+ All Categories
Home > Documents > Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich...

Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich...

Date post: 01-May-2021
Category:
Upload: others
View: 0 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
24
Transcript
Page 1: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal
Page 2: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

ImpressumJurij KochAugenoperation - SchattenrisseRomanISBN 978-3-86394-814-6 (E-Book) Die Druckausgabe von "Augenoperation" erschien 1988 beimVerlag Neues Leben Berlin und unter dem Titel "Schattenrisse"1989 beim Spectrum Verlag Stuttgart und 1993 bei dtvMünchen. Das Buch wurde 1991 von der DEFA verfilmt (Tanzauf der Kippe). Gestaltung des Titelbildes: Ernst FrantaFoto: Thomas Kläber © 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbRAlte Dorfstraße 2 b19065 GodernTel.: 03860-505 788E-Mail: [email protected]: http://www.ddrautoren.de

2

Page 3: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

1. KapitelVon meinem Fall, dem Fall Gerat Lauter, existieren zweiAkten. Eine abgeschlossene im Archiv der Staatsanwaltschaft.Eine zweite in der Augenklinik bei Professor Hedderoth. In derzweiten fehlen die letzten Seiten: Verlauf und Ergebnis derOperation. Sie wird Klarheit bringen. Das ist in meinem Fallwörtlich zu nehmen. Meine Aktion, falls sie am Ende derBetrachtung noch als Aktion bezeichnet werden kann, hat mirzwei blinde Augen eingebracht. Meine Chancen stehen fünfzigzu fünfzig. Es kann mir keiner etwas vormachen. Ich hattesieben Monate Zeit, mich mit meinen Augen zu beschäftigen.Meinen halbtoten Augen sieben Monate in meinem Zimmer beiKleebusch. Auf der Straße vor dem verfallenenJugendstilgebäude. Dahinter in den Gassen. Manchmal biszum Fluss, über den Nonnensteg sogar. Ich habe Radio gehörtund mir Bücher vorlesen lassen.Meine Augen sind zwei Milchglaskugeln. Man sieht ihnen dieirrsinnige Bemühung an, etwas von der Welt wahrzunehmen.Als Schatten und weniger Schatten. Professor Hedderothsagt, ich habe gekochte Fischaugen. Gekochte Fischaugenklingt viehisch, vor allem aus seinem Munde. Als ich's zumersten Mal hörte, dachte ich, der Mann ist bescheuert. Hatjedes Gefühl verloren. Für das, was in einem vorgeht, wennman sich mit solchen Augen vorstellt. Macht sich lustig überdas Elend, das ihm täglich vorgeführt wird. Schottet sich abmit Humor. Ist aber nicht. Gekochtes Fischauge istFachausdruck. Manchmal drückt sich die Medizin ländlich aus.Fünfzig zu fünfzig. Das ist so, als führte man mich in einendunklen Raum, der zwei Lichtschalter hat. Ich muss mich für

3

Page 4: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

einen entscheiden. Den rechten oder den linken. Einer wirdden Raum erhellen. Der andere wird nur knipsen. Und es wirddunkel bleiben. Zappenduster. In ein paar Tagen, GeratLauter, kannst du entweder den richtigen oder den falschenSchalter erwischen. Keiner kann dir helfen. Keiner kann direinen Tipp geben. Nimm den, nimm den! Die Natur hat nochgenügend Räume, in denen immer von zwei Schaltern einer totist. Leer. Ohne Strippe und Saft. Zur Veralberung desMenschen. Zur Verhöhnung. Doch möchte ich verdammt gernerfahren, wie das Licht angeht. Wie ein dunkler Raum sichaufhellt. Und die Dinge in ihm.Sieben Monate und drei Tage seit dem Sturz. Dem Abgang indie Brühe. Sieben Monate bei meiner Wirtin, die Kleebuschheißt und eine Wohnung hat im Jugendstilgebäude in der Mitteder Stadt. Gewartet, dass sich die Augen beruhigen und reifwerden für Hedderoths Messer. Kleebusch ist fünfzig Jahreälter als ich. Kleebusch kann erzählen. Und singen. Wir habenmanchmal zusammen gesungen. Sie hat das Essen gemacht.Und die Wäsche. Manchmal ist Juliane gekommen, meineSchwester. Manchmal Mutter. Mein Vater nicht. Weil ich dasso wollte. Vielleicht wäre er gekommen. Petra war da. Vorallem die.Das ist fast alles, was von den sieben Monaten zu sagenwäre. Kein Wort über den Prozess. Er ist nicht der Erwähnungwert. Er steht eingeaktet im Archiv der Staatsanwaltschaft.Nun endlich bald die Operation. Ich habe das Bett am linkenFenster, wenn man reinkommt. Darunter der Klinikhof. Das amrechten Fenster hat Hinnerk. Das an der Tür Albert. Hinnerkhat Tintenstift im Auge. Und gute Aussichten, mit einem blauen

