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Im Zweifel eine Tommy-Gun

Date post: 04-Jan-2017
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Chicago Band 4

Im Zweifel eine Tommy-Gun

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Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›tro­cken gelegte‹ Nation konsumiert mehr Alkohol als jemals zuvor. Für den Nachschub sorgen gut organisierte Gangsterbanden, gegen die die Polizei einen vergeblichen Kampf führt. Nicht zuletzt, weil auch sie oft mit am Alkoholschmuggel verdient. Die Sitten sind rau und ein Men­schenleben zählt wenig, wenn es um viele Dollars geht. Die Gangster­bosse unterhalten ihre Privatarmeen von Killern und leben selbst wie Könige.

In Chicago versucht der Privatdetektiv Pat Connor nicht zwischen die Fronten zu geraten und trotzdem der Gerechtigkeit Geltung zu ver­schaffen. Um aber in diesem Haifischbecken zu überleben, muss man selbst auch die Zähne zeigen.

*

Ich kann nicht sagen, dass ich besonders gute Laune hatte, als ich zum Büro fuhr. Es war kalt und es schneite und mit meinem Kater von gestern Abend fror ich doppelt. Im Büro kam es mir kaum wärmer als im Auto vor. Irgendjemand hatte die Heizkörper heruntergedreht. Gut möglich, dass ich es war. Wahrscheinlich hatte ich gestern Abend die Innenheizung schon genügend aufgedreht, um auf Außenheizung ver­zichten zu können.

Das Büro kam mir leer vor. Das musste an Bettys verwaistem Schreibtisch liegen. Mir fiel ein, dass sie heute erst am Nachmittag kam. Bis dahin musste die Nagellackindustrie auf Unterstützung aus der Privatdetektei Connor verzichten.

Ich drehte die Heizungsventile auf und bediente mich aus dem Flachmann, um auch die Innenheizung ein bisschen anzukurbeln. Den Hut hängte ich an den Garderobenständer. Den Mantel behielt ich erst mal an. Ich verstaute den Flachmann in der Schreibtischschublade neben dem 38er Smith & Wesson. Die beiden vertrugen sich gut. Schließlich stellten sie meine Notfallausrüstung dar und zählten zu meinen besten Kumpels.

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Ich klaubte eine frische Packung Zigaretten aus der Manteltasche, riss sie auf, klopfte eine Lucky heraus und zündete sie an. Ich legte die Füße auf den Schreibtisch und blies einen blauen Ring zur Decke.

Jemand klopfte an die Tür. »Herein«, krächzte ich und räusperte mich dann erst mal. Das ›Herein‹ hatte ich mir schenken können, denn der Besucher

hatte die Tür längst auf gestoßen. Was da ins Büro gestiefelt kam, war gut geeignet, mir den letzten

Rest an guter Laune zu rauben. Es war ein Mann in einem dunkelblau­en Uniformmantel und einer dazu passenden Mütze. Uncle Sam hatte diese Teile nicht entworfen, denn auf den roten Kragenspiegeln war ein weißes S zu sehen. Der Mann gehörte zu den Soldaten Gottes.

Die Salvation Army am frühen Morgen! Das hatte mir gerade noch gefehlt.

Da diese Leute selten allein kommen, horchte ich zum Flur hin, aber die musikalischen Darbietungen hatten offenbar noch nicht be­gonnen.

Mein Besucher marschierte schnurstracks zu meinem Schreibtisch, baute sich dort auf und starrte meine Schuhsohlen an. Bevor er aller­dings den Mund öffnen konnte, beschied ich ihn: »Tut mir Leid, wir geben nichts, weil wir selbst nichts haben. Sie kennen sich ja aus im Geschäft und wissen, wie teuer der Schnaps heutzutage ist. Wenn Sie mich fragen, sollten Sie nicht gegen den Alkohol kämpfen, sondern gegen die Prohibition. Da hätten Sie mehr Zulauf.«

»Treiben Sie bitte keinen Scherz mit diesen Dingen, Bruder«, sag­te der Mann mit Leichenbittermiene. »Alkohol zu trinken ist eine Sün­de.«

»Sie sagen es: sündhaft teuer. Was mich angeht, so trinke ich meistens Kaffee.«

»Ich fürchte, die Art von Kaffee kenne ich, Bruder.« Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind es gute Ratschläge

zu meiner Lebensführung und am wenigsten mag ich es, wenn mir Vorträge dieser Art in meinem eigenen Büro gehalten werden. Ich ent­schloss mich, den Kerl auf der Stelle vor die Tür zu setzen. Bevor ich dazu kam, geschah allerdings etwas, das mich friedlicher stimmte.

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»Ich bin Captain Robert Kirby von der Salvation Army«, sagte mein Gegenüber. »Und ich möchte Ihre Dienste in Anspruch nehmen.«

Ich war verblüfft, aber die Sprache verschlug es mir nicht. Das konnte ich mir auch gar nicht erlauben. »Der übliche Tagessatz sind fünfundzwanzig Dollar plus Spesen.«

Halb rechnete ich damit, dass Kirby Geldverdienen ebenfalls als Sünde ansah und mir stattdessen Gottes Lohn in Aussicht stellte. Aber der Captain zog einen zerknautschten Franklin aus der Manteltasche, strich ihn halbwegs glatt und legte ihn auf den Schreibtisch. »Reicht Ihnen das als Vorschuss?«

Ich nahm die Füße vom Schreibtisch und brachte das Geld umge­hend in Sicherheit. Im Hinterkopf fragte ich mich, wie Kirby an einen so großen Schein gelangt war. Es hätte mich weniger gewundert, wenn er mir den Betrag aus den unergründlichen Tiefen seines Man­tels heraus in Nickels und Dimes vorgezählt hätte.

»Was muss ich dafür tun? Musikinstrumente beherrsche ich nicht und Singen ist auch nicht meine Stärke.«

»Sie sollen verhindern, dass ein junges Mädchen entführt wird.« Ich drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und schaute ihn

mir genauer an. Er mochte um die fünfundvierzig sein, die Statur war hager, fast asketisch und das Gesicht zerknautscht wie die als Vor­schuss gezahlte Hundertdollarnote.

»Ihre Tochter?« »Nein. Es handelt sich um ein neues Mitglied, das aus eigenem

Entschluss, aber gegen den Willen der Familie zu uns gestoßen ist. Ich befürchte, dass die Familie sie mit Gewalt zurückholen will.«

Ich zückte Bleistift und Notizblock. »Name? Alter?« »Ethel O'Brannon. Sie ist zwanzig Jahre alt und hat ihre Berufung

gefunden.« »Dem Namen nach irischer Abstammung?« »Ja.« »Rote Haare?« »Rotblonde Locken. Sie ist schlank und sehr hübsch.« Die Begeisterung in der Stimme mochte man noch als christlich

durchgehen lassen, das lüsterne Funkeln in den Augen weniger. Viel­

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leicht verstand der Captain unter Berufung ein Talent für akrobatische Übungen in der Horizontalen. Auf jeden Fall schien er eine Schwäche für junges Gemüse zu haben. Mir war das im Prinzip egal. Was meine Klienten unterhalb der Gürtellinie trieben, interessierte mich nur rein beruflich.

»Haben Sie konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sie entführt wer­den soll?«

»Ich wurde von einem ihrer Brüder angepöbelt und geschlagen. Bei der Gelegenheit hat er angekündigt, sie auch gegen ihren Willen zu ihrer Familie nach Hause zu holen.«

»Was ist das für eine Familie?« »Irisches Pack.« »Sie wissen, dass ich ebenfalls irischer Abstammung bin? Sie soll­

ten sich einen italienischen Detektiv suchen.« Wenn Joe noch da wäre, hätte ich den Fall an ihn weitergereicht. Mr. Salvation Army bequemte sich, seine Äußerung zu erläutern. »Es hegt mir fern, alle Iren als Pack zu bezeichnen. Hätte ich mich

sonst Jesus verschrieben? Und würde ich mir dann Sorgen um ein iri­sches Mädchen machen? Aber Ethels Leute sind arbeitsscheue Diebe und Zuhälter. Und nicht einmal das können sie richtig.«

Der fachmännische Kommentar des Captains erstaunte mich, aber das Erstaunen hielt sich in Grenzen. Die Klientel, die Kirbys Truppe mit Heilsgesängen zu erquicken versuchte, hatte es wohl meistens faust­dick hinter den Ohren. Er würde es gelernt haben, die Spreu vom Wei­zen zu trennen.

»Liebt Jesus nicht auch die Sünder?«, fragte ich scheinheilig. Der Mann fühlte sich angegriffen und wurde militärisch laut. »Ich

verdamme sie ja nicht und kämpfe auch um ihre Seelen. Aber Jesus erwartet in erster Linie von mir, dass ich sie daran hindere, andere zu sich herabzuziehen. Ich weiß, dass sie Ethel auf den Strich schicken wollen.«

Ich runzelte die Stirn. »Wirklich? Wer sagt das?« »Ethel. Ihre ältere Schwester schafft bereits an und muss das

Geld der Familie abliefern.«

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Ich nahm erneut zur Kenntnis, dass der Captain bei bestimmten Dingen eine direkte Sprache bevorzugte. Das war mir auch lieber als religiöses Gequatsche.

»Name der Schwester?« »Ist das wichtig?« »Alles kann wichtig sein.« »Dorothy, für ihre Freier Dodo. Sie arbeitet im Velvet & Silk.« Den Schuppen kannte ich. Oberklasse, bekannt für frische Ware.

Ich zündete mir eine weitere Lucky an. »Wenn ich Ethel beschützen soll, muss ich wissen, wo ich sie finde und wie ihr Tagesablauf ist.«

»Ich habe sie in einem christlichen Hotel untergebracht und...« »Name des Hotels? Adresse?«, unterbrach ich ihn. »Das Flying Dutchman in der Wilson Street. Das ist in der Nähe

der West Huron Street.« Der Name Flying Dutchman sagte mir nichts. »Hört sich nicht be­

sonders christlich an.« »Das Ehepaar Brunner, dem das Hotel gehört, ist der Salvation

Army sehr verbunden und das Hotel wird nach christlichen Grundsät­zen geführt. Dort kann ihr nichts passieren.«

Ich beschloss, mir den Laden anzusehen. Wenn der Captain Recht hatte, ersparte mir das den Nachtdienst. Ethel rund um die Uhr zu überwachen hätte ohnehin den doppelten Tagessatz gekostet und mich in Verlegenheit gebracht. Ich hätte mir einen zuverlässigen Mit­arbeiter suchen müssen und ich wusste, dass ich einen wie Joe wohl kaum noch einmal finden würde.

»Also weiter mit dem Tagesablauf.« »Ich hole sie morgens um sieben im Hotel ab und bringe sie zu

unserer Bäckerei in der Seven Oaks Street. Dort arbeitet sie bis fünf Uhr nachmittags. Dann hat sie drei Stunden zu ihrer privaten Verfü­gung. Um acht treffen wir uns in der West General Booth Church und fahren auf die South-Side, um Geld zu sammeln und Sünder zu bekeh­ren. Um zehn fahre ich sie zum Hotel zurück.«

Ich fragte mich, ob Kirby sich anschließend noch für die Fahrerei belohnen ließ. Laut sagte ich: »Hört sich anstrengend an.«

»Für Gott ist uns keine Anstrengung zu viel.«

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Ob Ethel das auch so sah? »Und am Wochenende?« »Am Sonnabend wird in der Bäckerei nur von elf bis zwei gearbei­

tet, am Sonntag gar nicht. Ansonsten ändert sich nichts, wenn man mal davon absieht, dass wir uns am Sonntag um zehn Uhr zum Got­tesdienst in der West General Booth Church treffen.«

Gott zu dienen schien wirklich ein Fulltimejob zu sein. »Wo befindet sich diese Kirche?« »Auf der West-Side, Nummer siebzehn, Delaney Street.« Das sagte mir nichts. »Ist es leicht, in die Bäckerei einzudringen?« »Ich habe veranlasst, dass man vorsichtig ist und keine Fremden

hineinlässt. Einige der Bäckergesellen sind ziemlich kräftig und können dieser Forderung auch Nachdruck verleihen.«

»Was macht Ethel in ihrer Freizeit?« »Sie bummelt gern über die Michigan Avenue oder geht ins Kino.« »Allein?« »Meistens mit ihrer Freundin Agatha Hubbard.« »Auch von der Salvation Army?« »Nein. Sie sind gemeinsam zur Schule gegangen.« Ich nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und überlegte. Wie

es aussah, drohte Ethel am ehesten Gefahr, wenn sie allein oder mit ihrer Freundin unterwegs war. Vielleicht auch abends, wenn sie mit der Heilsarmee vor den Nachtlokalen auf der South-Side herumlärmte. Dort gab es ausreichend Gelegenheit, das Mädchen plötzlich zu packen und rasch mit ihr in der Dunkelheit zu verschwinden. Ich ließ mir von Kirby die Adressen von den O'Brannons und Agatha Hubbard sowie seine eigene Telefonnummer geben.

Als der Captain seinen Hintern zur Tür hinausgeschoben hatte, schaute ich mir erst mal den Franklin an. Er sah ziemlich echt aus. Halleluja. Dann prüfte ich, ob der Flachmann noch in der Schublade lag, obwohl ich keinen vernünftigen Grund kannte, warum er das nicht tun sollte. Halleluja. Ich nahm noch mal einen Schluck, um mich auf die vor mir liegende Aufgabe vorzubereiten.

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Heute war Freitag. Zehn Uhr dreizehn. Also müsste Ethel in der Bäckerei sein. Ich entschloss mich, später zu überprüfen, ob sie dort sicher war. Zunächst wollte ich mir die Behausung der O'Brannons ansehen.

*

Die Adresse, die mir Kirby genannt hatte, befand sich auf der South-Side: West 42nd Street 17. Das war in der Nähe der Schlachthöfe. Un­willkürlich müsste ich an meinen verstorbenen Partner Joe denken. Er hatte mal einen Fall in diesem Bezirk, der ihm innerhalb von drei Ta­gen und in dieser Reihenfolge ein blaues Auge, eine Stichverletzung am Arm und eine Gehirnerschütterung einbrachte. Als er die Spesen­rechnung kassieren wollte - der Klient wohnte ebenfalls hier -, erhielt er statt Geld ein zweites blaues Auge. Anschließend hatte er das Ge­biet gemieden. Er nannte es nur noch Nachtjackenviertel und wollte mir nicht sagen, was hinter der Bezeichnung steckte. Ich nahm jedoch an, dass es mit den nächtlichen Aktivitäten der Bewohner zu tun hatte.

Tagsüber schienen sie allerdings halbwegs friedlich zu sein. Vor­ausgesetzt, man kam nicht wie Joe mit einer Spesenabrechnung da­her. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck, als ich meinen Plymouth in der West 42nd parkte und mir die Gegend anschaute. Niemand mach­te Anstalten, mir ein blaues Auge zu verpassen. Das war doch schon mal ein ermutigender Start, fand ich.

Eine Anzahl vergammelter zweigeschossiger Wohnhäuser, eine Kohlenhandlung, ein Schrottplatz, ein Gewerbebetrieb mit einem reich­lich angerosteten Schild, auf dem ›Gibson & Sterling‹ stand. Auf dem Hof von Gibson & Sterling türmten sich Weißblechreste aller Art, die meisten silberfarben, dünn und lang und schmal wie Lametta.

Das Haus Nummer 17 sah wie ein Kandidat für die Abrissbirne aus. Drei Fenster im Erdgeschoss waren mit Holzlatten vernagelt. Ei­nen besonders heimeligen Eindruck machte das nicht. Falls hier unten jemand wohnte, hatte er mit Zwielicht und Dunkelheit mehr am Hut als mit Sonnenlicht. Oder er war so unbeliebt, dass die Nachbarn dazu neigten, ihm die Fensterscheiben einzuwerfen.

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Die Haustür hing schief in den Angeln und das Holz sah aus, als seien Dutzende von Spechten darüber hergefallen. Der Hausflur war schmutzig. Von der Kellertreppe kamen ungute Gerüche. An den Türen der beiden Wohnungen im Parterre fehlten die Türschilder. Man sah noch die Stellen, an denen sie einmal befestigt gewesen waren. Hinter den Türen war es still. Sowohl Mr. Lattenzimmermann als auch sein Nachbar schienen den Hut geworfen zu haben.

Ich stiefelte die ausgetretenen Treppenstufen in den ersten Stock hinauf. Hier gab es Türschilder. Links wohnten Leute mit dem Namen Sturgeon, rechts die O'Brannons. Ich klingelte an der Tür der O'Bran­nons. Ich hörte Geräusche in der Wohnung, aber mir wurde nicht auf­gemacht.

Ich klingelte noch einmal. »Hau ab, du Pisser!«, brüllte die Bassstimme eines älteren und of­

fenbar nicht ganz nüchternen Mannes aus einem der Zimmer hinter der Tür.

Mr. O'Brannon schien weder die allerfeinsten Manieren noch be­sonders gute Laune zu haben.

Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich ab. Es war nicht meine Art, mich aufzudrängen. Ich hatte sowieso nur einen Eindruck von der Familie gewinnen wollen und der war mir bereits zuteil gewor­den. Als ich die Treppe hinab ging, kam aus der Wohnung der O'Bran­nons noch eine keifende Frauenstimme, die mir einen ganz konkreten Ort nannte, in den ich mir meine Forderung schieben könnte.

Mir war jetzt klar, dass die O'Brannons von Besuchern sehr ge­naue Vorstellungen hatten und ihnen wenig Duldsamkeit entgegen­brachten. Ich vermisste den irischen Humor, mit diesen Dingen umzu­gehen.

Ich verließ das Haus und wechselte die Straßenseite. Als ich zur Wohnung der O'Brannons hinaufschaute, bemerkte ich, wie sich hinter einem der Fenster ein Schatten bewegte. Offenbar wurde mein Ab­gang mit einem gewissen ungeduldigen Interesse verfolgt.

Bei Gibson & Sterling karrte ein Arbeiter eine weitere Ladung Blechteile auf den Hof. Er sah flüchtig auf, als er mich bemerkte. Ich

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nutzte die Gelegenheit, mich mit ihm bekannt zu machen und trat nä­her.

»Sie sollten nicht so sorglos mit Ihrer Produktion umgehen, Mister Gibson«, sagte ich und zeigte auf die Abfälle. »Wenn das Zeug zu ros­ten anfängt, will es sich keiner mehr an den Tannenbaum hängen.«

»Ich bin nicht Mister Gibson und wir fertigen Konservenbüchsen und kein Lametta«, knurrte der Mann.

Ich hatte den Eindruck, dass in dieser Gegend alle etwas verbies­tert waren.

»Tut mir Leid, dass ich Sie verwechselt habe, Mister Sterling.« »Mister Sterling bin ich auch nicht. Wenn Sie mit den Chefs reden

wollen, müssen Sie sich vorn bei der Sekretärin anmelden. Aber ich sage Ihnen gleich, das ist eine alte Zicke, an der Sie nicht so leicht vorbeikommen.«

»Kein Bedarf daran.« Ich zog mir eine Lucky aus der Packung und bot ihm auch eine an.

Er zögerte kurz, griff dann aber zu. Während ich uns beiden Feuer gab, musterte ich den Mann flüchtig. Er war ein paar Jahre älter als ich und der Haarfarbe nach ebenfalls ein Ire. Er trug einen dicken grauen Pullover und eine blaue Latzhose. Als er den ersten Zug von der Ziga­rette nahm und den Rauch durch die Nase ausstieß, wirkte er wesent­lich friedlicher und entspannter als vorher.

»Harter Job?«, fragte ich. »Ist auszuhalten. Was machen Sie denn?« »Ich bin Schuldeneintreiber für das Inkassobüro Kuttner,

Kornbluth & Merril.« »Hört sich auch nicht gerade einfach an. Vor allem nicht in unse­

rem Viertel.« »Kann man wohl sagen.« Ich deutete zum Haus gegenüber. »Die

O'Brannons werden schon derb, wenn man bei ihnen nur klingelt.« »Ja, mit denen ist nicht zu spaßen. Da fliegen schnell die Fäuste.

