte sich ihre vollkommene Schönheit. Aber es war mehr als ein Fahrzeug zum Vergnügen; eine düstere,

drohende Ausstrahlung lag in den schwarzen Planken, dem schwarzen Deck und den langen, schwarzen Rudern. Auch die geschnitzte, goldverzierte Fratze und das hochgezogene Achterdeck mit dem langen Hebel des Steuerruders waren dunkel und beeindruckend. Jetzt hatte die Barke den Einschnitt erreicht und fuhr durch die unsichtbare Linie zwischen den beiden erloschenen Leuchtfeuern.

Die Boote sahen weitaus kriegerischer aus. Zwischen den Paddlern, die, mit nackten,

schweißüberströmten Oberkörpern, die Paddel ins Wasser stachen, durchzogen und schnell wieder herauszogen, saßen dunkelhäutige Mädchen. Schilde, Lanzen und Bögen waren zu sehen. Die Kanus bildeten eine perfekte Reihe hinter der Barke, jetzt stand einer der Ruderer auf und winkte.

Die zehn Kanus schwenkten ein und schoben sich näher zusammen. Eines setzte sich an die Spitze, die anderen folgten, und binnen weniger Augenblicke bildeten sie eine lange Reihe, die wie eine ausgestreckt

gleitende Wasserschlange wirkte. Die Sonne blitzte auf den Speerschneiden und auf den hellen Löwenfellen mit den riesigen, dunklen Augen aus Glas oder edlen Steinen. Dann bog die ganze Prozession in den Hafen ein. Der Schwarze Kurier hob einen Arm und winkte.

»Er hat seinen Auftritt gut vorbereitet!« erklärte Agon-Dra halblaut. Seine Augen hingen an diesem Schauspiel. »Es sind sehr viele Menschen dort. Wirst du sie alle beherbergen?«

Kyrace überlegte, dann schüttelte sie den Kopf. »Sie dürfen in den Grotten und Höhlen leben, in

denen auch dein Gefolge und die Helfer der Kaufleute gelebt haben. Aber meine Gastfreundschaft wird nicht über ein paar Glas Wein für den Herrn des Südens hinausgehen.«

»Recht so«, meinte Agon-Dra nicht unzufrieden. »Kleine Getränke fördern die Freundschaft.«

Die Barke hatte sich, das bewies ihre breite Kielspur, in einem Viertelkreis gedreht. Sie lief jetzt genau auf die Stelle zu, an der die Stolz von Sodok angelegt hatte. Die Ruderboote folgten in gerader Linie, schwenkten ein und bogen ebenfalls auf den steinernen Kai ein. Zweihundertfünfzig oder mehr Menschen waren dort.

»Er ist mit einem Heer angerückt, Kyrace!« murmelte Agon-Dra verwundert, »Zweihundert Ruderer, mindestens.«

»Ich werde mit ihnen allen mühelos fertig, wenn ich

mich bemühe. Nicht jeder Gast ist gegen meine Illusionen gefeit.«

Agon-Dras Lächeln war zurückhaltend, und er bemühte sich, seine Freude nicht zu deutlich zu zeigen. Der versteckte Troll und sein Tarnumhang hatten ihn bisher davor geschützt, und sie würden ihn noch bis zur letzten Stunde weiterhin beschützen. Nur dann, wenn er einwilligte, würde Kyrace ihn verzaubern. Vielleicht stellte sich diese Notwendigkeit schon bald ein.

»Ich bin beruhigt!« stellte er fest. Sie saßen nebeneinander auf den feuchten, warmen Steinen der Brüstung und beugten sich vor, stützten die Arme auf die Felsen und blickten nach unten in den Hafen. Der Schwarze Kurier fing eine Leine auf, zog ein Tau an Land und half den Ruderern, das Boot längsseits der Steinflanken zu belegen. Die Paddler steuerten auf die eingemeißelten Treppenstufen zu und verließen nacheinander die Boote. Sie hoben die Mädchen hinaus und schleppten ihre Waffen und kleine Lasten ans Land, in denen wahrscheinlich ihr Proviant enthalten war. Interessiert sahen Kyrace und Agon-Dra zu. Der Mann zählte: es waren etwa fünfzig Mädchen, rund zweihundert Krieger in Löwenfellen und schwer bewaffnet. Jetzt wurden die Taue straffgezogen. Alles ging fast lautlos, mit der Geschwindigkeit eines gut geführten Heeres vor sich. Agon-Dra war beeindruckt.

»Cnossos tritt tatsächlich auf wie der Herr des Südens«, murmelte er, mehr zu sich selbst. Er kannte dieses legendäre Reich seines Feindes nicht, aber es würde sich in nichts von seinen bisher bekannten Herrschaftsgebieten unterscheiden. Durch die raffinierte Mischung aus Macht, Bösartigkeit, Versprechungen und Belohnungen gelang es Cnossos, immer wieder eine große Menge Menschen zu bedingungslosen Untertanen zu machen. Jetzt stieg er leichtfüßig über eine Laufplanke an Land und versammelte einige Krieger um sich. Kyrace und Agon-Dra hörten einige Worte, verstanden sie aber nicht. Dann formierte sich ein Zug. Cnossos ging an der Spitze, dicht hinter ihm der Schwarze Kurier, dann kamen die schnell ausgerüsteten Ruderer der Barke, schließlich die Mädchen, und den Schluß bildeten die Ruderer oder Krieger, die sich in Lastenträger verwandelt hatten.

»Sie kommen!« sagte Agon-Dra. »Und mit ihnen kommt Unruhe hierher. Die nächsten Tage werden wir wenig Zeit für uns haben, Geliebte.«

»Wenn sich die zweihundert Soldaten ruhig verhalten, werde ich milde sein. Aber falls sie sich verhalten wie Soldaten, dann werde ich eingreifen müssen. Es werden dann ihre fürchterlichsten Tage werden.«

Agon-Dra fragte behutsam:

»Denkst du daran, daß mich Cnossos nicht erkennen darf?«

Sie nickte. »Ich habe schon daran gedacht. Du hast es nur noch

nicht gemerkt. Ich werde jetzt Cnossos entgegengehen. Wir sehen uns bald wieder, mein Liebster!«

Er nickte und dachte über ihren letzten Satz nach. Aber als er nach unten schaute und diese konzentrierte Macht sah, begann er wieder am Ausgang seines Vorhabens zu zweifeln. Er dachte an den bevorstehenden Kampf, und in seinem Magen begann sich ein harter Klumpen zusammenzuziehen.

Ich muß Cnossos dazu bringen, daß er sich mir allein stellt, dachte er in steigender Verzweiflung.

4.

Agon-Dra preßte sein Gesicht gegen den langen Spalt in der Ziermauer. Er trug unter seinem Gürtel, zusammengerollt und unauffällig, seinen Tarnumhang. Irgendwo in seiner Nähe spürte er den Troll Erbolix, der ihn bewachte.

Vor sich, jenseits des senkrechten Ausschnitts, sah Agon-Dra den kleinen Platz vor den bronzenen Toren des Palastbezirks. Die Steine bis hinein in die Eingänge der Grotten waren voller Menschen. Langsam wanderten die Blicke Agon-Dras über die Gesichter und die Körper. Ein großer, tiefgestaffelter Halbkreis wurde von den etwa zweihundert Kriegern gebildet. Die dunkelhäutigen Männer waren wild und kriegerisch. Die Löwenfelle bedeckten ihre nackten Schultern und Rücken. Die Klauen der Tiere hingen ihnen über der Brust, die mit vielen kleinen Schmucknarben versehen war.

Die Krieger mit den großen, weißen Zähnen und den waagrechten weißen Streifen in den Gesichtern bewegten sich unruhig. Sie trugen lange Bögen und volle Köcher, Lanzen und runde Schilde. An den breiten Ledergürteln steckten meist zwei oder mehr Dolche.

»Sie haben in einer Stunde die ganze Insel erobert, wenn Cnossos dies befiehlt!« murmelte Agon-Dra. Mit der idyllischen Ruhe war es endgültig vorbei.

Vor den Kriegern standen – er zählte sie leicht, weil sie in einer Mischung aus Trotz, Verwunderung und Angst bewegungslos und starr dastanden die Mädchen. Diesmal war Agon-Dra betroffen, weil er nicht geahnt hatte, daß sein Rivale und Todfeind eine solch große Menge schöner, dunkelhäutiger Sklavinnen

hatte mitbringen können. »Und seine verfluchte Leibwache!« knurrte Dragon

und preßte die Kiefer aufeinander. Hinter Cnossos und dem Schwarzen Kurier, die auf der obersten Stufe der Treppe standen, hatten sich regungslos und wie Statuen die zehn Untoten aufgebaut.

Jetzt öffnete sich die Tür weit. Kyrace kam hervor, flankiert von jeweils zwei ihrer Sklavinnen. Sie trug Kleidung, die man nur als königlich bezeichnen konnte. Die kostbaren Stoffe schleiften über den Boden, an der Hand trug sie den schweren goldenen Ring.

»Schönste Herrin der Insel«, erscholl die Stimme des Balamiters, der seine Gestalt so verändert hatte, daß ihn Dragon niemals erkannt hätte, wäre er nicht entsprechend vorbereitet worden, »ich habe, wie du weißt, von deiner Schönheit allerorten gehört. Ich bin nun hier, mit meiner kleinen Leibwache, um dich anzusehen, um zu deinen göttlichen Füßen zu sitzen, und um dir ein kleines Gastgeschenk zu machen.«

»Sei willkommen«, sagte Kyrace. Sie war etwas verblüfft; sie sah, daß er sehr männlich und gut aussah. »Seid willkommen, alle, die ihr hierher gekommen seid. Ich sehe, daß die Gäste meine Insel sehr bevölkern werden.«

»Nicht alle sind Gäste. Diese fünfzig Mädchen, höchst gelehrig und anstellig, dazu schön und jung – es sind Geschenke. Ich übergebe sie dir als Zeichen

meiner Macht und Freigebigkeit.« Einen Augenblick lang bewunderte Agon-Dra den

Balamiter. Es war nicht der Text dessen, was er hier vortrug, sondern die Betonung. Cnossos tat so, als wären diese Dinge für ihn nicht erwähnenswerte Kleinigkeiten. Jetzt drehte er sich um und winkte die Mädchen zu sich heran. Sie kamen langsam die Treppe hinauf.

»Ein großzügiges Geschenk!« sagte Kyrace und neigte gnädig ihren Kopf. Auf ihren Wink kamen einige Dienerinnen und Eunuchen und führten die stummen, ängstlichen Mädchen hinweg, in die Grotten und durch die überwachsenen Gänge.

»Ihr alle«, rief Kyrace, »könnt euch in den Grotten dort und in den mehrstöckigen Höhlen aufhalten. Ich bin leider nicht so reich, als daß ich euch jeden Abend mit Braten und Wein bewirten könnte.«

Cnossos verbeugte sich tief und erklärte: »Wir haben unseren Proviant mitgebracht. Und

wann werde ich dich sehen und mit dir reden können?«

»Bald!« vertröstete sie ihn. Deutlich erkannte Agon-Dra, der ihre Reaktionen inzwischen recht gut verstand, daß Cnossos sie beeindruckte – und daß Cnossos seinerseits auch von Kyrace beeindruckt war.

Er spähte weiter durch den Riß in der Mauer. Die Mägde und die Beschnittenen führten die Krieger und

die Untoten in die Höhlen und zeigten ihnen, wo sie schlafen konnten. Der Platz leerte sich langsam. Neben sich spürte Agon-Dra eine Bewegung; er riß den Kopf herum und sah, wie der Troll Erbolix auf einem fast waagrechten Sonnenstrahl entlang glitt und auf einen Ast, an dem dicke Weinreben hingen, sitzenblieb.

»Erbolix! Mein kleiner Freund!« flüsterte Agon-Dra überrascht. »Ich habe dich immer gespürt, aber niemals gesehen.«

Die uralten, klugen Augen des Trolls blitzten ihn an. »Ich habe dich immer gesehen«, sagte er leise. »Ich

habe dich viele Male vor Kyrace beschützt.« »Ich ahnte es. Aber jetzt dauert es nicht mehr lange.

Du weißt, daß Cnossos angekommen ist. Bitte, bleibe wachsam!«

Der Troll nickte. Er sah aus wie eine kleine, häßliche Puppe, aber im Augenblick schien er nicht zu Scherzen aufgelegt zu sein.

»Mit Cnossos sind die wirklichen Gefahren gekommen«, gab er zu. »Gift, Mordversuch, seine Soldaten. In dem Augenblick, an dem er dich sieht, wird er mit seinen Schändlichkeiten beginnen. Und noch etwas, Dragon ...«

Er wirkte beunruhigt. Agon-Dra fragte flüsternd: »Ja?«

»Kyrace hat dich mit einem Zauber versehen. Du wirst in kurzer Zeit spüren, daß du dich verändert hast

im Aussehen. Jeder, der dich anblickt, wird dich verändert sehen, aber sich nicht erinnern können, wie du vorher ausgesehen hast. In Wirklichkeit bist du aber nicht verändert. Aber so wird auch Cnossos dich nicht erkennen können.«

Dragon fühlte wieder einmal, daß diese Zauberinsel noch viele Geheimnisse vor ihm verbarg. Aber er besaß die Zusicherung Kyraces, ihm zu helfen. Langsam hangelte sich Erbolix von dem Ast und trat hinaus in die helle Sonne.

»Ich höre mich ein wenig bei Cnossos‘ Leuten um«, erklärte er. »Keine Angst, mein großer Freund – ich werde dich weiterhin im Auge behalten!«

Er grinste, schwang sich auf einen Lichtstrahl und schwebte davon, verschwand, als ob es ihn niemals gegeben hätte. Agon-Dra sah wieder durch den Spalt und hatte gerade noch Gelegenheit, zuzusehen, wie Kyrace Cnossos mit einem vielversprechenden Lächeln verabschiedete. Dann ging auch Agon-Dra. Er nahm einen Weg, der in den Palast hineinführte.

Der Mond hing wie eine erlöschende Fackel über den zackigen Felsen der Insel. Die feuchte, warme Nachtluft wurde von einem trägen Wind bewegt. Der Glanz des Sternenlichts verwandelte die Umgebung; alles schien bleich, erstarrt und regungslos. Aber einige Teile der Insel waren deutlich belebt. Feuer brannten,

Fetzen von Gelächter und Gesprächen in fremden Dialekten hallten durch die Nacht. Dragon, der neben Kyrace lag, fühlte, daß es dort etwas gab; er spürte sie, die Unruhe, für die es keinen richtigen Ausdruck gab. Ein plötzlicher Schauer, der von seiner Ahnung oder seinem Wissen kam, daß eine Gefahr drohte.

Etliche Augenblicke vergingen. »Ich spüre, daß du unruhig bist, obwohl du weißt,

daß dich niemand auf dieser Insel erkennen kann – außer mir?«

»Ich bin deswegen nicht unruhig«, sagte er leise. »Ich denke an die seltsame Leibgarde deines neuen Gastes!«

»Eifersüchtig, mein Geliebter?« Er schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nicht auf Cnossos.« Plötzlich durchschnitt ein gellender Schrei die Stille

und die Dunkelheit. Es klang, als ob eine Frau in Todesnot schrie. Blitzschnell richtete sich Agon-Dra auf und legte die Finger an die Lippen. Kyrace sprang vom Lager herunter und blieb starr und aufgerichtet stehen. Sie schloß die Augen und schien in äußerster Konzentration zu lauschen. Wie sie im Mondlicht und im Schimmer von zwei winzigen Öllämpchen dastand, wirkte sie wie aus Stein gemeißelt. Dann flüsterte sie etwas. Es klang wie das Zischen einer zustoßenden Schlange.

Die drei dunkelhäutigen Soldaten saßen neben dem kleinen Feuer. Sie tranken kühles Bier, das sie in Kürbisflaschen aus ihrer fernen Heimat mitgebracht hatten. Auf den Spitzen ihrer Dolche hielten sie Fleischbrocken in die Flammen und bissen in die Brotfladen. Sie fühlten sich nicht sonderlich wohl – hier war alles anders. Sie waren nicht gewöhnt, sich auf einer Insel zu bewegen; sie waren Krieger des flachen Landes, in dem sie laufen konnten und nicht immer an die Grenzen des gefährlichen Wassers stießen. Sie waren Krieger, die wegen ihrer Grausamkeit und Schnelligkeit ausgesucht worden waren; Soldaten des überaus mächtigen Herrn des Südens.

»Diese vielen Weiber«, sagte einer der drei mit seiner rauchigen Stimme.

»Sie sind anders als unsere Frauen.« »Sklavinnen!« murmelte der andere und spuckte

verächtlich ein knorpeliges Stück Fleisch in die Glut. »Sklavinnen von Kyrace!«

»Sie sind wertlos!« bestätigte der dritte. Sie aßen und tranken weiter. In den Höhlen und den

Grotten und auch unter den überhängenden Ästen der niedrigen, aber weit ausladenden Bäume, schliefen oder saßen die anderen Soldaten. Sie waren in den letzten Tagen nicht angestrengt worden, hatten keine Kämpfe gehabt, und auch das Rudern hatte sie nicht erschöpfen können. Sie strotzten vor Übermut und

Kraft. Schließlich rollte der erste leergetrunkene Kürbis in

eine Ecke. Irgendwo schnarchte jemand auf dem Löwenfell. Cnossos und seine zehn Leibwächter waren nicht zu sehen. Ein Eunuche kam aus einer schmalen Tür in den Felsen; ihm folgten drei Sklavinnen Kyraces, die hölzerne Tablette trugen, auf denen Krüge und Becher standen.

»Dort sind sie! Wir nehmen sie dem großen dicken Mann weg und gehen mit ihnen an den Strand oder in die Büsche. Sie haben lange keinen Mann gehabt!« zischte einer der Soldaten. Er stützte sich auf den Speerschaft, als er sich hochstemmte.

»Jetzt werden sie gleich drei Männer kriegen!« lachte der andere Soldat und blickte den Mädchen entgegen. Sie waren auf eine ganz andere Weise begehrenswert und schön als die dunkelhäutigen, wilden Mädchen im Süden. Sie kamen näher; würdevoll ging der Eunuch ihnen voran und blieb mitten unter den Kriegern stehen.