4

Page 5: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

Auge davonzukommen. Aber er freut sich nicht. Er heult sogar.Heimlich, wenn er denkt, dass ich's nicht merke. Unter derDecke. Ich frage. Er antwortet nicht. Traurigt vor sich hin,dass man denken könnte, hier stimmt was nicht. Tintenstift istgefährlich.Und Albert. Neunundsiebzig, Maurer. Grauer Star. Albert willimmer nach Hause. Zur Tochter. Doch die Tochter will ihnnicht. Das weiß hier jeder. Sie hat ihn ins Heim gegeben. Weilsie selbst nicht klarkommt. Mit nichts. Mit Männern nicht. MitKindern nicht. Dem Vater. Sich selbst. Er will zu ihr. Will sichplötzlich den Star nicht herausnehmen lassen. Steht auf undläuft davon. An der Treppe fangen sie ihn wieder ein. Ich sagezu ihm: Mensch, Albert! Ein Peitschenknall, und der ist raus,der Star.Ich kenne mich auf den Fluren der Klinik aus. Zweite Tür linksdas Zimmer der Schwestern. Petras Aufenthalt. Petra ist, wiesoll ich sagen, die Zusammenfassung aller Vorstellungen vonguten Krankenschwestern. Da muss man meineSentimentalität verstehen. Sie spricht leise. Auch wenn sienichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wiesie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell.Manchmal ist ein leiser Ton darin.Das ist mir schon an jenem Abend aufgefallen, an dem ichmich bis zum Krankenhaus durchgeschlagen habe. Petra warunter den Schwestern, denen ich in die Arme lief. Sie musstemich halten. Als sie meine Augen spülten. Es war Eilegeboten. Die Verätzung hatte schon Zeichen hinterlassen. Siesprachen erregt miteinander. Der Arzt stolperte über seinenStuhl, er fluchte, er telefonierte mit dem Chefarzt. Der nicht in

5

Page 6: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

der Klinik war. Der gleich kommen wollte. In der Zwischenzeitsollte gespült werden. Noch einmal ran an die Buletten.Schnell!In mir stieg Angst auf. Dass es aus sein könnte. Mit demTageslicht. Für immer. Sie mussten mitbekommen haben, wasmit mir los war, dass ich Angst hatte und so, und versuchtenmich zu beruhigen.Keine Angst! sagte Petra. Wir müssen nur noch einmal. HaltenSie den Kopf nach hinten!Aber ich hatte mit dieser Angst zu tun, mit der ich noch nieetwas zu tun gehabt habe. Mit Ängsten schon, aber nicht mitdieser. Sie kam unerwartet wie ein Krokodil aus der Spree.An der Wand des Behandlungsraumes hing ein Kalender. MitBild, darunter der Monat, darunter die Tage einer Woche: Ichversuchte die Zahlen zu erkennen. Die großen Buchstaben desMonats. Es musste September heißen. Aber es konnte auchOktober heißen. Es war die letzte Woche des September.Das Blatt konnte vorzeitig gewendet worden sein, dann las ichSeptember, wo schon Oktober stand.Schwester, fragte ich, steht dort September?Sie drehte sich nicht nach dem Kalender um. Ja, sagte sie.Aber sie holte tief Luft. Ja, September.Dann kam ein anderer Arzt hinzu. Er begann sich für meineKopfverletzungen zu interessieren. Vor allem für die Wundeam Hinterkopf. Ich war nicht gut gefallen.Sind Sie gefallen? fragte er.Er ist zusammengeschlagen worden, antwortete der

6

Page 7: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

Augenarzt für mich. Auf der Deponie am Stadtrand. Und in einBassin geworfen. Mit Kalklauge. Es ist eine merkwürdigeGeschichte. Wir müssen die Polizei verständigen.Ätzkalk?JaEr ließ einen Pfiff hören. Er wusste Bescheid. Er wusste, wasKalklauge für Augen bedeutet.Von wem, fragte er weiter, von wem sind Siezusammengeschlagen worden? Ich spürte einen brennendenSchmerz. Er machte etwas an der Wunde, die ich schonvergessen hatte. Erzählen Sie!Ich sah nicht ein, dass ich ihnen alles erzählen sollte. Warum?fragte ich, soll ich Ihnen das alles erzählen?Erzählen Sie! sagte er. Es ist besser, wenn Sie erzählen. Wirhaben die Polizei verständigt. Dann werden Sie ohnehin alleserzählen müssen.Raupe, sagte ich.Was, Raupe? fragte der Augenarzt.Raupe ist ein Mann, sagte ich. Er heißt so.Gut, Raupe. Weiter! War noch jemand dabei?Rucksack-Erich.Er wiederholte den Namen und klammerte die Wunde. Mirwurde übel. Noch nicht so sehr, dass ich mich übergebenmusste. Aber mir wurde sehr übel.Also die beiden?Ich wollte ihnen sagen, dass noch ein dritter beteiligt gewesen