Am besten sagen Sie Ihren Kuttner-Leuten oder wie die heißen, sie können den Kram vergessen. Bei den O'Brannons beißen sie auf Gra­nit.«

»Was sind das für Leute?«

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Der Mann zuckte die Schultern. »Iren, die in Amerika nicht klar­gekommen sind. Wahrscheinlich sind sie auch in Irland nicht klar­gekommen und deshalb ausgewandert. Der Alte hat seiner Madam einen Haufen Kinder gemacht und mit den meisten von ihnen ist nicht viel los. Nur die beiden ältesten Mädchen sind nett. Passen irgendwie gar nicht zu dem sonstigen Gesocks. Die wohnen aber nicht mehr hier.«

»Ich will gar nichts von dem alten O'Brannon oder den Mädchen, sondern von einem seiner älteren Söhne«, erklärte ich.

»Dann hat man Ihnen die falsche Adresse genannt, Mister. Die drei ältesten Jungs sind schon vor Jahren ausgezogen und wohnen irgendwo auf der anderen Seite der Stockyards.«

»Die genaue Adresse wissen Sie nicht?« »Tut mir Leid.« »Aber sie wohnen zusammen?«, fragte ich. »Ja, die kleben aneinander wie siamesische Drillinge.« Er nahm

noch einen tiefen Zug von der Zigarette und trat die Kippe dann aus. »Ich würde Ihnen nicht raten, sich mit denen anzulegen. Die beiden alten O'Brannons mögen ja ihre Eigenheiten haben, aber die jungen O'Brannons sind richtige Stinker. Mit denen ist nicht gut Kirschenes­sen. Bevor man sich versieht, hat man von denen ein Messer im Bauch.«

»Sie mögen die Jungs nicht?« »Hatte viel Theater mit ihnen, als sie noch jünger waren. War

manchmal hart an der Grenze. Wenn Sie wissen wollen, was das für welche sind, dann reden Sie mal mit Chuck.« Er zeigte zu dem Schrottplatz hinüber. »Die waren so dreist, ihm nachts zwanzig Kilo Kupfer zu klauen, um es ihm am nächsten Morgen zum Verkauf anzu­bieten.«

»Hört sich ziemlich dumm an«, sagte ich und zog noch einmal an meiner Zigarette, bevor ich sie wegwarf.

»Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht, Mister«, meinte mein Ge­sprächspartner. »Aber Dummheit allein schändet ja nicht, oder? Aber der Spaß hört auf, wenn man die Wahrheit nicht vertragen kann. Je­

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denfalls haben sie Chuck krankenhausreif geschlagen, als er ihnen die Sache mit dem Kupferdiebstahl auf den Kopf zusagte.«

»Sie scheinen die feinen Manieren ihres Vaters noch erheblich ver­feinert zuhaben«, meinte ich. »Trotzdem muss ich mich irgendwie mit dem Trio auseinander setzen. Können Sie mir die Jungs beschreiben?«

»Was soll ich sagen?« Der Mann überlegte. »Rothaarig, sommer­sprossig, abstehende Ohren, kräftig, tragen immer Ballonmützen. Sie sehen einander ziemlich ähnlich. Man sieht sofort, dass sie Brüder sind. Einer von ihnen, der Älteste, hat eine auffällige Narbe unter dem rechten Auge. Da ist früher mal einer schneller mit dem Messer ge­wesen als er.«

Ich hatte den Eindruck, bei Gibson & Sterling nicht weiter fündig werden zu können.

»Danke für die Tipps. Dann will ich Sie mal nicht länger aufhal­ten.«

Er grinste. »Ja, ich muss mich wieder um das Rohmaterial küm­mern.«

Ich wollte abmarschieren, aber der Mann bedeutete mir, noch zu warten.

»He Mister, rauchen Sie mal 'ne richtige Zigarette«, sagte er, griff in die Tasche seiner Latzhose und bot mir eine Pall Mall an.

Ich nahm sie, um ihn nicht zu beleidigen. Geschmeckt hat sie mir allerdings nicht.

*

Ich nahm mir die Zeit, mich noch ein wenig in der Gegend umzusehen. Ich fragte Chuck, den Schrotthändler, nach den O'Brannons. Aber er wollte nichts sagen. Nicht einmal die Geschichte mit dem geklauten Kupfer, die ich ihm präsentierte, konnte ihn aus der Reserve locken. Er sagte nur: »Das ist lange her, Mister. Es war nicht sonderlich witzig, aber ich will davon nichts mehr hören.«

Ich gab mich erstaunt. »Was ist los, Chuck? Sie mit Ihren Muskeln haben doch nicht etwa Angst vor den O'Brannons?«

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Um ehrlich zu sein, übertrieb ich dabei ein bisschen, denn Chuck sah eher wie ein Engländer aus. Ein schmächtiger Engländer, aber das sind sie ja meistens. Er konnte vielleicht einen Kricketschläger schwin­gen, aber mit derberen Keulen würde er seine Mühe haben. Kein Wun­der, dass er es mit den Brüdern nicht hatte aufnehmen können.

»Ich habe vor niemandem Angst«, behauptete er. »Das sieht man Ihnen an«, lobte ich ihn. »Es war gleich mein ers­

ter Eindruck: Der Mann hat vor nichts und niemanden Angst. Deshalb erstaunt es mich ja so sehr, dass Sie mir nichts über die Brüder verra­ten wollen.«

»Was wollen Sie überhaupt von mir?« Das wusste ich auch nicht so genau. Gewiss keine Tipps, wie man

am leichtesten in ein Krankenhaus eingewiesen wurde. »Eigentlich will ich nur wissen, wo die O'Brannon-Brüder woh­

nen.« »Das weiß ich nicht und es interessiert mich auch nicht.« Damit war das Gespräch beendet. Mit dem Kohlenhändler kam ich besser klar. Es war ein älterer

Typ, so um die sechzig Jahre. Allerdings wohl auch eher englischer Abstammung, der Statur nach zu urteilen. Er hieß Baxter und verriet mir, dass er in der Tat aus Liverpool stammte. Wir lagen gleich auf einer Linie, als ich ihm sagte, ich müsste Forderungen gegen die O'Brannons eintreiben.

Verbissen schaufelte er Koks in die Kippwanne seiner Waage, wog großzügig den Schnee mit, der sich dem Koks hinzugesellt hatte und füllte das Ganze in Jutesäcke.

»Da können Sie meine Forderungen gleich mit auf die Liste set­zen.«

»Die haben bei Ihnen anschreiben lassen?« »Allerdings und das nicht zu knapp. Wenn ich das Geld für die

Kohlen bekäme, die in ihren Öfen verfeuert wurden, könnte ich in Ren­te gehen.«

Kohlenhändler lieben es schwarz und in dicken Brocken. Ich glau­be ihnen immer nur die Hälfte. Höchstens.

»Wieso haben Sie dann so lange anschreiben lassen?«

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»Sie werden unangenehm, wenn man es nicht tut. Fragen Sie an­dere Händler im Umkreis. Ich bin da nicht der Einzige.«

»Sie drohen Ihnen und zahlen nie?« »Manchmal zahlen sie auch. Wenn Dorothy - das ist eine der

Töchter - ihnen Geld bringt. Aber das wird rundum an die Gläubiger verteilt und reicht vorn und hinten nicht. Vor allem deshalb nicht, weil der alte O'Brannon damit erst einmal sein Schnapslager aufstockt.«

»Das können Sie einem Iren nicht vorwerfen«, warf ich ein. »Machen Sie es genauso?«, forschte der Kohlenhändler nach. »Ich bin in der Salvation Army und trinke nur Kamillentee«, be­

hauptete ich. »Das kaufe ich Ihnen nicht ab!« Ich habe selten eine so intelligente Antwort von einem Engländer

gehört. Dann fuhr ich zur Bäckerei der Salvation Army.

*

Ich parkte meinen Plymouth, stieg aus, zündete mir eine Zigarette an und sah mich um. Zum Glück schneite es nicht mehr und der auf der Straße und dem Gehweg liegende Schnee verwandelte sich schon in Matsch. In der Seven Oaks Street befanden sich drei- oder vierge­schossige Mietskasernen aus der Zeit vor 1900, ein paar kleine Läden und Handwerksbetriebe. Rundum gab es abblätternde olivgrüne und braune Fassadenfarbe, die von mehreren lange zurückliegenden An­strichen kündeten, geteerte, fensterlose Seitenwände, Balkons mit ver­rosteten Einfriedungen und Feuerleitern, die keinen besseren Eindruck machten. Die Bäckerei fiel mir auf Anhieb nicht auf.

Bei der Vorliebe der Salvation Army für Paukenschläge und pom­pöse Gesten hätte ich ein Schild mit meterhohen Buchstaben oder sonst etwas Eindrucksvolles und Unübersehbares erwartet. Es gab nichts dergleichen.

Während ich die Seven Oaks Street langsam hinaufging, entdeckte ich schließlich einen unscheinbaren Laden im Souterrain eines he­runtergekommenen Mietshauses, in dessen winzigem Schaufenster ein

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handtellergroßes Emailleblechschild hing, auf dem Baker'S stand. Das große, verschnörkelte S war schon das Bemerkenswerteste daran. Über dem Ladeneingang gab es drei schief hängende Buchstaben: Ein V, ein G und ein W. Dazwischen befanden sich allerlei Lücken. Die Stellen, wo früher weitere Buchstaben gehangen hatten, hoben sich so deutlich von der Fassade ab, dass man sich den gesamten Namenszug zusammenreimen konnte: Van Vogt's Weapon Shop. Offensichtlich hatte der Besitzer des Hauses zu früheren Zeiten sein Heil mit anderen Armeen versucht und gab sich heute mit kleineren Brötchen zufrieden.

Ich hatte Captain Kirby so verstanden, dass Ethel in der Backstube arbeitete. Deshalb interessierte mich der Laden nicht weiter. Rechts davon befand sich eine Hof einfahrt und ich vermutete, dass sich die Backstube in einem der Hinterhofgebäude befand. Als ich das stel­lenweise mit Schnee und Eis überzogene und entsprechend rutschige Kopfsteinpflaster der Einfahrt unter die Sohlen nahm, öffnete sich eine Seitentür des Ladens und ein schwergewichtiger Mann trat heraus.

»He Mister, Unbefugte haben hier keinen Zugang.« »Woher wollen Sie wissen, dass ich unbefugt bin?« »Sie sehen nicht aus wie jemand, der uns Mehl bringen will.« Ich sah mir den Mann genauer an. Weißes Käppi, Unterhemd mit

großen Schweißflecken unter den Achseln, eine Schürze voll er Mehlstaub sowie Eier- und sonstigen Flecken. Wabbliger Bauch, aber beeindruckende Armmuskeln. Der Kerl hatte es nicht nötig, ein Schild vor sich herzutragen, auf dem ›Bäcker‹ stand. Es hätte mich nicht ein­mal überrascht zu erfahren, dass sogar sein Nachname Baker lautete.

Ich schnippte die Asche meiner Lucky ab. »Und wenn ich einfach nur ein Weißbrot kaufen will?«

»Weißbrot haben wir nicht.« Er hob seine Schürze an und schnief­te vernehmlich und ergiebig hinein. »Wir backen nur Doughnuts. Und die gibt's vorn im Laden und nicht hier hinten.«

Die Sache mit den Doughnuts erklärte einiges. Ich hatte mich schon gewundert, dass Ethel erst nach sieben in der Bäckerei erwartet wurde. So ergab es Sinn. Das Geschäft mit den Doughnuts war wohl eher etwas für den Nachmittag und den Abend. Der schniefende Bä­

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cker hatte meinen Heißhunger auf solche Teile allerdings ziemlich re­duziert.

Ich hatte nicht die Absicht, den Kraftprotz nach Ethel zu fragen. Es genügte mir, dass Kirby die Lage richtig einschätzte. An diesem Doughnut-Bäcker kam so leicht keiner vorbei und laut Kirby war er hier nicht der einzige kräftige Bursche, der sich auf das Durchwalken von was auch immer verstand.

»Um ehrlich zu sein, steht mir der Sinn nicht nach warmem Back­werk, sondern eher nach wärmenden Flüssigkeiten«, sagte ich. »Mir wurde gesagt, dass es hier auf einem der Hinterhöfe ein Speakeasy gibt.«

Ich weiß nicht, ob der Dicke mir das abkaufte oder einfach nur froh war, dass ich endlich Anstalten machte abzuziehen. »Auf der an­deren Straßenseite, drei Blocks weiter rechts, dicht hinter dem Kiosk«, knurrte er, machte kehrt und schloss die Tür. Er blieb jedoch im Ein­gang stehen und starrte mir durch die Glasscheibe im oberen Teil der Tür hinterher.

*

Die Sache mit dem Speakeasy war mir spontan über die Lippen ge­kommen, aber im Nachhinein hielt ich es für eine gute Idee, mich dort einmal umzusehen. Ich konnte jetzt einen starken Kaffee vertragen und bei Kaffeekränzchen jedweder Art erfährt man oft interessante Neuigkeiten aus der Nachbarschaft.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass es nur den mir be­kannten Zugang zur Bäckerei gab, machte ich mich auf den Weg. Ich hatte keine Probleme, das Speakeasy zu finden. Erst entdeckte ich den Kiosk und kaufte mir die Chicago Tribune. Ein handgemaltes Papp­schild in dem nächsten Hofeingang verwies zusammen mit einem Rich­tungspfeil auf einen ›Coffee Shop‹. Ein weiteres Schild dieser Art, dies­mal ohne Pfeil, zierte nach einigen Metern eine giftgrün angestrichene Stahltür, die sich in einer grauen, unverputzten Schuppenwand be­fand.

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Es gab einen nachträglich angeschraubten Türklopfer. Als ich ihn betätigte, wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. Eine dicke Frau musterte mich misstrauisch. »Passwort?«, fragte sie.

»Ich bin neu in der Gegend, aber ein Kaffeeliebhaber.« Die Frau zögerte einen Moment. Dann zuckte sie die Schultern

und gab den Eingang frei. »Merken Sie sich für die Zukunft das Pass­wort: Fat Mary.«

Ich verzichtete auf die Frage, ob sie Mary hieß. Ich sah mich um. Ich war in einem fensterlosen Vorraum gelandet. Eine Glühbirne bau­melte in einer Fassung von der Decke herab und spendete kärgliches Licht. Das einzige Möbelstück war ein Hocker. An einigen Wandhaken hingen Mäntel und Hüte. Ich selbst behielt meine Sachen an. Die Frau deutete mit einer Kopfbewegung zu einer zweiten giftgrünen Stahltür. »Kaffee gibt's dort drüben.«

Ich nickte und öffnete die Tür. Meine Erwartung, dass mich wohl ein eher schäbiges Etablissement erwarten würde, erwies sich als in vollem Umfang zutreffend. Es handelte sich um einen großen Raum, der als Geräteschuppen und Werkstatt gedient hatte oder besser ge­sagt immer noch diente. Man hatte Leitern, Rollen mit Dachpappe, Flaschenzüge, Stahl- und Kupferbleche, ein Magazin mit Schrauben und Nägeln und allerlei Werkzeug schlicht in einer Ecke des Raums aufgestapelt, ein paar neue Deckenlampen angebracht, die Mitte des Raums grob ausgefegt und mit allerlei bunt zusammengesuchten Stüh­len, Tischen und Bänken versehen.

Mir schwante, dass der Sprit, den man hier ausschenkte, stark ei­nem Morgengrauen ähnelte, auch wenn es schon auf den Mittag zu­ging.

Das Einzige, was mich auf Anhieb für diesen Coffee Shop ein­nahm, war der mitten im Raum aufgestellte Kanonenofen, der mit di­cken Holzscheiten betrieben wurde und so heiß war, dass an einigen Stellen das Blech dunkelrot glühte. Das kam gut in dieser Jahreszeit und erklärte, dass Stammgäste ihre Mäntel im Vorraum abgelegt hat­ten.

Nahe dem Eingang stand auf einem kleinen Tisch ein Trichter­grammophon, noch eines von der älteren Sorte, das mit einer Kurbel

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aufgezogen werden musste. Ein älterer Mann, vielleicht der Besitzer des Etablissements, versuchte sich gerade daran und setzte die Nadel auf die Schellackplatte. Nach einigem Knacken und Knistern legten Johnny Hamp's Kentucky Serenaders mit ›Black Bottom‹ los. Ich revi­dierte meinen ersten Eindruck von dem Laden: Immerhin gab es hier Schnaps mit musikalischer Begleitung. Die meisten Inhaber von Spea­keasys boten nur etwas für den Schlund und nicht für das Ohr.

Ich habe noch nie ein Problem damit gehabt, in Chicago auch am Vormittag eine Quelle aufzutun, aus der Wärmendes sprudelt. Seit der Prohibition ist dies noch einfacher geworden und es überraschte mich wenig, dass die Zahl der Durstigen selbst zu dieser Tageszeit ausreich­te, um den Betrieb in Schwung zu halten. Ich schätzte, dass es zwan­zig waren, die ihren Kaffee schlürften, ohne das Mindeste dazu beizu­tragen, die Kaffeebauern in Brasilien zu unterstützen.

Die drei Iren an einem etwas abseits stehenden Tisch fielen mir sofort auf. Nicht nur, weil sie rote Haare hatten und weil Iren in die­sem Stadtteil in dieser Häufung nicht zum selbstverständlichen Inven­tar eines Lokals gehörten. Die Ähnlichkeit der drei war frappierend, die Altersabstufung von Anfang bis Mitte zwanzig unverkennbar. Wenn das keine Brüder waren, wollte ich getrost in den Michigan-See sprin­gen und auch ohne Betonfüße dort unten bleiben! Und in diesem Mo­ment hatte ich noch eine andere Eingebung. Mal vorausgesetzt, der Captain von Gottes irdischen Streitkräften hatte wirklich Recht, dann konnte es gut möglich sein, dass die drei Gestalten auf den Namen O'Brannon hörten. Ich beschloss, darauf zu vertrauen, dass Frechheit siegt.

*

Ich legte Hut und Mantel ab und setzte mich zu den drei Rotschöpfen, wohl wissend, dass ich damit die ungeschriebenen Regeln eines Spea­keasys verletzte. Das war mir egal. Ich zündete mir eine Lucky an und blies den drei Backpfeifengesichtern den Rauch ins Gesicht. Schön waren die Jungs nicht - ich fragte mich, ob der Captain in Sachen Ethel

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nicht ein bisschen übertrieben hatte - und sie sahen ziemlich dämlich aus. Wahrscheinlich hatten sie es mehr in den Fäusten.

»Hört zu, ihr Figuren«, sagte ich. »Lasst die Finger von Ethel.« Ich hatte mit meinem Schuss ins Blaue voll ins Schwarze getrof­

fen. Jedes Einzelne der Gesichter zeigte deutliche Einschusswirkungen. Der Älteste erholte sich am schnellsten. Erst jetzt sah ich, dass er eine Narbe unter dem rechten Auge besaß.

»Was soll das? Wir kennen keine Ethel.« »Aber ja doch«, widersprach ich, dehnte die Worte und blies ihm

gezielt einen Schwall Lucky-Abluft in die Visage. »Geh schon mal raus und box dich warm«, sagte der Junge ver­

biestert und fügte gönnerisch hinzu: »Ist eine Chance für dich, es wirklich zu tun oder abzuhauen. Letzteres würde ich dir raten. Denn wenn du hier in einer Minute nicht verschwunden bist, nehmen wir dich auseinander. Und wen wir auseinander nehmen, den kann man nur noch selten wieder zusammensetzen.«

»Ich halte nichts von solchen klein karierten Sprüchen«, teilte ich ihm lapidar mit. »Ich bin hier rein gekommen, um in Ruhe einen zu trinken und das werde ich auch tun.« Ich winkte der Bedienung, die immerhin ein halbwegs weißes Schürzchen trug, was in dieser Umge­bung nicht selbstverständlich war. »Was bietet ihr an?«

»Kaffee«, sagte die Kleine, jung, schlank und sommersprossig, mit einer kohlschwarzen Bubikopffrisur und einem entzückenden Augen­aufschlag.

»Gibt es verschiedene Sorten?« Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, trotz des zugegebenermaßen recht rustikalen Umfelds auf eine gewisse gediegene Trinkkultur gestoßen zu sein und meine Hoff­nung erfüllte sich.