»Ein kleines Geschenk von meiner Herrin!« verkündete er mit hoher Stimme und großartiger Gebärde. Er deutete auf die gefüllten Becher. Die Soldaten griffen schnell und sicher zu.

Wein tropfte, als sich die Krieger um die Mädchen drängten. Einer der drei Soldaten, es waren die Steuerleute der Paddler, griff nach den Hüften der

Sklavin mit dem kurzen, blonden Haar. Sie schlug ihm auf die Finger, aber er lachte nur und zog sie an sich.

»Komm, wilde Taube!« grinste er. »Ich werde dir meine Liebe zeigen!«

»Ich will sie gar nicht sehen«, sagte sie schnippisch. Sie versuchte, sich aus seinen harten Griffen zu lösen. Sie drehte sich hin und her, ohne daß es ihr gelang, freizukommen.

»Los, den Wein!« schrie jemand. Um die Mädchen versammelten sich einige Krieger,

die neidisch zusahen, wie sich die drei Steuermänner um die Mädchen kümmerten. Einer schleppte eine Sklavin, die sich heftig wehrte und mit Fäusten auf seine Brust und Schultern trommelte, aus der Grotte heraus in die Richtung auf eine grünbewachsene Fläche. Der andere bohrte einem Mädchen, das wie erstarrt vor ihm herging, die Spitze des Dolches in den Rücken. Der dritte Soldat warf Speer und Kürbis hinter sich und ergriff das dritte Mädchen an den Oberarmen. Er hob sie mühelos hoch und trug sie vor sich her. Seine Richtung war der Strand, der am Ende der Treppe lag.

Er sprang im Zickzack zwischen den grölenden Kriegern hin und her und schoß in das Dunkel zwischen den Felsen hinein. Das Mädchen, das er eng an sich preßte, hörte schlagartig auf zu strampeln und wurde schwer in seinen Armen.

Dann holte sie tief Luft. Ehe der Soldat seine Hand hochreißen und auf ihre Lippen pressen konnte, schrie sie auf. Lang und gellend.

Der schwarze Ruderer lachte auf und lief weiter. Über sich hatte er das schwache Licht der Sterne; er konnte die Felsenstufen undeutlich erkennen. Dann, als er lachend weiterlief, schien es ihm, als würden seine Beine in zähem Schlamm stecken. Er wurde langsamer und keuchte erschrocken auf. Seine Kehle wurde trocken. Er blieb stehen und lehnte sich gegen die Felsen. Seine Finger lockerten sich, das Mädchen lief schweigend und schnell weiter abwärts.

Dann ging in ihm und an ihm eine erstaunliche Veränderung vor ...

»Ich ... ich ... das kann nicht ...«, seine letzten Worte gingen in ein undeutliches und unverständliches Gurgeln über, das immer höher wurde. Es ging allen drei Soldaten so. Sie fühlten sich plötzlich verändert und waren es nicht, aber auch die Sklavinnen und der entsetzte Eunuche, die sie beobachteten, auch die anderen Ruderer, nur Cnossos nicht, der sich von seinen Leuten abgesondert hatte und mit dem Kurier und den Uh-toth beriet ... sie alle sahen die Veränderung.

Die drei Ruderer fühlten, wie sich ihre Körper veränderten.

Es begann an den Füßen. Aus den Zehen wurden lange Krallen, die sich nach vorwärts bogen. Die Beine änderten sich zu hornigen Ständern, die ab dem Knie nach oben von farbigen Federn bedeckt waren. Aus dem schrumpfenden Leib, der runder und niedriger wurde, entwickelte sich innerhalb weniger Augenblicke zu einem Vogelkörper. Aus den ausgestreckten Armen wuchsen lange Federn.

Die drei Vögel stießen eine Reihe von langen, gequälten Schreien aus und schlugen mit den neuen Flügeln.

Sie fühlten sich wie große, geierähnliche Vögel, aber sie waren es nur in den Augen der entsetzten Zuschauer und in ihrem eigenen Empfinden.

Jetzt verwandelten sich die Köpfe. Sie wurden runder und länger. Die Nase, sowie

Mund und Unterkiefer wurden zu den beiden Hälften des Schnabels. Die Augen wanderten nach den Seiten des federbedeckten Schädels. Der Hals schrumpfte ein. Dann löste sich die Starre von wenigen Momenten, in denen die Verwandlung in drei riesige schwarze Vögel erfolgt war. Die Vögel rührten sich wieder.

Ein atemloses Schweigen erfüllte die gesamte Insel. Nur die Geräusche der Brandung wurden plötzlich

lauter und eindringlicher. Die Vögel rannten auseinander. Jeder von ihnen versuchte, von der Insel zu fliehen. Sie mußten fliehen, zurück zu ihren fernen

Lehmhütten. Aber hier, zwischen den Felsen, konnten sie ihre langen, schweren Schwingen nicht entfalten.

Niemand sprach. Jeder, der diese entsetzliche Verwandlung mit

angesehen hatte, war atemlos und starr vor Schrecken. Viele Menschen, Sklaven, Dienerinnen, Soldaten

und Eunuchen, sahen den Schluß dieser illusionistischen Aktion.

Die Vögel drehten sich um und rannten die Treppen aufwärts, in einer Reihe ungeschickter, aber weiter Sprünge. Sie kletterten immer höher und erreichten schließlich die Spitzen von drei verschiedenen Felsen. Sie waren nicht deutlich zu erkennen, aber man konnte ihre Silhouetten gegen den etwas helleren Himmel sehen. Sie schlugen mit den Flügeln, sprangen vorwärts und stürzten dicht hinter den Felsen ab.

Im nächsten Augenblick wich die Illusion von der Insel.

Als man im Licht flackernder Fackeln hinunter zu den felsigen Klippen lief, fand man drei zerschmetterte Körper.

Es waren keine Vogelkörper ... es waren die dunkelhäutigen Körper der drei Steuermänner aus dem Gefolge des Cnossos.

Es war ein erbittertes Duell mit Worten, das eine Stunde später auf der Treppe vor dem Palasttor

stattfand. Agon-Dra, dank der Illusion unkenntlich für alle Bewohner der Insel, stand hinter Kyrace und hielt eine brennende Fackel in die Höhe. Vor Kyrace und ihm, eine Stufe tiefer, stand Cnossos.

»Ich habe es dir gesagt, Cnossos!« sagte Kyrace scharf. »Deine Männer benehmen sich auf meiner Insel, als würden sie eine Stadt plündern!«

Cnossos hob die Arme und erwiderte beschwörend: »Kyrace! Ich habe sie immer wieder beschworen,

sich nichts herauszunehmen. Aber ich kann sie nicht alle den ganzen Tag und die ganze Nacht kontrollieren. Glaube mir, es wird sich nicht wiederholen!«

»Es wird sich nicht wiederholen. Dafür werde ich sorgen. Ich verwandle sie alle in Schweine, Ziegenböcke und Vögel. Oder, wenn ich schlechter Laune bin, sogar in Fische!«

Entsetzt wich Cnossos zurück; oder wenigstens tat er so, als sei er entsetzt. Er rief aus:

»Nein! Das darfst du nicht tun! Es sind meine besten und stärksten Krieger!«

Noch immer herrschte diese entsetzte Stille, die die Insel in ihrem erbarmungslosen Griff hielt. Der Platz vor dem Tor und den Treppen war leer bis auf die drei Personen. Die weißen Flammen der Fackel warfen funkelnde Blitze. Die langen Schatten von Kyrace, Cnossos und Agon-Dra zitterten unter diesem Licht. Über den Köpfen kreiselte ein Rauchfaden in die Höhe.

Ängstliche Augen und dunkle Gesichter waren undeutlich in den Eingängen der Höhlen und Grotten zu sehen.

»Ob es deine besten oder schlechtesten Krieger sind, Herr des Südens«, Kyraces Stimme zeigte deutlich etwas von der raffinierten Klugheit dieser Frau, die aussah wie ein junges Mädchen und rund zwei Menschenalter in Wirklichkeit zählte, »das ist mir gleich. Sie sind Gäste hier – und sie sollen sich verhalten wie Gäste!«

»Das werden sie tun!« versprach Cnossos. »Ich werde dafür sorgen. Ich verspreche es!«

»Auch ich werde dafür sorgen!« meinte Kyrace kalt. »Bei dem nächsten, kleinsten Zwischenfall, der die Ruhe auf meiner Insel stört, wird die Katastrophe über euch hereinbrechen. Du hast keinen Anlaß, Herr des Südens, an dieser Drohung zu zweifeln.«

»Ich habe es verstanden«, sagte Cnossos leise und kleinlaut, aber er warf Agon-Dra einen funkelnden Blick zu.

»Wer ist dieser Mann?« wollte er wissen. Uneingeschränkte Feindschaft sprach aus seinem feingeschnittenen dunklen Gesicht.

»Ein Edler aus Lu‘ur«, sagte Kyrace. »Mein Geliebter. Du wirst, wenn du um mich wirbst, mit ihm kämpfen müssen.«

Agon-Dra hielt Cnossos‘ Blick aus. Er fühlte sich

sicher in seiner Illusionsmaske. Cnossos erkannte ihn auch nicht; er hätte sich zweifellos verraten, wenn er auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Dragon festgestellt hätte.

»Sie alle wissen, daß ich um dich werbe, Kyrace, Herrin der Insel. Und du weißt es auch.«

Kyrace gab kühl zu bedenken: »Dann werdet ihr kämpfen, Cnossos.« »Damit habe ich gerechnet!« sagte der Balamiter.

»Jedenfalls soll Friede zwischen uns sein bis zu diesem Tag.«

»So sei es!« murmelte Agon-Dra, nicht im mindesten überzeugt. Er hatte keinen Grund, Cnossos zu glauben, und er hatte eine Unzahl Gründe, ihm zu mißtrauen und ihn zu hassen. Von dem aber hatte Kyrace nicht die geringste Ahnung. Kyrace wandte sich um und sagte nach einigen Schritten über die Schulter:

»Noch einmal, Cnossos, achtet die Gastfreundschaft, die ich euch gewähre. Mein Zorn wird fürchterlich sein, wenn noch etwas geschieht.«

Cnossos nickte mehrmals und starrte ihnen nach. Aber er schien die königliche Gestalt der Frau nicht zu bemerken. Er betrachtete nachdenklich den Körper des Nebenbuhlers, studierte die Größe, die Muskeln und die Art der Bewegungen und deren Schnelligkeit. Agon-Dra, der es an Cnossos‘ Stelle nicht anders gemacht hätte, schlenderte betont sorglos hinter Kyrace

her und schloß das Tor des Palastbezirks. Die Gegner kannten sich jetzt. Der Kampf war eine unausbleibliche Folge dieses Kennenlernens.

5.

»Jetzt habe ich deine Macht fürchten gelernt«, sagte Agon-Dra leise. Sie lagen im Schatten, an einem der vielen kleinen Sandstrände der Insel. Unter ihnen hatten die dunkelhäutigen Sklavinnen kostbare Felle ausgebreitet und Wein sowie Essen bereitgestellt. Dann hatten sie sich auf Geheiß Kyraces zurückgezogen, um Agon-Dra und die neue Herrin nicht zu stören.

»Meine Macht ist groß, wenigstens in solchen Dingen. Aber ich benutze sie nur höchst selten«, sagte Kyrace schläfrig. Sie waren nackt, und die Sonne hatte ihre Körper gebräunt. Jetzt trockneten das Salz und der Sand auf ihrer Haut. Niemand störte die Ruhe. Nur das Murmeln kleiner Wellen schläferte sie ein. Wieder ging ein Tag voller Liebe und Entspannung, voll Wein und Schlaf zu Ende.

»Sie beschützt auch mich«, stellte Agon-Dra fest.

»Hast du schon einmal daran gedacht, daß auch der Herr des Südens bestimmte zauberische Fähigkeiten haben könnte?«

Er hatte gemerkt, daß Kyrace ein wenig schwankend geworden war. Zweifellos hatten sie zunächst die Geschenke, dann die selbstbewußte Art des gutaussehenden südlichen Fürsten beeindruckt. Von totaler Gleichgültigkeit hatten sich ihre Gedanken und Überlegungen bis zu einem wohlwollenden Interesse gesteigert. Er mußte versuchen, sie zu warnen, weil er damit sich selbst wirkungsvoller schützen konnte. Kyrace richtete sich langsam auf und sah ihn unschlüssig und mißtrauisch an.

»Was weißt du darüber?« Agon-Dra hob die Schultern und wich aus. Er

erklärte: »Du weißt, daß wir hin und wieder aneinander

geraten sind. Wir kämpften, direkt oder mit unseren Bewaffneten. Dabei hörte ich von vielen meiner Soldaten, daß es Cnossos gelungen sein sollte, sich in der Gestalt eines anderen aus der Gefahr hinwegzubegeben.«

Dragon erinnerte sich: nicht nur der Fürst der Unruhig Wandernden, sondern auch der Herr der Vampire, eine Menge von anderen Herrschern und Königen, der riesige Geier kurz nach seinem Erwachen in dem Tubus der zerstörten Überlebensstation ... alle

diese Gestalten hatte Cnossos angenommen, und noch einige mehr. Aber er lenkte nur den Verdacht auf ihn, er sagte nichts deutlich und direkt. Kyrace sollte selbst ihre Schlüsse ziehen.

»Mehr weißt du nicht?« »Nein. Ich habe es niemals mit eigenen Augen

gesehen. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto richtiger erscheint es mir. Es ist möglich, daß auch diese schöne Gestalt, die er jetzt hat, nichts anderes als eine Maske ist.« »Das wird sich prüfen lassen!« flüsterte Kyrace. »Jedenfalls sehe ich dein Gesicht, wie es am Tag deiner Ankunft war.«

»Es ist mein wirkliches Gesicht!« bestätigte Agon-Dra. »Aber die Sitte und der Brauch fordern es dennoch, daß Cnossos und ich kämpfen – um deine Gunst.«

Sie erwiderte ein wenig traurig und gleichzeitig herausfordernd, als wolle sie seine Reaktionen testen:

»Sicher. So wird es sein. Denn Cnossos wird auf diesem Recht bestehen. Er muß kämpfen. Er will gewinnen, er will mich haben und besitzen und zum Herrn dieser Insel werden.«

»Ich will diese Insel nicht beherrschen, Geliebte!« erklärte Agon-Dra.

»Das weiß ich. Jedenfalls wird er nicht kampflos diese Insel verlassen. Der Kampf aber ist unvermeidlich. Du solltest ihn gewinnen.«

»Genau das liegt in meiner Absicht!« bestätigte Agon-Dra. »Ich will und werde dich auch nicht bitten, mir beim Kampf zu helfen, sondern nur bei den Voraussetzungen zu diesem Kampf.«

»Das habe ich dir schon mehrmals versprochen«, erwiderte Kyrace lächelnd. »Du darfst mir vertrauen.«

»Ich vertraue dir!« sagte Agon-Dra. Er vertraute Kyrace wirklich. Nur kurz war ihr Zögern gewesen, aber sie mußte sich auch dem ungeschriebenen Brauch fügen. Eigentlich war der Überfall der drei Ruderer das Ausschlaggebende gewesen. Zum erstenmal waren Kyrace berechtigte Zweifel an Cnossos‘ ehrlichen Absichten gekommen. Agon-Dra wußte deutlich, daß dies nicht der erste Versuch bleiben würde. Er rechnete mit allem.

»Du wirst verstehen«, erklärte Kyrace, als Agon-Dra seine Arme unter ihre Knie und ihren Rücken schob und sie mühelos hochhob, »daß ich Cnossos etwas besser kennenlernen muß.«

»Natürlich!« Agon-Dra lief mit ihr langsam über den weißen, sauberen Sand und blieb stehen, als das Wasser seine Knie umspülte. »Ich hoffe, du lernst ihn nicht zu genau kennen.«

Sie biß ihm zärtlich in die Schulter. »Warte es ab!« Agon-Dra watete weiter hinaus und ließ Kyrace in

die Wellen fallen, warf sich zur Seite und schwamm

geradeaus. Sie schwammen, tauchten unter, kamen prustend wieder hoch und kamen langsam wieder hinaus auf den Strand. Als sich Agon-Dra das Wasser aus dem Haar strich und mit dem Unterarm über das Gesicht wischte, sah er aus den Augen einen Schatten. Er zuckte zusammen und blickte deutlicher in die Richtung.

Ein hagerer, dunkelhaariger Mann kam um den Felsen. Gerade watete er an Land. Er trug nur leichte Stiefel, einen Waffengurt und einen Lendenschurz. Die Haut und der Schädel des Mannes, der jetzt ins Sonnenlicht hinaus kam, sahen krank und gelb aus.

Ein Untoter! Dragon wirbelte herum, blickte an Kyrace, die

lachend aus dem Wasser kam und auf ihn zulief, vorbei. Auch auf der anderen Seite der runden Bucht kam ein Mann aus dem Wasser. Dieser Angreifer trug bereits das gezogene Schwert. Die Untoten kamen von beiden Seiten auf Agon-Dra zu. Ein eisiger Schrecken durchfuhr ihn. Er war völlig waffenlos. Aber er handelte schnell und überlegt; lange genug hatte er kämpfen müssen, oft auch in noch aussichtsloserer Lage.

Er schrie auf: »Kyrace! Schnell, zur Treppe!« Er sprang auf sie zu, ergriff ihr Handgelenk und riß

sie aus dem Wasser. Sie gehorchte wortlos und

erkannte noch nicht genau, was geschah. Aber sie vertraute seinen Reaktionen. Er rannte mit ihr über den Sand bis zum Fuß der Treppe aus Stein und schrie sie an:

»Hinauf! Hole Hilfe!« Dann wirbelte er herum, rannte auf den ersten der

beiden Uh-toth zu und blieb dicht vor ihm stehen. Mit seinen bloßen Fäusten konnte er nichts ausrichten. Aber er mußte diesen Mann besiegen, ehe der andere ganz nahe bei ihm war. Als der Angreifer, schweigend und mit nichtssagendem Gesichtsausdruck, sein Schwert hochriß und auf Agon-Dra eindrang, wich dieser aus. Er bückte sich, tauchte unter dem schwirrenden Schlag hindurch und grub seinen Fuß in den Sand. Als der Schwung den Arm des Untoten zur Seite riß, schleuderte Agon-Dra eine Handvoll Sand in die Höhe. Die lange Fontäne landete genau im Gesicht und in den Augen des lebenden Toten.