7

Page 8: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

war, aber ich brachte seinen Namen nicht mehr heraus. Ichübergab mich. Ich kotzte. Mitten hinein in die gute Stube. Ichschämte mich, aber ich fühlte mich erleichtert. Ich hatte denNamen nicht mehr über die Lippen gebracht.Sie behielten mich zwei Tage in der Klinik. Zur Beobachtung.Mit der Aussicht auf eine erfolgreiche Operation wurde ichentlassen. Aber ein reichliches halbes Jahr muss ich warten,sagten sie. Dann begab ich mich in die eingedunkelteschattenreiche Welt.Professor Hedderoth will die Operation vorzeitig wagen.Keratoplastik. Meine trübe Hornhaut wird entfernt und mitdurchsichtiger ersetzt. Von einem Toten. Mehr sagt er nicht.Tut so, als wüsste er selber nicht, von wem die Transplantatestammen. Oder von WAS. Sagt man beim Toten von WEM?Es ist sicher, dass ich wieder sehn werde. Voll. Zunächst.Dann erst beginnt die Spannung. Ob das Auge die neueHornhaut annimmt oder nicht. Acht Tage Unsicherheit. AchtTage nach der Operation.Heute hab ich mit Hinnerk am Flurfenster gestanden. Er wargesprächiger als sonst. Er beschrieb den Bahnhof unter uns.Die Gleise und so. Wie sie aus der Stadt laufen. Ich fragte ihnnach anderen Dingen. Zum Beispiel, ob noch was von demGasometer zu sehen ist, aber er blieb bei seinen Schienen.Einmal sagte er, als der Pfiff einer Lokomotive zu hören war,dass sie mit einem solchen Zug davongefahren ist. Wer istSIE? fragte ich. Er drehte sich vom Fenster und ging. Ich weißnicht, was mit ihm los ist.Von Petra weiß ich, dass heute Alberts Tochter zu erwartenist. Petra ist bei ihr gewesen, um sie zu überzeugen, den

8

Page 9: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

Vater zu überzeugen. Zugesagt hat sie.Warten im Krankenhaus. Ich sitz im Innenhof der Klinik.Wasser spritzt aus einem Rohr ungefähr einen Meter hoch undfällt ins Becken zurück. Dahinter steht eine palmige Pflanze.Und bewegt die Arme. Mit gespreizten Fingern. Sobald sichdie Flügeltür öffnet. Palmen sind Mode. Ich sollte für Tobiaseine besorgen. Und für Ines mit. Wenn man schon nicht hinkann, wo sie im Freiland stehn.

9

Page 10: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

2. KapitelAngefangen hat's, wenn ich's genau nehme, an dem Tag, alswir neben der Schule Fußball spielten. Neun A gegen dieLehrer. Es stand 1:0 für uns. Die Mädchen ringsherum. Eswar der vorletzte Schultag vor den Herbstferien. Die Mädchenschrien sich dusslig. Ich wusste, dass Ines unter ihnen war.Ich schoss das 2:0. Aber Tobias gab mir keine Vorlage mehr.Zwischen ihm und mir bestand eine Feindschaft, von der wirbeide nicht wussten, woher sie kam. Vielleicht aus demParadies. Folgen der Erbsünde. Oder so was.Tobias saß zu Beginn der Neunten neben Ines. Ines Kurfürst,wenn der volle Name interessiert. Ich weiß bis heute nicht, obdie beiden etwas miteinander gehabt haben. Er hatte einewindhundartige Gestalt, dünn, mit langen Hinterbeinen. Wenner in den Startlöchern zum Hundertmeterlauf saß, bekam ichimmer meinen Lachanfall. Ich sagte ihm, dass er mitLeichtigkeit Weltrekord läuft, wenn er unterwegs bellt.Außerdem pflegte er sich gern sein Fell. Er hatte in jederTasche einen Kamm. In verschiedenen Größen und Formen.Darunter einen, dessen Metallgriff sich als Hülle auf die Zähneklappen ließ. Einmal hatte er ihn auf der Bank liegenlassen. Ichklappte die silberne Hülle zurück. Die Zähne waren voll Dreck.Ich zeigte ihn Ines. Sie wandte sich angewidert ab. Er war einschneller, schlampiger Hund. Es fehlte noch, dass er seinUntergestell genauso wenig säuberte wie seinen Kamm. Aberdas sagte ich Ines nicht. So weit wollte ich nicht gehn.Eines Tages erschien er mit der Nachricht, dass er bei denBezirksmeisterschaften für Haarkunst als Modell teilnehmenwird. Seine Frisöse hat ihn überredet. Seine! Frisöse. Ich