»Standard und Genießer«, sagte die Kleine. »Genießer ist doppelt so teuer wie Standard.«

Ich hoffte inständig, dass nicht beides aus der gleichen Hinterhof­brennerei kam und nur mit unterschiedlichem Etikett verkauft wurde. Zumindest war es an der Zeit, den Captain der Heilsarmee mit Spe­senabrechnungen vertraut zu machen. »Für welchen Typ halten Sie mich, Schätzchen? Für den Standard oder für den Genießer?«

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Die Kleine rollte niedlich mit den Augen. »Für den Genießer - aber verstehen Sie das nicht falsch. An den Hintern fassen kostet extra. Wenn ich es denn überhaupt zulasse.«

Ich ging nicht darauf ein. So früh am Tag ist das nicht mein Ding. Oder sollte ich sagen, dass es für mein Ding zu früh am Tag war? Es kam in jedem Fall auf das Gleiche hinaus. »Geben Sie mir den für Ge­nießer und ich kann nur hoffen, dass er so warm macht wie Ihr Ofen« - ich schaute dabei mehr auf eine gewisse Stelle ihres sich interessant spannenden Rockes als auf den Kanonenofen - »und einen anschlie­ßend nicht ins Hospital bringt.« Ich zeigte auf die Brüder. Ich hatte ihre fast leeren Kaffeetassen sehr wohl bemerkt. Sie schienen sich schon länger daran festgehalten zu haben. »Bringen Sie denen auch was. Aber ich denke, dass in diesem Fall Standard genügt.« Ich zwin­kerte ihr zu. »Aber vertauschen Sie die Tassen nicht. Sonst wird das nichts mit eventuellen Sonderzahlungen für Sonderleistungen.«

Die irischen Jungs schäumten nicht gerade über vor Dankbarkeit, dass ich ihnen frischen Kaffee spendiert hatte. Immerhin besänftigte es ihre Demontagepläne fürs Erste. »Also, was wollen Sie von uns?«, fragte der Älteste, der ihr Wortführer zu sein schien.

Ich drückte meine Lucky im Aschenbecher aus und zuckte die Achseln. »Nicht gehört? Nicht verstanden? Ich sprach doch Englisch, oder? Ihr sollt Ethel in Ruhe lassen. Sonst gibt es Ärger.«

»Halten Sie sich aus unseren Familienangelegenheiten raus, Mis­ter!«, forderte der Jüngste der drei zornig.

»Reg dich nicht auf, Johnny«, meinte der mittlere der Brüder, der sich bisher still verhalten hatte. »Wir sind dem Kerl keine Rechenschaft schuldig.«

Der Schnaps wurde gebracht. Meine Tasse besaß als Einzige einen Goldrand und was da am Boden schwappte, sah immerhin mehr nach Bourbon aus als der Kram in den anderen Tassen. Aber so was kriegt man auch mit Karamell und Anilin hin. Immerhin roch er auch andeu­tungsweise nach Bourbon. Nach einem ersten Schluck war ich mir al­lerdings nicht mehr ganz so sicher, ob nicht doch ein paar Kartoffeln hinter allem steckten. Immerhin wärmte das Zeug.

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Ich hatte die Zeit genutzt, mir die irischen Jungs genauer anzuse­hen. Das waren also die feinen Früchtchen, die ihre eigene Schwester auf den Strich schicken wollten. Sie sahen frech und rotzig und gewalt­tätig, aber nicht unbedingt wie Zuhälter aus. Allerdings würde ich da für niemanden die Hand ins Feuer legen. Außerdem muss ich zugeben, dass für mich der typische Zuhälter ein Makkaroni-Liebhaber mit ki­loweise Pomade in den schwarzen Haaren und dicken Goldringen an den Fingern ist. Vielleicht bin ich da ein bisschen voreingenommen.

Ich sagte ihnen natürlich nicht auf den Kopf zu, was ich von ihnen hielt. Wer mich kennt, weiß, dass das nicht meine Art ist. Außerdem gehen mich Familienangelegenheiten wirklich nur dann etwas an, wenn einzelnen Familienmitgliedern - oder deren Beschützern - diese Angelegenheiten den einen oder anderen Schein wert sind. Ich be­schränke mich in diesen Fällen darauf, den Standpunkt meines Klien­ten klarzumachen, ohne das Gesetzbuch oder den Papst oder die Heilsarmee in Anspruch zu nehmen.

Nach dem zweiten Schluck aus meiner Goldrandtasse entschied ich mich, dass ich es doch mit echtem Bourbon zu tun hatte, wenn auch nicht solchem der allerfeinsten Art. Man konnte das Zeug jeden­falls trinken, ohne Hirnsausen zu bekommen. Hoffte ich mal.

»Die dritte und letzte Mahnung für irische Klotzköpfe«, sagte ich. »Ethel backt Doughnuts und Ethel singt für eine bessere Welt und da­bei bleibt es. Und sie benutzt ihre Dose ausschließlich dafür, um Spen­den zu sammeln. Kapiert? Müsste doch eigentlich gehen. Schließlich hat Sir Walter Raleigh uns die Kartoffel gebracht, um sie zu essen. Von einem Gehirnersatz war nicht die Rede.«

»Irgendwann schneiden wir dir deine eigenen Kartoffeln in kleine Streifen und grillen sie«, versprach der Älteste der O'Brannons.

»Das wäre mir zu französisch«, erwiderte ich, trank aus, legte das Geld für den Kaffee auf den Tisch und erhob mich.

Ich ging zu der Kleinen am improvisierten Tresen, gab ihr einen zusätzlichen Quarter als Trinkgeld und dazu ein Küsschen auf die Wan­ge. »Vielleicht schaue ich mal am Abend vorbei, um das mit dem Hin­tern in Angriff zu nehmen.« Ich hatte nicht wirklich die Absicht, aber ich freute mich über ein gewisses Interesse in ihren Augen.

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Hunde, die bellen, beißen meistens nicht, aber für alle Fälle beeilte ich mich, in meinen Plymouth zu kommen, bevor die irischen Drillinge konkrete Pläne für eine Grillparty schmieden konnten.

Ich war nicht sicher, ob ich die Sache richtig angepackt hatte. Im­merhin wussten die O'Brannons jetzt, dass jemand mit ihren Plänen nicht ganz einverstanden war. Vielleicht machte sie das nur vorsich­tiger. Aber wenn ich Glück hatte, kapierten sie, dass böse Brüder mit ihren Schwestern nicht alles anstellen konnten, ohne anderen auf die Füße zu treten.

Ich fuhr an den Cabrini Green Homes vorbei auf die West Chicago Avenue und bog dann in die North Orleans Street ab. Die dritte Quer­straße war die West Huron, die allerdings zu beiden Seiten verlief. Auf gut Glück wählte ich die nach Osten verlaufende Seite. Ich wurde auf Anhieb fündig und entdeckte die Wilson Street, eine eher beschauliche Nebenstraße.

Das Flying Dutchman zu finden war einfacher als die Suche nach der Bäckerei in der Seven Oaks Street. Tatsächlich gab es im Vor­garten eines zweistöckigen Hauses ein ansprechend gestaltetes Holz­schild, das den Namen des Hotels trug und außerdem für Analphabe­ten ein dazu passendes Schiff mit zerfetzten Segeln abbildete. Das Haus mochte in besseren Tagen die geräumige Villa einer reichen Fa­milie gewesen sein.

Das Eingangsportal war mit ehemals weiß gekalkten Säulen ver­ziert und die massive, braun-weiß angestrichene Eichentür wies auf gutes Tischlerhandwerk hin. In Sichthöhe befand sich ein Spion. Etwas darunter hing ein Pappschild: NOVA-CANCY.

Ich betätigte die mechanische Drehklingel, die laut ratschend rea­gierte und wartete. Nichts. Diesmal drehte ich den Klingelknauf energi­scher und mehrmals hintereinander um seine Achse. Die Glocke lärm­te. Endlich hörte ich Schritte, die sich der Haustür näherten. Der Spion verdunkelte sich. Ich wurde gemustert. Ich setzte mein bestes Grinsen auf und zeigte die Zähne.

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Schließlich bewegte sich ein Schlüssel im Schloss. Die Klinke wur­de nach unten gedrückt und die Tür öffnete sich. Vor mir stand eine vielleicht vierzigjährige Frau slawischen Typs, vollbusig, in einfacher Kleidung und mit einem um den Kopf gebundenen Tuch, das an der Stirn nachlässig verknotet war. Sie bat mich nicht hinein und ihre Ab­sicht, mir den Weg zu versperren, war unverkennbar. Von der Decke herab baumelte eine Jugendstillampe, von deren grünem Schirm lange bunte Glasperlenschnüre herabhingen. Weiterhin sah ich einen ocker­farbenen Ölsockel, darüber eine dunkelgrüne Stofftapete, auf dem Fußboden einen reichlich abgenutzten, mit Messingleisten fixierten Kokosläufer ähnlicher Farbe. Alles in allem vermittelte mir das Hotel den Eindruck einer gewissen Gediegenheit, gepaart mit leicht schä­biger Eleganz.

»Ist das ein Hotel oder eine Flüsterkneipe?«, fragte ich anzüglich. »Wir haben kein Zimmer frei«, erwiderte die Frau mit eindeutig

osteuropäischem Akzent. »Danach habe ich nicht gefragt.« »Kommen Sie am Nachmittag wieder, wenn die Besitzer zu Hause

sind. Ich mache hier nur sauber und helfe in der Küche.« »Ich will nichts von den Besitzern.« Als die Frau etwas ratlos

dreinschaute, fügte ich hinzu: »Bei Ihnen wohnt eine Miss O'Bran­non?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen.« Mrs. Osteuropa machte Anstal­ten, die Tür zu schließen.

Ich klemmte einen Fuß in den Türspalt. »Nicht so eilig.« Dann griff ich mit der Linken in die Manteltasche, zog eine Fünfdollarnote aus der Tasche und winkte damit. Die Augen der Frau hefteten sich auf den Lincoln und ich sah Begehrlichkeit aufblitzen. Das überraschte mich nicht. Ich sehe meistens Begehrlichkeit, wenn ich mit Scheinen winke. Selbst wenn es nur kleine sind.

Offensichtlich kam Mrs. Osteuropa ins Grübeln. Aber sie blieb standhaft. »Auskünfte über Gäste können mich meinen Job kosten.«

Ich ergänzte den Lincoln um einen zweiten, den ich diesmal mit der Rechten aus der anderen Manteltasche zauberte. »Es bleibt unter uns.«

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Als sie immer noch zögerte, sagte ich: »Ich bin Privatdetektiv und habe den Auftrag, Miss O'Brannon zu beschützen. Wenn Sie mir nichts sagen, werde ich am Nachmittag mit den Brunners reden. Schade für Sie. Der kleine Nebenverdienst hätte sich dann erledigt.«

Es ist nicht meine Art, mit Geld um mich zu werfen. Aber aus Er­fahrung wusste ich, dass Hausangestellte mehr sehen und hören als Hotelbesitzer und außerdem bereitwilliger plaudern, wenn man ihnen erst einmal die Zunge gelöst hatte.

Die Frau steckte den Arm durch den Türspalt und griff nach dem Geld. Ich erlaubte ihr nur, den einen Schein zu bergen. Mit dem an­deren wedelte ich weiter. »Erst ein paar Antworten, Madam.«

»Ja, Miss O'Brannon wohnt hier.« »Weiß ihre Familie davon?« »Ich glaube nicht. Es hat sie niemand besucht, der nach Ver­

wandtschaft aussah.« »Lungern manchmal rothaarige Burschen vor dem Haus herum?« »Mir ist niemand aufgefallen.« Das war doch schon etwas. Wahrscheinlich waren die Drillinge

nicht helle genug, um Ethels derzeitigen Wohnsitz auszuspähen. Ich nahm die Gelegenheit wahr, ein bisschen mehr über das Fräulein von der Heilsarmee herauszubekommen, als mir ihr Captain verraten hatte.

»Was haben Sie für einen Eindruck von ihr?« Mrs. Osteuropa zuckte die Achseln. »Sie ist nett, obwohl ich nicht

verstehe, was ein so junges Mädchen an der Salvation Army findet. Zumal sie sonst ja nicht so fromm ist.«

Ich gab ihr den zweiten Lincoln. »Sonst nicht so fromm? Wie mei­nen Sie das?«

»Nun...« Sie zögerte. »Es geht mich ja eigentlich nichts an. Aber sie empfängt abends manchmal Kerle, die ein paar Stunden bleiben. Männer, die wesentlich älter sind als sie.«

»Kerle? Also verschiedene? Sie meinen, sie verdient Geld damit?« »Nein, so eine ist sie nicht. Aber sie hat zwei Liebhaber, die zu

verschiedenen Zeiten kommen.« »Ist der eine der Captain, der sie abends bringt und morgens ab­

holt?«

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»Nein, der bleibt nie lange. Aber sie sind in seinem Alter.« »Sie wissen nicht, wer die beiden sind?« »Nein, nur die Vornamen wurden genannt. George und Harry.« Ich notierte mir im Kopf die Namen. »Was haben Sie für einen Eindruck von den beiden?« Die Frau zuckte die Achseln. »Sehr gut gekleidet. Geschäftsleute,

würde ich sagen. Kommen immer mit dem Taxi vorgefahren.« Das Ganze gab mir zu denken. Die kleine Ethel schien munterer zu

sein, als ich geglaubt hatte. Und sie schien sich schon lange von der Vorstellung, jungfräulich in eine mögliche Ehe zu gehen, verabschiedet zu haben.

»Und die beiden gehören ganz sicher nicht zu Miss O'Brannons Fa­milie?« Ich dachte daran, dass die O'Brannons Habenichtse waren und fügte hinzu: »Auch nicht zur weitläufigen Verwandtschaft?«

»Den Geräuschen nach, die aus dem Zimmer zu hören sind, wohl kaum.«

»Und die Brunners dulden das?« »Das müssen Sie sie schon selbst fragen. Verborgen geblieben

sein kann es ihnen jedenfalls nicht. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe Ihnen schon viel zu viel gesagt.«

Ich hatte ohnehin keine Fragen mehr an sie, nahm den Fuß aus dem Türspalt und erlaubte ihr, die Tür zu schließen.

*

Als ich im Wagen saß, die Wilson Street hinauffuhr und dann Richtung Osten in die West Erie abbog, hakte ich den Vormittag als erfolgreich ab. Ich hatte den Gegner bereits kennen gelernt und konnte zwei der Orte, an denen sich Ethel häufig und lange aufhielt, als wenig ge­fährdet weitgehend vernachlässigen. Außerdem hatte ich Dinge über die Kleine herausgefunden, die über das übliche Maß christlicher Nächstenliebe hinausgingen. Nicht dass ich geglaubt hätte, es könnte unter den Uniformröcken der Salvation Army nicht auch etwas jucken. Aber dass Ethels Bedarf an Heilskonzerten der irdischen Art die Posau­nen von gleich zwei alten Knaben erforderte, machte mich neugierig

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auf das Schätzchen. Und auf ihre Schwester, die es ja offensichtlich auf eine noch weitaus größere Anzahl von Orchestermitgliedern brach­te. Möglicherweise lag der ganzen Familie das Musizieren im Blut. Viel­leicht sollte Kirby den Dingen einfach ihren Lauf lassen. Was nicht be­deutete, dass ich ihm so etwas raten würde, solange er weitere Schei­ne locker machte.

Ich kurbelte die Scheibe des Plymouth weit genug herunter, um die Kippe meiner Lucky auf die Straße zu werfen und bog in die East Balbo Street ein. Hier herrschte kaum Verkehr. Zumindest kaum Stra­ßenverkehr, wenn Sie wissen, was ich meine.

Ich parkte den Plymouth direkt vor dem Velvet & Silk, was wegen des Hormonstaus etwas betuchterer Kreise am Abend kaum möglich gewesen wäre. Vor mir standen nur ein eher schäbiger Dodge und, ein Stück weiter weg, ein nagelneuer Lincoln.

Die bunte Lämpchengirlande über dem Eingang blinkte auch zu dieser Tageszeit und die lebensgroßen, aus lila eingefärbten Glühlam­pen geformten Silhouetten der beiden nackten Miezen, die den Ein­gang flankierten, warben ebenfalls schon um Kundschaft. Im Velvet & Silk wurde selten Pause gemacht. Allerdings hatte ich mir sagen las­sen, dass zu dieser Tageszeit eher die älteren Schwestern eine Er­werbschance erhielten.

Tatsächlich kam gerade eine leicht bekleidete, aber nicht mehr ganz taufrische Lady am Arm eines Verehrers aus dem Lokal. Die grel­le Schminke konnte zumindest im Tageslicht nicht verdecken, dass die Lady wohl schon seit Woodrow Wilsons Zeiten im Geschäft war. Das Pärchen verschwand im Nachbarhaus, einem namenlosen Stunden­hotel. Die Hühner aus dem Velvet & Silk hatten es zumindest nicht weit, um auf die Stange zu kommen. Das war für die Ladies sicherlich von Vorteil und angesichts ihrer dünnen Fähnchen vor allem im Winter gesundheitsfördernd.

Ich erwartete nicht ernsthaft, auf Dorothy O'Brannon zu treffen, als ich das Lokal betrat. Aber da ich noch reichlich Zeit hatte, bis Ethel die Bäckerei verließ, wollte ich nichts verpassen.

Ich war schon früher im Velvet & Silk gewesen - beruflich, ver­steht sich. Es war in der Hand der Italiener, meiner besonderen

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Freunde und ich wusste, dass ich hier nicht gut gelitten war. Aber das kümmerte mich nicht. Ich übe meinen Beruf nicht aus, um den Makka­ronis einen Gefallen zu tun, sondern um Geld zu verdienen. Trotzdem hätte ich mich mit Joe an meiner Seite etwas besser gefühlt. Er hätte zumindest mit seinen Landsleuten in dem komischen Singsang quat­schen können, den diese für eine Sprache hielten.

Einer der Giovannis stand gleich in der Eingangshalle und gab eine Art fetten Kleiderständer für einen Smoking in Übergröße ab. Als er mich sah, glitt ihm sofort das Kinn zur Hemdbrust hinab.

»Immer schön aufpassen, dass das Öl aus den Haaren nicht auf den edlen Teppich tropft«, versuchte ich ihn aufzumuntern.

Er musste das irgendwie missverstanden haben, denn er winkte zwei weitere Gorillas heran, die statt Smoking mehr die Art Anzüge trugen, die bei Il Cardinales Jungs in Mode sind. Deutlich sichtbare Polster für Schulterhalfter Inbegriffen und so weite Hosenbeine, dass an den Waden Platz für andere Überraschungen blieb.

»Verschwinde, du bist hier nicht erwünscht, Schnüffler«, knurrte einer bei beiden.

Ich war schon früher mit dem Kerl in Berührung gekommen. Wo­mit ich nicht meine, dass wir einen freundlichen Händedruck ausge­tauscht hatten. Es waren eher Fausthiebe gewesen. Er hatte mehr Pickel im Gesicht als Haare auf dem Kopf, was keineswegs bedeutete, dass er eine Glatze spazieren führte.

»Schön, dich wieder zu sehen, Giovanni«, begrüßte ich ihn herz­lich. »Wie war's denn so im Knast?«

Diese Makkaronis können vielleicht Opernarien trällern, aber Sinn für Humor haben sie nicht. Sein Kollege musste ihn zurückhalten, da­mit er nicht handgreiflich wurde. Den Kollegen glaubte ich auch schon mal gesehen zu haben. Sein Gesicht war ziemlich frei von Pickeln, aber ansonsten auch nicht schöner. Immerhin wirkte er beherrschter. Viel­leicht täuschte ich mich auch und er litt einfach nur unter einer Ge­sichtsmuskellähmung.

Sprechen konnte er zumindest, doch die Feinheiten einer gepfleg­ten Ausdrucksweise waren ihm fremd. »Abhauen«, zischte er. »Ich sag's nur einmal.«

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Ich nickte. »Gut so. Es wird auch langweilig, wenn man es dau­ernd wiederholt.« Bevor er mit der Faust ausholen konnte, fügte ich hinzu: »Hör zu, Alfredo...«

»Ich heiße nicht Alfredo!« »Nicht? Dann wurde ich falsch informiert. Ich kann euch Laufbur­

schen ohnehin nicht auseinander halten.« Schon wieder diese Ausholbewegung. »Ich will nichts von dir und deinen Leuten«, sagte ich schnell,

»und ich ermittle in einem rein irischen Fall. Wozu also die Aufre­gung?«

Er schaute mich blöde an. Ich wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, um zu sehen, ob noch irgendwelche Lebenszeichen bei ihm festzustellen waren. »Wozu die Aufregung«, fügte ich hinzu.