Agon-Dra warf sich vorwärts. Er wußte, daß es ihn das Leben kosten konnte, wenn er nicht richtig handelte. Seine Arme waren ausgestreckt, seine Hände krallten sich um die Finger und das Handgelenk des Angreifers. Agon-Dra rammte sein Knie gegen den Oberschenkel des Mannes. Dann schob er den Arm in die Höhe, drehte sich darunter in die Gegenrichtung und bückte sich. Der Untote stieß einen würgenden Schrei aus, als er sich hochgehoben, über die Schulter

gewirbelt und durch die Luft gestemmt fühlte. Sein Griff um das Schwert lockerte sich, als die Handknochen brachen.

Agon-Dra winkelte seine Hände ab, griff abermals zu und hielt das lange Schwert in der Hand. Vor seinen Füßen krümmte sich der Untote, der nur dann wirklich starb, wenn man ihn verbrannte, ihm den Schädel zertrümmerte oder abschlug.

»So einfach geht es nicht!« keuchte Agon-Dra auf. Er sprang zur Seite, das Schwert in der rechten

Hand, aber wie einen Dolch vorgestreckt. Mit einem wütenden Tritt des bloßen Fußes schleuderte er den zusammengebrochenen Untoten zur Seite und begegnete dem Angriff des zweiten Gegners. Der Kampf wurde noch immer schweigend und blitzschnell geführt und war dadurch noch unheimlicher geworden.

Klirrend prallten die Schwerter gegeneinander. Agon-Dra parierte den Schlag, trat mit aller Wucht

zu und sprang rückwärts. Dann holte er aus, der Schlag pfiff waagrecht durch die Luft, traf das heruntergerissene Schwert des lebenden Leichnams und schleuderte es zur Seite. Agon-Dra versuchte einen Kreuzschlag und sah, daß der andere Untote wieder auf die Beine kam. Einen Augenblick lang huschte ihm der verrückte Gedanke durch den Kopf, daß Kyrace schon längst mit ihrer besonderen Gabe hätte

eingreifen müssen – aber nichts geschah. Er kämpfte weiter. Der Untote sprang hin und her. Alle Hiebe, die ihn

trafen, schnitten durch Haut und Knochen, aber die schweren Verletzungen ließen ihn in seiner stummen, verbissenen Wut nicht innehalten. Schließlich, als er angriff und sich Agon-Dra nur noch durch einen Sprung in die Höhe in Sicherheit bringen konnte, fuhr das gegnerische Schwert an seiner Schulter vorbei, streifte ihn an der Hüfte und fuhr in den Boden.

Agon-Dra schlug zu. Die Schneide der Waffe traf den Uh-toth am Schlüsselbein, schnitt durch die Kehle und zerhackte die Wirbelsäule. Der Kopf fiel zur Seite, und der lebende Leichnam sank bewegungslos zu Böden. Agon-Dra schwang das Schwert in die andere Richtung und hatte mehr Glück, als er erwarten konnte. Sein Gegner stolperte direkt in den wilden Schlag hinein.

Das Schwert halbierte den Kopf von Ohr zu Ohr, dann riß Agon-Dra die Waffe heraus und lief langsam auf die Steintreppe zu. Dort lagen seine Kleidung und die umgestürzten Weinkrüge. Er atmete schwer und senkte die Waffe. Im zerwühlten Sand unter ihm lagen die beiden kopflosen Leichen derjenigen Instrumente seines Gegners, der ihn töten wollte.

»Cnossos!« flüsterte Agon-Dra und spuckte Sand aus. »Dafür werde ich noch erbarmungsloser

kämpfen!« Kyrace war geflohen, hinauf in den Palast. Aber es

war für ihn sicher, daß sie sich auf furchtbare Weise rächen würde.

Er warf das Schwert auf die Steine, nahm ein Tuch und ging abermals hinunter zum Wasser. Agon-Dra wusch sich, reinigte seine Arme mit Sand und Seewasser und trocknete sich sorgfältig ab. Er überlegte und kam zu überraschenden Schlüssen. Er rieb seinen Körper mit Öl ein und schlüpfte in die Kleider.

»So ist es. Mit Cnossos kamen die Gefahren!« sagte er sich. Er ließ alles liegen, befestigte nur den Tarnumhang wieder und hielt nach Erbolix Ausschau. Aber der Troll war nicht zu sehen.

Langsam stieg er die steile Treppe hinauf. Er war in Gedanken und wußte nicht genau, was er

tun sollte. Am besten wäre es wohl gewesen, wenn er jetzt, mit dem Tarnumhang und einer guten Waffe ausgerüstet, seinerseits Cnossos überfallen würde. Aber vermutlich wartete der Balamiter gerade darauf. »Also nicht.« Es war klüger, selbst die Entscheidung herbeizuführen. Der Balamiter war ein Gegner, der in diesem Fall nichts tun würde, was er nicht vorher genau bedacht hatte. Und es war undenkbar, daß diese beiden Uh-toth aus eigenem Antrieb gehandelt hatten. In Gedanken versunken, hörte Agon-Dra erst, als er etwa die Mitte der Insel erreicht hatte, das wütende

und hilflose Bellen und Jaulen von vielen Hundestimmen.

Hunde auf der Insel? Undenkbar! dachte er verwundert. Dann begann er zu begreifen.

Seine Schritte wurden schneller. Er bog dort, wo die Pfade sich gabelten, nicht in die Richtung auf das versteckte Tor des Palastes ab, sondern kam auf dem Vorplatz heraus, vor den Grotten und den Quartieren. Ein Paddler aus Cnossos‘ Gefolge raste auf ihn zu. Er lief auf Händen und Füßen, hatte sämtliche Kleidungsstücke abgeworfen und bellte und jaulte steinerweichend. Er griff Agon-Dra mit gefletschten Zähnen an. Agon-Dra sprang zur Seite und trat nach dem vermeintlichen Hund. Aufheulend nahm der Mann-Hund Reißaus und kollerte die Treppe abwärts.

Hunde! Also hatte sich Kyrace bereits gerächt. Die Menschen der Insel bebten unter dem packenden Würgegriff des Wahnsinns!

Agon-Dra drückte sich in eine Felsspalte, wischte das Gewebe einer Spinne vom Gesicht und versuchte, sich das Chaos vor ihm vorzustellen – aber mit den Augen der Betroffenen.

Kyrace hatte zugeschlagen wie ein zorniger Gott. Sie hatte den Menschen das Bewußtsein und daraus entstammend das Verhalten von Schweinen, Hunden und Ziegenböcken verliehen. Vermutlich deshalb, weil die Namen dieser Tiere auch als Flüche oder als

Schimpfworte gebraucht wurden. Hunde rasten zwischen den Felsen hin und her,

wühlten nach Abfällen und bissen einander. Sie kämpften miteinander mit Knurren und Hecheln. Ihre Zähne hatten sich zu Dolchen, die Fingernägel zu Krallen verwandelt. Jaulen und Kläffen waren die deutlichen Laute. Hin und wieder stolperte einer der menschlichen Hunde und krachte mit dem Schädel gegen eine Säule oder gegen die Felsen. Oder er fiel eine der zahlreichen Treppen hinunter.

Andere wieder waren Ziegenböcke. Sie meckerten gellend und hüpften in grotesken

Sprüngen zwischen den Hunden umher. Sie senkten die Köpfe, und ihre eingebildeten Hörner bildeten gefährliche Waffen. Ein Hund oder ein Schwein, von einem Ziegenbock gerammt, stieß eine Öllampe um, landete im heißen Öl, das sofort Feuer fing und rannte jaulend und kreischend auf und davon. Brennend und rauchend verschwand es in den Büschen und zwischen den gekrümmten Stämmen der Weinreben.

Die Schweine wühlten mit Vorderbeinen und Pfoten in den Winkeln, im Gras und Erdreich. Sie grunzten und schnüffelten. Alle diese eingebildeten Tiere, die sich selbst und die anderen Opfer mit den Augen dieser Tiere sahen, verhielten sich in sämtlichen Bewegungen vollkommen wie die betreffenden Tiere. Auch die Schweine handelten nicht anders. Sie

rammten einander mit den Schultern und drängten sich von den Futterstellen weg.

Hunde, Böcke und Schweine liefen, sprangen und hüpften durcheinander. Sie schrien in allen Tonarten. Krüge rollten zwischen ihnen umher. Die Tiere traten auf die Kleidungsstücke und auf die Waffen. Ein riesiger Aufruhr herrschte hier vor den Toren des Palasts. Sie benahmen sich alle wie die Irrsinnigen. Ein höllisches Fest war hier entfesselt worden. Sie alle drehten sich in wilden Kreisen auf diesem kleinen Hof, drängten zusammen, wieder auseinander, schrien vor Schmerz und vor Angst, und zwischen ihnen stand ein hünenhafter Eunuch, der eine lange Peitsche in der einen und ein Bündel brennender Fackeln in der anderen Hand hatte. Er schwang die Peitsche mit der Übung eines sadistischen Sklavenaufsehers. Die Peitsche traf die Tiere, die erschreckt schreiend auseinanderstoben, übereinander kugelten, sich die Gelenke aufschürften und gegen den Fels schrammten. Agon-Dra wandte sich erschüttert ab und öffnete die schmale Tür. Hinter ihm wurden das Knallen der Peitsche und die vielstimmigen Schreie der geschundenen Tiere leiser. Agon-Dra schauderte; er wußte jetzt doppelt deutlich, wie es war und was es bedeutete, wenn er selbst Kyrace zur Feindin hätte.

»In ein paar Tagen wird diese Gefahr auch für mich bedeutungsvoll werden«, stellte er fest. Er wandte sich

nicht um, als er weiterging und den alten, bekannten Pfad benutzte, der ihn tiefer in den Palast und näher zu Kyrace führte. Das Lärmen wurde leiser. Nur die scharfen Knalle der Peitsche zerhackten die Nacht wie ein Messer.

Agon-Dra fand Kyrace in jenem Raum, der wie ein kleiner Thronsaal aussah.

Sie schien aus einer Starre zu erwachen, als sie seine Schritte auf den polierten Steinen hörte.

»Was hast du vor, Kyrace? Willst du sie alle vernichten?«

Es kam keine Antwort außer dem Klirren ihres Schmucks. Kyrace bewegte sich, sie drehte sich halb herum und sah ihn mit einem verschleierten Blick an.

»Ich habe geschworen, sie zu strafen, wenn noch das geringste geschieht«, zischte Kyrace.

»Ich glaube, sie bringen sich gegenseitig um. Warum habe ich sie nicht als Hunde, Schweine, Böcke gesehen?« Kyrace schloß die Augen und schaute ihn im feierlichen Ernst an.

»Du siehst, was ich will, daß du siehst!« sagte sie. »Glaubst du, daß Cnossos uns beide ... angriff?«

»Es waren seine Leibgardisten. Es sind Leichen, die er am Leben erhält. Man tötet sie nur, wenn man sie verbrennt oder ihnen den Kopf abschlägt«, erklärte er. »Es ging nicht um dich. Dich will er besitzen, dich und die Insel. Es ging um mich. Denn ich stehe zwischen

ihm und seinem Ziel.« Kyrace sah finster und hochmütig aus. Es schien

Agon-Dra, als weide sie sich an dem Schrecken, den sie austeilte wie Hiebe mit einer Geißel.

»Jetzt verstehe ich. Du glaubst, diese beiden merkwürdigen Krieger sollten dich umbringen, ehe er mit dir kämpfen sollte?«

»Das glaube ich.« Der Lärm hielt noch immer an, undeutlich und weit

entfernt. Kyrace kam langsam auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen. Agon-Dra erkannte, daß es immer unheimlicher wurde, und daß er immer tiefer in die Verstrickung dieses Zaubers geriet. Er mußte sich daraus lösen. Möglichst schnell. Nur das Wissen, daß der Troll sich hier versteckte und ihm helfen würde, wenn er ein Problem nicht mehr allein bewältigte, half ihm entscheidend.

»Ich werde dem Treiben von Cnossos und seinen Leuten ein schnelles Ende bereiten. Du bist entschlossen, mit ihm zu kämpfen, damit er verliert und die Insel verläßt?«

Sie stand einen Augenblick still und regungslos da, wie eine Tänzerin zwischen den Feuern. Sie schien plötzlich aufzuwachen und aufzublühen. Sie starrte in die Flammen der Kerzen und lächelte wie in hinterhältigem Ergötzen. Langsam wich Agon-Dra zurück. Das war kein Spiel mehr, das war tödlicher

Ernst. Es war weder mit dem Schwert noch durch Flucht zu lösen. Eine drohende, aussichtslose Furcht hielt ihn fest.

»Ich bin entschlossen, zu kämpfen!« sagte er leise. Kyrace sah ihn an und lächelte wieder. Der Zauber

war gebrochen. Sie sah wunderbar hoheitsvoll aus mit ihren schmalen Schultern und dem langen Haar. Dann drehte sie langsam den Kopf und blickte hinaus auf das offene Meer. Schwach zeichnete sich das Glühen des feuerspeienden Inselberges am Horizont ab.

»Dann werdet ihr in drei Tagen kämpfen!« sagte sie entschlossen.

Sie nickte. Sie schien nachzudenken oder mit sich selbst zu sprechen. Überrascht nahm Agon-Dra wahr, daß der Lärm von draußen aufgehört hatte. Auch das Knallen der Peitsche war nicht mehr zu hören. Er atmete tief ein und aus. Die Beklemmung verließ ihn langsam. Aber ihn überraschten auch die nächsten Worte von Kyrace:

»Und ehe ihr kämpft, werden wir zusammen essen. Cnossos, du und ich. Dabei werde ich erfahren, ob er sich verwandeln kann oder nicht.«

Agon-Dra nickte. »Ich wußte, daß du nicht nur eine hinreißende

Geliebte und eine schöne Frau, sondern auch eine kluge Frau bist!« sagte er.

Sie kam auf ihn zu und schmiegte sich an ihn.

Keiner von ihnen sprach. Die Anziehungskraft ihres Körpers umgarnte ihn. Er ergriff sie bei den Schultern und küßte sie lange und hungrig.

6.

Kyrace fühlte nicht zum erstenmal in ihrem langen Leben, daß nicht alles so verlief, wie sie es sich ausgedacht hatte. Aber noch niemals war dieser Zweifel so stark und deutlich gewesen, und niemals so gefährlich. Beide Männer waren ungewöhnlich. Jeder auf seine Art.

Dieser Edle aus Lu‘ur ... Nicht nur ein gutaussehender Mann, sondern mit

Sicherheit der klügste, den sie jemals getroffen hatte. Er schien Dinge zu wissen, die viele Tausende von Jahren alt waren. Wenn er sprach, hörte sie erstaunt und verblüfft zu. Er kannte viele Länder, viele Inseln und viele Menschen und alle Bräuche dieser vielen Menschengruppen. Er kannte auch viele Geheimnisse dieser Welt, von denen sie nur gehört hatte. Im Gegensatz zu ihr war sein Leben eine Menge schneller

und weiter Reisen durch wilde Länder gewesen. Und er kannte die Sterne und wußte die Namen der Gestirne.

Außerdem war er ein Liebhaber wie nur wenige. Nicht nur leidenschaftlich und wild, sondern auch

zärtlich und verständnisvoll. Und dabei in einer Weise unabhängig, die sie verblüffte. Er wahrte immer einen gewissen Abstand.

Keine einzige Stunde mit ihm war langweilig gewesen, obwohl der Mond schon ins dritte Viertel ging.

Das hatte sie noch niemals erlebt. Sie hob den Kopf und ließ den Kamm aus Elfenbein sinken. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, einer polierten Platte aus Silber.

»N‘succa?« Die Dienerin kam hinter den Säulen hervor und

blieb so hinter ihrem Rücken stehen, daß sie im Spiegel sichtbar wurde.

»Herrin?« »Ist das Essen für heute abend bereitet?« N‘succa nickte. »Wir haben alles getan. Alles ist vorbereitet. Es wird

ein kleines Mahl werden, aber mit ausgesuchten Speisen. Diese neuen Dienerinnen sind sehr geschickt. Sie werden auch auftragen?«

»Ja, aber nicht zu viele. Wo ist Agon-Dra?«

N‘succa ließ niemals erkennen, was sie dachte. Sie hatte nicht einmal eine Spur von Bedauern oder Ärger gezeigt, als der Freund Agon-Dras von der Insel ging.

»Dein Geliebter, Herrin, schwimmt gerade um die Insel. Ich glaube, er will sich auf den Kampf vorbereiten. Er ist entschlossen, zu siegen. Auch habe ich ihn oft gesehen, wie er seine Waffen und die Teile seiner Rüstung durchsah und pflegte. Sein Schwert ist scharf wie ...« Sie suchte nach einem Vergleich.

»Ich erwarte ihn hier. Aber so wie ich ihn zu kennen glaube, wird er erst spät kommen. Cnossos?«

»Ich habe ihm gesagt, daß du ihn heute zu sehen wünschest.«

»Und ...?« Die beiden Frauen waren so etwas wie alte

Freundinnen und Vertraute. Jede kannte die andere. N‘succa war Kyrace mit einer Treue ergeben, die erstaunlich war, selbst für die Zauberin. Mit ihr konnte sie ohne Scheu über alles sprechen.

»Er läßt dir sagen, daß es kaum einen schöneren Abend in seinem Leben gegeben hat.«

»Das bezweifle ich, aber er wird kommen?« »Ja. Neun seiner Männer sind tot gefunden worden.

Sie haben ihre eigenen Träume nicht überlebt. Viele sind verwundet. Und alle zittern sie vor deiner Wut.«

»Ich hoffe es!« Kyrace lächelte im Spiegel das Mädchen an. Es war

Nachmittag, die Stunde, in der Agon-Dra und sie für gewöhnlich hinter den dünnen Schleiern ruhten und miteinander schäkerten. Aber der Kampf war wichtig: einfach deswegen, weil nach dem Verschwinden eines wütenden Cnossos die Insel wieder in den weinseligen Frieden zurückfiel und ihnen beiden allein blieb. Und sie würde es so weit bringen, daß Agon-Dra sie heiratete.