10

Page 11: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

bekam wieder diesen Lachkrampf, der nicht lange dauert,aber sehr intensiv ist. Und fragte ihn, ob ihn sein! Schofför vonder Schau abholt. Ich hatte die Klasse auf meiner Seite, wennich ihn auf diese Weise fertigmachte. Aber auch das Gefühl,dass Windhunde nicht leicht aus dem Rennen zu werfen sind.Einmal sah ich, dass Ines in seinem schwarzen Haar wühlte.Leicht mit den Fingern, wie's die Mädchen tun, wenn sie dielanghaarigen Puppen weggelegt haben. Mir hatte sie nochniemals in die Haare gefasst. Von denHaarlackmeisterschaften kam er mit zwei Fotos zurück, aufdenen er als drittes Modell zu sehen war. Einmal von vorn,feixend, einmal von hinten mit den in der Mitte auf- undzueinander gekämmten Haaren. Ich fragte ihn, wie die Frisurheißt. Er antwortete Entenarsch. Und wir jubelten.Nach den Ferien verspätete sich Tobias um einen Tag. Ichbesetzte den freien Platz neben Ines. Sie hatte nichtsdagegen. Aber als er am nächsten Tag erschien, mit einemSchnurrbart unter der Nase, forderte er mich auf aufzustehn.Ich pfiff drauf. Er sagte, ich soll gefälligst auf meinenbeschissenen Platz zurückkehren. Ich blieb sitzen und tat, alswär an dem einen Tag, an dem er gefehlt hatte, allerhandlosgegangen. Ines spielte mit, indem sie wie ich mit einemAuge zwinkerte. Tobias griff nach mir und zog mich aus derBank. Und schleuderte mich über meinen eigenen Stuhl hinwegin die andere Bankreihe. Liegend noch schrie ich: Bescheuert,was! Dir ist wohl Lack ins Gehirn gekommen!Er hatte sich hingesetzt und blätterte in seinen Heften, als wärnichts gewesen. Ich warf eine Tasche in seine Richtung. Erfing sie auf und warf sie zurück.

11

Page 12: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

Wenn ich dir sage, du sollst von meinem Platz gehn, dann hastdu von meinem Platz zu gehn, rief er.Gar nichts hab ich.Haste, merk dir das. Oder soll ich dich noch einmal...Versuchs doch, du Entenarsch. Weißt du, dass du noch vielschlimmer aussiehst wie ein Entenarsch.Er sagte: Als! Das heißt als! Entenarsch.Damit traf er mich härter als mit dem Hinauswurf aus seinerBank. Ich verbesserte, sooft ich's konnte, seine steinzeitlichengrammatikalischen Fehler. Die Ausdauer, mit der ich's betrieb,hatte ihn verunsichert, dass er oft nicht wagte, den Mundaufzutun. Nun konnte er endlich einen Stein zurückwerfen, dener von mir an den Kopf gekriegt hatte. Ich wollte nichtzugeben, dass er Recht hatte. Und stritt, dass man auch wie!Entenarsch sagen kann. Bis die Lehrerin kam und wissenwollte, worum wir stritten. Sie entschied zu meinen Ungunsten,benutzte aber statt Entenarsch ein anderes Wort.Ines war offensichtlich mit dem erneuten Wechsel zufrieden.Was mir nicht in den Kopf ging. Ich konnte nicht begreifen,dass sie den Unterschied zwischen uns nicht sah. Und mich mitdiesem englischen Pavian, falls es so etwas gibt, auf eineStufe stellte. Für mich gab es überhaupt keinen Zweifel, wervon uns beiden aus der Sicht eines Mädchens der Besserewar. Gleich in der nächsten Stunde sah ich, dass sie sichbeschriebene Zettel zuschoben. Ich vermutete, es ging ummich. Außerdem sah ich in der Pause, dass Ines in seinedicken Bemmen biss, die er ihr hinhielt.Ines war ein staketenartiges Wesen, falls eine Vorstellung

12

Page 13: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

davon möglich ist. Ich hab noch nie eine Gazelle laufen sehn.So wie sich Ines fortbewegte, stelle ich mir Gazellen in freierWildbahn vor. Wenn sie auf dem Hof luftwandelte, fiel ihrhochgetragener Kopf auf. Was an ihrem schönen Hals lag.Wenn sie sich bückte, verschwand sie in der Steppe deranderen. Mit der Brust hatte sie ihre Schwierigkeiten. Auchwenn sie sie vorantrug, war nicht viel von ihr zu sehn. Sie halfein bisschen mit Schaumgummi nach. Ines als ein besonderesExemplar ihrer Gattung. Eigentlich gefiel sie mir nicht.Trotzdem wollte ich, dass ich! ihr! gefalle. Warum, weiß ichnicht.Einmal sagte ich - das lag daran, dass sie sich nun täglich vonTobias füttern ließ, als bekäme sie zu Hause nichts zu fressen-, dass einer, der behauptet, Ines an die Brust gefasst zuhaben, ein Schaumschläger ist. Das war ein großer Fehler.Man darf Mädchen alles Mögliche sagen, nur nicht, dass siekeine Brust haben. Ines heulte los und verschluckte sich dabei.Und saß eine ganze Stunde mit glühenden Ohren in der Bank.Na warte, das kriegst du zurück!Ach, Mensch, Ines, ich... Ich bekam keine Entschuldigungzusammen. Außerdem wusste ich nicht, wofür ich michentschuldigen sollte, wenn ich doch nichts weiter als dieWahrheit gesagt hatte. Jedenfalls, wie sie sich mir bot. Ichversuchte von nun an keine Kräfte mehr an die Gazelle zuvergeuden. Auch in den Stunden wollte ich Ines und Tobiasnicht beobachten. Tat es aber. Doch nicht mehr so oft.Ich rechnete damit, dass mich Ines' Vater zur Rede stellenwird. Er kreuzte in fast regelmäßigen Abständen in der Schuleauf. Dienstlich. Weil er als Hauptberuf die Erziehung der