Der Smokingständer mischte sich ein und versuchte sich, wie üb­lich erfolglos, an einer humorigen Bemerkung. »Klauen sich die Kartof­felfresser jetzt schon gegenseitig die Kartoffeln, um daraus ungenieß­baren Schnaps zu brennen?«

Er lachte auffordernd in die Runde. Die beiden anderen wieherten mit ihm und jetzt hatte ich ehrlich Angst, dass mir Öl und Pomade um die Ohren fliegen könnte. Ich wartete, bis sich die Heiterkeit gelegt hatte.

»Sehr witzig. Ich freue mich immer, wenn ich es mit heiteren Leu­ten zu tun habe. Aber im Gegensatz zu euch verdiene ich mein Geld nicht mit Spaßen, sondern muss etwas dafür tun. Einigen wir uns doch darauf, dass ich in eurem Schuppen einen schnellen Whiskey trinke und kurz mit einer bei euch angestellten Lady namens Dodo rede, falls sie da ist.«

Ich sage es nur ungern, aber manchmal überzeugen vernünftige Argumente sogar italienische Pomadenköpfe. Der Schmierenkomödiant im Smoking machte eine anzügliche Bemerkung, die nicht vor Ori­ginalität sprühte, was eigentlich auch nicht zu erwarten gewesen war. Sie hatte mit einem bestimmten Teil zu tun, das in der Hose zu finden und seiner Meinung nach bei Iren so klein ist, dass sie nur bei irischen Mädchen auf Mitleid hoffen können.

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Ich sagte ja schon, dass es mit dem Humor, der vom Stiefel zu uns kam, nicht weit her ist. Ich hätte entgegnen können, dass ich ge­hört hatte, die italienischen Ausgaben des diskutierten Teils glichen eher den Weichnudeln, die ihre Besitzer vertilgen. Aber ich hielt es für unter meiner Würde, mit Smoking-Giovanni über solche Dinge zu re­den. Mir war allein wichtig, dass er am Ende, als von mir keine Erwide­rung kam, grinsend seine Alfredos wegschickte und ich endlich Mantel und Hut an der Garderobe abgeben konnte.

*

Ohne noch einmal aufgehalten zu werden, betrat ich die verruchten Räume des Lokals. Das Velvet & Silk machte seinem Namen alle Ehre. An passenden wie auch an unpassenden Stellen war mit Samt und Sei­de nicht gegeizt worden: Seidentapeten, mit Seidenstoff, Samt oder Plüsch bespannte Stühle und Sessel, drapierte Samtvorhänge. Selbst die zwanzig Meter lange Theke war mit etwas verkleidet, das zumin­dest so ähnlich wie Seide aussah. Was echt oder nicht echt war, ließ sich bei dem schummrigen Licht der indirekten Wandbeleuchtung nicht so leicht entscheiden. Klar war jedoch, dass die meisten Gäste, die sich - gegen Mittag nur spärlich, am Abend zahlreich - in dem Etablisse­ment tummelten, einer eher halbseidenen Gesellschaft angehörten.

An einem Piano saß ein mit Anzug und Krawatte ausstaffierter Ne­ger und spielte ein Potpourri neuester Tanzmelodien, meistens Twostep und Charleston, aber auch simplen Foxtrott. Auf der Tanzflä­che bewegten sich nur drei Paare zu den Klängen. An der Theke und an den Tischen im Saal saßen vielleicht zwei Dutzend Leute, tranken stumm vor sich hin, bändelten mit dem weiblichen Inventar des Hau­ses an oder wurden von diesem animiert. Abends ging es hier wahr­scheinlich wesentlich lebhafter zu. Dann spielten Tanzkapellen oder Jazzbands und die Flaschenbatterien hinter der Theke fluteten ihren Inhalt ohne Unterlass in die Kehlen der Durstigen. Zu Letzteren gehör­ten dann stets auch ein paar Polizisten in Zivil, denen der Schlund ge­ölt wurde, damit anderntags auf dem Revier keine falschen Töne he­rauskamen.

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Ich setzte mich auf einen freien Hocker an der Theke, zündete mir eine Zigarette an und bestellte einen halbwegs erschwinglichen Bour­bon. Der Makkaroni, der hier bediente, schob ihn mir mit saurer Miene hin und verlangte sofortige Bezahlung. Vielleicht rechnete er damit, dass ich es hier nicht lange machte und wollte seine Kasse in Ordnung haben, bevor die Fäuste flogen. Ich gab ihm trotzdem ein Trinkgeld und fragte ihn nach Dodo.

»Erst ab sieben«, sagte er lapidar und sah mir auf die Finger, während ich den Whiskey trank. »Noch einen, oder wollen Sie ge­hen?«

Ich hasse Bartender, die mir eine solche Wahl auf zwingen wollen, aber mir war heute nicht so recht nach Streiten zumute. »Noch einen, aber den trinke ich in Ruhe, Alfredo.«

Er schenkte mir nach und kassierte das Geld, wich mir aber wei­terhin nicht von der Pelle.

»Ich mag keinen Whiskey mit Pomadengeruch«, sagte ich und rin­gelte ihm größere Mengen des Zigarettenrauchs um den Kopf, was ihn husten und ein bisschen mehr Abstand nehmen ließ.

Eine der Ladies quatschte mich an. Sie nannte sich Virgie, hatte aber ihre Jungfernschaft schon lange vor dem Großen Krieg verloren und alles an ihr zeugte von einer Unzahl von Kämpfen, die sie in den Jahren danach durchstanden und verloren hatte. Das Fähnchen, das sie als Kleid trug, würde an einer Zwanzigjährigen bei jedem nur eini­germaßen normal veranlagten Mann zu einem Satz heißer Ohren füh­ren, bei ihr allerdings konnte man es nur als geschäftsschädigend be­zeichnen. Sie wollte wissen, ob ich den Großen dabei hätte und ließ mich wissen, dass sie eine Schwäche für Iren hätte. Ich ließ sie abblit­zen. Ihr auch noch einen auszugeben ließ mein Budget nicht zu und außerdem war sie mir zu aufgetakelt und zu fett.

Der Bartender hatte Unrecht gehabt. Dorothy O'Brannon kam doch noch. Jedenfalls setzte sich eine Blondine neben mich, die sich als Dodo vorstellte. Im Gegensatz zu den anderen Ladies im Lokal war sie ungeschminkt, trug ein schlichtes Alltagskleid und wirkte auch sonst nicht herausgeputzt, wenn man mal von dem perlenbestickten Täschchen absah, das sie bei sich trug. Wahrscheinlich war sie gerade

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erst aufgestanden. Im Dienst würde sie wohl anders hier aufkreuzen. Die Haare waren gefärbt, das sah ich gleich. Und das nicht unhübsche, wenn auch etwas kantige Gesicht war zweifellos das einer Irin.

»Du willst mich sprechen?« »Wer sagt das?« »Joe.« »Was für ein Joe?« »Der Typ am Eingang.« »Giovanni?« Sie lachte leise, da sie mein Spielchen durchschaut hatte. »Nein,

er heißt Joe.« Ich zuckte die Achseln. »Meinetwegen. Wahrscheinlich hat er ei­

nen Doppelnamen: Joe-Vanni.« Offensichtlich hatte sich der kleine Dialog mit dem Smokingstän­

der nachträglich doch in einen Vorteil verkehrt. Um mich schneller wie­der loszuwerden, hatte er Dorothy zu mir geschickt. Ihre Anwesenheit war mir wesentlich lieber als die des Bartenders, zumal sie im Gegen­satz zu ihm nach frischer Seife roch. Und ihr Erscheinen hatte oben­drein bewirkt, dass sich der Schnellkassierer außer Hörweite auf Dis­tanz hielt.

»Was ist also?«, fragte die Frau, die ich auf Ende zwanzig schätz­te.

»Du wohnst im Velvet & Silk?« »Ja.« Patzig fügte sie hinzu: »Was soll das werden? Ein Verhör?« Ich winkte ab. »Reine Neugier.« »Aber Joe sagt, du bist ein Schnüffler.« Ich zündete mir eine frische Lucky an. Sie nutzte die Gelegenheit,

um eine Zigarettenspitze und ein silbernes Zigarettenetui aus dem Täschchen zu kramen. Ich bot ihr eine Lucky an, aber sie lehnte ab und steckte eine von ihren eigenen Zigaretten in die Spitze. Der ovalen Form nach schien es sich um einen teuren ägyptischen Import zu han­deln. Es schien den Hühnern im Velvet & Silk nicht schlecht zu gehen.

Ich gab ihr Feuer. »Welches Interesse sollte Joe-Vanni daran ha­ben, einem irischen Schnüffler zu helfen?«

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Sie zog auf eine Art an der Zigarette, die mich kribbelig machte und setzte ein kleines Lächeln auf. »Er erwähnte auch noch andere Möglichkeiten. Aber ich sage dir gleich, ich bin nicht im Dienst. Wenn du was Aufregendes erleben willst und meinen Tarif zahlen kannst, dann komm heute Abend wieder.«

Ich sagte nichts dazu. Sie unterzog mich einer Ganzkörpermuste­rung, blitzte mich aus ihren großen grünen Augen an und leckte sich verführerisch die Lippen. »Bei hübschen Jungs mache ich allerdings manchmal auch eine Ausnahme...«

Ich sah da eine gewisse Gratisofferte mit diversen Extras in ihren Augen, die mich normalerweise nicht unberührt gelassen hätte. Aber im Gegensatz zu Dorothy fühlte ich mich sehr wohl im Dienst. Nach ei­nem tiefen Zug von meiner Zigarette sagte ich: »Erledigen wir erst einmal das Geschäftliche. Ich bin wegen Ethel hier.«

Die Verheißung in den Augen erlosch. »Du sprichst von meiner kleinen Schwester?«

»Es gibt Leute, die sich Sorgen um sie machen.« Ihre Stimme klang verächtlich. »Das kann ich mir vorstellen.« »Du hältst nichts von der Salvation Army?« »Die sind mir normalerweise völlig schnuppe, aber dieser Captain

bringt die Kleine auf die schiefe Bahn.« Ich lachte trocken. »Besser schief als horizontal. Kirby sagt, deine

Familie will Ethel auf den Strich schicken.« Sie blies mir schweren, süßlichen Rauch entgegen. Es war wirklich

eine ägyptische Zigarette. »Sagt er? Er hat sie nicht mehr alle.« »Er sagt, sie hätte dich ebenfalls gezwungen, diese Laufbahn ein­

zuschlagen.« Sie lachte. »So ein Unsinn! Ich mache es aus Spaß an der Sache

und weil es gutes Geld bringt.« »Das du zu Hause abliefern musst?« »Nicht wirklich, aber es stimmt, ich unterstütze die Familie. Im

Übrigen geht dich das nichts an. Hilf lieber Ethel. Dieser Kirby hat ir­gendetwas mit ihr vor.«

»Mir wurde nur gesagt, dass drei von deinen Brüdern etwas mit ihr vorhaben.«

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Sie winkte verächtlich ab. »Logan, Will und John spinnen viel he­rum, wenn der Tag lang ist, ohne wirklich etwas auf die Reihe zu krie­gen.«

Offenbar genossen diese Brüder selbst im engsten Familienkreis keinen Respekt, der über die Reichweite ihrer Fäuste hinausging. Dass Kirby sie für kriminelle Luschen hielt und ich sie auch nicht gerade als Geistesriesen einschätzte, erwähnte ich nicht.

»Du weißt nichts über solche Pläne?« »Ich habe schon vor Jahren den Kontakt zu ihnen abgebrochen.« »Du sagtest doch, du unterstützt die Familie.« »Nur die Eltern und die jüngeren Geschwister. Und ich kann dir

versichern, die lassen Ethel in Ruhe, auch wenn ihnen nicht gefällt, was sie macht.«

Das mochte wahr sein oder auch nicht. Überhaupt konnte es auch sein, dass mir Dorothy eine ganze Bärenfamilie aufgebunden hatte. Die Zukunft würde es weisen.

Der Bartender tauchte wieder auf. »Sie halten sich jetzt schon ganz schön lange an Ihrem Drink fest, Mister.«

Leute, die mir immer den gleichen Müll erzählen, gehen mir auf den Geist. Ich beachtete ihn nicht weiter. Zumal ich sowieso vorhatte zu gehen.

»Stell dich nicht so an, Luigi«, meinte Dorothy. »Joe hat ihm er­laubt, hier zu sitzen.«

»Seit wann heißt Alfredo denn Luigi?«, fragte ich, trank meinen Whiskey aus und kletterte vom Barhocker. »Von diesen italienischen Namen kriegt man wirklich nur Hirnsausen.«

Ich verabschiedete mich von Dorothy, stellte aber vage in Aus­sicht, vielleicht im Laufe der nächsten Tage auf einen gewissen Punkt in unserer Unterhaltung zurückzukommen.

Mit der Kleinen aus dem Speakeasy in der Seven Oaks Street wa­ren das schon zwei Optionen. Der Tag schien gar nicht so übel zu ver­laufen, wie er sich am Morgen angelassen hatte.

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Ich hatte mich im Velvet & Silk länger aufgehalten, als dies meine Ab­sicht gewesen war. Eigentlich hatte ich geplant, mir noch die restlichen Mitglieder der Familie O'Brannon anzuschauen, aber ich entschied mich dagegen. Das musste bis morgen warten. Heute nahm es mir zu viel Zeit weg. Vielleicht war ich auch nur etwas faul oder dachte länger als nötig über die Kurven nach, die sich unter Dorothys Kleid abge­zeichnet hatten.

Allerdings bin ich niemals faul oder abgelenkt genug, um meinen Job zu vernachlässigen. Ich hatte einiges erfahren, was sich als wichtig erweisen mochte. Aber Kirby hatte mich in erster Linie engagiert, um eine drohende Entführung von Ethel zu verhindern. Da sich die Haupt­verdächtigen schon in der Nähe der Bäckerei herumgetrieben hatten oder dies immer noch taten, war mein Erscheinen in der Seven Oaks Street angesagt, bevor Ethel dort Feierabend machte.

Bis dahin blieb mir noch eine gute Stunde. Zeit genug, um schnell etwas zu essen, den Zigarettenvorrat aufzufrischen und vielleicht bei Dunky einen Schluck hinter die Binde zu gießen.

Auf dem Weg in die Seven Oaks Street sah ich an der Ecke Frank­lin/Fulton Street ein einladendes Diner. Kurz entschlossen steuerte ich den Plymouth an den Bordstein und stieg aus. Der Imbissladen war überraschend sauber. Keine Kakerlakenbude wie viele andere und die Schürze des Kochs war auch schon mal gewaschen worden.

Nachdem ich mir einen Hamburger mit allem und das doppelt ein­verleibt hatte, war eine solide Grundlage für meinen Besuch bei Dunky gelegt. Im Drugstore nebenan ergänzte ich meinen Zigarettenvorrat für den zu erwartenden langen Tag. Dann setzte ich mich wieder hin­ters Steuer und fuhr in die North Clark Street zu meiner Stammkneipe.

Bei Dunky war es eigentlich wie immer. Man konnte viel an seiner Mundfaulheit und seiner Abstinenz aussetzen, aber im Ausschenken des Bourbon war er schnell und zuverlässig. In seinem Laden hingen die üblichen Dauerkunden herum, die mich nicht weiter interessierten.

Nachdem er mein Glas gefüllt hatte, belauerte mich Dunky miss­trauisch. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus Verärgerung dar­über, dass ich ihn so oder so in ein Gespräch hineinziehen würde und die geheime Hoffnung, dass im Verlauf des Gesprächs ein kleiner oder

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auch größerer Schein für Informationen zu ihm herüberflattern würde. Aber diesmal hatte ich keine Fragen, die mir kostenpflichtig erschie­nen.

»Hattest du eigentlich mal mit der Salvation Army zu tun, Dun­ky?«, fragte ich ihn, während ich mich an dem Kunststück versuchte, gleichzeitig einen Schluck Whiskey zu trinken und mir eine Zigarette anzustecken.

Dunky spülte benutzte Gläser in einer Schüssel, trocknete sie ab, polierte sie, hielt sie gegen das Licht, polierte sie wieder und hielt sie wieder gegen das Licht. Und schwieg. So kenne ich ihn. Würde er sich anders verhalten, musste ich mir ernsthaft Sorgen machen.

»Na komm, Dunky«, mahnte ich ihn. »Das muss auch mal ohne Schein gehen. Du sollst mir ja keine Geheimnisse verraten. Nimm es einfach als nette Plauderei unter Nachbarn.«

Das sind wir wirklich, denn Dunkys Speakeasy liegt in der North Clark Street nur vier Blocks von meiner Wohnung entfernt. Diesem Umstand verdankt er meine häufigen Besuche und meine Fragen, die manchmal für beide Seiten ertragreiche Antworten auslösten.

Der Dicke schien mit dem Ergebnis seines Polierens fürs Erste zu­frieden zu sein und strich sich über die Glatze. Ich dachte schon, er würde auf die alten Tage neue Marotten entwickeln und nun auch mit dem Polieren der Glatze beginnen. Aber er besann sich anders.

»Warum sollte ich?«, fragte er verdrießlich. »Ich mag keine Doughnuts.«

»Ich meinte damit nicht, dass du ihnen Doughnuts abgekauft oder von ihnen umsonst bekommen hast.«

»Was dann?« »Immerhin schenkst du Alkohol aus und lockst damit arme Sünder

in die Arme des Teufels. Und gegen diesen Teufel kämpft die Heilsar­mee nun mal.«

»Ich gebe den Leuten nur das, was sie haben wollen«, wider­sprach Dunky.

Das versprach ja in eine richtige Unterhaltung auszuarten. Hatte er am Ende doch von seinem eigenen Stoff genascht?

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»Nur immer mit der Ruhe. Das weiß ich doch, Dunky«, beruhigte ich ihn. »Was ist nun? Du kennst doch Gott und die Welt. Ist dir schon mal ein Captain Kirby von der Salvation Army untergekommen?«

Dunky schaute mich mit einem Blick an, den ich gar nicht leiden konnte. Ich spürte förmlich, wie ich auf Westentaschengröße zusam­menschrumpfte. Es dauerte endlos lange, bis er antwortete. »Mir nicht, aber anderen. Man sagt, er spioniert herum und versucht her­auszukriegen, wem die größten Nachtclubs in der Stadt gehören. Wahrscheinlich will er die Besitzer bei Gott anschwärzen.«

»Muss er das nicht auch? Schließlich ist ein Captain so etwas wie ein Pastor. Irgendwas muss er dem lieben Gott schließlich erzählen, oder?«

»Wozu, wenn Gott ja doch alles weiß?« Da konnte ich Dunky nur schwer widersprechen. »Hältst du es für

möglich, dass die Salvation Army ganz irdische Ziele verfolgt und den illegalen Ausschank von Alkohol unterbinden will?«

»Das will doch schon die Regierung.« »Ohne großen Erfolg.« Dunky grinste, was äußerst selten vorkam. »Du sagst es. Und die

Regierung hat immerhin ein Heer von Polizisten zur Verfügung. Was sind dagegen schon ein paar Tröten?«

»Sie könnten damit zumindest zum Sturmangriffblasen.« Ich wusste allerdings selbst nicht so genau, wie ich das meinte.

Dunky zeigte sich milde erstaunt. »Wo? Hier in Chicago?« Ich kam aus meiner eigenen Falle nicht mehr heraus. »Zum Bei­

spiel.« »Glaubst du im Ernst, Il Cardinale und The Jar würden sich das

gefallen lassen?« Die Falle war zugeschnappt. »Nein«, sagte ich ehrlich. »Das wäre

eine Sache für die vereinigten Tommy-Guns der Iren und Italiener. Und für die Salvation Army wäre es wohl Custers letztes Gefecht, diesmal aber nicht in Dakota, sondern hier in Chicago.«

*

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Nach einem weiteren Whiskey sah ich auf meine Armbanduhr. Allmäh­lich musste ich mich auf die Socken machen. Vorher wollte ich aber noch Betty anrufen. Da Dunky gerade auf Nachschenktour zwischen den Tischen unterwegs war, legte ich das Geld für die beiden Whis­keys auf den Tresen. Ich zog den Mantel an, setzte den Hut auf und stiefelte zum Ausgang des Speakeasys. Dort befand sich ein Münzfern­sprecher. Ich warf einen Nickel ein und nannte der Vermittlung meine Büronummer.