»Sie alle zittern also. Gut so. Was sagte Cnossos von seinen beiden Leibgardisten?«

»Er erwiderte mir, daß sie nicht nur ohne seinen Befehl, sondern ausdrücklich gegen seine strengsten Anordnungen gehandelt hätten. Wäre einer von ihnen noch am Leben, so würde er ihn totpeitschen lassen. Er hat, und das sah ich selbst, die anderen acht Gardisten prügeln lassen, damit sie seine Befehle nicht vergessen.«

Kyrace zuckte die Schultern. Das Gefolge des Cnossos war ihr in einem Maß unheimlich, daß sie sich gefürchtet haben würde, wenn ihr nicht bestimmte Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Sie sagte in beschwörendem Ton:

»Geh in meinen kleinen Saal. Dort steht ein kleiner, roter Krug mit einem schwarzen Punkt darauf.«

»Ich weiß«, war die Antwort. Eine Wand dieses Raumes bestand aus sorgfältig

verputztem Mauerwerk. In dieser Mauer waren runde

und eckige Nischen eingelassen. Dort lag ein Teil der wertvollen Geschmeide der Zauberin. Dort standen aber auch Krüge und Becher, voll von rätselhaften Dingen, deren Herstellung und Gebrauch Kyrace von ihrer Mutter und der Großmutter gelernt hatte.

»Zehn, nein, fünfzehn Tropfen von dem Saft, der in diesem Krug ist, in den Wein, der für Cnossos bestimmt ist!« sagte Kyrace beschwörend. »Vergiß es nicht! Es ist wichtig!«

N‘succa verbeugte sich und hob die Hand. »Ich vergesse es nicht. In den Wein, den ihm eine

seiner Sklavinnen einschenken wird!« »Genauso ist es richtig. Du persönlich achtest

darauf!« »Es wird kein Versehen geben!« Kyrace nickte; die

Dienerin war entlassen. Für das Essen, das hier im Palast stattfinden würde, mußte sie sich nicht nur schön machen und ihre kostbarsten Gewänder anlegen, sondern sie mußte auch ausgeruht sein und sich auf Cnossos, den Herrn des Südens, konzentrieren. Bisher hatte er nicht viel getan, um wirklich mit Agon-Dra konkurrieren zu können, seinem alten Feind und mehrmaligem Gegner. Vielleicht gab es etwas, das ihn dennoch auszeichnete? Wer wußte es?

Sie beschäftigte sich wieder mit ihrem Haar. Schnitt hier eine Locke ab, badete dort eine Strähne in einem duftenden Pflanzensaft, trocknete sie und kämmte sie

aus. Hinter sich hörte sie leichte Schritte und blickte zuerst genauer in den Spiegel, sah dort aber nichts. Sie drehte den Oberkörper auf dem Hocker herum und bemerkte ihren Geliebten.

Er kam herein, das große, weiße Tuch über der Schulter, mit dem er sich abgetrocknet hatte. Sein vollkommener Körper war gebräunt und schimmerte unter dem Einfluß des Öls. Er ging quer durch den Raum, hob kurz und in einem vertrauten Gruß die Hand und warf das Tuch über die Brüstung, wo der Wind mit den Enden zu spielen begann.

»Das Wasser«, sagte er. »Es ist fast zu warm. Es bringt keine Kühlung nach meinen Übungen.«

Kyrace erschrak heftig, fing sich schnell wieder und lehnte sich überrascht gegen die Kante des Tisches. Der Blick, den sie Agon-Dra zuwarf, war für ihn offensichtlich unmißverständlich. Er bemerkte ihr Lächeln, erkannte aber nicht den offenen Hohn darin.

»Du übst für den Kampf!« Es klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage.

Agon-Dra nickte und kam auf sie zu. Er setzte sich neben sie auf die Brüstung der Terrasse. Alles an ihm war perfekt, bis hinunter zur geringsten Einzelheit der Kleidung. Nur eines störte sie – sein Gesicht.

»Natürlich übe ich. Cnossos wird kein leichter Gegner sein. Und wenn ich mit ihm fertig bin, möchte ich nicht, daß du mich einen Sommer lang

gesundpflegen mußt.« Sie warf ihm ein schmelzendes, fast schmachtendes

Lächeln zu. »Das möchte ich auch nicht, Geliebter!« flüsterte sie

und winkte. Er stand auf. Sie legte den Kamm weg und ging hüftenschwenkend vor ihm her in die Richtung der weißen Vorhänge. Er folgte ihr und streckte seine Arme aus.

»Immer, wenn ich dich sehe, begehre ich dich erneut!« sagte er. Diesen Tonfall kannte sie nicht. Aber es war seine Stimme.

Zwischen den Säulen blieb sie stehen. Seine Hände ergriffen begehrlich ihre schlanken Oberarme.

»Nicht immer bekommt man, was man will!« sagte sie und lachte ihm ins Gesicht. Er blickte sie überrascht an.

»Aber ... wir waren doch immer glücklich miteinander?« flüsterte er und näherte seine Lippen ihrem Gesicht.

»Wir nicht!« sagte sie hart. Erstaunen kam in sein Gesicht.

»Ich kann dich nicht verstehen, Kyrace!« keuchte er erschrocken auf.

»Du kannst es«, erwiderte sie hart. »Du verstehst mich ganz genau, denn ich habe das Gesicht von Agon-Dra verändert. Niemand darf ihn so sehen, wie ich ihn sehen will. Ich allein. Nur ich allein, niemand sonst auf

der ganzen Insel. Und wenn ein Mann kommt, der äußerlich Agon-Dra gleicht, aber nicht sein Gesicht hat, sondern das Gesicht, das alle anderen kennen, aber nicht ich, dann weiß ich, daß dies nur ein neuer, dummer Versuch des Cnossos ist.«

Er taumelte zurück. Schrecken und Haß verzerrten sein Gesicht – jenes Gesicht, das sie in der Illusion aller Inselbewohner geschaffen hatte. Dann stammelte er hilflos:

»Aber ich ... glaube mir, geliebte Kyrace ... ich habe dies nur aus Liebe getan, aus Begehren. Ich bin vom anderen Ende der Welt hierher gerudert, um dich zu meiner Königin zu machen!«

Sie deutete auf den Ausgang. Ihr Finger zitterte nicht, aber ihre Stimme troff vor Wut, als sie hervorstieß:

»Deine Liebe ist auf Betrug aufgebaut, Cnossos. Also wird auch dein Königreich das Reich eines Schwindlers, Lügners und Betrügers sein. Ich will nicht die Gattin eines Königs der Lügner sein!«

Er ging langsam rückwärts. Das falsche Gesicht von Agon-Dra zeigte ein Erstaunen, das schon fast Entsetzen war. Cnossos murmelte:

»Ich bin kein Lügner. Ich habe versucht, dir zu zeigen, wie sehr ich dich liebe. Alles in mir verlangt nach deiner Umarmung! Glaube mir!«

Sie erwiderte in größter Kälte:

»Daß es dich nach meiner Umarmung gelüstet, Cnossos, das glaube ich dir sogar. Vielmehr, daß es dich gelüstet, mich zu umarmen. Aber kein Mann, dem ich bisher meine Liebe geschenkt habe, kein Mann, sage ich, hat dies durch eine Lüge erreicht! Geh jetzt, schnell, ehe ich mich vergesse und zu handeln beginne wie jüngst in der Nacht. Laß es dir eine Lehre sein!«

Er senkte den Kopf und ging schnell auf den Ausgang zu. Als er dicht davor stand und die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, rief sie ihm nach:

»Du bist trotzdem heute nacht zu unserem Essen eingeladen!«

Er antwortete nichts mehr. Hinter ihm schloß sich die Tür. Weder er noch Kyrace sahen den kleinen Kobold, der hämisch grinste und sich dann auf einem langen Sonnenstrahl schräg abwärts schwang, vorbei an Schafen und Ziegen, hinunter zum Strand, wo Dragon seinen Körper auf den entscheidenden Kampf vorbereitete.

Eine Stunde brauchte Kyrace, um ihre Wut zu verlieren. Sie hatte zwischen den wildesten Rachegelüsten geschwankt und zwischen dem Wunsch, Cnossos sofort der Insel zu verweisen. Die Möglichkeiten, dies durchzudrücken, hatte sie – und es würde sie nicht einmal eine leichte Erschöpfung kosten, diese mehr als zweihundert Krieger von der

Insel zu treiben wie einen Schwarm Tauben. Sie begriff, daß Cnossos den ehrlichen Kampf, den

Agon-Dra kämpfen wollte, mit ihren eigenen Mitteln gewinnen mußte. Durch Zauberei.

Was konnte sie tun? In den Kampf der Männer konnte sie schlecht

eingreifen, ohne daß dies bekannt würde. Dann hieß es landauf, landab, Kyraces Geliebter habe nur gewonnen, weil ihm ein Weib geholfen hatte. Aber sie würde handeln. Also doch! dachte sie. Also hatte Agon-Dra mit seinen Vermutungen doch recht gehabt. Cnossos konnte seine Gestalt wandeln.

»Nicht mehr lange!« fauchte sie. Sie war wütend, weil man versucht hatte, sie zu betrügen. Aber sie beherrschte sich. Auch Agon-Dra würde sie nichts sagen, vielleicht später, damit sein Kampfgeist richtig erwachte.

»N‘succa!« schrie sie zornig. Die Sklavin kam herbeigerannt, mit fliegenden

Haaren. Schon am Tonfall der Stimme hatte sie erkannt, daß ihre Herrin zürnte oder aufgeregt war. Kyrace berichtete ihr, was geschehen war. Dann hob die Zauberin den Finger und deutete in ihren kleinen Saal hinein.

»Dreißig Tropfen in den Wein für Cnossos! Und verzähle dich nicht! Es wird immer wichtiger.«

»Ich verspreche es. Bei meinem Leben!«

»Gut. Bitte, verlasse mich jetzt. Ich muß mit meinen Gedanken allein sein.«

»Nicht mehr lange. Agon-Dra kommt die Treppen herauf.«

Kyrace winkte, und die Dienerin ging wieder zurück auf die kleinere Terrasse, auf der alles für das große Essen in der Nacht vorbereitet war. In der Mitte des Steinbodens standen die Sessel, der Tisch, darüber ein Baldachin. Feuerschalen und Räucherwerk lagen bereit, die Lichter, die Öllampen, die Kerzen, der Wein und die Musikantinnen und Musikanten waren bereits dort. Auch die Tänzerinnen; es hatte sich herausgestellt, daß die Mädchen aus Cnossos‘ seltsamer Heimat insgesamt alle gute Tänzerinnen waren.

Aber noch war es nicht Nacht.

Den ersten Uh-toth, der ihm mit einem gefüllten Pokal entgegentrat, fegte Cnossos mit einem Faustschlag durch die Hälfte der Höhle. Er hatte auf der Treppe, in einem Winkel zwischen den Felsen, seine Gestalt wieder verändert; die Kleidung dieses hergelaufenen Edlen ohne Gefolge war Teil seiner Körpermasse gewesen. Nun war er wieder der schwarze Prinz dieses wilden Großstammes.

»Verdammt!« sagte er. »Und das passiert mir! Ausgerechnet mir! Ich hätte wahrlich klüger sein müssen.« Sein Haß richtete sich gegen nichts und alles.

Aber am meisten verfluchte er sich, weil er sich zu dieser Unbesonnenheit hatte hinreißen lassen. Aber nun bereute er es. So oft hatte er in den vergangenen Jahren gewartet, geduldig, als besäße er die Macht über Jahre und Ewigkeiten. Immer war seine schwarze Saat aufgegangen. Er würde auch noch die zwei Tage warten, bis der Kampf stattfand. Kein lebender Mann war in der Lage, ihn zu besiegen, weil er immer wieder dann, wenn es schwierig wurde, seine Gestalt veränderte und in einer Serie von überraschenden Aktionen entkam und wieder angriff. In neuer Gestalt, mit neuen Waffen.

»Ich Narr! Ich blutiger Narr!« schrie er und trat den Untoten, der den Becher aufheben wollte. Der Gardist schoß zum Eingang der Grotte hinaus und riß zwei Ruderer mit sich, die ihn sofort mit den Speerschäften zu prügeln begannen.

»Wartet! Wartet, ihr alle! Ich werde es euch zeigen!« Noch zwei Tage warten. Genauer waren es zwei

Nächte und ein Tag. Dann kam der Kampf. Wäre er gezwungen, nur in der Gestalt dieses schwarzen Fürsten zu kämpfen, dann könnte der unbedeutende Edle vielleicht gewinnen. Aber dadurch, daß er zu seinen bewährten Hilfsmitteln griff, würde es Agon-Dra sein, der diesen entscheidenden Kampf verlor. Nicht nur den Kampf, sondern auch das Leben.

Cnossos ballte die Fäuste und warf sich in einen

Sessel. Dort drüben, an einer ausgestopften Puppe, hingen seine bewährten Waffen, die zusammen mit der Zauberei zu tödlichen Waffen werden würden.

Dann ... die Zähmung dieses Weibes dort oben in ihrem steinernen Palast. Er würde sie bezwingen wie Ungezählte vor ihr. Er konnte wilde Pferde einbrechen, so daß sie nur ihm gehorchten und eher mit ihm im Sattel starben als seinen Befehlen nicht zu gehorchen. Er würde Kyrace so fügsam und klein machen wie ein solches Tier.

Und dann würden seine Krieger diese Insel bevölkern und zu einem neuen Reich des Cnossos machen. Von hier aus erreichte er in schnellen, kleinen Schiffen alle Küsten. Und von hier aus konnte er, geschützt und sicher, auch seine letzten entscheidenden Kräfte mobilisieren, um diesen Feind aus der Vergangenheit zu schlagen, der auf so merkwürdige Weise verschwunden war.

Er, Cnossos, hatte die Herrschaft über einen großen Teil der Welt aufgebaut, in zwei Jahrtausenden.

Er würde sie nicht abgeben. »Dieses verdammte Essen werde ich auch noch

überstehen«, schwor er sich erbittert. Er bezwang sich. Der Gegner würde nahe bei ihm sitzen, und jede seiner Bewegungen konnte studiert werden. Nur der Kampf und der Sieg waren wichtig.

»Ich werde ihn gewinnen!« versprach er sich.

Er legte sich in den Sessel, schloß die Augen und durchdachte noch einmal alle Punkte seines Vorhabens sorgfältig. Dann erhob sich Cnossos, um sich für das Fest zu schmücken. Vielleicht konnte er die Zauberin etwas milder stimmen. Wenn er aber daran dachte, welche Möglichkeiten er zusammen mit Kyrace haben würde – denn seine Schläue und ihre Kraft, ein ganzes Land mit ihrer Illusion zu überziehen, waren eine Waffe, mit der man ohne sonderliche Anstrengungen ganze Völker unterjochen konnte –, überkam ihn wieder seine Wut auf sein eigenes Versagen. Er bedauerte, daß er sich nicht noch eine Sklavin zurückbehalten hatte. Jetzt würde er sie brauchen können.

Fluchend begann er, sich umzuziehen. Niemand durfte ihm helfen. Aber als er bei Einbruch

der Dunkelheit wieder aus der Grotte trat, hatte er sich gefaßt. Er trug heute keinen Mantel; dieser Teil der Körpermenge würde gebraucht werden, um, verwandelt, während des Essens die Insel auszuspionieren.

Von hoch oben ertönte eine zarte, schmeichelnde Musik, riß wieder ab, kam wieder. Die Musikanten probten einige Stücke oder bestimmte Melodienfolgen ein. Ein Höhepunkt sollte der Tanz der schwarzen Sklavinnen werden. Vielleicht gab es Gelegenheit, dem verfluchten Nebenbuhler ein paar Tropfen Gift in den

Wein zu schütten. Langsam begann Cnossos, die wenigen Stufen

hinaufzusteigen, die an das große Tor des Palastes führten. Dort blieb er stehen und schlug mit dem Metall des Siegelrings mehrmals gegen die bronzenen Tafeln.

Die Sklavin N‘succa öffnete ihm. »Komm mit mir, Herr des Südens«, sagte sie, ohne

Betonung. Machte sie sich über ihn lustig? Das erste würde nach Antritt seiner Herrschaft sein, daß er sie auf einen seiner Sklavenmärkte schickte.

7.

Das Leben auf der Insel der Kyrace schien eine lange Kette von sonnigen Tagen und warmen, winderfüllten Nächten zu sein. Auch die heutige Nacht machte keine Ausnahme. Wieder standen unzählige Sterne am Himmel, wieder tauchte der Mond aus dem Wasser, waren die Grillen und Zikaden zu hören. Nur ein fernes Wetterleuchten über dem Land und das Glühen des feuerspeienden Berges waren ungewöhnliche

Erscheinungen. Kyrace hatte alle ihre Möglichkeiten genutzt, diesen

Abend zu einem unvergeßlichen Ereignis werden zu lassen.

Ein runder Tisch aus Stein, mit kostbaren Tüchern bedeckt, stand am Rand der Terrasse. Kerzen in silbernen und goldenen Leuchtern brannten. Die Schalen und Becher waren aus erlesenem Ton gefertigt. Am anderen Ende der Fläche hatte sich halbkreisförmig das kleine Orchester aufgebaut. Vor den Eunuchen und den Mädchen, die ihre Instrumente mit virtuoser Handfertigkeit bedienten, saßen hellhäutige und dunkelhäutige Tänzerinnen.

Der Tisch und die drei Sessel standen auf einem großen, dicken Teppich. Nur Agon-Dra war bereits erschienen; er war schlicht und einfach gekleidet, trug aber zu seinem Gürtel einen Dolch. Er lehnte an der Brüstung und blickte hinüber zu der Insel, die ein einziger, flacher Feuerberg war, von unzähligen Eruptionen aufgeworfen.

Agon-Dra hielt einen Pokal in der Hand, in dem ein leichter Wein schwappte. Hin und wieder trank er mit kleinen Zügen. Die Erregung hatte ihn gepackt. Wenn jetzt Yina seine Gedanken belauschte, würde sie feststellen, daß er aufgeregt und unsicher war. Aber diese Erregung würde sich in dem Augenblick legen, in dem Cnossos die Terrasse betrat.

»Und noch immer trage ich jenes Tarngesicht, das nicht einmal ich kenne«, murmelte er.

Die Musik erfüllte die Nacht. Kleine Handtrommeln und größere, die einen

dumpferen, lauteren Ton abgaben, Flöten mit mehreren Röhren, Zupfinstrumente und kleine Glöckchen, Teller und winzige Gongs spielten zusammen eine weiche, schmeichelnde Melodie, die der Landschaft und der späten Stunde zusätzlichen Frieden und Reiz verlieh. Ungeduldig wartete Agon-Dra.