13

Page 14: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

jungen Generation ausübte, indem er von Schule zu Schulefuhr und dort nach dem Rechten sah. Er hatte mich schoneinmal in eindringlich pädagogischer Weise ermahnt. Nachseiner Festrede zur Jugendweihe. Also, er hielt! diese, indemer sich fest an sein Manuskript hielt, das er kurz vor Ankunftam Pult aus der linken Sakkotasche zog. Das Papier warschon reichlich zerfleddert. Ich sahs, weil ich in der erstenReihe saß. Er redete nicht schlecht, aber auch nicht besserals fast alle Redner bei uns. Ich zählte zunächst die Blumenauf dem Podest, wurde aber dann gestört, weil mir in derRede ein Fehler auffiel: Als vor soundso viel Jahren dieRussischen Arbeiter in Petrograd und so weiter aber das warnicht vor soundso viel Jahren, sondern vor soundso viel plusein Jahren. Er hatte die Rede vom Vorjahr. Vielleicht sogarvom Vorvorjahr, nur dass er inzwischen auf Korrekturenverzichtete, weil er nicht mehr damit rechnete, dass einVerrückter im Publikum sitzt, der alles nachrechnet. Wichtig istallein die Tatsache, dass die Russischen Arbeiter inPetrograd und so weiter. Das sagte er mir, rot vor Zorn, nachder Feier, die durch meinen berichtigenden Zwischenruf inihrer Weihe gelitten hatte. Dem schloss sich der Direktor an.Er wurde Otto I. genannt, aber keiner wusste, warum.Vielleicht, weil er tatsächlich Otto hieß. Ich denke eher, weil ersich nach einer Kaiserkrone im Schuldienst sehnte, um einkleiner Imperator Augustus zu werden. Otto I. hatte michlängst auf dem Kieker. Wegen einer Reihe andererZwischenbemerkungen. Ich stand also allein mit meinerMeinung, dass die Weihe aufgewertet worden war, weilerstens die Wahrheit gesagt worden ist und zweitens vielewieder aufgewacht sind. Ines' Vater wird sobald nicht wieder

14

Page 15: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

mit einer alten Rede aufkreuzen können. Tut mir leid.Also, wir spielten Fußball auf dem Platz neben der Schule.Das Spiel war noch nicht zu Ende, als der kleine Sohn desHausmeisters angerannt kam. Mitten aufs Spielfeld. Tobiasfing ihn auf und wollte ihn aus der Gefahrenzone bringen. Aberder Junge zappelte in seinen Armen. Er widersetzte sichheftig, dass mir klar war, er hatte was mitzuteilen. Kaumwieder auf den Beinen, sprang er zum Direktor und sagte ihmetwas. Daraufhin ging der vom Feld. Und nach ihm ein paarLehrer. Ich schoss den Ball zum Ausgang. Als wir auf denSchulhof kamen, sahen wir das Auto und den fremden Mannneben ihm. Der ging gleich mit allen ins Haus. Und insSekretariat. Schon kurz darauf lief die Nachricht über die Flureund machte uns sprachlos und steif. Lehrer Lorenz ist tot.Gestorben gestern Vormittag. Während der Vorbereitung aufseine letzte Stunde vor den Ferien.Neiein! rief Ines. Und griff sich an den Kopf. Sie rannte aufihren Platz. Dort zerknüllte sie ein Heft. Wir sahen das, abertaten nichts dagegen. Es war, als brauchten wir nuntatsächlich keine Hefte mehr.Am nächsten Tag versammelte sich die ganze Schule zurGedenkminute. In einer Ecke der Aula stand sein Bild mitTrauerflor und Blumen. Eine Rede wurde gehalten. VomStellvertreter des Direktors. Otto I. war nicht da, weil er zueiner Konferenz war. Oder weiß der Teufel wo. Was uns nichtpasste. Weil wir nicht begreifen konnten, dass etwas wichtigersein konnte, als Lorenz ein paar gedenkende Worte zuwidmen. Gerade diesem. Wenn es ein anderer gewesenwäre. Für diesen hätte er alles sausenlassen müssen. Alles,