Betty meldete sich sofort. »Detektei Connor.« In meinen Ohren klang das immer noch irgendwie falsch. Joes

Name fehlte. Aber daran war nichts mehr zu ändern. »Hallo Betty«, sagte ich. »Pat ist hier. Ich komme heute später

oder gar nicht ins Büro.« »Wieder mal abgestürzt?«, fragte sie anzüglich. »Und wenn es so wäre, ginge es Sie nichts an«, gab ich ärgerlich

zurück. »Doch, tut es«, widersprach sie kratzbürstig. »Mich geht alles et­

was an, was mit meinem Arbeitsplatz zu tun hat. Wenn der Chef nicht arbeitet, bin ich auch bald arbeitslos.«

Es lag mir auf der Zunge zu sagen, dass sie dann völlig ungestört zu Hause ihre Nägel lackieren konnte, verkniff es mir aber. »Hören Sie zu, Betty, wir haben einen neuen Auftrag. Von der Heilsarmee.«

Ich warf einen Nickel nach. »Da hat man aber den Bock zum Gärtner gemacht«, meinte Betty.

Sie schien heute ihren besonders zickigen Tag zu haben. Bevor sie Vermutungen darüber anstellen konnte, welches Musik­

instrument ich bei den Kriegern Gottes spielen sollte, sagte ich: »Ich erzähle Ihnen mehr darüber, wenn ich wieder im Büro bin. Im Moment habe ich keine Zeit und bin auf dem Sprung. War irgendetwas, das ich wissen musste?«

»Keine Besuche und keine Anrufe. Nur ein paar Rechnungen.« »Dann bis morgen.« Dann fiel mir noch etwas ein. Bevor sie auf­

legen konnte, sagte ich schnell: »Warten Sie, Betty. Was halten Sie von einem Captain der Salvation Army, der sich für die Besitzverhält­nisse von Nachtclubs interessiert?«

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Ihre Antwort kam prompt: »Ich würde ihn für einen Heuchler hal­ten, der vorhat, ins Nachtclubgeschäft einzusteigen. Ist das der neue Auftrag, Pat? Will er Sie dafür einspannen?«

»Nein, ich soll eine Glaubensschwester beschützen.« »Ach so«, kam es enttäuscht zurück. »Dann ist er wohl doch kein

Heuchler.« »Bis später.« Ich hängte den Hörer ein, bevor ich von der Vermittlung aufgefor­

dert wurde, einen weiteren Nickel einzuwerfen, winkte Dunky kurz zu und machte den Abgang.

*

Als ich wieder im Wagen saß und zur Seven Oaks Street fuhr, dachte ich noch einmal über das Gespräch mit Dunky nach. Es hatte mich nichts gekostet und mir doch eine interessante Information beschert: Captain Kirby interessierte sich für Nachtclubbesitzer. Wollte er sie überreden, nur noch Milch auszuschenken? So dumm konnte niemand sein. Eher konnte ich mir vorstellen, dass Kirby plante, ein Abkommen auszuhandeln, eine Art Schutzgeld: Ihr spendet eine nette Summe für die Heilsarmee und wir vergraulen euch nicht die Kunden. Vielleicht hatte das sogar geklappt und der zerknitterte Franklin stammte aus diesen Pfründen.

Ich zündete mir eine Lucky an und überlegte weiter. Da Kirby of­fenbar nicht einfach in einen Club marschiert war und nach dem Inha­ber oder Geschäftsführer gefragt hatte, steckte vielleicht mehr dahin­ter. Es war ein offenes Geheimnis, dass einige der teureren Clubs von Strohmännern geführt wurden, hinter denen so genannte honorige Bürger standen, die nach außen hin nichts mit der Halbwelt zu tun haben wollten. Hatte Betty am Ende mit ihrer spontanen Vermutung Recht? War Kirby ein Heuchler? Wollte er, wie Betty meinte, ins Nacht­clubgeschäft einsteigen? Oder sammelte er Material für eine nette kleine Erpressung?

Aber warum kümmerte sich Captain Kirby dann so fürsorglich um Ethel O'Brannon? Das hatte ich mich heute Morgen schon gefragt und

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ich fragte es mich immer noch. Ich blieb bei meiner Überzeugung, dass unheilige Gelüste im Hintergrund standen, auch wenn Kirby die­sen nicht im Flying Dutchman nachging. Hatte Ethel mit ihm einen dritten alten Knaben als Liebhaber, mit dem sie sich in dessen Woh­nung oder an einem anderen Ort vergnügte? Und wusste Kirby, dass er nicht der Einzige war?

Es wurde wirklich Zeit, dass ich dieses Schätzchen zu Gesicht be­kam, das offenbar seine Berufung darin gefunden hatte, sich nicht nur den Seelennöten anderer zu widmen, sondern sich auch deren sonsti­gen Nöten auf sehr private Weise zu öffnen.

*

Ich fuhr das südliche Ende der Seven Oaks Street langsam herauf, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. In den wenigen parken­den Autos saß niemand.

Es war zwanzig vor fünf und schon fast dunkel, als ich den Ply­mouth ein Stück unterhalb der Bäckerei parkte. Ich stellte den Motor und das Licht ab, blieb aber sitzen und rauchte die Zigarette zu Ende. Dann vertrat ich mir die Füße, ging jeweils dreißig Meter die Straße hinauf und hinab und kontrollierte dabei die vor mir und auf der ande­ren Seite parkenden Autos. Ich entdeckte nichts Verdächtiges.

Schließlich setzte ich mich wieder in meinen Wagen. Auf dem Bei­fahrersitz lag die Tribune von heute Morgen. Aber es war schon zu dunkel, um darin zu lesen oder jemandem vorzugaukeln, dies zu tun. Ich fror trotz des dicken Mantels vor mich hin und verringerte meinen Zigarettenvorrat. Währenddessen behielt ich den Hofeingang der Bä­ckerei und den Laden im Auge.

Die Seven Oaks Street wurde ausreichend hell von Straßenlater­nen beleuchtet. Eine davon befand sich in unmittelbarer Nähe des La­dens. Was sich vor dessen Eingang und in der Einfahrt zur Bäckerei tat, würde mir nicht so leicht entgehen. Zugleich konnte ich beide Sei­ten der Straßen kontrollieren. In der Ferne erkannte ich den Kiosk na­he dem Speakeasy, in dem ich Ethels Brüdern begegnet war. Wenn sie

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für heute etwas geplant und sich nicht festgesoffen hatten, mussten sie langsam auftauchen.

Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, aber von dichtem Verkehr konnte nicht die Rede sein. Auf den Bürgersteigen war etwas mehr los, aber die Seven Oaks Street konnte wahrhaftig nicht als Flaniermeile gelten, sondern war eine eher triste Straße in einer tristen Gegend. Außerdem lud das Wetter kaum zum Flanieren ein. Die meisten der Fußgänger hatten es eilig und schauten kaum nach links oder rechts. In der Nähe gab es eine Hochbahnstation. Vielleicht wollten sie da hin. Oder einfach schnell ins warme Zuhause.

Ich erinnerte mich, in einer der Querstraßen ein Kino gesehen zu haben, in dem ein noch relativ neuer Film mit Buster Keaton lief. Kirby hatte erwähnt, dass Ethel gern ins Kino ging. Vielleicht war das etwas für sie. Mir würde es nur Recht sein. Erstens kannte ich den Film noch nicht und zweitens würde es dort zwar miefig, aber warm sein.

Für den Doughnuts-Laden im Souterrain schien sich niemand zu interessieren. Bei dem winzigen Schild war das auch kein Wunder. Von einer guten Geschäftslage konnte ohnehin nicht die Rede sein. Aber vermutlich war zumindest die Miete niedrig.

Dann gab es doch eine junge Lady, die den Laden zielstrebig an­steuerte. Sie war hoch gewachsen und den Beinen nach wohl eher mager als schlank. Sonst konnte ich außer einem braunen Mantel mit hochgeschlagenem Pelzkragen und einem schwarzen Hut, der eher wie ein Helm aussah, aber durchaus der neuesten Mode entsprach, nicht viel erkennen. Jedenfalls verschwand sie im Laden.

Ich drehte das Handgelenk zum Licht der Laterne, um das Ziffer­blatt meiner Uhr erkennen zu können. Es war genau fünf Uhr. Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich bei der Frau um Agatha Hubbard, E­thels Schulfreundin, handelte. Offenbar war heute so ein Tag, an dem die beiden sich verabredet hatten, um gemeinsam irgendwas zu un­ternehmen.

Ich sollte mich nicht getäuscht haben. Kaum eine Minute später verließ die Frau im braunen Mantel den Laden wieder. In ihrer Beglei­tung befand sich ein Mädchen, das einen Kopf kleiner war als sie und in einen blauen Mantel mit roten Kragenspiegeln gehüllt war, wie ihn

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der Captain angehabt hatte. Obendrein trug sie ein blaues Kapotthüt­chen, das mit einem Band unter dem Kinn befestigt und links mit einer großen Schleife versehen war. Unter dem Hütchen quollen kaum zu bändigende rotblonde Locken hervor. Zierliche Nase, große Augen, Grübchen in den Wangen. Die Kleine war ganz entzückend und ich konnte gut verstehen, dass ältere Knaben auf sie flogen. Und be­stimmt auch jüngere.

Sie war zu weit weg, als dass ich hätte beurteilen können, worin genau die Ähnlichkeit mit Dorothy bestand. Aber sie konnte gar nicht weit genug weg sein, um zwei Dinge mit Bestimmtheit zu sagen: Das war Ethel O'Brannon. Und sie hatte wenig Ähnlichkeit mit ihren Brü­dern. Halleluja.

Ich beeilte mich, aus dem Plymouth zu kommen und folgte den Freundinnen. Sie hatten sich eingehakt und legten einen guten Schritt vor, was bei der Kälte nicht verwunderte. Agatha mit ihren langen Bei­nen bestimmte das Tempo. Ich hatte noch keine Ahnung, wohin sie wollten. Kino und Hochbahnstation lagen beide in der gleichen Rich­tung. Auf jeden Fall schienen sie ein festes Ziel zu haben.

Keine der beiden Frauen warf einen Blick zurück. Ich nahm an, dass Ethel vom Captain wusste, was ihr drohte. Wahrscheinlich hatte er ihr auch erzählt, dass er einen Beschützer engagieren würde. Beides schien Ethel wenig zu kümmern. Besonders ängstlich oder auch nur neugierig schien sie nicht zu sein.

Ich hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen und ging zehn Meter hinter ihnen. Ich war froh, dass es wenigstens nicht schneite. Es gibt für einen Privatdetektiv heiklere Aufgaben als Beschattungen. Aber manchmal, hauptsächlich im Winter, wünschte ich mir, lieber in Miami meine Brötchen zu verdienen. Aber so was verging auch wieder. Ir­gendwie sind mir meine Giovannis wohl doch ans Herz gewachsen. In Miami gab es zwar auch welche und zweifellos auch genauso hässli­che, aber bestimmt nicht so viele wie in Chicago.

Dass es in Windy City auch eine Menge irische Gangster und Möchtegerngangster gab, zeigte sich auf der Stelle. Ethels Brüder hat­ten sich hinter dem Kiosk am Speakeasy versteckt. Ich hätte es mir eigentlich denken können, dass ihnen nichts Intelligenteres einfallen

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würde. Jetzt kamen sie plötzlich wie drei wild gewordene Orang-Utans mit Schiebermützen aus der Deckung hervor und jagten auf die Mäd­chen zu, die sich auf der anderen Straßenseite befanden. Sie stellten sich so dumm an, dass diese sofort aufmerksam wurden, laut um Hilfe riefen und losrannten, was die Haxen hergaben.

Ich war ebenfalls losgestürmt. Mich hatten die Schiebermützen-Drillinge überhaupt nicht auf der Rechnung, obwohl ich mich mit ihnen am Vormittag doch so nett unterhalten und ihnen einen Drink gezahlt hatte.

Ich holte den langsamsten der drei ein, gab ihm einen Schubs und stellte ihm gleichzeitig einen Fuß in den Weg. Er machte eine Bauch­landung und rutschte wie eine flügellahme Ente durch den Matsch. Dann machte seine Schiebermütze zusammen mit dem, was sie be­deckte, Bekanntschaft mit einem Laternenpfahl. Er verdrehte die Au­gen und blieb erst mal liegen.

Ethels Brüder waren stämmige Jungs, aber ihre Laufleistungen waren mäßig. Sie reichten allenfalls aus, in einem Gefängnishof ein paar Runden zu drehen. Schneematschrodeln lag ihnen mehr.

Ich erwischte den mittleren der Brüder an der Jacke und stoppte ihn. Damit war er nicht so recht einverstanden, aber ich überzeugte ihn mit einer Geraden gegen das Kinn. Er setzte sich hin und grübelte über das Erlebnis nach.

Der letzte Drilling, das war der Älteste, der recht eigenartige Vor­stellungen von der Zubereitung bestimmter Körperteile geäußert hatte, war aufmerksam geworden und stoppte aus freien Stücken. Er machte Anstalten, grantig zu werden. Ich duckte mich unter seinem Schwinger weg und ließ ihn spüren, dass er einen druckempfindlichen Magen hatte. Er krümmte sich und bekam nicht so richtig Luft. Es reichte aber noch, um zu zischen: »Das zahle ich dir heim.«

Auf solche Ankündigungen gebe ich nichts. Für mich war der Fall erst einmal erledigt. Ich zündete mir eine Lucky an. Dann schaute ich nach den Mädchen. Von ihnen war weit und breit nichts mehr zu se­hen. Wie es aussah, hatte ich mir ein paar Stunden Freizeit verdient. Allerdings hatte ich nicht die Absicht, sie in Gesellschaft der Schieber­mützen-Drillinge zu verbringen.

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Die hatten sich wieder aufgerappelt und schienen anderer Ansicht zu sein. Sie machten ziemlich verärgerte Gesichter, ballten die Fäuste und gingen auf mich los. Sie glaubten wohl, in mir einen Sparrings­partner für ihr Boxtraining gefunden zu haben. Ich überlegte, wie ich möglichst schnell zu meinem Plymouth gelangen konnte, ohne größere Blessuren davonzutragen.

Mein Problem wurde gelöst, als nicht allzu weit entfernt eine Poli­zeisirene zu hören war. Als klar wurde, dass sich das Geräusch schnell der Seven Oaks Street näherte, kürzten die Brüder ihr Trainingspro­gramm ab. Ich konnte allerdings nicht verhindern, dass mich zwei von ihnen festhielten und der Älteste mir einen derben Schlag ins Gesicht setzte.

»Das war nur ein bescheidener Anfang«, versprach er. »Es kommt noch viel, viel mehr!«

Dann türmten die drei. »Übernehmt euch bloß nicht«, rief ich ihnen hinterher. Als der Polizeiwagen neben mir hielt und zwei Polizisten, die auf

den Trittbrettern mitgefahren waren, auf mich zueilten, tupfte ich mir gerade das Blut von der aufgeplatzten Lippe.

»Ist was, Jungs?«, fragte ich. »Wir erhielten einen Anruf, dass hier ein paar Iren herumlungern

und Passanten belästigen«, sagte einer der beiden und sein stiernacki­ger Kollege suchte schon mal nach den Handschellen. »Sind Sie einer davon? Wo sind Ihre Saufbrüder?«

Ich fragte mich, ob die Mädchen im Revier angerufen hatten. Dann waren die Polizisten verdammt schnell gewesen. Aber vielleicht hatten die Drillinge sich schon vorher unbeliebt gemacht, als sie auf Ethel warteten und jemand sonst hatte sich bei der Polizei beschwert.

»Fahrt wieder nach Hause, Jungs«, sagte ich. »Hier gibt es nichts für euch zu tun.«

»Das haben Sie nicht zu entscheiden«, plusterte sich der Polizist auf. »Sie kommen mit aufs Revier.«

»Immer langsam. Sie haben nichts gegen mich in der Hand. Ich bin hier nur friedlich spazieren gegangen.«

»Und was ist mit Ihrer Lippe?«

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»Was soll damit sein?« »Sie blutet.« »Ich bin ausgerutscht und habe sie mir dabei aufgeschlagen.« »Sieht mir mehr nach einer der üblichen Prügeleien unter Iren

aus«, meinte Stiernacken. »Davon weiß ich nichts.« »Das können Sie alles dem Lieutenant auf dem Revier erzählen.«

Stiernacken packte meinen rechten Arm und drehte ihn mir auf den Rücken.

So etwas missfällt mir, aber ich gab mir Mühe, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. »Mit wem soll ich mich denn geprügelt ha­ben? Wenn Sie außer mir noch andere Iren sehen, sollten Sie sich mal die Augen putzen lassen.«

Jetzt wurde Stiernacken richtig fies und versuchte, mir den Arm auszukugeln.

Ein paar Passanten hatten sich um uns versammelt und begannen über meine Behandlung zu murren. Ihre Darstellungen des Gesche­hens waren widersprüchlich, aber im Großen und Ganzen kam ich in den Schilderungen ganz gut weg.

Am Ende ließ Stiernacken mich erst los und dann laufen.

*

Ich halte nichts davon, die Polizei meine Arbeit erledigen zu lassen. Aus diesem Grunde hatte ich mich über die O'Brannon-Brüder ausge­schwiegen. Im Grunde hatte ich auch nichts gegen sie in der Hand. Sie hatten Captain Kirby gedroht, waren hinter Ethel und Agatha hergelau­fen und hatten mich kurz in die Mangel genommen. Das mochte man als rüpelhaftes Benehmen durchgehen lassen. Und die Drillinge wür­den dagegenhalten, dass ich mit der Schlägerei angefangen hätte. Was ja nicht ganz unrichtig war.

Mein Kiefer tat mir von dem Faustschlag weh, war aber zum Glück nicht ausgerenkt. Als ich zu Hause war, klebte ich ein Pflaster auf die noch immer leicht blutende Lippe und das war's dann.

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Ich bin nicht wehleidig, aber zu einem Schäferstündchen zog es mich heute nicht mehr. Im Übrigen würden sich Dorothy und die Klei­ne im Speakeasy sicher auch morgen noch an mich erinnern.

Ich stellte den Wecker auf sieben Uhr und legte mich zu einem Ni­ckerchen hin.

Als das Ding losrasselte, kam es mir vor, als seien gerade mal fünf Minuten vergangen. Aber ich fühlte mich doch wieder einigermaßen munter. Der Eindruck vertiefte sich, als ich mir Wasser ins Gesicht ge­worfen, mich gekämmt und meine Krawatte gerichtet hatte. Da die Lippe nicht mehr blutete, nahm ich das Pflaster ab. Die Lippe war an­geschwollen, aber ansonsten sah ich wieder ganz manierlich aus, wie ich fand. Jetzt kam mir sogar wieder Dorothy in den Sinn. Aber erstens rief die Arbeit und zweitens wäre es sicher keine gute Idee, sie jetzt zu besuchen. Schließlich dürfte sie jetzt Lukrativeres im Sinn haben.

Ich setzte Wasser auf, mahlte Kaffeebohnen in der Handmühle und goss mir einen Kaffee auf. Danach ging es mir noch besser. Ich machte mich mit Hut und Mantel ausgehfertig. Dann stiefelte ich vom dritten Stock, in dem sich mein Apartment befindet, nach unten und trat vor die Haustür. Es war milder geworden und nieselte ein biss­chen. Im Hauseingang lümmelten ein paar Halbwüchsige herum, die mir aber respektvoll Platz machten. Ich hatte vor Monaten mal eine kleine Auseinandersetzung mit ihnen und seitdem läuft hier alles wie geschmiert.

In meinem Plymouth betätigte ich erst einmal den Handknauf des Scheibenwischers, um etwas sehen zu können. In den teuren Schlitten gibt es inzwischen elektrische Scheibenwischer, aber mir genügt, was ich habe.