N‘succa kam vorbei, warf einen prüfenden Blick auf den Tisch, legte einige zierliche Messer und Löffel ab und verschwand wieder. Agon-Dra wartete weiter. Er konnte nichts tun. Er fühlte, wie schwer es war, zu warten und nichts unternehmen zu können. Er wartete hier – allein. Drüben, in der Bucht des Inselchens, warteten zwei Schiffe voller Freunde, deren Haß auf Cnossos nicht kleiner war als sein eigener.

Agon-Dra sah nach dem Stand der Sterne; es war die Stunde, in der sie auf den Schiffen gerade das Essen bereiteten und sich in Kreisen zusammensetzten. Möglicherweise dachte Yina gerade an ihn.

»Ich kann es immerhin versuchen«, murmelte er im Selbstgespräch und trank einen tiefen Schluck.

Yina, dachte er angestrengt, vielleicht kannst du meine Gedanken hören. Wenn du mich hörst, dann sage es den anderen.

In zwei Tagen findet der Kampf statt. Cnossos ist hier und hat mehrmals versucht, den

Ablauf der Dinge zu stören. Ich bin von Kyrace freigekommen und in bester Verfassung. Ich freue mich schon auf den Kampf, denn ich werde siegen.

Allerdings wird der Kampf, wenn ich es vermeiden kann, nicht in der Arena dereinst stattfinden, sondern an einem Ort, den ich bestimme – ihr alle kennt den Grund. Er liegt in der Person des Cnossos.

Sage Hegon, daß ich den Himmelswagen gefunden und ihn geprüft habe. Er bewegt sich auf wunderbare Weise, wie ein Wagen ohne Pferde. Nach dem Kampf werde ich mit ihm von Kyraces Insel kommen. Übermorgen also, vor Einbruch der Nacht, sollt ihr mich erwarten.

Noch etwas: Ich werde jeden Tag, wenn die Sonne ins Meer versinkt, an dich denken und eine Botschaft senden. Wenn ich nicht überleben sollte, werdet ihr dies auch merken. Was dann zu tun ist, weiß Kapitän Jaggar ganz genau. Aber ich bin gutes Mutes, auch mein Körper ist gestählt und fiebert dem Kampf entgegen. Heute abend findet ein Essen statt; Cnossos, Kyrace und ich.

Außerdem, kleine Yina, kannst du ja den ganzen Tag über in meinen Gedanken forschen. Du weißt, daß ihr um mich keine Angst zu haben braucht. In zwei Tagen ist alles vorbei!

Er beendete seine konzentrierten Gedanken. »Vermutlich war das alles überflüssig, weil Yina

mich ohnehin tagsüber belauert und alles weiß, was ich denke«, meinte er und drehte sich herum, als er Schritte hörte.

Kyrace kam aus ihren Gemächern heraus auf die Terrasse.

»Noch niemals hast du schöner ausgesehen!« sagte er staunend. Ihre Gewänder waren nicht anders als königlich zu nennen. Breite Schmuckbänder verzierten die Handgelenke und den Hals. An den Fingern trug die Zauberin Ringe von auserlesener Kostbarkeit. Der Glanz der Flammen brach sich in den Edelsteinen, ließ sie auffunkeln wie winzige Sterne und glühen wie exotische Leuchtkäfer.

»Ich sehe für dich schön aus, nicht für Cnossos«, sagte Kyrace weich.

»Du hast Cnossos holen lassen?« »Ja. N‘succa ist eben zu ihm gegangen. Bisher ist

nichts mehr passiert. Seine Leute verhalten sich ruhig. Wie fühlst du dich?«

Je mehr sie die drohende Gefahr erkannte, desto mehr hatte sie sich bemüht, Agon-Dra aus ihrer anspruchsvollen Liebe zu entlassen. Sie war keineswegs darüber erstaunt, daß Agon-Dra der Stärkung seines Körpers in den letzten Tagen weitaus

mehr Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet hatte als ihr. Der Kampf und der Sieg waren wichtiger. Sie war jetzt sicher: Cnossos interessierte sie nicht mehr. Höchstens seine Macht und sein Einfluß waren Dinge, die für ihn sprachen. Vielleicht noch sein Aussehen, aber sein Charakter schien ebenso düster und drohend zu sein wie sein Gefolge.

»Ich fühle mich gut«, sagte Agon-Dra nachdenklich. »Wirklich gut. Ausgeschlafen, kräftig, satt und etwas gespannt. Was versprichst du dir von diesem Mahl zu dritt?«

Kyrace hob die Schultern. Der Schmuck klirrte leise. »Ich möchte Cnossos kennenlernen, ohne daß er mit

seiner Macht hinter sich spricht und auftritt. Auch du kannst ihn studieren, jede Bewegung, jede Geste von ihm.«

»Das ist nicht dumm«, meinte Agon-Dra. »Immerhin scheinst du dich für mich entschieden zu haben.«

»Der Kampf wird dennoch stattfinden. Denn es ist Brauch, daß die Rivalen miteinander kämpfen, bis zur Aufgabe des einen. Aber ich bin sicher, daß du den Kampf gewinnst.«

Agon-Dra nickte. Sie sprach seine Gedanken aus. Aber dann erwiderte er halblaut:

»Nur wird der Kampf nicht in der Arena stattfinden, in der ich Arric den Roten besiegt habe.«

Kyrace blickte hoch. Sie warf Agon-Dra einen

erstaunten Blick zu. »Nicht in der Arena?« Der schwere Vorhang glitt zur Seite. N‘succa hielt

das Gewebe fest und machte eine einladende Handbewegung. Cnossos kam in den Bereich der lichterfüllten Terrasse. Er sah, das fand sogar Agon-Dra, beeindruckend aus. Seine goldbestickte weiße Kleidung bildete einen auffallenden Gegensatz zu seiner dunkelbraunen Haut. Um die Stirn und die Oberarme trug er breite Reifen aus Silber. Auch er hatte nur einen gekrümmten Dolch als Waffe in seinem Gürtel. Er kam auf Kyrace zu, sank vor ihr auf ein Knie und sagte:

»Deine Schönheit macht mich sprachlos.« Sie nickte und erwiderte ruhig: »Es sollte nicht

während des gesamten Mahls anhalten. Schließlich will ich an diesem Abend dich kennenlernen, Herr des Südens.«

Sie zeigte mit keiner Regung ihres ebenmäßigen Gesichts, was sie dachte.

»Nirgendwo lernt man sich besser kennen als bei Musik und Tanz, Wein und gutem Essen.«

»Und bei einem guten Gespräch«, vollendete Agon-Dra. Sein Gegner stand auf, starrte ihn an und hob dann zögernd die Hand.

»Reicht euch die Hände«, sagte Kyrace streng. »Ihr seid keine Gegner. Erst dann, wenn ihr kämpft, seid ihr

Gegner. Jetzt und heute seid ihr Gäste von mir.« Agon-Dra, der seinem Erbfeind noch niemals so

nahe gewesen war, streckte seine Hand aus. Auch Cnossos wandte sich zu ihm und starrte ihn finster an. Ihre Hände berührten sich. Agon-Dra überwand seine Wut und drückte die Hand des Gegners hart und kurz. Auch der Zugriff von Cnossos war der eines geübten Kriegers. Dann knurrte Cnossos:

»Dies also ist der Edle aus Lu‘ur, der dein Herz gewonnen hat?«

»So ist es«, erwiderte Kyrace. »Aber ich werde den Brauch nicht brechen. Übermorgen kämpft ihr um mich. Der Sieger wird an meiner Seite Herr der Insel.«

Cnossos lachte dröhnend auf. »Also ich!« sagte er. Agon-Dra entblößte seine

Zähne und ging langsam auf den Tisch zu. Er beherrschte sich meisterhaft; noch niemals hatte er so mit sich ringen müssen. Langsam atmete er durch. Außerdem traute er diesem Frieden nicht. Wie durch einen dichten Vorhang hörte er die Stimme der schönen Zauberin.

»Setzt euch, meine Freunde. Wir werden ein langes, schönes Mahl abhalten. Deine Geschenke, Cnossos, sind meisterhafte Tänzerinnen. Ich bin beeindruckt!«

»Ich habe sie lange ausgesucht, und sie stammen aus allen Teilen meines großen und mächtigen Königtums!« bestätigte er und blieb hinter dem Sessel

stehen. Die Musiker wurden lauter, als Kyrace winkte. Auch änderten sich die Melodien. Aus den schmeichelnden Tönen und Takten wurden aufreizendere und schnellere. Kyrace deutete auf die Sessel und sagte:

»Wir setzen uns.« Einige Mädchen kamen, dunkelhäutige und

hellhäutige. Sie trugen die Weine und die Speisen auf. Kyrace sah ohne Aufregung zu, wie N‘succa schon den ersten Becher von Cnossos mit dem präparierten Wein füllte.

»Ich trinke auf einen langen, schönen Abend!« Cnossos hob den Pokal und sah über dessen Rand in die Augen Kyraces. Wieder begann eine Art Zweikampf. Agon-Dra schwieg und hielt sich zurück. Immer wieder blickte er Cnossos an und sah seine Gesten, hörte seine Worte. Jetzt hob auch er den Weinpokal und trank. Die Mädchen brachten auf weißgescheuerten Holztellern die ersten Bissen; kleine Kostbarkeiten, scharfgewürzt, aus der Küche Kyraces. Nur ganz langsam entspannten sich die drei, die um den Tisch saßen. Kyrace hatte Agon-Dra erzählt, daß Cnossos in seiner Maske versucht hatte, sie zu überlisten. Aber keiner von ihnen sprach darüber.

Je mehr sie aßen und tranken, desto mehr entkrampfte sich die Stimmung. Agon-Dra mußte einsehen, daß der Gestaltwandel von Cnossos dieses

Mal mit großer Klugheit durchgeführt worden war. Der angebliche Herr des Südens präsentierte sich nicht als finsterer Schurke und dämonischer Herrscher der Unterwelt, sondern als Mann von rund dreißig Sommern, klug und erfahren, witzig und liebenswürdig. Er erzählte mit seiner leicht rauchigen, dunklen Stimme unzählige Geschichten, machte Witze und brachte sogar den Atlanter mehrmals zum Lachen.

Schließlich klatschte die Zauberin in die Hände. »Der Höhepunkt – der Tanz«, sagte sie. »N‘succa,

gieße neuen Wein in die alten Pokale meiner Ahnen!« Die Sklavin verneigte sich tief, den Krug in beiden

Händen. »Sofort, Herrin!« Der aromatische, dunkle Wein lief in dünnen

Strahlen in die Pokale. Der Krug, in den N‘succa die wunderbaren Tropfen hineingeträufelt hatte, war leer. Kyrace bemerkte dies mit Genugtuung. Dann stand sie auf, winkte den Musikanten und den wartenden Tänzerinnen und rief: »Fangt an, Mädchen!« Die Musik klang wieder auf. Sie übertönte mühelos die Geräusche in der fortgeschrittenen Nacht. Die Tänzerinnen erhoben sich, formierten sich zu einer Reihe und begannen mit ihren ersten, noch zögernden Bewegungen. Es waren zwölf dunkelhäutige Mädchen, alle von großer Schönheit. Die Musik, lauter geworden, änderte abermals ihr Tempo. Mehr Trommeln, mehr harte Schläge, mehr Rhythmus. Jetzt lösten sich die

Tanzreihen auf, bildeten Kreise, die Mädchen begannen, schnell umeinander herumzuwirbeln, warfen die Beine hoch und formierten sich zu immer neuen, überraschenden Figuren.

Dann unterbrach eine Flöte das dumpfe Pochen der Trommeln. Eine Tänzerin riß sich den kurzen Rock von den Hüften und stand nur noch mit winzigen Fetzen aus Zeug bekleidet da. Dann warf sie den Kopf in den Nacken, riß die Arme zum Himmel und begann einen schnellen, beschwörenden Tanz. Mit jedem weiteren Schritt der komplizierten Figuren geriet sie mehr und tiefer in Versunkenheit. Nicht mehr sie tanzte, sondern es tanzte, etwas tanzte und bewegte sich. Nach wenigen Augenblicken war ihr schlanker Körper schweißübergossen.

Eine zweite Tänzerin folgte. Schweigend und begeistert, sowohl von der harten,

krachenden Musik mitgerissen als auch von den rhythmischen Bewegungen der Tänzerinnen, verfolgten Kyrace, Agon-Dra und Cnossos den Tanz. Immer mehr Einzeltänzerinnen lösten sich aus dem Halbkreis, sprangen schnell in den kleinen Kreis der tanzenden Mädchen und tanzten mit.

Erstaunliche Schritte und Figuren wurden deutlich, faszinierend schnell und unter unglaublichen Verrenkungen der zierlichen Körper sichtbar. Jetzt befanden sich sämtliche Mädchen in Versunkenheit

und tanzten mit geschlossenen Augen. Der Schweiß glänzte auf ihren dunklen Körpern, und manche ihrer Bewegungen waren so schnell, daß die Augen sie nicht wahrnahmen. Agon-Dra lehnte sich zurück und betrachtete, zwischen Cnossos und Kyrace hindurch die Tanzenden ansehend, auch die Gesichter der beiden.

Kyrace sah gelöst und zufrieden aus. Sie wirkte wie eine Frau, die eben einen Sieg errungen oder einen Kampf erfolgreich beendet hatte. Sie lehnte entspannt in ihrem Sessel, umrahmt von den teuren Stoffen, den schwellenden Kissen und den kostbaren Fellen.

Sie widmete sich uneingeschränkt dem hinreißenden Tanz, der fünf Mannslängen von ihr entfernt langsam zu Ende ging.

Agon-Dra musterte Cnossos, eindringlich und mit der Gründlichkeit, mit dem er auch auf einem Schlachtfeld seine Bewegungen studiert haben würde. Auch der Balamiter war entspannt und hielt den Pokal in beiden Händen.

Er war groß, stark und männlich. Seine Schultern schienen gewaltig zu sein, und unter der glatten dunklen Haut bewegten sich die dicken Muskeln. Wie weit waren sie nur Maske? Oder war derjenige Cnossos, den er kannte, eine Maske gewesen? Waren dies tatsächlich die guten, ausdauernden Muskeln eines Kämpfers, oder war es nur Gewebe, das etwas

vortäuschte, das es in Wirklichkeit nicht gab? Agon-Dra schwieg und wartete das Ende des Tanzes ab.

Die Musik steigerte sich zu einem letzten, wilden Furioso, dann riß sie plötzlich ab.

Die zwölf Tänzerinnen erstarrten. Sie waren völlig erschöpft und erwachten langsam aus ihrer Versunkenheit.

Cnossos wandte sich an Kyrace und legte seine Hand auf ihre Finger.

»Habe ich zuviel versprochen? Der Tanz war einmalig. Als meine Königin wirst du jeden Abend, wann immer du willst, einen solchen Tanz haben können. Und noch wildere und bessere Tänze. Und auch noch ganz andere Dinge, von denen ich dir nach meinem Sieg berichten werde.«

Agon-Dra lächelte gequält. Er erwiderte: »Nach diesem Kampf, Cnossos, wirst du nicht mehr

viel sagen können. Mit gespaltenem Schädel läßt sich schlecht sprechen.«

»Ich habe euch befohlen, kein Wort mehr über den Kampf zu sprechen!« rief Kyrace. »N‘succa! Hierher!«

Die Sklavin schien immer in Rufweite zu sein. Sie kam sofort an den Tisch. Die Zauberin sagte leise:

»Lasse die Mädchen wegbringen. Die Musikanten sollen noch etwas weiterspielen! Die Mädchen können tun, was sie mögen, sich erholen.«

»Selbstverständlich, Herrin.« N‘succa führte die

zwölf Tänzerinnen von der Terrasse. Eine andere Dienerin brachte, neuen, kalten Wein. »Und nun«, sagte Kyrace, stand auf und ging auf die Musikergruppe zu, »werden wir das Fest beenden.«

»Aber es hat doch eben erst seinen Höhepunkt erreicht!« protestierte Cnossos und schoß glühende Blicke in ihre Richtung.

»Ihr braucht morgen Ruhe und Erholung. Nur noch zwei Nächte bleiben euch zum Ausschlafen«, erwiderte die Zauberin unbewegten Gesichts.

»Richtig so!« sagte Agon-Dra und faßte Kyrace an der Hand. »Du hast die Zeit des Kampfes bestimmt, Herrin der Insel, und nun bestimme auch den Platz, an dem wir kämpfen werden.«

Sie erwiderte deutlich: »Dies werde ich am Morgen des Kampfes sagen.«

Cnossos verabschiedete sich. Er spielte den vollendeten Edelmann, und das Lachen, mit dem er die Hand Agon-Dras drückte, bewies diesem, daß er wieder eine Teufelei geplant oder ausgeführt hatte. N‘succa kam zurück und brachte ihn zum Ausgang des Palastes. Agon-Dra und Kyrace gingen Hand in Hand zurück zum Tisch und hoben die Pokale.

»Halt!« sagte Agon-Dra und neigte seinen Pokal. In dem roten Wein schwamm eine dicke, weiße Motte.

Außerdem verströmte der Wein einen durchdringenden, sauren Geruch. Jetzt merkte auch

Kyrace diesen Gestank. »Was ist das? Es gibt keinen verdorbenen Wein auf

dieser Insel!« flüsterte sie. Agon-Dra nahm ihr den Becher aus der Hand und blickte hinein. Auch in diesem Pokal schwamm ein halbtotes, widerlich aussehendes Insekt. Der Wein roch sogar noch übler.

»N‘succa!« rief die Zauberin. Das Mädchen kam sofort herbeigerannt und blickte erstaunt von einem Gesicht zum ändern, dann starrte sie in die Weinpokale hinein und stieß einen leisen Schrei des Entsetzens aus.