15

Page 16: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

verdammt und zugenäht! Also sprach Goldi, der überhauptnicht sprechen kann. Sein goldener Zahn funkelte. Wirverlieren einen treuen, aufrechten, ehrlichen und Pipapo. Esstimmte. Wir hatten einen solchen verloren. Aber niemand imSaal glaubte, dass Goldi darüber so traurig war, wie ervortäuschte. Und seinen spitzen Adamsapfel springen ließ, umvorzumachen, dass ihm etwas im Hals steckte. Er kaute seineLüge. Jeder wusste, dass Lorenz Goldis Feind gewesen war.Lorenz hatte Goldis Sohn einen glänzenden Abgang von derSchule vermasselt. Mit einer fetten Vier, die er sich verdienthatte. Weil er den Inhalt eines Fasses nicht berechnen konnte.Ja, wenn ich's aussaufen darf, hatte er Lorenz gesagt, könnteich sagen, wie viel drin war. Die Schulleitung war sauer, weilsich Goldis Sohn zur Armee gemeldet hatte. Lorenz sagte,dass er nicht schlafen kann, wenn er daran denkt, dass in derArmee mathematische Nullen an Kanonen stehen könnten.Schluss! Aus! Wir klatschten, als Lorenz wieder in unsererKlasse erschien, obwohl es geheißen hatte, dass er auf eineandere Schule gehen soll.Und nun redete Goldi von seinem und aller Schmerz über denVerlust... Pah! Ich überlegte, ob ich gehen sollte. Aufstehn undgehn. Und eine Trauerfeier allein abhalten.Irgendwo in einer Ecke. Vielleicht im Sessel am kleinen rundenTisch vorm Sekretariat, in dem er fast jede Pause gesessenhatte. Dorthin konnte man gehen. Mit seinen Fragen. Er warimmer da. Es klingt sentimental. Aber es war so.Uns war gleich in der ersten Stunde aufgefallen, dass er sehrgut zeichnen konnte. Er malte ohne Zirkel einen Kreis an dieTafel, der sich gewaschen hatte. Dabei stellte er den Ellbogen

16

Page 17: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

auf die schwarze Fläche und ließ den Arm mit Kreide einmalnach rechts und einmal nach links ausschlagen. Fertig. Auchdie anderen geometrischen Figuren zeichnete er ohne Linealund Dreieck. Einmal waren wir bei ihm zu Hause. Seine Frauhatte Kuchen gebacken. Und wir saßen im Zimmer herum. Erzeigte uns alles. Vor allem seine unheimliche Bibliothek. Vonder ein Teil im Keller untergebracht war. Plötzlich entdecktejemand die Folien mit Diagrammen, Paradigmen und anderenMustern. Die uns bekannt vorkamen. Zunächst dachten wir,dass er sie aus den Lehrbüchern abgezeichnet hatte. Bis sichherausstellte, dass es umgekehrt war. Er zeichnete sie für denSchulbuchverlag. Stapelweise Versinnbildlichungen. Atome.Moleküle. Verschiebungen. Räume mit und ohne Inhalt. Erbrachte die unsichtbare Welt ins Bild. Erst viel später erfuhrenwir von der Auszeichnung, die er nicht angenommen hatte. Ersagte, ein anderer verdient sie, weil der andere den größerenTeil der geistigen Arbeit geleistet hat. Indem er! auf die Ideegekommen ist, wie etwas für Schulrüben begreiflich zumachen ist. Das muss man sich vorstellen. Ich meine, dasseiner zehntausend Mark oder mehr oder weniger ablehnt, weiler der Meinung ist, er verdient sie nicht. Das gibt's nur imRussenfilm. Wo die Brigade eine Prämie ablehnt, weil sie garnicht den Plan erfüllt hat, für den sie die kriegen soll. Da fasstman sich in der Regierung an den Kopf und wird stutzig: Wasgeht hier vor? Was wollen die damit erreichen? Auch einigevon uns zweifelten, ob Lorenz alle beisammen hat. Wenn er soetwas tut. Als uns Ines die Geschichte erzählte, die sie vonihrem Vater hatte, der solche Dinge wusste.Dann das Begräbnis. Wir hatten in der Klasse beschlossen,uns nicht nur hinzustellen und zu heulen. Wie es auf allen

17

Page 18: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

Begräbnissen geschieht. Wir wollten uns von Lorenz aufbesondere Weise verabschieden. Zunächst sprach Otto I. Ichwar froh, dass er nicht wieder auf einer Konferenz war,während wir einen guten Lehrer der Erde übergaben. Ichglaube, ich hätte Goldi nicht noch einmal zu Wort kommenlassen. Ich hätte mich hingestellt und losgeredet. Im Namender Schülerschaft. Der Eltern. Des Ministers für Volksbildung.Das wäre die kleinere der beiden Lügen gewesen. Dannsprach jemand vom Bezirk. Dann vom Elternbeirat. DerSchulchor brachte nichts zustande. Er blieb bei der erstenStrophe stecken. Der Dirigent machte zwei Versuche. Dannheulte er mit. Wir traten alle noch einmal an den Grubenrandund warfen unsere Blumen auf den Sarg. Jeder unsererKlasse hatte sich einen Spruch für Lorenz ausgedacht. ZumBeispiel: Toter Freund, du bist nicht tot. Und: Wer so stirbt,stirbt nicht wohl. Tobias hatte einen Vierzeiler. Er brachte ihnnicht zusammen. Und trat nach mehreren Anläufenunverrichteterdinge vom Brett. Was ich als gute Lösungempfand, denn sein Vers ähnelte einem zerbeulten Eimer.Lorenz genügte die Bemühung. Er hatte für guteLösungswege bessere Noten verteilt als für richtigeEndergebnisse. Ich sagte einen Satz, der auf einem Papier aufdem Grab des Sängers und Schauspielers Wyssockigestanden haben soll. Immer sterben die Falschen! Für einenAugenblick hörte das weitrundige Schluchzen auf. Ich hatte alsletzter auf dem Brett gestanden. Nun löste sich dieTrauergemeinde auf.Otto I. trat zu mir und sagte: Na ja, ganz gut, nur...Was meinen Sie? fragte ich.