Nach der letzten Begegnung mit den Drillingen hielt ich es für rat­sam, für alle Fälle meinen guten alten Kameraden Smith & Wesson mitzunehmen. Der Abstecher ins Büro war ohnehin kein großer Um­weg. Normalerweise wäre ich die North Clark runter gefahren, aber die war wegen eines Unfalls ab der West Oak Street gesperrt. Ich versuch­te es mit der North LaSalle, kehrte aber sofort wieder um, als ich den Stau vor mir bemerkte. Blieb nur die North State. Dort war der Verkehr ebenfalls zähflüssiger als erwartet. Ich quälte mich hindurch und bog

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dann in den Wacker Drive ab, wo es genauso schlimm war. Die Büro­türme hatten schon vor Stunden ihre Angestellten ausgespieen, aber das bedeutete wenig. In Chicago scheint zu fast jeder Tageszeit so gut wie jeder Einwohner im eigenen Auto oder in Taxen, Bussen und Bah­nen unterwegs zu sein. Ich war Teil einer Blechlawine, die aus Dodges, Marmons, Ford T-Modellen, Packards, Chevrolets, Lincolns und an­deren Pkws der verschiedensten Klassen und Baujahre sowie klobigen Lastwagen mit dröhnenden Dieselmotoren bestand. Ich überholte Dut­zende von Straßenbahnwagen und doppelstöckigen Omnibussen, in deren offenen Obergeschossen bei dem Wetter nur die ganz Hartge­sottenen saßen.

In der North Franklin Street ging es flotter voran. Nach dem kur­zen Zwischenstopp im Büro fuhr ich den Washington Boulevard Rich­tung Westen. Hier gab es keine Staus. Die Delaney Street fand ich allerdings nicht auf Anhieb und musste mich nach ihr und der Kirche erst durchfragen. Man beschrieb mir die West General Booth Church als doppelstöckiges, dunkelblau angestrichenes Gebäude. Als ich die Delaney Street erreichte, fiel es inmitten von roten Backsteinfassaden sofort auf. Obendrein hing aus einem der oberen Fenster ein Transpa­rent mit einem weißen S auf rotem Grund.

Ich hatte viel Zeit verloren, war aber gerade noch rechtzeitig ein­getrudelt. Die Anhänger der christlichen Erweckung mittels Pauken und Trompeten hatten sich bereits auf dem Bürgersteig vor dem Haus versammelt. Es waren etwa fünfzig. Alle trugen blaue Mäntel, die Frauen Kapotthütchen, die Männer Uniformmützen. Einige hatten Mu­sikinstrumente dabei, andere Sammelbüchsen, Flugblätter und Bro­schüren. Die meisten der Versammelten waren älteren Jahrgangs. Ei­nige von ihnen sahen so alt aus, dass es mich nicht gewundert hätte zu hören, dass sie schon die Posaunen vor Jericho geblasen hatten. Aber es gab auch ein paar jüngere Leute, vor allem Frauen.

Ich entdeckte Ethel, die fröhlich erweckt dreinschaute und in der rechten Hand eine Sammelbüchse hielt. Direkt neben ihr stand Captain Kirby und redete unablässig auf sie ein.

Ich stieg aus dem Wagen, hielt aber Abstand. Ich zündete mir ei­ne Lucky an und wartete.

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Es dauerte nicht lange, dann hatte mich der Captain bemerkt. Er flüsterte Ethel etwas zu. Dann kamen die beiden zu mir herüberge­schlendert.

Die Kleine strahlte mich an. »Danke«, sagte sie schlicht. Mir wurde auch ohne Bourbon ganz warm ums Herz. »Nicht der

Rede wert.« »Ethel hat mir von dem Überfall ihrer Brüder erzählt«, mischte

sich der Captain ein. »Gute Arbeit, Mister Connor.« »Man tut, was man kann.« Ethel schaute auf meine geschwollene

Lippe. »Sie wurden meinetwegen verletzt?«, fragte sie in einer rei­zenden Mischung aus Mitgefühl und Schuldbewusstsein.

Ich winkte ab. »Es ist nichts. Ich habe mich nur ein bisschen un­geschickt angestellt.«

Ein roter Privatbus fuhr vor und die Versammelten begannen ein­zusteigen.

»Glauben Sie, sie versuchen es heute noch einmal?«, wollte Kirby wissen.

Ich nahm einen Zug von der Zigarette. »Gut möglich. Ihnen fehlt ein Erfolgserlebnis.« Ich deutete auf den Bus. »Wissen Ethels Brüder, wohin die Reise geht?«

»Ich fürchte ja. Wir erfüllen seit einigen Wochen in der South Wa­bash Street und den umliegenden Straßen unsere Pflicht für den Herrn.«

Das konnte man so oder so verstehen. »Was halten Sie davon, Ih­ren Pflichten woanders nachzugehen?«

Der Captain schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Die Einsatzpläne werden nicht von mir, sondern vom örtlichen Brigadier erstellt. Daran habe ich mich zu halten.«

»Dann gönnen Sie Ethel wenigstens eine Pause. Ich kann sie zu ihrem Hotel fahren.«

Kirby schien ins Grübeln zu kommen und sah mich prüfend an. Wahrscheinlich versuchte er abzuschätzen, ob ich Ambitionen haben könnte, meine Beschützeraufgaben auf Bereiche auszudehnen, die bereits unter seiner Obhut standen. Ich fiel mit Pauken und Trompeten durch die Prüfung.

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Der Captain legte dem Mädchen einen Arm um die Schultern. »Bei uns ist sie am sichersten. Und außerdem haben wir ja Sie als Schutz­engel - auf Abstand.«

Die Art, wie er die letzten beiden Wörter betonte, machte klar, dass meine Überlegungen nicht so ganz verkehrt gewesen sein konn­ten.

»Man wartet auf uns«, fuhr er fort und zog Ethel mit sich. Er wandte sich kurz zu mir um. »Folgen Sie einfach dem Bus.«

*

Als der Bus seine Fahrgäste in der South Wabash Street auslud, suchte ich mir eilends einen Parkplatz, machte mich auf die Socken und ver­folgte das Treiben der Gottessoldaten in angemessenem Abstand. Der Captain stellte fünf Trupps zusammen. Die insgesamt zehn Musiker bildeten zwei Kapellen, zu denen sich jeweils fünf Leute mit Sammel­büchsen und Handzetteln gesellten. Aus dem Bus wurden halboffene Blechboxen geladen, in denen sich Doughnuts befanden. Mit den Doughnuts bewaffneten sich die drei restlichen Trupps.

Allmählich wurde mir die Schlachtordnung klar. Drei Trupps ver­suchten die Mägen des Zielpublikums zu erreichen, indem sie Dough­nuts verkauften oder verschenkten, die anderen beiden hatten es mehr auf die Ohren abgesehen. Das eine wie das andere wurde von Zettelverteilern mit frommen Traktaten gewürzt.

Die Trupps setzten sich in verschiedene Richtungen in Bewegung. Ich folgte der Gruppe, der Kirby, Ethel und eine Musikkapelle ange­hörten.

Die South-Side war Chicagos anrüchigster Bezirk und damit der beste Acker für Leute, die die Welt verbessern wollten. Hier wohnten die Armen, die Arbeitslosen, die gescheiterten Einwanderer aller Natio­nen, die Schwarzen, die Versager und die Trinker. Die meisten waren harmlos, aber es trieb sich auch allerlei Gesindel herum, Leute, die flink mit dem Messer waren. Aber wegen der vielen Nachtclubs und Jazzlokale fielen hier abends auch die Leute mit den dickeren Briefta­schen ein.

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Die weitaus meisten der geparkten Autos gehörten natürlich den Besuchern. Allerdings nicht mehr lange, wenn sie nicht in nächster Nähe der Lokale geparkt wurden. Wer schlau war und es sich leisten konnte, kam mit dem Taxi.

Ich sah das alles rein beruflich. Privat hatte ich keine Meinung da­zu. Was meinen Auftrag anging, hoffte ich nur, dass Kirbys Trupp sich auf das Bekehren der Nachtschwärmer beschränken würde und in der Nähe der Lokale blieb. Hier war es hinreichend hell, während in man­chen Nebenstraßen keine einzige Straßenlaterne brannte.

Vorerst wurde ich erhört. Die Kapelle postierte sich vor dem mon­dänen Blue Moon und blies in die Hörner. Genauer gesagt waren es zwei Posaunen, ein Sousaphon und ein Kornett, unterstützt von einer Pauke. Sie spielten ›Nearer My God To Thee‹. Sie überzeugten mich auf der Stelle, dass man damit Festungsmauern zum Einsturz bringen konnte. Allerdings keine Nachtclubs.

Wer kein Musikinstrument malträtierte, steuerte inbrünstigen Ge­sang bei. Das galt auch für den Captain und für Ethel. Während Kirbys brummiger Bass nur durch ein gutes Maß an Frömmigkeit zu ertragen war, gefiel mir Ethels glockenheller Sopran ausnehmend gut. Vielleicht war ich auch voreingenommen, denn an ihr gefiel mir so ziemlich alles ausnehmend gut.

Einige Passanten blieben stehen und warfen ein paar Münzen in die Sammeldosen. Vor allem Ethel wurde mit Spenden bedacht, was ich gut verstehen konnte. Aber die meisten, die des Weges kamen, erwiesen sich als Kunstbanausen. Obwohl Kirbys Band sie mit vielen unfreiwillig schrägen Tönen versorgte, zogen sie offensichtlich die noch schrägeren Töne im Blue Moon und den anderen Lokalen vor.

Ich hielt mich gut zehn Meter entfernt im Schatten eines gepark­ten Lastwagens. Ich versuchte, meine Ohren vom Gehirn abzukoppeln und ausschließlich auf Leute zu achten, die sich mit Absichten irgend­welcher Art den Heilsarmisten näherten. Besonders auf Drillinge mit Schiebermützen.

Dann erhielt ich von hinten einen Schlag auf den Kopf und achtete notgedrungen auf gar nichts mehr.

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*

Als ich wieder erwachte, lag mein Kopf auf etwas Weichem und ich spürte, dass eine Hand sanft durch mein Haar glitt. Ich öffnete die Au­gen und starrte in das Licht einer Glühbirne, die zwei Meter über mir baumelte und leicht hin und her schwang. Das Weiche stellte sich als blauer Wollrock heraus, der unter einem geöffneten Mantel den Schoß eines Mädchens bedeckte. Dem Mädchen gehörte auch die Hand, die mich gestreichelt hatte. Wären die Kopfschmerzen nicht gewesen, hät­te ich das Ganze genossen.

»Es tut mir so Leid«, sagte das Mädchen mitfühlend. Ich erkannte die Stimme und auch das rotblonde Haar, das unter

einem Kapotthütchen hervorquoll und sich mit meinem vermengte, als das Mädchen sich vorbeugte.

Es war natürlich Ethel. »Was ist passiert?«, fragte ich etwas dämlich und richtete mich

auf. Dabei fuhr mir ein stechender Schmerz durch den Schädel. Bevor Ethel antworten konnte, erklang hinter uns die Stimme ei­

nes Mannes. »He, Logan, der Schnüffler ist aufgewacht.« Ich setzte mich vorsichtig auf und sah das grinsende Gesicht eines

der Drillinge. Es war der Jüngste, John. Die beiden anderen, Will und Logan, traten ebenfalls in mein Blickfeld. Gleichzeitig bemerkte ich im Hintergrund unverputzte Backsteinwände, Maschinenwellen mit ver­rosteten, abgestuften Scheiben und Rädern, Reste von Transmissions­riemen und Flaschenzügen. Offenbar befand ich mich in einer still­gelegten Fabrik.

Der Älteste grinste nicht, sondern ballte die Fäuste. »Aber nicht für lange.« Er trat an mich heran und versetzte mir einen Fußtritt in die Seite. »Schnüffler, du hast noch einiges bei uns gut. Wenn wir mit dir fertig sind, erkennt dich deine eigene Mutter nicht mehr.«

Ethel war aufgesprungen und warf sich auf ihren Bruder, bevor er ein weiteres Mal zutreten konnte. »Du lässt ihn in Ruhe, Logan!«, fauchte sie ihn an.

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Er stieß sie wie eine Spielzeugpuppe roh zur Seite. »Halt dich da raus und kümmere dich um deinen eigenen Arsch! Damit hast du ge­nug zu tun!«

Ethel warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich mag nicht, wie du Ethel behandelst!«, mischte sich John ein. Wütend wandte sich Logan seinem jüngeren Bruder zu. »Wenn du

auch eine Abreibung haben willst, musst du es nur sagen.« Ich hatte den Aufschub genutzt, um auf die Beine zu kommen. Die

jähe Bewegung machte mich benommen, aber ich hatte noch immer genügend Grips, um nach dem Revolver im Schulterhalfter zu greifen.

Er war nicht da. »Suchst du den hier, Schnüffler?«, höhnte Will und richtete den

Lauf meiner Smith & Wesson auf mich. Sein Finger befand sich am Abzug.

Ich sagte nichts darauf. Ich weiß, wann ich den Schnabel zu hal­ten habe. Und meistens gelingt mir das auch.

»Ist euch eigentlich klar, was ihr hier abzieht?«, schrie Ethel ihre Brüder an. »Das ist nicht eine eurer kleinen Gaunereien, für die ihr nur ein paar Monate in den Knast wandern könnt. Wenn ihr Pat Connor umbringt, landet ihr auf dem elektrischen Stuhl! Was ist in euch gefah­ren? Wollt ihr euch bei O'Malley anbiedern? Der hat schon genug eige­ne Killer!«

Die Ansprache blieb nicht ohne Wirkung. Fast verlegen senkte Will die Waffe. Selbst in Logans Gesicht glaubte ich außer Wut eine gewis­se Ratlosigkeit zu erkennen.

»Na schön«, sagte er mit gepresster Stimme, »wir lassen den Kerl am Leben, wenn du aus Kirbys Verein austrittst und dich mit uns zu­sammentust.«

»Was soll ich tun?«, schrie Ethel ihn ungläubig an. »Aus der Salvation Army austreten«, mischte sich John ein. »Bei

den Affen hast du wirklich nichts verloren. Hast du vergessen, dass du katholisch bist, Ethel?«

»Misch dich nicht ein, John!« Sie wandte sich wieder Logan zu. Ih­re Stimme klang gefährlich leise. »Was meinst du mit ›zusammentun‹, Logan? Captain Kirby sagte mir, ihr wollt das mit mir machen, was

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Daddy mit Dorothy gemacht hat. Ich wollte und konnte das nicht glau­ben. Schlägst du mir wirklich vor, ich soll für euch anschaffen gehen?«

»He, Moment mal«, protestierte John. »Wir wollen doch nur...« »Halt die Fresse!«, fuhr Logan ihn an. Er wandte sich wieder sei­

ner Schwester zu. »Daran stirbt man nicht, oder? Aber du siehst das völlig falsch. Wir denken dabei nicht an uns, sondern an dich. Komm zu uns, Ethel. Wir können dir den gleichen Stoff besorgen, den der Captain dir besorgt. Und besseren! Wenn du dafür ab und zu einem reichen alten Sack die Zeit versüßt, ist das doch kein Problem, oder?«

»Weißt du was, Logan?«, sagte Ethel. Sie klang ganz ruhig und beherrscht. »Du bist eine widerliche Ratte und ich schäme mich, deine Schwester zu sein. Und du hast überhaupt keine Ahnung. Ich bin längst runter von dem Zeug. Und weißt du, wer mir dabei geholfen hat? Die Salvation Army und Captain Kirby!«

Ich hatte dies alles mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, aber bei all den interessanten Neuigkeiten widmete ich meine Aufmerksam­keit nicht allein dem Gespräch. Ich beobachtete die Drillinge. Mein Hauptinteresse galt dabei Will. Er spielte immer noch mit dem Revolver herum, schien aber wenig bei der Sache zu sein.

»Du lügst!«, stieß Logan hervor. »Ich weiß genau, dass...« »Du weißt gar nichts!«, unterbrach Ethel ihn. »Und obendrein bist

du ein Schwachkopf. Mal angenommen, ich würde den Stoff immer noch brauchen und ihn von Captain Kirby bekommen. Weißt du über­haupt, wie froh ich bin, aus der Gosse herausgekommen zu sein? Glaubst du im Ernst, ich würde mit fliegenden Fahnen zu euch über­laufen, um wieder in der Gosse zu landen?«

Ich schob mich Zentimeter um Zentimeter auf Will zu und befand mich schon auf Ethels Höhe. Will hatte nur Augen für die Streitenden.

Logan grinste. »Ja, das glaube ich, Schwesterherz. Und deshalb haben wir dich auch entführt. Zufälligerweise weiß ich nämlich etwas über dich und den Captain, das...«

Ich unterbreche die Gespräche anderer Leute nur ungern und schon gar nicht dann, wenn es spannend wird. Aber Will hatte sich leicht zur Seite gewandt und bot mir seinen Nacken so einladend an, dass ich einfach nicht widerstehen konnte.

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Ich sprang vor und versetzte ihm einen Handkantenschlag. Will brach zusammen. Bevor er meinen Revolver mit dem Körper verde­cken und sich am Ende noch ins Knie oder sonst wohin schießen konn­te, hatte ich den Smith & Wessen in der Hand. Ich stellte fest, dass er entsichert war. Das hätte wirklich schief gehen können. Ich richtete die Waffe auf Logan und John. Mit der Linken riss ich Ethel zu mir, bevor einer der beiden auf dumme Gedanken kommen und sie als Schutzschild benutzen konnte.

Logan war jäh verstummt. »So, ihr Komiker«, sagte ich. »Ich habe mir euer Geschwätz lange

genug angehört. Jetzt spielen wir das Spiel nach meinen Regeln. Die Flossen hoch!«

Die beiden waren ganz artig und hoben die Hände. Da ich es nicht eilig hatte, bat ich Ethel, mir eine Zigarette anzu­

zünden. Die Art und Weise, wie sie ziemlich tief in meiner Mantelta­sche erst nach der Zigarettenschachtel und dann nach dem Feuerzeug suchte, lenkte mich zugegebenermaßen ein wenig ab. Aber den Revol­ver hielt ich trotzdem ganz ruhig. Ethel zog eine Lucky aus der Pa­ckung, feuchtete sich leicht die Lippen an, steckte sie an, nahm einen kleinen Zug und schob sie mir in den Mund. Dabei berührte sie mit den Fingern sanft meine Lippen.

Jetzt ging es mir schon wesentlich besser. Flüchtig durchsuchte ich die Brüder nach Waffen. Außer Messern

und Schlagringen fand ich nichts. Ich hatte auch nichts anderes erwar­tet. Die Warfen schleuderte ich zu dem sonstigen Alteisen, das hier herumlag.

»Dort hinüber!«, sagte ich und zeigte mit dem Kopf zur gegenü­berliegenden Wand. »Setzt euch hin und macht es euch bequem.«

Will regte sich wieder und durfte nach einer Leibesvisitation das Trio vervollständigen.

Ich hatte nicht die Absicht, mich noch lange mit den Drillingen aufzuhalten. Aber ein paar Dinge mussten noch gesagt werden.

»Ihr habt ja wohl hoffentlich kapiert, dass das Spiel aus ist, oder? Aber wenn eure Schwester nicht nachtragend ist, will ich es auch nicht sein. Solltet ihr euch aber noch einmal in ihrer Nähe blicken lassen,

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verstehe ich keinen Spaß mehr.« Ich entschloss mich, noch eins drauf­zusetzen, damit selbst diese unterbelichteten Schwachköpfe wussten, was die Stunde geschlagen hatte. »Ich schreibe über das Ganze einen Bericht für meine Akten. Eine Kopie davon wird in einem Postfach de­poniert. Falls Ethel oder mir etwas zustößt, geht die Kopie an die Staatsanwaltschaft. Dafür ist gesorgt.«

Keiner der drei antwortete, aber ich hatte den Eindruck, dass die Sache im Großen und Ganzen verstanden wurde.

Ich ließ mir von John, der am wenigsten verstockt war, noch sa­gen, wo genau wir uns befanden. Ethel reichte mir meinen Hut, der irgendwo auf dem Boden gelegen hatte. Ich klopfte ihn kurz aus und setzte ihn auf. Dann begaben wir uns zum Ausgang der Fabrikhalle.