»Aber, Herrin«, sagte sie. »Ich habe den besten Wein eingeschenkt. Ihr habt davon getrunken! Er war nicht sauer und nicht verdorben!« Kyrace flüsterte:

»Nimm diesen Wein und lasse einen Vogel davon trinken. Ich bin sicher, daß er irgendwie vergiftet ist!«

Agon-Dra ahnte, was vorgefallen war. In einem unbewachten Augenblick schien Cnossos etwas in den Weinkrug getan zu haben. Da Kyrace und er von diesem Wein tranken, würde dies kein tödliches Gift gewesen sein, höchstens ein Trank, der sie krank machte. In diesem Fall hätte Cnossos, zur Hilfe gerufen, Kyrace heilen und ihn töten können. Aber wieder hatte der Troll, der sich versteckte und dem nichts zu entgehen schien, ein kleines Wunder gewirkt ... Zwei Insekten waren in den Wein hineingeflattert, und außerdem hatte Erbolix das Gift von Cnossos in eine übelriechende Substanz verwandelt. So mußte es

gewesen sein! Die Dienerin schüttete die beiden Becher in einen

leeren Krug und rannte davon. Auch sie ahnte inzwischen, daß Cnossos teuflische Anschläge unternahm, um den Kampf zu vermeiden und die Herrscherin der Insel zu gewinnen.

»Vergiftet!« murmelte Kyrace düster. »Ich habe den Wein nicht vergiftet. Du hast ihn auch nicht vergiftet, denn das brächte dir nur Nachteile und keinen Vorteil. Von meinen Dienerinnen wagt es niemand, denn sie lieben und kennen mich seit langer Zeit. Die dunkelhäutigen Tänzerinnen kamen nicht in die Nähe des Tisches.«

»Außerdem schmeckte der Wein zu Beginn des Mahles keineswegs nach schlammigem Wasser, sondern erst nachdem Cnossos ging!« stellte Agon-Dra fest. »Es wird Zeit für die Entscheidung. Sonst bringt er uns noch um, ehe ein Schwertstreich gefallen ist.«

»Du hast recht, mein Liebling!« flüsterte sie und lehnte sich schwer gegen ihn. Erst langsam begriff Agon-Dra, daß er einer furchtbaren Gefahr nur knapp entkommen war. Erbolix hatte ihn abermals im letzten Augenblick gerettet.

»Die Entscheidung rückt näher. Noch zwei Nächte!« knurrte Agon-Dra.

»Und dann werden es nur ungestörte Nächte sein und bleiben«, versprach flüsternd die Zauberin.

Agon-Dra ging mit Kyrace in das Schlafgemach. Hinter ihnen blieben die Reste des Festmahls. Sie waren nicht vergiftet worden; Cnossos‘ Rechnung war nicht aufgegangen. Den morgigen Tag würde Agon-Dra schlafend, hart arbeitend und mit der letzten Pflege seiner Waffen verbringen. Und sein nächstes Problem war es noch, Kyrace beizubringen, daß der Kampf auf der Vulkaninsel stattfinden mußte.

Auch in dieser Nacht liebten sie sich. Aber es waren nicht die Stunden leidenschaftlicher

Umarmungen und heißer Küsse, sondern eine zärtliche Zeit, in der sie leise miteinander sprachen und endlich einschliefen. Am nächsten Morgen erschien die Dienerin und versicherte, daß sie einen Teil des verdorbenen Weines einem Huhn eingeflößt hatte. Das Huhn war qualvoll gestorben.

8.

Kyrace hörte ihm schweigend zu und schwieg auch, nachdem er geendet hatte. Sie blickte tief in seine Augen und fragte leise:

»Den Himmelswagen?« »Ja«, Agon-Dra senkte den Kopf. »Cnossos wird mit

seiner Prunkbarke zu dieser Insel gerudert werden. Du bist Gast im Heck der Barke. Und ich muß ebenso den Cnossos beeindrucken. Aber ich habe nur ein Mittel, dies zu tun. Leihe mir dieses Fahrzeug. Ich bitte dich!«

Kyrace war sehr verwundert. Sie wußte von ihrer Großmutter und ihrer Mutter, daß sich an vielen Teilen der Welt seltsame Dinge verbargen, die niemand begriff und verstand. Sie alle sollten angeblich aus weit entfernter Vergangenheit stammen. Sie hatte auch davon gewußt, daß sich in einer Höhle, die zu den alten Schatzkammern führte, ein merkwürdiger Gegenstand lagerte. N‘succa hatte ihr davon berichtet, auch vom Kampf Hegons mit dem Kraken. Aber daß Agon-Dra sich ebenfalls dort umgesehen und entdeckt hatte, welchem Zweck dieser langgestreckte, helle Gegenstand diente, das hatte sie nicht gewußt. Sie blickte Agon-Dra noch immer prüfend an.

»Es ist wahr, daß morgen kurz nach dem höchsten Stand der Sonne auf der Insel des Feuers der Kampf stattfinden wird.«

Agon-Dra sah, daß aus dem Wetterleuchten der vergangenen Nächte eine niedrige Wand aus Wolken geworden war, die sich im Westen auftürmte und den Horizont des Wassers unsichtbar machte.

»Dort werden wir kämpfen, vor deinen Augen!«

bestätigte er. »Und es geht wahrlich nicht an, daß ich als Krieger und als dein Geliebter mit einem der Boote von Cnossos zur Insel rudere. Schließlich kam ich mit einem großen Schiff, das ich auf dein Geheiß wegschickte.«

»Du hast recht. Das geht nicht an!« erwiderte Kyrace.

Sie saßen im Heck des kleinen, schnellen Bootes, das von vier der wenigen Männer auf dieser Insel gerudert wurde. Langsam umkreiste das Boot, sich in den langen Dünungswellen wiegend, die Insel und fuhr von Felsvorsprung zu Felsvorsprung, von Klippe zu Klippe, von Strand zu Strand. Die Insel offenbarte vom Wasser aus immer neue, überraschende Anblicke. Agon-Dra nahm diese Bilder in sich auf – sie würden eines Tages zu seinen liebsten Erinnerungen zählen. Aber innerlich war er bereits nicht mehr mit Kyrace und ihrer Liebesinsel, nicht einmal mehr mit seinem Feind, sondern mit den Handlungen nach dem Kampf beschäftigt. Er fühlte sich bei diesen Gedanken gar nicht sonderlich wohl; es war unanständig und seiner nicht würdig, Dinge in dieser Art zu planen.

»Also?« »Nimm den Himmelswagen und komme zur Insel«,

sagte sie. »Ich erlaube es dir. Übrigens muß ich dir noch etwas erklären.«

»Ich höre?«

Sie lagen auf den kühlen Fellen im Heck. Ihre Hände hingen ins Wasser, und hin und wieder fielen einige warme Tropfen von den Rudern oder vom hart einsetzenden Bug auf ihre warme Haut.

»Ich erzählte dir, daß Cnossos mit deinem Aussehen, deiner Kleidung und deinem Tarngesicht versucht hat, meine Liebe zu erschleichen?«

Agon-Dra nickte schweigend. Kyrace fuhr leidenschaftlich fort:

»Ich habe ihn dafür gestraft. Du hattest mit deinen Gedanken, er könnte sich verändern, recht. Ich strafte ihn dafür!«

»Wie?« Agon-Dra unterdrückte seine Freude. Er haßte es,

unehrlich zu sein, aber in diesem Fall gab es Interessen und Notwendigkeiten, die mit ihm persönlich kaum mehr etwas zu tun hatten.

»Er trank gestern abend ziemlich viel Wein.« »Ja.« »In seinem Wein waren bestimmte Tropfen, die

noch aus der Zauberküche meiner Mutter Amarylla stammten. Sie werden einen halben Mond lang verhindern, daß Cnossos abermals seine Gestalt wandeln kann. So, wie er gestern nacht aussah, wird er bleiben. Er hat vorübergehend die Fähigkeit verloren, sich zu verändern. Du brauchst keine Angst zu haben, daß er während des Kampfes ein Drache wird, ein

Geier oder ein anderes Ungeheuer.« Langsam zog Agon-Dra seinen Arm aus dem

Wasser, drehte sich auf den Rücken, setzte sich auf und starrte in das entspannte, schläfrige Gesicht der Frau neben ihm. Eine Welle von Bedauern und Schmerz erfaßte ihn. Man sagte, daß Kyrace fünfzig Sommer alt war. Aber hier lag sie, unschuldig aussehend wie ein junges Mädchen, von hinreißender Schönheit und darüber hinaus klug und raffiniert wie eine alte Hexe, wie die Schwester von Cnossos. Eines Tages, in nicht zu weiter Ferne, würde er sie zur Feindin haben. Er mußte sie bewundern; er hatte keine andere Wahl.

»Cnossos ist gelähmt!« murmelte er verblüfft. »Tatsächlich gibt es jemanden, der seiner Zauberei gewachsen ist!«

»Ich bin ihr gewachsen. Aber noch immer frage ich mich«, murmelte sie, schläfrig vom Schwimmen, von der Sonne und von einigen Bechern leichten Weines, »wer gestern nacht seinen Gegenzauber über uns ausgebreitet hat. Cnossos wollte uns beide vergiften – dich umbringen und mich zur Dankbarkeit zwingen. Ist es etwa dein Maskottchen, dieser kleine, häßliche Mann?«

Agon-Dra schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Erbolix ist viel zu scheu, um sich zu zeigen.

Außerdem ist er glücklich, wenn er allein in den Felsen herumstrolchen darf und mit den Ziegen spielen kann.

Er vermag so wenig zu zaubern wie ich.« »Früher oder später werde ich es erfahren!« meinte

Kyrace. »Es gibt nichts, das ich nicht erfahre, wenn ich es wirklich wissen möchte.«

Die Ruderer arbeiteten schweigend. Langsam schob sich das Boot durch die Wellen. Als sie wieder eines der kleinen Felskaps umrundeten, blickte Agon-Dra auf. Er sah die Insel des Feuers nicht selbst, wohl aber die Rauchsäule des Kraters. Sie schien heute größer und umfangreicher zu sein als an den letzten Tagen. Im Westen baute sich eine Wolkenfront auf, die immer dunkler wurde. Vielleicht stürmte es morgen während des Kampfes. Das würde ihn erschweren, aber für beide Kämpfer. Schließlich sagte Agon-Dra: »Lasse sie an Land rudern. Ich möchte noch ein wenig üben. Nicht mehr viel, aber meine Muskeln müssen geschmeidig bleiben.«

»Das verstehe ich.« Kyrace gab einen Befehl, die Ruderer wurden ein wenig schneller und bogen auf einen der vielen kleinen Anlegeplätze ab. »Wie fühlst du dich, mein Geliebter?« »Ich werde den Kampf morgen gewinnen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, bin ich der Sieger.«

»Meine Hoffnungen werden bei dir sein wie meine Augen!« versprach sie. Nach einer Weile legten sie an. Agon-Dra half ihr aus dem Boot und brachte sie in den Palast. Dann ging er wieder hinunter an seinen

gewohnten Strand und übte mit den verschiedenen Waffen. Er badete, trocknete sich ab und rieb seinen Körper mit Öl ein, dann schlief er ein wenig.

Die Hitze des Tages hatte sich gesammelt und hatte zugenommen. Jetzt, in den Stunden zwischen Morgen und Mittag, herrschte eine unheilverkündende Hitze. Sie drückte alles nieder. Selbst die Flache See lag da wie ein Spiegel. Die Horizonte waren dunstig. Von Westen kroch wie eine riesige Flut die Barriere schwarzer Wolken heran. Niemand und nichts schien sich zu bewegen. Selbst die Zikaden schwiegen. Jede Handlung rief Bäche von Schweiß hervor. Die Büsche und Blüten begannen betäubend zu riechen. Auch im Palast ging niemand umher. Kein Mädchengelächter, nicht einmal die hohen, zornigen Stimmen der Beschnittenen.

Die Stunde des Kampfes stand bevor. Agon-Dra war völlig allein. Nein, nicht ganz, denn

hinter ihm versteckte sich lauernd der Troll. Langsam und mit großer Gründlichkeit zog sich der Atlanter an, prüfte ein letztes Mal seine Waffen, faltete dann den Mantel zusammen und warf ihn über den Arm.

»Es wird Zeit!« sagte er, nahm einen Schluck Wein, der mit eiskaltem Quellwasser gemischt war. Agon-Dra wußte, daß er niemals wieder eine solche Chance erhalten würde, was seine Auseinandersetzung mit

demjenigen betraf, der mittelbar am Untergang von Atlantis schuld war.

»Komm, Erbolix! Wir sind fast allein auf der Insel. Wir treffen uns unten beim Himmelswagen!«

»Ich bin viel eher dort als du!« krächzte der Troll auf und verschwand.

Agon-Dra verließ langsam den Palast. Er war sich bewußt, daß ihn unzählige Augen betrachteten. Sie leuchteten hinter den Vorhängen, den Ziermauern und in dem Halbdunkel zahlreicher Grotten auf. Niemand sprach ihn an, alle dachten daran, daß hier jemand ging, der in Kürze Sieger war oder tot, den man auf seinem Schild zurückbrachte oder der taumelnd vor Siegesfreude hierher zurückkam. Er warf die schmale Tür hinter sich zu und begann den Abstieg. Er hatte Zeit, denn die anderen hatten bestenfalls zwei Drittel der Strecke zurückgelegt. Als er die Sandfläche betrat, war er in Schweiß gebadet.

»Verdammt! Das ist die Hitze vor dem Sturm!« knurrte er und wischte sich wieder das Gesicht ab. Er hatte ein großes, feuchtes Tuch dabei.

Langsam ging er durch den Sand auf Erbolix zu, der auf dem Tisch aus Stein saß und ihn nachdenklich und mürrisch betrachtete.

»Ich passe auf das Zeug aus Eisen auf!« sagte er, als Agon-Dra seine Waffen neben ihn deponierte.

»Gut, Kleiner!«

Agon-Dra bewegte sich wie ein Schlafwandler. Nun konzentrierte eiserne Gedanken voll auf das kommende Geschehen. Noch immer war die Sonne nicht hinter dem erstickenden Nebel hervorgekrochen. Aber auch der Sturm verbarg sich noch jenseits der dunklen Wand aus Wolken, die sich durch den seltsam glühenden Nebel näher heranschob. Schritt um Schritt drang der Atlanter in die Höhle ein, folgte seinen eigenen Fußabdrücken und überquerte den wassergefüllten Schacht, in dem ein Schwarm bunter Fische sich tummelte. Er blieb neben dem Gleiter stehen, öffnete die Tür und wischte zunächst die Sitze einigermaßen sauber, fegte den Staub mit seinem Tuch von der Scheibe und schaltete dann die Maschinen an. Nacheinander drückte er die Hebel und Schalter.

»Hoffentlich habe ich mich nicht gründlich verschätzt«, murmelte er hoffnungsvoll.

Die Maschinen summten beruhigend. Langsam hob sich die Konstruktion, bis sie drei Handbreit über dem sandigen Felsboden schwebte. Vorsichtig schob und drehte Agon-Dra an der Steuerung, jeder Griff rief neue, vertraute Assoziationen hervor; als habe er erst gestern diesen Apparat zum letztenmal bedient.

Tatsächlich drehte sich der Gleiter auf der Stelle. Agon-Dras Herz klopfte mit schnellen, harten Schlägen. Ein neuer Schweißausbruch war die Folge. Der scharfe Bug des Himmelswagens beschrieb eine

Drehung um hundertsiebzig Grad. Agon-Dra schlug die Tür zu und betätigte einen Knopf; die Scheibe neben seinem Ellenbogen versenkte sich geräuschlos in die Türfüllung.

»Und jetzt ... vorwärts!« Wieder faßte ihn die Erregung. Er betätigte die

Steuerung; der Gleiter bewegte sich, glitt summend über den Rand des mit Meerwasser gefüllten Loches und in den Tunnel hinein. Vorsichtig steuerte Agon-Dra die Maschine entlang der Felswände und kam auf der Mitte der Sandfläche wieder zum Stehen. Jetzt, im hellen Licht, sah er die Formen deutlicher.

»Ist das der Himmelswagen?« schrillte die Stimme des Trolls. Er kam verdrossen durch den Sand gestapft und schwang sich auf die Haube des Gerätes, das über und über mit vertrocknetem Schlamm, festgebackenem Sand und einer dicken Schicht Staub bedeckt war. Agon-Dra zögerte; eigentlich müßte er die Maschine noch wenigstens teilweise von dem Schmutz befreien.

»Das ist der Himmelswagen, mit dem wir zur Insel des Feuers fliegen werden, mein Freund!« bestätigte Agon-Dra. »Darf ich dich abermals um ein kleines Wunder bitten?«

»Schon möglich. Soll ich dir siegen helfen?« kreischte der Troll mißmutig auf.

»Das auch. Aber zuerst mußt du einen kräftigen Wasserstrahl von der nächsten Quelle auf diesen

überaus schmutzigen Gleiter lenken. Kannst du das – und willst du das für mich tun?«

Der Troll zuckte seine Zwergenschultern; und maulte:

»Was bleibt mir anderes übrig, Dragon?« »Lieb von dir!« Agon-Dra ließ die Scheibe wieder hochgleiten, lief

hinüber zu seinen Waffen und wartete. Auch der Troll zog sich zurück. Plötzlich erschien hoch über ihnen aus dem Nichts eine Wassersäule, so dick wie ein Mannesschenkel. Sie kam im hohen Bogen aus dem Innern der Insel, schwankte ein wenig und schlug dann, in Tausende Tropfen zerstäubend, mitten auf den Gleiter. Sogleich wirbelten Schlamm und Schmutz nach allen Seiten und flossen in breiten Strömen an den Flanken herunter. Der Troll leitete den Strahl über sämtliche Teile des Himmelswagens, bis überall das ursprüngliche glänzende Material zum Vorschein kam. Es sah aus wie stumpf spiegelndes Silber. Die Flächen aus unzerbrechlichem Glas schimmerten hell und klar.

»Genug, mein kleiner Freund!« brüllte Agon-Dra durch das Prasseln und Zischen des Wassers. Der Troll winkte. Urplötzlich versiegte der Strahl, und ein kleines Stück fahl leuchtenden Regenbogens blieb für Augenblicke zwischen den Felsen hängen wie eine Brücke aus Spinnweben.

»In deinem Sinn, mächtiger Herr und König?«

»Du bist vollkommen!« sagte Agon-Dra, öffnete die Türen und schob seine Waffen ins Innere des Gleiters. »Wir können starten.«

Er ging einmal bewundernd um den Gleiter herum. Noch traute er der Maschine nicht ganz. Zu viele Jahre waren vergangen, seit sie zum letztenmal benutzt worden war. Aber sicher brachte sie ihn über die geringe Entfernung bis zur Feuerinsel.