18

Page 19: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

Das mit den Falschen, die sterben. Du wünschst dir, dassandere...Nein, wünsch ich mir nicht.Aber es klingt so.Ich meine, er hätte noch bleiben müssen. Er! Vor allem, sagteich. Alle sollen bleiben. Einige vor allem. Die noch etwas zuerledigen haben. Die sollen nicht gehn. Aber die gehn.Er hatte die Arme auf dem Rücken. Wie im Unterricht. Ichwusste, dass er sich bald verabschieden wird, weil irgendwoum die Ecke sein Auto stand. So ist es, sagte er. Wusstest dunicht, dass er schwer krank war?Nein, keiner von uns wusste es.Wir waren an seinem Wagen. Er fragte mich, ob er michmitnehmen kann. Ich bedankte mich. Als er den Schlüssel ausder Tasche zog, sagte er: Komisch klingt es schon. Immersterben die Falschen. Man kann sich vieles denken.Er zündete schon. Ich sagte: Aber wenn man sich's denkenkann, muss man es auch sagen können. Ich meine, es müssteimmer alles gesagt werden können, was gedacht werdenkann. Man kann doch nicht alles in den Kopf hinein verlagern.Und dort speichern. Und niemals wieder herausholen.Ja, aber solche Sprüche, sagte er. Ich sah, dass erwegwollte. Er zeigte kein großes Interesse, sich mit mirdarüber zu unterhalten, was man wo sagen kann oder nicht.Er legte den Gang ein.Einige aus unserer Klasse holten mich ein und fragten, ob ichmit baden komme. Ich hatte keine Lust. Ich nahm mir vor,

19

Page 20: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

nach Hause zu laufen. Drei Kilometer. Unser Haus steht amStadtrand, schon wieder im nächsten Dorf. Ich war schrecklichniedergeschlagen. Weil alles zusammenkam.Zu Hause setzte ich mich in den Garten und begann ein dickesBuch zu lesen. In dem sich Mönche wie verrückt über etwasstritten. Morde kamen auch vor. Sein Autor sagt immer dasGegenteil von dem, was er meint. So groß ist die Kraft derWahrheit, dass sie - wie die Schönheit - sozusagen von selberum sich greift. Und gelobt sei der Name unseres Herrn JesusChristus für diese schöne Erkenntnis!Als ich beim zweiten Mord war, kam Vater. Mit dem erstenBus des Berufsverkehrs. Er fragte mich, was ich lese. Erwartete keine Antwort ab. Es interessierte ihn nicht, wonacher fragte. Er fragte, weils üblich ist, etwas zu fragen, wennman nach Hause kommt. Ich glaube, er hat noch kein Buch zuEnde gelesen. Eigentlich wollte ich noch bis zum dritten Mordlesen, weil er zwischen den Zeilen angekündigt war, aberMutter rief zum Abendbrot.

20

Page 21: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

3. KapitelAbendbrote sind bei uns Festmahle. Mit Kerze auf dem Tisch.Und so. Vater wollte etwas von dem Prunk, der auf denBildern an unseren Wänden zu sehen war. Er aß mit silbernemBesteck, das keins war. Er sagte, mit silbernem isst nicht maldie Regierung, weil Silber ungesund ist. Er führte uns vor, wiebehaglich er sich fühlte, indem er langsam aß. Obwohl ichwusste, dass er gern schneller gegessen hätte. Ich stellte mirden malmigen Brei in seinem Mund vor. Zu allem trank erRotwein. Ich wusste aber, dass er nach dem Essen in dieSpeisekammer gehen wird, um ein Bier hinunterzukippen. Ausder Flasche.Esst, Kinder, esst! sagte er. Und meinte auch die Mutter.Ich wartete auf den zweiten Teil des Abends. Nach derSättigung wurden Familienangelegenheiten besprochen. Mankonnte sein Herz öffnen. Nachdem sich Vater den Mundabgewischt hatte, legte er die Arme auf den Tisch und sagte:Dann schießt mal los!Ich wollte nicht. Und stand auf.Wo willst du hin? fragte er.In mein Zimmer.Du weißt...Ja, weiß ich.Setz dich!Ich setzte mich, obwohl Mutter sagte: Lass ihn doch! Er hateinen schweren Tag hinter sich.