»Seid vernünftig, Jungs«, sagte ich zum Abschied. »Bleibt noch eine Weile hier und jammert euch gegenseitig die Ohren voll. Aber versucht ja nicht, uns zu folgen. Sonst könnte es zu unangenehmen Bleivergiftungen kommen. Und das will doch keiner von euch, oder?«

*

Es war gegen Mitternacht und wir steckten tief unten auf der South-Side. Ich erwähnte wohl schon, dass dies keine Gegend ist, in der Klosterschülerinnen ein Picknick veranstalten sollten. Oder frommen Schwestern von der Salvation Army anzuraten war, dem lieben Gott nachts allein auf der Straße ein Ständchenzubringen. Letzteres hatte Ethel auch nicht vor und was ihre Frömmigkeit in bestimmten Dingen anging, hatte ich meine Zweifel. Trotzdem war ich heilfroh, als wir an maroden Schuppen vorbei und über brachliegende Bahngleise hinweg eine halbwegs manierlich aussehende Straße und schließlich eine Bus­haltestelle erreicht hatten.

Das Glück blieb uns treu und wir erwischten einen Bus, der uns zur South Wabash brachte. Die Salvation Army war längst zur Kissen­schlacht in heimischen Betten abgezogen, aber man schien sie nicht sonderlich zu vermissen. Aus dem Blue Moon drang heißer Dixieland und ich bemerkte erst jetzt ein Plakat, das auf Red Nichols and his Five Pennies hinwies. Der Mann verstand sich darauf, seinem Kornett ent­

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schieden munterere Töne zu entlocken als sein Kollege von der Army-Band.

Der Lastwagen, der mir Deckung gegeben hatte, war verschwun­den, aber das Gleiche galt erfreulicherweise nicht für meinen Ply­mouth.

Ich zündete mir eine Zigarette an, startete den Motor und fuhr los. Ethel hatte es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht. Den

langen Uniformmantel hatte sie geöffnet, der züchtige Wollrock war bedenklich nach oben gerutscht und die braunen Baumwollstrümpfe konnten nicht verbergen, dass sie schön geformte Beine besaß. Unwill­kürlich spähte ich nach den Strumpfhaltern, aber so hoch war der Rock dann doch nicht gerutscht.

»Wohin fahren wir, Pat?«, fragte sie. Dass sie mich mit dem Vornamen anredete, registrierte ich durch­

aus. Ich kann nicht behaupten, dass mir daran etwas missfiel. »Erst mal nach Norden.« »Und dann?« »Zum Flying Dutchman.« Sie nickte und schwieg eine Weile. Dann sagte sie leise: »Pat? Bist

du schon sehr müde?« Es gibt Situationen, in denen die Bejahung dieser Frage einen um

interessante Erfahrungen bringt. Dies schien mir so eine Situation zu sein. Deshalb gab ich zur Antwort: »Ich bin es gewohnt, mit wenig Schlaf auszukommen.«

»Ich auch.« Das hatte ich mir schon gedacht. Schließlich wusste ich, dass für

Ethel der Tag um zehn Uhr abends, wenn Kirby sie ins Hotel brachte, noch nicht unbedingt zu Ende war. Zumindest dann nicht, wenn sport­liche Veranstaltungen mit George oder Harry auf dem Programm stan­den. Schüchternheit gehört nicht zu meinen ausgeprägten Eigenschaf­ten, aber ich falle auch ungern mit der Tür ins Haus. Ich blieb unver­bindlich. »Wir könnten noch etwas unternehmen.«

»Ja, das könnten wir«, sagte sie mit einer Stimme, die so wenig zu ihrer faden Kleidung passte wie ein Milchshake in ein Speakeasy.

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Ich nahm an, dass Kirby die Polizei informiert hatte und nach Ethel gesucht wurde. Aber mir fehlte im Moment die rechte Lust, ein Telefon aufzusuchen und Entwarnung zu geben. Ich kenne den Wissensdurst der Polizei. Und Kirbys Anspruch, Ethels Hirte zu sein. Beide hätten vermutlich darauf bestanden, das Mädchen auf der Stelle irgendwo abzuliefern. Ich war der Meinung, dass dies noch ein paar Stunden warten konnte.

Diese Meinung wurde in angenehmster Weise bestätigt, als Ethel damit begann, an meinem Ohr zu knabbern. Dann flüsterte sie ein paar Dinge hinein, die mich dazu brachten, das Gaspedal durchzutre­ten und den kürzesten Weg zur North Clark Street zu wählen. Ich er­wähnte wohl schon, dass sich dort meine Wohnung befindet.

Nach einem Whiskey aus meinem Notvorrat kamen wir uns noch weitaus näher. Man könnte sogar sagen, dass alles Trennende zwi­schen uns verschwand. Ich meine das mehr im materiellen Sinne und das Kapotthütchen spielte in diesem Zusammenhang noch die gerings­te Rolle. Dabei gewann ich überaus interessante Einsichten. Ich kenne mich mit Armeeunterwäsche nicht aus, aber ich glaube nicht, dass das, was Ethel unter dem sackähnlichen Wollkleid trug, zur Standardausrüs­tung von Captain Kirbys Truppe gehörte. Halleluja.

*

Ich brachte Ethel gegen fünf Uhr morgens zu ihrem Hotel. Auf der Fahrt dahin ergab sich die Möglichkeit für ein paar Fragen. In den Stunden zuvor war ich irgendwie zu beschäftigt gewesen, um sie zu stellen.

»Was ist eigentlich passiert, nachdem deine Brüder mich aus dem Verkehr gezogen hatten?«

»Sie haben dich in den Wagen gepackt und...« »Was für einen Wagen? Ich wusste nicht, dass sie ein Auto besit­

zen.« »Der Lastwagen vor dem Blue Moon. Ich nehme an, sie haben ihn

gestohlen.«

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Ich schalt mich einen Hornochsen. Mir war doch wahrhaftig nichts Besseres eingefallen, als mich ausgerechnet dort zu verstecken, wo der Gegner bereits lauerte. Kein Wunder, dass sie mich so leicht er­wischt hatten.

»Und weiter?« »Sie haben einen günstigen Moment abgepasst. Als ich etwas ab­

seits stand, wurde ich plötzlich von hinten gepackt und einer von den dreien hielt mir ein mit Chloroform getränktes Tuch vor Mund und Na­se. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Ich bin dann kurz vor dir in der Fabrik aufgewacht. Aber John hat damit geprahlt, wie einfach alles gewesen sei und dass sie mit uns beiden und dem Lastwagen entkom­men seien, bevor die Brüder und Schwestern von der Salvation Army etwas unternehmen konnten.«

Ich konnte mir gut vorstellen, dass Kirby sauer auf mich war. Schließlich kannte er seine fußkranken Trötenbläser und hatte mich engagiert, um genau das zu verhindern, was dann eingetreten war. Da ich aber alles wieder ins Lot gebracht hatte, machte ich mir darüber keine weiteren Gedanken. Und irgendwie war ich mir sicher, dass Ethel die Details der letzten Nacht auch nicht unbedingt für erwähnenswert halten würde. Zumindest nicht dem Captain gegenüber.

Eigentlich wusste ich jetzt alles, was ich wissen musste, um die Sache abzuschließen. Ich ging davon aus, dass die Drillinge endlich ka­piert hatten, wie der Hase lief: Das zum Geschäftsaufbau benötigte Pferdchen stand den Möchtegernzuhältern nicht zur Verfügung und eine nochmalige Entführung wäre nicht nur sinnlos, sondern auch ge­fährlich. Logan, Will und John konnten einen weiteren Beruf auf ihre Unfähigkeitsliste setzen.

Ich hatte nicht die Absicht, Kirby auf den Franklin etwas heraus­zugeben und würde ihm vorschlagen, die restlichen Tagessätze ab­zuarbeiten. Ich konnte mir aber auch vorstellen, dass er in Sorge um Ethels Tugend darauf verzichtete.

Was ich in der Fabrik über Ethel erfahren hatte, interessierte mich nicht weiter. Aber die Kleine kam nach einer Weile selbst darauf zu sprechen.

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»Ich habe übrigens nicht gelogen, als ich sagte, dass ich den Stoff nicht mehr nehme, Pat.«

»Mir musst du nichts erklären, Schätzchen. Ich bin nicht dein Beichtvater.«

»Mir liegt aber daran, dass du kein falsches Bild von mir hast.« »Darüber mach dir keine Sorgen. Ich habe das allerbeste Bild von

dir.« Das war keinesfalls übertrieben, obwohl ich zugeben muss, dass ich damit eher die überaus erstaunlichen Talente meinte, die sich nach dem Ablegen ihrer Uniform offenbart hatten.

Sie wollte es trotzdem loswerden. »Ich hatte schlechten Umgang und habe angefangen, Kokain zu schnupfen. Dann lernte ich Captain Kirby kennen. Man sieht es ihm vielleicht nicht an, aber im Herzen ist er ein Gentleman. Er hat mir eine ganz neue Welt eröffnet. Heute brauche ich keinen Koks mehr, um das Leben genießen zu können. Und dabei gleichzeitig Gott zu dienen.«

Halleluja. Dass sie sich darauf verstand, das Leben zu genießen, konnte ich bestätigen. Was Gott damit zu tun hatte, wusste ich nicht. Nachdem ich mir eine Zigarette angezündet hatte, sagte ich: »Du machst das schon richtig, Schätzchen. Wenn Logan wirklich nichts ge­gen dich in der Hand hat...«

»Hat er nicht!« »... sollten wir das Thema abschließen.« George und Harry erwähnte ich nicht. Wozu auch. Das war ihre

Privatangelegenheit. Vielleicht war das ihre ganze eigene Methode, ohne Schnee über den Winter zu kommen.

Wir hatten das Flying Dutchman erreicht. Sie verabschiedete sich im Auto mit einem mehr als intensiven Kuss. Die Lava im heiligen Vul­kan schien kein bisschen abgekühlt zu sein. Wenn sie nicht bereits wieder kochte. Ich war nahe daran, Ethel auf ihr Zimmer zu begleiten. Aber ich beherrschte mich.

*

Ich gönnte mir ein paar Stunden Schlaf. Dann stieg ich in die Wanne, brauste mich mit kaltem Wasser ab und rasierte mich. Ich machte mir

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einen Kaffee und nahm den Becher mit zum Telefon. Ich nippte daran, gönnte mir die erste Morgenzigarette und rief Kirby an. Ein Blick auf die Uhr belehrte mich, dass es zwanzig nach neun war. Da Ethel am Samstag erst um elf in der Bäckerei sein musste, durfte ich gut Aus­sichten haben, ihn noch zu Hause zu erwischen.

Es dauerte eine Weile, bis er abnahm und sich meldete. »Salvation Army. Captain Robert Kirby. Gott mit Ihnen!«

»Hier ist Connor«, sagte ich. Ich ließ ihm weder eine Chance, Morddrohungen noch Schreie des Entzückens auszustoßen, sondern redete sofort weiter. »Es gab da gestern ein kleines Problem, aber ich kann Sie beruhigen. Ethel geht es gut, aber Sie sollten ihr noch ein bisschen Schlaf gönnen. Es wurde spät gestern Abend.« Da ihn die Gründe dafür nichts angingen, erwähnte ich sie nicht.

Eine Weile war Stille. Wahrscheinlich musste er das Ganze erst einmal verdauen. Dann sagte er: »Dem Herrn sei Dank!«

Ich hatte diesen Spruch eigentlich etwas früher erwartet. »Ist Ethel wirklich nichts passiert?«, wollte er wissen. Ich überlegte mir die Antwort genau. »Die Entführung war etwas

unangenehm, aber ich denke, danach hat es ihr sogar Spaß gemacht.« Seinem Schnaufen entnahm ich, dass er darüber nachdachte. Ich

kümmerte mich nicht darum, sondern schilderte ihm, was sich in der Fabrik ereignet hatte, ohne dabei konkrete Gesprächsinhalte und ge­naue Uhrzeiten zu nennen.

Er lobte mich halbherzig für meinen Einsatz, meinte dann aber säuerlich: »Sie hätten mich sofort anrufen sollen, Mister Connor. Sie können sich doch wohl vorstellen, dass ich in großer Sorge war.«

»Ich wollte Sie nicht mitten in der Nacht wecken.« »An Schlaf war sowieso nicht zu denken!« »Dann tut es mir Leid. Auf jeden Fall können Sie der Polizei mittei­

len, dass sie nicht mehr nach Ethel suchen muss. Ich denke, Sie wür­den der Kleinen einen Gefallen tun, ihre Brüder aus dem Spiel zu las­sen. Trotz allem ist es schließlich ihre Familie. Stellen Sie das Ganze einfach als Missverständnis oder groben Spaß dar.«

Als er nichts darauf sagte, fügte ich hinzu: »Ist nur ein Vorschlag. Sie müssen selbst wissen, was Sie tun.«

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»Ich habe die Polizei nicht eingeschaltet«, sagte Kirby. Ich muss zugeben, dass ich überrascht war. »Warum nicht?« »Weil ich Sie engagiert habe, Mister Connor!«, polterte er. »Was

denken Sie denn, warum ich das getan habe? Wenn ich der Meinung gewesen wäre, dass die Polizei meine Probleme lösen kann, hätte ich keine hundert Dollar investiert.«

Dass der Herr Pfarrer die Dinge beim Namen nannte, wusste ich inzwischen. Trotzdem leuchtete mir seine Logik nicht ein. Sicherlich war es richtig, dass die Polizei auf vage Vermutungen hin Ethel keinen Bewacher zugeteilt hätte. Aber wenn die Entführung eingetreten und der privat engagierte Bewacher ebenfalls verschwunden ist, ergibt sich selbst für den stursten Polizeioffizier Handlungsbedarf. Dann sollte man die Ritter vom Blechwappen ruhig mal ihre Lanzen einlegen las­sen. Das ist jedenfalls meine Meinung. Dass diese Meinung nicht auf kirchlichen Beifall stieß, machte mich betroffen. Aber ein Klient hat immer Recht!

Ich beschränkte mich daher auf das rein Geschäftliche. »Wie soll ich weiter vorgehen?«

»Sie glauben nicht, dass die Brüder einen neuen Versuch unter­nehmen werden, Ethel zu entführen?«

»Ich bin kein Hellseher, sondern urteile mehr auf der Grundlage von Erfahrungen. Die Burschen sind reichlich dumm, aber so dumm nun auch wieder nicht. Sie müssten schon eine ausgeprägte Macke haben, um jetzt noch am Ball zu bleiben. Wahrscheinlich haken sie ihre Pläne mit Ethel ab, denken sich etwas Neues und genauso Blöd­sinniges aus und landen damit wieder auf der Schnauze.«

»Ich sehe das genauso«, sagte Kirby. »Schicken Sie mir eine Spe­senabrechnung und stellen Sie Ihre Bemühungen ein. Und bleiben Sie ab sofort Ethel fern!«

Im Hörer klickte es. Der Captain hatte aufgelegt. Ich brauchte eine Weile, um zu kapieren, dass ich in 24 Stunden

hundert Dollar verdient, aber einen Klienten verloren hatte. Und einen heiligen Vulkan obendrein. Oder würde Ethel mich auch ohne Beschüt­zerauftrag auf ihre Liste für Vulkankühlung setzen?

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*

Wenn ein Fall abgeschlossen war, dann war er abgeschlossen. Das war meine berufliche Einstellung zu diesen Dingen. Sie hatte sich bewährt und daran hielt ich mich. Etwas anderes konnte ich mir auch gar nicht leisten. Deshalb wusste ich wirklich nicht, warum ich in diesem Fall eine Ausnahme machte.

Jedenfalls trank ich den Kaffee aus und fuhr ins Büro. Dort traf ich auf Betty, die am Samstag lieber vormittags zum Nägellackieren kam.

Als ich die Tür auf stieß, saß sie gerade auf dem Heizkörper und wärmte sich den Hintern. Das Lackieren der Nägel hatte sie offenbar schon vorher besorgt. Gestern hatte sie sich noch beklagt, weil ich nicht im Büro erschienen war. Heute hielt sich ihre Begeisterung über mein Erscheinen in engen Grenzen. Wahrscheinlich hatte sie sich in­nerlich schon auf das Wochenende vorbereitet.

»Hallo Pat«, sagte sie lauwarm. Ich nahm an, dass ihr Hintern er­heblich wärmer war als ihre Stimme. Sie erhob sich widerstrebend von der Heizung und nahm am Schreibtisch Platz. »Heute kein Platzkonzert bei der Army?«

»Man hat mich gefeuert, weil ich Pauke und Sousaphon nicht aus­einander halten konnte.«

Ich warf den Hut auf den Garderobenhaken und hatte Erfolg da­mit. Dann zog ich den Mantel aus und setzte mich auf ihren Schreib­tisch. »Betty, mit diesem Captain Kirby ist irgendwas faul.«

»Sagten Sie nicht, Sie wurden gefeuert?« »Der gezahlte Vorschuss reicht aus, um sich noch ein paar Gedan­

ken zu machen«, erwiderte ich knurrig, denn ich mochte es nicht, an meine eigenen Grundsätze erinnert zu werden.

Betty Meyer zuckte die Achseln. Sie ließ mich ein über das andere Mal wissen, dass sie lausig bezahlt wurde. Und ich ließ sie ein über das andere Mal wissen, dass ich niemanden kannte, der für das Lackieren der eigenen Fingernägel fürstlicher entlohnt wurde.

Obwohl sie meine engste Mitarbeiterin war, wusste ich außer ih­rem Namen und ihrem Alter - sie war fünfundzwanzig - wenig über sie. Eigentlich nur das, was ich sah: Blondierte Haare und üppige, ziemlich

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eindeutig weibliche Formen. Die fielen wohl auch anderen auf, denn Betty wurde manchmal von Verehrern abgeholt. Ihre schnippische und aufsässige Art missfiel mir und wahrscheinlich auch den Verehrern, denn es waren immer wieder neue. Was mich anging, hatte ich mich inzwischen an ihre spitze Zunge gewöhnt. Wir wussten beide, dass wir nicht die dicksten Freunde, sondern eher eine Notgemeinschaft waren. Sie fand keinen besseren Job und ich fand für das Geld keine bessere Sekretärin. Aber manchmal überraschte sie mich mit ungewöhnlichen Einfällen oder weiblicher Intuition.

»Betty, als wir gestern telefonierten, sagten Sie spontan, Kirby sei ein Heuchler«, sagte ich.

»Ich habe das sofort zurückgenommen, als ich hörte, dass er eine arme Waise unterstützt«, verteidigte sie sich.

Ich runzelte die Stirn. »Waise? Wie kommen Sie auf so was? Ethel hat Familie und davon leider viel zu viel.«

»Dann haben Sie sich missverständlich ausgedrückt, Pat. Es wäre nicht das erste Mal.« Sie blickte mich von unten herauf mit einem treuen Augenaufschlag an, der jedem Dackel gut zu Gesicht gestanden hätte.

Ich schluckte eine anzügliche Erwiderung hinunter. »Bleiben wir einfach mal bei Captain Kirby. Dass er sich für die Besitzer von Nacht­lokalen interessiert, habe ich schon erwähnt. Er ist ein Mann mit einer gewissen Lebenserfahrung, der nicht nur christliche Sprüche kennt. Er lernt, durch welche Umstände auch immer, eine junge Katholikin aus einer ziemlich armen und zum Teil auch kriminellen Familie kennen, die Kokain schnupft und überzeugt sie davon, dass Schnee nicht das Wahre und ihr Platz in der protestantischen Salvation Army ist. Er kümmert sich rührend um sie, aber als sie entführt wird, ruft er nicht einmal die Polizei an. Was halten Sie davon?«

»Dass er ein Heuchler ist.« »Kommt mir bekannt vor.« »Und der Mann ist wirklich Pfarrer?« Ich nickte. »Bei der Salvation Army. Ich war dabei, als er mit sei­

ner Kirchenband Red Nichols im Blue Moon Konkurrenz zu machen versuchte.«

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»Wie wird man eigentlich Pfarrer bei der Salvation Army?«, fragte Betty.

»Woher soll ich das wissen?« Ich zog eine Lucky aus der Packung und zündete sie an. »Ich habe keine Ahnung, ob man vorher dreißig Messdiener vernascht oder mit besonderen Kraftworten den Papst ver­flucht haben muss. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, ob die überhaupt Messdiener haben. Wohl eher nicht. Ich nehme an, sie machen es wie bei Uncle Sam. Wer am lautesten brüllen kann, wird befördert.«

»Dann kann man dort also Pfarrer werden, auch wenn man vorher etwas ganz anderes gemacht hat?«, fragte Betty neugierig und ich sah in ihren Augen schon die Hoffnung auf einen neuen Job glimmen.