»Steige ein. Wir fliegen los!« sagte er. Der Troll schwang sich auf den Nebensitz. Agon-Dra startete wieder die Antriebsmaschinen, ließ die Fensterscheiben heruntergleiten und flog los. Dicht über den Wellen schwebten sie zunächst nach Westen, während Agon-Dra sich wieder mit der Steuerung und den übrigen Schaltungen vertraut machte. Die Maschine wurde immer schneller, dann schwenkte sie nach Norden ab und stieg etwas höher. Der Fahrtwind pfiff durch die Öffnungen und kühlte die Haut der beiden Insassen ab.

»Das ist ein wunderbares Ding!« sagte der Troll. »Warum kannst du damit umgehen?«

»Das werde ich dir genau erzählen, wenn wir nach dem Kampf wieder bei unseren Freunden sind!« sagte Agon-Dra. Langsam bekam er das richtige Gefühl für den Gleiter. Er hielt den Gleiter etwa zehn Mannslängen hoch über den winzigen Wellen und versuchte, schneller zu werden. Die Anzeigen, die er jetzt wieder genau verstand und deuten konnte,

zeigten ihm, daß die technischen Eingeweide der Konstruktion in Ordnung waren. Langsam löste sich die Spannung und die Verkrampfung in Agon-Dra. Der schnelle Flug war wie ein Rausch. Er betrachtete, je näher er der Insel kam, mehr und mehr das Wasser vor ihm. Die Wellen wurden langsam höher, offensichtlich näherte sich der Sturm aus dem Westen.

Kurz vor den ersten aschebedeckten Felsen, einige Bogenschüsse vor dem wirklichen Rand der Feuerinsel, sahen Agon-Dra und der Troll die schwarze Barke des Cnossos. Sie lag schräg im Wellengang, und die Ruderer arbeiteten wie besessen. Das Boot glitt in einem beängstigend schnellen Tempo durch das Wasser. Immer wieder schlug der Bug hart in die Wellen, die höher wurden, je näher sie sich am Rand des Eilands befanden. Dann wurden riesige Wellen und Gischtwolken nach beiden Seiten und über das gesamte Boot geschleudert.

»Wir überraschen Cnossos auf eine andere Weise!« sagte Agon-Dra und bog nach Westen ab. Jetzt spürte und hörte er es deutlicher: der Sturm nahm zu. Der leuchtende Nebel verlor mehr und mehr seinen Glanz. Die kleinen weißen Schaumkronen der Wellen wurden vom Wind nach Osten weggerissen.

»Auch die Natur kämpft mit!« sagte der Troll halblaut und nickte mehrmals, als müsse er sich selbst beipflichten.

»Ich wird‘s überstehen!« Der Gleiter flog einen Halbkreis, überflog die

baumlosen Strände und kam auf einer zungenförmigen Plattform zum Stehen, die weit ins Meer hinausragte. Der Stein sah aus wie geronnener, glänzender Schlamm. Es stürmte jetzt, und Agon-Dra merkte, daß der Nebel weggedrückt wurde. Dafür erhoben sich am Ufer Staubschleier. Agon-Dra erkannte eine große, runde Vertiefung. Sie sah aus wie eine flache, schrägliegende Schale, die an einem Rand ausgebrochen war. Dort begann der Absturz in den Krater.

»Dorthin!« murmelte er. Er startete den Gleiter wieder, drehte ihn herum und

stellte ihn auf der östlichen Seite, also im Windschatten eines aufragenden Felsen ab. Der Stein sah wie geschmolzenes Glas in vielen Farben aus, besaß aber mehr Ähnlichkeit mit einem Schwamm.

»Das ist die Arena, auf der wir kämpfen werden!« sagte er, schaltete die Maschinen ab und packte seine Waffen. Nachdem er mit den Vorbereitungen fertig war, ging er hinunter zum Strand. Dorthin, wo die einzig geschützte Bucht lag, die er aus der Luft gesehen hatte. Cnossos und Kyrace würden dort anlegen.

Cnossos sprang auf, als er das Ufer erblickte. Er suchte die Linie zwischen weißem Brandungsstreifen und

Felsen ab. Dann sah er deutlich den tiefen Einschnitt, der von zwei Flüssen aus einstmals geschmolzenem Stein aus dem Bauch der Erde gebildet worden war, vor vielen Jahren.

»Schneller, ihr Hunde! Spannt eure Arme an! Steuermann – in den Einschnitt hinein!«

Cnossos war gerüstet. Ein Teil seiner Waffen lag im Boot, der andere befand sich an seinem Körper. Kyrace saß in dem zweiten Prunksessel und fühlte unter sich das Schiff beben und schwanken. Als es durch einen Sprühregen aus hochgerissenem Wasser und aufgewehtem ätzendem Staub in das ruhigere Wasser der Bucht glitt, richtete sie sich wieder auf.

Dann deutete sie geradeaus. »Dort wartet dein Gegner, Herr des Südens!« sagte

sie ruhig. Jetzt setzten die Ruderer die Riemen verkehrt herum ein, bremsten die Fahrt der Barke ab und ließen sie gemächlich auf den schwarzen, körnigen Sand auflaufen. Cnossos erschrak sichtlich; damit hatte er nicht gerechnet.

»Er ist mit einem Fischerboot deiner Insel hierher gekommen?«

»Nein!« Cnossos sah seinen Gegner dort stehen. Agon-Dra

trug leichte, mit Metall bestückte Stiefel, darüber dünne Beinschienen. Ein breiter, ebenfalls mit runden Metallblättern beschlagener Gürtel trug zwei lange

Dolche und ein Schwert. Über dem Hemd aus dem Leder wilder Tiere hielten zwei breite Schultergurte eine gewölbte Platte aus schwarzem Erz. Ein runder Helm mit Kinnschutz und einem Steg über Nase und Lippen saß auf Agon-Dras Kopf. Ein goldener Reifen umspannte diesen Helm. Ein runder Schild, mehr durchmessend als ein Männerarm lang, verdeckte die linke Schulter des Gegners. In der rechten Hand, deren Handschuh ebenfalls mit Metallblättchen verstärkt war, hielt Agon-Dra drei Speere von verschiedener Länge.

»Er kam nicht mit dem Fischerboot?« Cnossos machte sich zurecht, um Kyrace an Land zu helfen. Seine Ruderer sprangen ins Wasser und bugsierten die Barke längs der Landzunge. Taue flogen gegen den Wind und wurden um Felsstücke geschlungen.

»Nein. Er kam mit meinem Himmelswagen!« erklärte Kyrace laut. Dann setzte sie den Fuß auf die Steine und ging langsam auf Agon-Dra und auf den Rand der natürlichen Arena zu. Cnossos raffte seine Waffen an sich und folgte ihr. Jetzt war der Sturm schärfer, lauter und schneidender geworden. Er trieb salzigen Wassernebel und Staub von Westen nach Osten. Unter den Sohlen der drei Besucher der Insel bebte das Erdreich. In der Mitte der flachen Senke erschien eine rasend wirbelnde Windhose und verschwand wieder. Die Rauchsäule des Vulkans

wurde, kaum daß sie den Krater verlassen hatte, nach Osten gerissen und tief auf den Boden und das Wasser gedrückt.

Cnossos schwieg. Der Verdacht, daß hinter Agon-Dra sich mehr verbarg als nur ein hellhaariger Schönling und Geliebter der Zauberin, nahm mit jedem Schritt zu. Aber der Balamiter hatte keinen Grund, sich ernsthaft zu fürchten. Er würde siegen.

9.

Kyrace stand auf dem zweiten Absatz des Felsens. Hinter ihr ragte eine glasartig erstarrte Wand auf und schirmte sie gegen den wütenden Sturm ab. Unter ihr lag die flache Mulde. Sie hob beide Arme, blickte von Agon-Dra, der auf der rechten Seite der natürlichen Arena stand, hinüber zu Cnossos, der sich auf der linken Seite postiert hatte. Auch er trug eine knappe, aber wertvolle Rüstung aus einzelnen Teilen, kostbare Waffen; alles war schwarz und golden.

»Ihr wolltet um mich kämpfen!« rief sie laut gegen den Sturm an. »Nun könnt ihr dies tun. Der Kampf

geht vor meinen Augen bis zu dem Punkt, an dem einer von euch aufgibt oder kampfunfähig ist. Ich werde dem Sieger angehören, wie es Brauch war seit ehedem! Fangt an!«

Noch schien Cnossos nicht zu wissen, daß er sich nicht mehr verwandeln konnte. Kyrace löste ihren Bann und gab Agon-Dra sein eigenes Gesicht wieder. Falls er seinen Helm abnahm, würde ihn sein alter Gegner sofort erkennen. Jetzt hob Cnossos den Arm, rückte den Schild zurück und schlug seinen langen Mantel auf die Schultern zurück. Dann ergriff er den ersten Speer.

Dragon warf einen letzten Blick in die Richtung Kyraces, hob den Schild und sah das Gesicht des Trolls hinter der Scheibe des Gleiters. Dann widmete er sich dem Kampf. Er vergaß alles und konzentrierte sich nur noch auf seinen Gegner und seine eigenen Waffen.

Cnossos hob den ersten Speer, nahm einen kurzen Anlauf und schleuderte ihn. Der Speer heulte durch die Luft, wurde in einem berechneten Winkel von dem wütenden Wind abgelenkt und näherte sich rasend schnell dem Gegner. Noch während der erste Speer flog, schleuderte Cnossos den zweiten. Als die Schneide der ersten Fernwaffe auf den Schild Dragons prallte und dort einen scharfen, häßlichen Laut hervorrief, hielt Cnossos den dritten Speer in der Hand.

Der erste Speer wurde dadurch, daß Dragon

auswich und den Schild hochriß und kantete, abgewehrt. Er schlug hart gegen das Metall, kippte und surrte davon. Der zweite Speer hätte Dragon in die Schulter getroffen, weil er eben in dem Augenblick heranraste, als der Atlanter den linken Arm mit dem runden Schild nach unten nahm. Dann aber sah er die drohende Gefahr, warf seinen Körper nach rechts und stemmte sich mit einer schnellen Anstrengung gegen den Boden. Seine Sohlen rutschten über heiße Asche. Dann traf ihn der Speer.

Er war auf Dragon gezielt worden, aber die scharfe Spitze bohrte sich in die Metalldecke des Schildes. Das Metall wurde durchstoßen, die Schichten aus Leder, Flechtwerk und Holz bremsten die Wucht ab, aber Dragon wurde vier Schritte rückwärts geworfen.

Dicht neben dem Armschutz aus Leder und Metall fuhr die Spitze knirschend und kreischend durch den Schild und ritzte die Haut. Dragon sprang drei Schritte zur Seite. Der letzte Speer durchschnitt dort die Luft, wo sich einen Augenblick vorher noch sein Kopf befunden hatte. Er flog zwanzig Mannslängen weiter und verschwand in einem Haufen glühender Asche.

Dragon senkte den Schild, zog mit einer schnellen Bewegung sein Schwert und hieb den Schaft dicht neben der Tülle der Spitze ab.

Cnossos war, durch den Schwung seiner drei Angriffe, bis auf die Hälfte der vormaligen Distanz

herangekommen. Dragon sah ihn undeutlich durch einen Schleier aus Sand, verbrannter Luft und Staub.

Der Staubschleier sollte noch dichter sein! durchfuhr es ihn, als er den ersten Speer aus der linken Hand nahm, abwog, drehte und dann ausholte. Er zielte dorthin, wo Cnossos seinen Schild haben würde, wenn er noch einige Schritte weiter auf ihn zurannte. Dann spannte Agon-Dra seine Muskeln, riß den Arm nach vorn und schleuderte das Geschoß mit aller Macht. Er stolperte vorwärts, nahm den zweiten Speer und beobachtete sorgfältig die kurze Flugbahn.

Cnossos erkannte die Gefahr, hielt inne und hob den Schild hoch. In diesem Augenblick schleuderte Agon-Dra den zweiten der beiden langen Speere ab. Während der erste mit unerhöhter Wucht in den Rand des senkrecht gehaltenen Schildes schlug, den Schild kippte und gegen den weißen Helm des Herrn des Südens schmetterte, drehte sich der nächste Speer durch die Luft und zielte genau auf die Bauchgegend des Balamiters.

Im letzten Augenblick erkannte Cnossos die Gefahr, sprang halb in die Luft und halb zur Seite. Der Speer bohrte sich einen halben Arm tief in den Boden, und der Schaft versetzte Cnossos einen harten Schlag gegen die Hüfte. Das trockene Geräusch, mit dem der Speerschaft brach, drang durch den schneidenden Wind bis hinüber zu Kyrace und zu Dragon.

Jetzt nahm Dragon den letzten, kürzesten Speer aus der linken Hand, senkte den Schild und rannte auf Cnossos los, der einen Speer neben sich im Boden stecken, einen anderen im Schild hatte, seitlich stolperte und mit dem Knie heftig gegen das Schwert stieß.

Mit aller Kraft schleuderte Dragon den kleinen Speer ab. Er heulte förmlich durch die Luft; seine Flugbahn verlief fast völlig gerade. Die breite, scharfgeschliffene Schneide kam immer näher an den Helm des Balamiters, noch näher ... Cnossos schien diese Gefahr nicht zu sehen.

Er drehte sich in Richtung des Angreifers. Der Speer traf seinen Helm an dem goldenen Band, dicht über dem Buckel, der das Ohr schützte. Es gab einen dröhnenden Ton, als die Schneide abgelenkt wurde, einen runden Span aus dem Metall riß, dann versetzte der kurze Schaft Cnossos einen Schlag gegen die Stirn.

Dragon blieb stehen, nahm den Griff seines Schwertes in die rechte Hand – er hatte die Waffe in der Schildhand gehalten – und lief weiter. Noch zehn Mannslängen ... dann würde er Cnossos erreicht haben.

Der Balamiter taumelte. Dann schrie er entsetzt auf: »Ich kann ... mich nicht mehr verwandeln!« Er drehte sich um, stieß sich vom Boden ab und

rannte schräg an Dragon vorbei und in die Richtung des Zentrums der Arena. Der Staub, den seine Sohlen

aufwirbelten, umgab ihn einige Momente lang. Während er rannte, hieb er mit dem Schwert auf den Speer ein und zerschlug den Schaft.

Dann blieb er stehen. Dragon, der aufgeholt hatte, war verblüfft. Deutlich hatte er hören können, wie der Schreck Cnossos nahezu überwältigt hatte. Jetzt fing sich der Balamiter wieder. Er schleuderte den Speerstumpf weit von sich, fuhr herum und hob das Schwert.

»Das war diese Zauberin!« rief er unterdrückt. Die Worte kamen hohl zwischen den Seitenbacken des Helms hervor. Beide Kämpfer standen sich jetzt in einer heißen Wolke aus Staub und Sand gegenüber, keine drei Mannslängen voneinander entfernt.

»Kyrace hat nur für einen gerechten Ausgleich gesorgt«, sagte Agon-Dra kurz. Der Balamiter zuckte zusammen und kam lauernd näher, das lange, schlanke Schwert schlagbereit in der Rechten. Zwischen den Teilen der Rüstung sickerte Schweiß hervor. Sämtliche Waffen und die Haut waren überpudert von dem feinen Staub der Inseloberfläche. Auch Agon-Dra kam näher, fertig zum ersten Schlagwechsel.

»Sie beschützt dich?« schrie Cnossos gehässig. »Nein! Es ist ein ehrlicher Kampf – so ehrlich, wie

ein Cnossos zu sein vermag!« sagte Agon-Dra, hob sein Schwert schräg nach rechts, halbhoch, brachte den Schild in die richtige Stellung und wußte, daß es in den

nächsten Augenblicken auf Leben und Tod ging. Dann machte Cnossos den ersten Ausfall. Er schlug zu. Dragon kippte den Schild und fing den

Hieb auf, führte schräg einen stechenden Ausfall, wurde abgewehrt und zuckte zurück. Die Schläge dröhnten abwechselnd auf die Schilde. Die Muskeln und Knochen spürten die kraftvollen Hiebe.

Ein weit ausholender Schlag, dann die entsprechende Gegenbewegung des Oberkörpers, dann der Versuch, den Schild zwischen sich und den Schwertarm zu bringen. Cnossos schlug zu, Dragon wehrte ab, dann hieb Dragon auf den Balamiter ein und wurde abgewehrt. Die Schläge, die erst langsam und wuchtig geführt wurden, folgten schneller aufeinander, waren nicht mehr so kräftig, aber waren besser gezielt. Die glatten Metallflächen der Schilde überzogen sich mit langen Schrammen und Beulen. Die Reste der steckengebliebenen Speerblätter wurden zu unförmigen Metallstücken zusammengehämmert.

In den Schilden bildeten sich Kerben und Rinnen. Die Ränder waren schon nach den ersten fünfzig wechselnden Schlägen ausgezackt. Die Späne aus Metall, Leder und Flechtwerk flogen nach allen Seiten. Die Männer begannen zu keuchen. Der Schweiß vermischte sich mit dem beißenden Staub und bildete Rinnen auf den Armen, den bloßen Oberschenkeln und dem Gesicht.

Wieder bebte und grollte die Insel unter ihren Füßen.

Vom Krater her, dem sie unabsichtlich immer näher kamen, weil sie der Sturm hindrückte, kam ein gewaltiges Brüllen, dann ein langgezogenes, brodelndes Geräusch. Cnossos ließ sich für einen kurzen Augenblick ablenken, und Dragons Schwert fuhr über den Schild hinweg und traf das Metall über der rechten Schulter. Die prunkvolle Schnalle, die den Mantel hielt, wurde weggefetzt. Cnossos wich zurück, stolperte und trat auf den unteren Rand des Mantels, Stoff riß mit einem Geräusch, das dem Aufschrei eines Kindes ähnelte. Mit einem weiten Satz befreite sich Cnossos aus der schlechten Lage. Der Schlag, der seinen rechten Oberarm getroffen haben würde, pfiff ins Leere. Cnossos handelte wie ein erstklassiger Krieger. Während Dragon nach vorn rannte, um nicht zu stolpern und sich im Stoff des Mantels zu verfangen, führte der Balamiter mit aller Kraft einen Schlag, der wie die Bewegung eines Schnitters mit der Sense waagrecht durch die Luft pfiff.

Dragon bückte sich, aber der starke Schlagarm Cnossos‘ korrigierte den Hieb noch in der Luft.