21

Page 22: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

Was für einen schweren Tag?Lorenz.Was für Lorenz?Der Lehrer.Er hatte es vergessen. Es war zum Kotzen. Er hatte gewusst,aber den ganzen Tag nicht daran gedacht, dass mein Lehrergestorben und beerdigt worden war. Dass wir alle auf demFriedhof gewesen sind. Und gesungen haben. Und gebetet. Eswird mancher unter uns gewesen sein, der gebetet hat. Und erhatte in seinem Hotel gesessen, und es war ihm nicht für denBruchteil einer Sekunde eingefallen, dass heute Lorenz... Dener gekannt hatte. Vom Sehen. Und Hören. Ich hatte oft vonLorenz erzählt.Ach ja, sagte er. Das ist wirklich traurig. Wenn man bedenkt...Wie alt war er?Nicht einmal vierzig, antwortete Mutter.Ihm gefiel das Thema nicht, und er erzählte von einerTouristengruppe im Hotel, für die keine Zimmer reserviertgewesen waren. Panne. Übermittlungsfehler. Wie er hatteeingreifen müssen. Mit Ausweichquartieren. Die eigentlichnicht belegt werden dürfen. Er hatte es auf die eigene Kappegenommen. Dann fragte er übergangslos, ob ich meinBewerbungsschreiben fertig habe. An dem ich seit Tagenschrieb. Ich nickte.Zeig her! sagte er.Ich stand auf und ging in mein Zimmer, das ganz vorn lag.Oder ganz hinten, wie man's nimmt. Mit den Papieren unterm

22

Page 23: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

Arm kehrte ich zurück. Ich reichte ihm den Lebenslauf und dieanderen Bögen. Zunächst nahm er den Stapel und klopfte dieüberstehenden Blätter randbündig. Ich sah die Professionalitätim Umgang mit Unterlagen. Und zugleich denunausgesprochenen Vorwurf gegen meine Respektlosigkeitgegenüber Akten. Er trug manchmal die ganze Belegschaftdes Hotels unterm Arm. Das ganze Hotelwesen der Stadt. InOrdner geklemmt. Nun las er meine Papiere. Die ersten, dieich über mich selber angefertigt hatte. Er las an. Überflogvorauseilend. Kehrte zum Ausgangspunkt zurück. Blätterte um.Alles klar. Gut. Dann las er laut vor: Warum habe ich mich fürden Beruf des Montageschlossers entschieden... Könnte einFragezeichen dahinter, oder?Er las weiter, leiser werdend. Und verstummte. Nach einerWeile legte er das Blatt auf den Tisch. Und die Hand darauf.Also, mein Junge, sagte er.Was ist?Wasistwasist! Er suchte nach Worten. Wenn ich's richtigüberlege, ist er ständig auf der Suche nach Worten.Passenden. Wenn er für die Zeitung schreibt zum Beispiel. Esist erstaunlich, wie viel Zeit er dafür hergibt. Er hat sich eineKartei schöner Adjektive und Verben angelegt. Sie stammt ausder Zeit, als er noch Redakteur war. Bei einer kleinen Zeitung.Sie hatte ihr Erscheinen eingestellt. Was keinem aufgefallenwar. Flurbereinigung im Blätterwald. Nun ist er Personalchefim Hotelwesen. Aber das Schreiben kann er nicht lassen. Ersetzt auch Briefe und Anträge auf. Für Kollegen, Bekannte undNachbarn. Die sich nicht gut ausdrücken können.Weißt du, sagte er, wir werden uns alles noch einmal genau

23

Page 24: Impressum · 2018. 9. 6. · Sie spricht leise. Auch wenn sie nichts sagt, versteh ich sie. Ich kann ihren Atem deuten. Wie sie einatmet und wie sie ausatmet. Langsam, schnell. Manchmal

überlegen, was wir sagen. Was wir nicht sagen. Wie! wir das!sagen, was! wir sagen.Ich schaute auf die Uhr.Also, wenn du keine Zeit hast...Ich sagte, dass ich schon Zeit habe, aber keine Lust und dasses nicht so wichtig ist, wie! etwas gesagt wird, sondern einzigund allein, dass!Du musst noch viel lernen, mein Junge, sagte er.Ich bat ihn, mich nicht weiter mit mein Junge anzureden. Weiles bescheuert klingt. Weil ich mich dabei als Schaf fühle.Wieso Schaf?Ich konnte es nicht genau begründen. Ich sah mich in einerHerde mit einem Hirten davor. Kläffende Hunde waren auchdabei. Er schüttelte den Kopf.Es ist ja nicht für mich.Also, fangen wir an, sagte ich.Mutter und Juliane räumten ab. Sie zogen sich zurück. Es warmir recht, dass sie Platz machten. Ich ahnte, dass etwaspassieren wird.So wird kein Hering zu gewinnen sein, sagte er. Und hielt dasBlatt wie einen Fisch am Schwanz.Zum Beispiel?Zum Beispiel: Was heißt: lch habe den Wunsch, den Berufdes Montageschlossers zu ergreifen, weil er mir gefällt. Wasgefällt dir? Der Wunsch oder der Beruf? Und überhaupt...Was überhaupt?

24


Recommended