Die Schneide des Schwertes traf die Spitze von Dragons Helm, riß sie halb aus dem massiven Metall heraus, dann hakte sich das Schwert in das aufgerissene Metall und riß den Helm schräg von

Dragons Kopf. Ein tobender, dumpfer Schmerz – und ein

Donnerschlag, als befände er sich im Innern einer riesigen Glocke – traf Dragon. Er schnellte sich zur Seite und wischte mit dem Leder des Hemdes über sein Gesicht.

Dann hob er den Schild. Noch immer dröhnte sein Schädel von diesem Treffer. In seinen Knien spürte er einen dumpfen Schmerz, aber er zwang sich dazu, ihn zu ignorieren. Er blickte in die dunklen, lodernden Augen des Cnossos.

»Dragon!« schrie Cnossos auf. »Du irrst nicht, Mann aus der Vergangenheit!«

schrie Dragon und drang wild auf ihn ein. Vielleicht lähmte die zweite Überraschung dieses Nachmittags den Herrn des Südens. Die Schwerthiebe Dragons prasselten auf den Schild, auf die geschützten Unterarme, auf den Gurt des Gegners los, der sich verbissen wehrte, aber langsam zurückwich.

Dragons nächster Schlag wurde abgefangen, indem Cnossos einen berechneten Schritt zurückwich und den Schild eng an den Körper preßte. Die Spitze des Schwertes, die noch am wenigsten Kerben und aufgerissene Stellen hatte, schnitt den zerbeulten und zerschundenen Schild in zwei fast gleiche Hälften, schnitt in das bewehrte Leder des schildhaltenden Unterarms und schnitt in die Haut des Balamiters.

Er schrie auf, schleuderte die Bruchstücke von sich und wich nach rechts aus. Dragon entsann sich eines uralten und immer noch wirkungsvollen Tricks, bohrte seinen Stiefel in den Staub. Dann riß er den Fuß hoch und schleuderte den Staub in das Gesicht seines Gegners. Aber Cnossos hatte ihn durchschaut und schlug nach dem Fuß.

Wieder heulte ein Sturmstoß über die Insel und verschleierte alles.

Und abermals ertönte ein tiefes Gurgeln aus dem Schlund des Vulkans. Eine gewaltige schwarze Wolke wurde ausgestoßen. Kleines Gestein rollte, breite Bahnen hinter sich ziehend, über den Rand.

»Du bist es wirklich! ich habe dich gesehen und nicht erkannt!« knurrte Cnossos zwischen den einzelnen Schlägen. Er war von einigen tiefen, blutenden Wunden gezeichnet, aber seine Kraft schien ungebrochen.

Dragon hätte einiges antworten können, aber er schwieg und sparte seinen Atem auf. Er griff wieder an. Cnossos wehrte sich wie ein Rasender. Er riß einen Dolch aus dem Gürtel und versuchte, ihn zu werfen. Aber er benutzte sein Schwert dazu, die Schläge aufzufangen, die Dragon austeilte. Es ließ sich nicht vermeiden, daß dabei Dragon im Vorteil war. Schritt um Schritt trieb er Cnossos auf den Kraterrand zu. Dorthin wollte er ihn haben, dort loderte die

weißglühende, schmelzende Hitze aus den Eingeweiden dieses Planeten.

Wieder versuchte Cnossos einen Ausfall. Er kreuzte seine Klinge mit der von Dragon, gewann etwas Boden und bückte sich schnell. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er einen großen, gezackten Felsbrocken in den Händen, warf sich vorwärts und schleuderte ihn mit aller Wucht, deren er noch fähig war, auf Dragon.

Der Stein traf Dragon mitten an der Brust, schleuderte ihn rückwärts, und er fiel auf den Rücken. Sein Schild löste sich aus den Fingern, die stumpf und gefühllos geworden waren, auch das Schwert fiel in den heißen Staub. Der Wind fing sich unter dem Schild, hob ihn auf und ließ ihn torkelnd auf den Schlund des Kraters zu rollen. Dort verschwand er lautlos.

Dragon fühlte, wie das Ende näher kam. Er schloß einen Augenblick die Augen, dann merkte er, daß der nächste Akt – der tödliche Stich oder Hieb des Gegners – ausblieb. Ein letztes Mal bezwang er sich, riß die Augen auf und atmete tief ein. Der schwarze Vorhang vor seinen Augen riß auseinander.

Blitzschnell rollte er sich zur Seite. Cnossos, der auf ihn zusprang, den Dolch und das Schwert vorgestreckt wie eine Lanze, rammte das Schwert bis zum Heft in den Boden. Der Dolch stieß auf einen Felsen und brach bis zum Heft auseinander. Dragon kam taumelnd auf die Füße, bückte sich, wobei ihm wieder schwarz vor

den Augen wurde. Die Hand, die sich um den Schwertgriff krallte,

stützte ihn und bewahrte ihn vor dem zweiten Zusammenbruch. Er sammelte seine Kräfte, spannte die Muskeln und stieß sich ab.

Cnossos ließ den Dolchgriff fallen und zerrte am Schwertgriff. Dragon wurde schneller und hob das Schwert zum tödlichen, letzten Schlag. Cnossos warf sich herum, senkte den Kopf und rannte auf Dragon zu. Der Schlag, der ihm sonst den Schädel abgerissen hätte, ging über seine Schulter und riß eine tiefe, blutige Furche in den ungeschützten Rücken, durchschnitt Leder, Metallschuppen und Haut. Aber gleichzeitig traf der Helm, vorwärtsgetrieben von den Muskeln der Beine, genau über der Gürtelschnalle in den Magen Dragons. Die Metallplatte auf seinem Magen wurde eingedrückt.

Dragon ließ sich fallen, vom Schmerz nur halb betäubt. Gleichzeitig riß er beide Beine hoch, winkelte die Knie ab und trat zu. Der Körper des Gegners wurde in hohen Bogen durch die Luft gewirbelt und schlug schwer auf die staubige Fläche aus glashartem Stein.

»Verfluchter Cnossos! Er versteht zu kämpfen!« entfuhr es Dragon. Er war auf einen ebenbürtigen, wenn nicht besseren Gegner gestoßen. Nun besaß er noch zwei Dolche und ein Schwert.

Cnossos besaß nur noch seinen letzten Dolch, und er

riß ihn heraus. Sein Helmband war gerissen, als er wieder auf die Beine kam, war er barhäuptig. Er starrte Dragon an, den Dolch in der Faust.

Zwei Mannslängen rechts von Dragon war die weiße Kante des Kraters. Der Sturm legte sich für einen Augenblick. Der Nebel war aufgerissen, und breite, schräge Sonnenbahnen brachen durch den Staub.

Dragon raffte den letzten Rest seiner Kräfte zusammen und griff abermals an. Es war unwichtig, Cnossos zu treffen. Es gab etwas anderes, etwas Tödlicheres ganz in der Nähe. Er führte weit ausholende Schläge, von denen jeder den Körper des Gegners auseinandergeschnitten hätte, würde er getroffen haben. Schritt um Schritt wich Cnossos zurück. Er starrte wild und voller Todesahnung Dragon an und schien nicht zu wissen, daß jetzt hinter ihm der Abgrund lag.

Die Schwertschneide blitzte auf, als ein Sonnenstrahl darauf fiel.

Sie wischte waagrecht durch die Luft und zog einen Schnitt durch das Gurtleder von Cnossos. Wieder ein Schritt. In der Aufwärtsbewegung kantete Dragon die Waffe und riß eine blutige Bahn in die Brust des Balamiters. Noch ein Schritt. Cnossos hob den Arm und kniff beide Augen halb zu. Seine Absicht war klar, er wollte den Dolch werfen.

Wie mit einer Lanze stach Dragon mit dem Schwert

zu. Cnossos wich aus, krümmte seinen Körper nach vorn, um dem Stich auszuweichen. Dabei trat er auf den lockeren Rand des Kraters, rutschte, der andere Fuß trat schon ins Leere. Der Dolch wirbelte hoch in die Luft, und wild rudernd stürzte Cnossos in den steilen Krater.

Er fing sich noch während des Fallens, stemmte die Absätze in den weichen, nachgebenden Sand und Staub und schrie auf. Der Staub war glühend heiß und verbrannte die Handschuhe und die Haut. Wie ein Rasender kämpfte er sich, kleine Lawinen auslösend, den Hang hinauf.

Dragon stand oben, federnd in den Knien, das Schwert zum Schlag erhoben. Er wartete.

10.

Der Sturm hörte jetzt ganz auf. Ein frischer, salziger Geruch wehte vom Meer herauf. Die hochgewirbelten Schleier legten sich wie ein dünner Teppich über alles, auch über Kyrace, den Gleiter, das Bündel, das Cnossos‘ Mantel bildete, den wartenden Mann am Rand der Arena, über die Wellen und die Felsen. Die Säule tiefschwarzen Rauches aus dem faulig riechenden Mund der Erde schraubte sich wieder

senkrecht in den Himmel, der von Augenblick zu Augenblick strahlender wurde. Nur die Wellen hatten noch weiße Schaumkronen und gingen hoch. Sie warfen die Barke, die an Anker und fünf Vertäuleinen hing, auf und nieder wie ein Stück schwammigen Holzes.

Dragon sah mitleidslos zu, wie Cnossos versuchte, den rutschenden Hang zu besiegen. Je mehr er sich bewegte, desto mehr Gesteinsschutt, Sand und Staub rutschte nach. Dann brach eine Lawine herunter, verschüttete ihn halb, aber nacktes, verbranntes und geschmolzenes Gestein war unter dem Sand gewesen. Mit blutenden Fingern zog sich Cnossos aufwärts, machte schweigend und keuchend, röchelnd und mit verzerrtem Gesicht – dem Gesicht eines total Wahnsinnigen! – Anstrengungen, kam Fingerbreit um Fingerbreit höher.

Als er den Kopf über den Rand des Kraters streckte, holte Dragon aus. Er konzentrierte sich ein letztes Mal und traf. Mit einem einzigen wuchtigen Schlag schlug er Cnossos den Kopf ab. Der Kopf rollte durch den Staub und verschwand in der weißen Glut geschmolzenen Gesteins, das den Kessel tief unten ausfüllte. Der Körper löste den Griff, kippte nach hinten und verschwand im Rauch.

Dragon vermeinte, ein letztes Zischen wie von Dampf zu hören, dann blieb er stehen und starrte eine

Weile hinunter in den Schlund. Als ihn die verbrannte Luft zu ersticken drohte, wandte er sich um und ging langsam, das blutige Schwert in der rechten Hand zur Erde gesenkt, auf die Stelle zu, wo Erbolix und der Gleiter warteten.

Auf halbem Weg blieb er stehen, nestelte seinen Tarnumhang hinter dem Gürtel hervor und warf ihn über die Schultern, zog ihn aber nicht zusammen.

In dem Augenblick, als das Schwert Haut und Knochen des Körpers durchdrang und endgültig das Leben aus dem Körper des Balamiters schlug, starben die acht Uh-toth unten in der Barke. Sie brachen zusammen, ohne einen Laut zu geben. Die nackte Panik bemächtigte sich der anderen Ruderer. Einige sprangen ins Wasser und versuchten, schwimmend diesen Platz des Schreckens zu verlassen.

Dort, wo der Mantel des Cnossos lag, entstand langsame und verstohlene Bewegung. Der Mantel schien zu fließen und ganz langsam seine Form zu verändern. Er zog sich zusammen, bildete eine andere Form, einzelne, noch undeutliche Teile waren zu sehen. Aber, der feine Staub, der über allem lag, verbarg die langsamen Versuche.

Der Mantel ... Er hatte nicht dem schleichenden Gift gehorchen

müssen, das den Gestaltwandel unmöglich gemacht hatte. Unmerklich langsam zog sich die Substanz zu einem kreuzförmigen Ding zusammen. Hätte jemand genau daneben gestanden, so würden für seine Augen die staubigen Flächen die Form eines Vogels angenommen haben, den man mit ausgestreckten Schwingen an den Boden genagelt hatte. Die Verwandlung ging sehr langsam vor sich.

Diese Substanz, ein Teil des Cnossoskörpers, war sehr klein. Sie war ohne Befehle und ohne eigenes Bewußtsein. Nur ein dumpfer Drang brachte sie dazu, diesen heißen Platz zu verlassen.

Nicht einmal dieser winzige Rest des Körpers ahnte in seinem drängenden Vorhaben, ob jemals wieder daraus – in unendlich langer Zeit – ein Bewußtsein, ein vernunftgeleiteter Körper werden würde. Die Umrisse des Vogels wurden deutlicher.

Dragon ging daran achtlos vorbei. Was jetzt folgte, war fast schwerer als der Kampf.

Cnossos war vernichtet. Er würde nicht länger die Geschicke der Menschen mitbestimmen können. Seine Reiche der Dunkelheit, sie würden zerfallen.

Dragon fühlte sich, als habe er, obwohl satt und zufrieden, einem kleinen Kind das Brot aus der Hand gerissen und das Kind zu allem auch noch verprügelt, wenn er an Kyrace dachte. Er stahl den Gleiter, ließ

Kyrace auf der Vulkaninsel zurück und flüchtete ohne ein Wort des Abschieds, nur wegen seiner Rache.

»Tue es schnell«, sagte er zu sich, »und tue es gründlich. Es wird auf alle Fälle ein Ende mit Schrecken.«

Er schob sein Schwert in den Gürtel – die Scheide war abgeschlagen worden – und zog den Tarnumhang ganz über sich. Während des Gehens wurde er unsichtbar. Als er durch die dünnen Maschen des seltsamen Gewebes blickte, krampfte sich sein Herz vor Scham und Mitleid zusammen. Kyrace kletterte, ihren weiten Mantel mit der Kapuze an sich pressend, vom Felsen herunter und kam auf ihn zu.

Er war unsichtbar geworden, als er den Umhang schloß. Er wich aus und ging schnell, so schnell er es vermochte, auf den Gleiter zu, der sich wieder unter einer Staubschicht verbarg.

Erbolix gestikulierte hinter der Scheibe; Dragon sah ihn undeutlich. Der Kleine schien sehr aufgeregt zu sein. War etwas mit dem Himmelswagen los? Dragon kümmerte sich nicht mehr um Kyrace, die quer über die zerfurchte Arena auf ihn zulief, sondern rannte auf die Tür des Gleiters zu, riß sie schnell auf und schwang sich auf den Sitz.

»Zu spät! Zu spät!« kreischte der Troll. Er deutete geradeaus. Mit kraftlosen Schlägen der großen Flügel erhob sich ein Vogel vom Boden. Seine Schwingen

staubten, als er sich mühsam in die Luft erhob und davonschwebte, den Hang abwärts, auf das Wasser zu.

»Zu spät! Cnossos‘ Mantel! Jetzt ist er weggeflogen. Ein Vogel! Er ist nicht ganz vernichtet!« schrie der Troll. Hastig drückte Dragon, während die Erkenntnis in seine Gedanken einsickerte, die Schalter. Summend erhob sich der Gleiter.

Die Maschine schwebte aus dem Schutz und dem Schatten des Felsens heraus. Der Staub rieselte von den glatten Flanken. Kyrace war stehengeblieben und starrte in die Richtung, aus der Dragon kam.

»Du willst sie hier zurücklassen?« schrie der Troll auf.

»Sie kann mit der Barke zurückfahren!« sagte Dragon.

Kyrace stand mitten in der Senke. Ihr Gesicht sprach deutlich aus, was sie dachte und empfand. Sie verstand plötzlich, daß Dragon sie ausgenutzt hatte. Später würde sich ihr Haß, den sie jetzt zweifellos empfand, vielleicht in Nachdenken und Trauer verwandeln, aber jetzt würde sie Dragon verzaubern, mit bloßen Fingern in Stücke reißen wollen.

Der Gleiter wurde schneller, bog ab und schoß, mehrere Mannslängen über dem Boden, in die Richtung auf Kyraces Insel.

»Du fliegst zu den versteckten Schiffen?« fragte der Troll.

»Was denkst du?« meinte Dragon. »Kann sie mir schaden?«

Erbolix sagte mit der langen, tiefen Erfahrung seines Volkes:

»Jetzt ist sie halb wahnsinnig vor Wut. Sie ist getäuscht, mit Hoffnungen genährt, verschmäht und beleidigt worden. Das verzeiht keine Frau, und eine Frau, die so ist wie Kyrace, wird dich ihr Leben lang hassen. Wehe, wenn du ihr einmal über den Weg läufst. Du hättest es klüger machen sollen. Langsam, Schritt um Schritt, hättest du eure Liebe in Gleichgültigkeit verwandeln sollen. Noch ist es nicht zu spät. Aber das mußt du allein entscheiden, mein Freund.«

Dragon kämpfte noch einmal an diesem Tag. Er rang mit der Versuchung, in ihre Arme

zurückzukehren und zu ihren Umarmungen, die er unwiderruflich verloren hatte. Aber dann dachte er an Dragomar, an Amee und die Freunde, an die wartenden Schiffe und an die Zeit voller Ruhe und Frieden, die vor ihnen lag.

Und an Mura und die Überlebensstation ... »Ich fühle mich wie eine Ratte«, sagte er leise. »Aber

ich mußte mich entscheiden und habe mich entschieden.« Erbolix fragte verständnisvoll:

»Zu Jaggar, Gabor und den Schiffen?« »Zu den Schiffen, Erbolix!« bestätigte Dragon.

Der schwarze Vogel war verschwunden. Vielleicht war er ertrunken. Hinter dem Gleiter wurde die Insel mit der Rauchsäule kleiner. Sie ließen Kyraces Insel im Westen, rechts von ihrer fast geraden Flugbahn, liegen und machten sich auf den Weg zur Stolz von Sodok und zur Schwarzen Wellenreiterin.

Und auf den Weg zu Amee, dachte Dragon.

ENDE

Dragon besiegte seinen alten Widersacher – und floh, um sich dem Zauberbann der Kyrace zu entziehen.

Vor seiner Rückkehr nach Myra hat er noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Er will feststellen, was aus der alten atlantischen Überlebensstation geworden ist, die auch ihn hatte aufnehmen sollen.

Die Möglichkeit, dies schnell und ohne große Strapazen herauszufinden, bietet ihm DER GÖTTERWAGEN ...

DER GÖTTERWAGEN unter diesem Titel erscheint auch der nächste Band der Dragon-Serie. Autor des Romans ist Clark Darlton.


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