Ich sprang vom Schreibtisch herunter. »Betty, ich könnte Sie küs­sen!«, rief ich. »Sie haben mich gerade auf eine Idee gebracht.«

Ich wechselte zu meinem eigenen Schreibtisch hinüber und rief die Chicago Tribune an. Ich wurde mehrmals hin und her verbunden, aber dann hatte ich Brendon Smith am Apparat.

»Hallo Brendon, altes Haus«, sagte ich. »Hier ist Pat. Weißt du, dass ich heute noch keinen einzigen Bourbon getrunken habe?«

Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie Betty die Nase rümpf­te.

»Was ist los mit dir, Pat?«, fragte Brendon besorgt. »Du bist doch nicht etwa krank?«

»Noch nicht, Brendon. Aber du musst mir helfen, es nicht zu wer­den. Was hältst du davon, wenn wir uns um eins zu einem Whiskey bei Henry's treffen? Du bist natürlich eingeladen.«

Brendon war Sportreporter bei der Tribune und ich wusste, dass er mittags eine ruhige Kugel schieben konnte. Hektisch wurde es für ihn erst nachmittags und dann oft bis tief in die Nacht hinein. Dann war er entweder selbst als Reporter bei Sportveranstaltungen oder wertete die Berichte von Kollegen für die Frühausgabe aus.

»Einverstanden. Um eins bei Henry's.«

*

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Henry's Steak House in der North Dearborn Street hatte verschiedene Vorzüge. Einer bestand darin, dass man hier gute Steaks zu vernünfti­gen Preisen bekam. Ein zweiter hatte mit den aufmerksamen Kellnern zu tun, die mit silberfarbenen Blechkannen unterwegs waren und ziemlich kalten Kaffee ausschenkten, der dem Kenner allerdings bes­tens mundete, weil er aus den kanadischen Anbaugebieten stammte. Der dritte Vorteil ergab sich für Brendon, denn das Lokal war nur einen Katzensprung vom Verlagsgebäude der Tribune entfernt.

Brendon war ein reichlich übergewichtiger Mittfünfziger und zählte zum Familieninventar. Eigentlich war er mal der beste Freund meines Vaters gewesen und nach Daddys Tod hatten wir uns gewissermaßen gegenseitig adoptiert. Wir konnten wirklich gut miteinander.

Als er, wie immer unpünktlich, um halb zwei eintrudelte, hatte ich mir schon einige Kaffee einschenken lassen. Mein durch vulkanische Aktivitäten in der Nacht etwas entladener Akku hatte wieder den Spit­zenwert erreicht und ich war bester Laune.

Brendon schnaufte ein bisschen von der Anstrengung des Fußmar­sches, aber nach einem schnellen Doppelkaffee kam er wieder auf nor­male Betriebstemperatur.

»Freut mich wie immer, dich zu sehen, Junge«, sagte er. Er be­merkte meine immer noch geschwollene Lippe. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Mir geht es prächtig.« »Aber du hast ein Problem«, stellte er fest. Ich nickte und erzählte ihm von meinem letzten Auftrag. Brendon

hat das einzigartige Talent, geduldig zuhören zu können und die dabei gehörten Informationen wie ein Schwamm aufzusaugen und mit an­deren Informationen in seinem fantastischen Gedächtnis zu verglei­chen.

»Captain Robert Kirby von der Salvation Army«, sinnierte er, als ich geendet hatte. »Da war mal was.«

»Betty hat mich darauf gebracht, dass er früher etwas anderes gemacht haben könnte...«

»Langsam, langsam«, bremste er mich. »Kirby ist kein seltener Name. Robert Kirby auch nicht. Aber Captain Robert Kirby...« Er schüt­

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telte den Kopf. »Ich bin ziemlich sicher, wir haben mal was über ihn in der Tribune gebracht. Aber es war nichts, was bei mir haften geblie­ben ist. Ich werde im Archiv nachschauen.«

»Wann?«, fragte ich schnell. Er grinste, ließ sich noch einen Kaffee einschenken und trank ihn

gleich. »Du kennst mich, wie? Sei unbesorgt, ich mache es gleich oder gar nicht. Von vier bis sieben bin ich allerdings im Einsatz. Wenn ich nicht sofort fündig werde, kann ich nach sieben noch ein bisschen he­rumsuchen.«

»Es ist nicht wirklich wichtig. Reiß dir bloß kein Bein aus.« »Was ich anfange, führe ich auch zu Ende«, brummte Brendon. Wir bestellten Steaks und kümmerten uns auch um den Nach­

schub an Kaffee. Gegen halb drei verabschiedete sich Brendon und versprach mir, mich auf jeden Fall vor vier im Büro anzurufen.

*

Brendon mochte unpünktlich sein, wenn es um persönliches Erschei­nen ging. Ansonsten war er zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk.

Er rief mich um zehn vor vier im Büro an und hielt sich nicht lange mit einer Vorrede auf. »Dein Captain Kirby ist ein wegen guter Füh­rung vorzeitig entlassener Sträfling mit einem ellenlangen Vorstrafen­register. Im Gefängnis hat er Gott für sich entdeckt und bei der Salva­tion Army angemustert. Nach der Entlassung, das war vor drei Jahren, hat er dort eine steile Karriere hingelegt und wurde Rang um Rang bis zum Captain befördert.«

Das haute mich auf die Bretter. »Das stand in der Zeitung?« »Ja, er war vor gut einem Jahr unser ›Mitmensch der Woche‹ und

der Grund dafür war die Ernennung zum Captain, was im Zusammen­hang mit der erstaunlichen Läuterung eine gute Story ergab.«

»Wofür hat er gesessen?« »Es ist in dem Artikel von Einbruch, Überfall, Drogenhandel und

anderen Delikten die Rede. Von Mord mal abgesehen wohl die ganze Palette. Er ist offenbar ein wahrer Saulus, der zum Paulus wurde. Hör zu, Pat, ich muss jetzt los. Aber es gibt mit Sicherheit einen weiteren,

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viel älteren Bericht über Robert Kirby im Archiv, das weiß ich jetzt schon. Irgendein Prozessbericht. Könnte interessant sein. Ich rufe dich nach sieben wieder an. Bist du dann zu Hause?«

»Das kann ich einrichten. Und danke erst einmal, Brendon.« Ich legte den Hörer auf die Gabel. Betty war längst ins Wochen­

ende gestartet und mich hielt eigentlich auch nichts mehr im Büro. Ich wollte schon aufstehen und nach meinem immer noch etwas ange­staubten Hut greifen, aber ich ließ es bleiben. Der Staub am Hut ließ mich an die Fabrik und an Ethel denken und ich blieb erst mal sitzen.

Ich hatte den Eindruck, dass noch Arbeit zu erledigen war. Ich sagte mir mehrmals, dass mich Kirbys Vergangenheit über­

haupt nichts anging, aber es gelang mir nicht, mich selbst zu überzeu­gen. Dass er früher mit Drogen gehandelt hatte, gab mir besonders zu denken. Ich hatte den unklaren und zugleich doch bestimmten Ein­druck, dass der Captain mich verladen hatte. Schließlich entschied ich mich, mit dem Gottesmann ein offenes Wort unter Christenmenschen zu wechseln und rief in der West General Booth Church an.

Zunächst hatte ich eines der Kapotthütchen an der Strippe, aber sie reichte mich an Kirby weiter. Nachdem er seinen Spruch aufgesagt hatte, versetzte ich ihm sofort eine unchristliche Ohrfeige.

»Sie haben mir nicht erzählt, dass Sie auch schon im Gefangenen­chor gesungen haben.«

Er nahm es locker. »Sind Sie das, Mister Connor? Um ehrlich zu sein, bin ich von Ihnen ein bisschen enttäuscht. Ich hatte angenom­men, Sie würden es früher herausfinden.«

Das nahm mir fast den Wind aus den Segeln, aber ich ließ es mir nicht anmerken. »Sie haben früher mit Drogen gehandelt?«

Kirby gab einen demütigen Seufzer von sich. »Das ist leider wahr. Ich habe mich auf vielfältige Weise gegen die Gebote des Herrn wie auch gegen die des Staates versündigt. Vielleicht verstehen Sie jetzt meinen Eifer, einen kleinen Teil meiner Schuld zu tilgen, indem ich an­deren Sündern helfe, sich aus den Umgarnungen des Teufels zu be­freien.«

»Amen«, sagte ich. »Es war nicht nett von Ihnen, mir Ihre Ver­gangenheit zu verschweigen.«

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Der Captain gab sich als die Unschuld in Person. »Erwarten Sie von all Ihren Klienten eine Lebensbeichte, bevor Sie einen Auftrag an­nehmen?«

»Nein, ich handle nicht mit Ablasszetteln.« »Warum dann die Aufregung?« »Es hätte mir die Arbeit erleichtert zu wissen, dass Ethel früher

Koks geschnupft hat und Sie mit Drogen gehandelt haben.« »Ich wollte Ethel nicht kompromittieren. Und was meine eigene

Vergangenheit angeht, so habe ich nie einen Hehl daraus gemacht. Ethel weiß es und alle anderen in meiner Umgebung wissen es auch.« Jetzt wurde seine Stimme schärfer. »Was soll das jetzt noch? Ich habe Ihnen heute Morgen den Auftrag entzogen, oder? Sie wurden mir als Profi empfohlen. Dann handeln Sie gefälligst auch wie ein Profi! Ich will von Ihnen nichts mehr sehen und hören! Und bleiben Sie Ethel fern! Ich hoffe, ich habe mich klar und deutlich ausgedrückt, Mister Connor!«

Ich wollte ihm noch etwas über die christliche Tugend der Duld­samkeit erzählen, aber er hatte schon aufgelegt. Irgendwie war ich verärgert. War es schon so weit mit mir gekommen, dass ich mir von ehemaligen Sträflingen Vorträge über Aufgaben und Pflichten von Pri­vatdetektiven anhören musste?

Nach einem Schluck aus der Notreserve und einer weiteren Ziga­rette stand ich wieder über den Dingen. Ich setzte mir ein Datum und eine Uhrzeit. Heute, Mittemacht. Bis dahin wollte ich noch versuchen, ein bisschen mehr an der Erleuchtung teilzuhaben, die Robert Kirby wi­derfahren war. Danach wanderte der Fall endgültig zu den Akten.

Mir fiel eine Adresse ein, die sich schon einmal als Quell der Inspi­ration erwiesen hatte und machte mich auf den Weg.

*

Eigentlich hatte ich damit gerechnet, mich mit den Besitzern des Flying Dutchman herumschlagen zu müssen. Aber es war erneut meine alte Bekannte aus Osteuropa, die mir auf mein beharrliches Klingeln hin die Tür öffnete. Mir konnte das nur recht sein.

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Die Frau, heute ohne Kopftuch, dafür mit Küchenschürze, erkann­te den edlen Spender von gestern sofort.

»Sie schon wieder?« In Hinblick auf die beiden gestern spendierten Lincolns hätte ich

mir etwas mehr Begeisterung gewünscht. »Darf ich eintreten?« Mrs. Osteuropa zögerte, aber dann gab sie den Eingang frei. »Schon wieder ganz allein?«, fragte ich. »Wie meinen Sie das?« »Weil ich eigentlich mit den Brunners reden wollte«, log ich. »Die kommen erst morgen zurück.« »Wie schaffen die es, ein Hotel zu führen, wenn sie nie da sind?« Ich sah mich flüchtig um. Es gab eine verwaiste Rezeption, einen

Flur, offen stehende Türen zu einer Küche und einem Frühstücksraum, schließlich eine Treppe, die nach oben führte. Am Aufgang zur Treppe hing ein Gemälde, das ein Segelschiff im Sturm zeigte. Wahrscheinlich das Alibischiff, das den Hotelnamen zu rechtfertigen hatte. Unter dem Gemälde befand sich auf einem kleinen Säulentisch ein Münzfernspre­cher.

»Wir haben nur Dauergäste, die keiner besonderen Betreuung be­dürfen.«

Etwas Ähnliches hatte ich mir schon gedacht. »Fein. Ich wünschte mir, ich könnte mein Geld auch so einfach

verdienen.« Ich kam zum Zweck meines Besuchs. »Miss O'Brannon bat mich, etwas aus ihrem Zimmer zu holen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Miss O'Brannon hat Anweisung gegeben, ihr Zimmer nicht zu betreten, wenn sie nicht zu Hause ist.«

»Das hat sie mir auch erzählt und mir geraten, zuvor mit den Brunners zu reden. Falls die nicht da sein sollten, gab sie mir für Sie diesen Türöffner mit.« Ich zog einen Lincoln aus der Tasche.

»Miss O'Brannon ist sonst nicht so spendabel«, wandte die Frau ein, verstaute den Schein aber schon in ihrer Schürzentasche. Sie ver­schwand hinter dem Tresen der Rezeption und kehrte mit einem gro­ßen Schlüsselbund zurück. Dann machte sie eine Kopfbewegung in

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Richtung Treppe. »Dort hinauf. Das Zimmer befindet sich im ersten Stock.«

Sie ging voraus, blieb vor der Tür mit der Nummer 3 stehen, such­te nach dem passenden Schlüssel und sperrte auf. Ich durfte passie­ren. Meine Hoffnung, allein gelassen zu werden, erfüllte sich nicht. Mrs. Osteuropa schob sich hinter mir in den Raum und behielt mich wachsam im Auge.

Gegen das Zimmer konnte man nicht viel einwenden: Sehr be­quem aussehendes Doppelbett, zierliche Nachttische, ein Kleider­schrank mit ovalem Spiegel, eine Couch, ein Sessel, ein kleiner Tisch, ein dunkelroter Teppich über einem Holzfußboden, eine gelbbraun marmorierte Deckenlampe, sogar ein kleiner Regulator. Das Ganze war ein Mischmasch verschiedener Stile, aber gemütlich. Die meisten Ho­telzimmer, die ich kannte, sahen erheblich trostloser aus. Die hohe Decke besaß Stuckrosetten, die unaufdringliche blaue Blumentapete reichte ohne Ölsockel bis zum Fußboden. Das einzige Fenster befand sich auf der Hofseite. Eine offen stehende Tür führte in ein kleines Bad.

Man merkte, dass hier eine Frau wohnte. Es hing ein leichter Par­fümduft in der Luft, auf dem Tisch stand eine Wachskerze, die auch benutzt worden war, auf einem der beiden Kopfkissen hockte ein zer­schlissener Teddybär und auf einem der Nachttische befand sich eine offene und schon gehörig geplünderte Schachtel mit Konfekt.

Besonders ordentlich schien Ethel nicht zu sein. Überall lagen Klei­dungsstücke herum, auch solche der intimeren Art. Auf dem gefliesten Fußboden des Bads entdeckte ich seidene Unterwäsche, die mir äu­ßerst vertraut vorkam.

Ich kenne die üblichen Verstecke und schaute nach, fand aber nichts. Mrs. Osteuropa wurde nervös. »Wonach suchen Sie eigent­lich?«

Ich hatte gerade die Rückseite des Spiegels im Bad abgetastet. Die Frage kam mir ungelegen. »Miss O'Brannon vermisst ihr Medail­lon.« Etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein. »Da es sich um einen Talisman handelt, will sie sich ohne ihn nicht vom Fleck bewe­gen.«

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Schieres Erstaunen. »Sie suchen ein Medaillon hinter einem Spie­gel?«

»Sie wissen ja, wie lebhaft sie ist«, sagte ich leichthin. »Es kann beim Herumturnen überall gelandet sein.«

Mrs. Osteuropa war stur wie ein Polizist. »Ich habe niemals ein Medaillon an ihr bemerkt.«

»Haben Sie Miss O'Brannon schon einmal nackt gesehen?« »Nein, natürlich nicht.« »Dann schweigen Sie. Sie trägt es an einer Stelle, die ich nicht nä­

her bezeichnen möchte.« Darüber musste sie erst einmal nachdenken und ich hatte eine

Weile Ruhe. Ich wollte Ethel schon innerlich Abbitte leisten, als mir er­neut der Teddy ins Auge fiel. Beim Filzen des Bettes hatte ich ihn zur Seite geschoben. Jetzt schaute ich ihn mir genauer an. Auf der Unter­seite war das Fell aufgeschlitzt und anschließend mit einer Sicherheits­nadel wieder zusammengesteckt worden.

»Haben Sie etwa Mäuse im Haus?«, fragte ich die Hausangestell­te.

»Natürlich nicht!«, entrüstete sie sich. »Wie kommen Sie darauf?« »Im Bad hat doch gerade was geraschelt.« Sie sah nach. Ich nutzte die Zeit, um die Sicherheitsnadel zu lösen

und in den Spalt zu greifen. Ich zog das Pergamenttütchen mit dem Schnee hervor. Es reichte für eine stattliche Anzahl von Linien.

Als Mrs. Osteuropa die Nase aus dem Bad steckte, befanden sich Tütchen und Sicherheitsnadel schon wieder an Ort und Stelle. Es lag nicht in meiner Absicht, Ethel zu berauben.

»Da war nichts«, sagte die Frau. Ich setzte den Teddy zurück auf das Kopfkissen. »Dann muss ich

mich geirrt haben.« Ich zuckte die Schultern. »Ich kann das Medaillon nicht finden. Miss O'Brannon wird selber nachsehen müssen.«

Ich hatte nicht die Absicht, mich hier noch lange aufzuhalten. Aber bevor ich den Raum verlassen konnte, zupfte mich die Frau am Ärmel. »Ich habe da vielleicht etwas für Sie. Aber es ist zwanzig Dollar wert.«

»Das ist eine Menge Geld, Schätzchen.« Vor allem, wenn ich ihn aus der eigenen Tasche zahlen musste. Es war mir schon schwer ge­

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fallen, mich von dem Lincoln zu trennen. Was ich jetzt noch an Spesen machte, konnte ich dem Captain wohl kaum in Rechnung stellen. »Was ist es?«

»Ich habe etwas gehört, das Sie interessieren dürfte.« »Ob es interessant ist, muss sich erst noch erweisen.« »Es hat mit den Herren zu tun, mit denen Miss O'Brannon... Sie

wissen schon.« »George und Harry?« »Ja.« Ich machte einen Lincoln startklar. »Heraus damit.« Sie nahm ihn nicht. »Das ist zu wenig. Ich will zwanzig Dollar.« Ich überlegte. George und Harry hatte ich der Abteilung Vulkan­

kühlung zugeordnet. Ansonsten waren sie für mich unbeschriebene Blätter. Ich sah keinen Zusammenhang mit Kirby und dem Schnee. Sollte ich mich täuschen?

»Zehn Dollar.« Sie blieb eisern. »Was ich gehört habe...« »Sie werden doch nicht etwa gelauscht haben?«, sagte ich vor­

wurfsvoll. »Nennen Sie es, wie Sie wollen. Jedenfalls ist es zwanzig wert.« Ich gab mir einen Ruck. »Wenn Sie mir fünfzehn...« »Zwanzig!« »... Dollar aus der Nase ziehen wollen, sollten Sie schon mal damit

anfangen, mich neugierig zu machen.« Sie erzählte mir, was Sie in Erfahrung gebracht hatte, als Ethel

sich allein wähnte und unten an der Treppe das Münztelefon benutzt hatte. Sie hatte drei Anrufe getätigt. Heute Morgen, bevor sie das Ho­tel verließ.

Am Ende gab ich Mrs. Osteuropa den Jackson.

*

Wer mich kennt, der weiß, dass ich nicht zum Grübeln neige. AberMrs. Osteuropa hatte mir eine Nuss zu knacken gegeben, die so groß

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war, dass ich sie einfach nicht packen konnte. Wäre das alles nur eine Geschichte zwischen Ethel, George und Harry gewesen, hätte ich das Ganze allenfalls mit beiläufigem Interesse zur Kenntnis genommen.

Der Umstand, dass sich Männer und Frauen in einer kleinen, aber nicht ganz unwesentlichen Sache unterscheiden, ist mir bereits seit geraumer Zeit bekannt. Seither sind mir zahlreiche Varianten zur Kenntnis gelangt, mit diesem Umstand umzugehen. Was mir Mrs. Ost­europa anvertraute, fügte dem Spektrum dieser Möglichkeiten keine neue hinzu. Ganz und gar nicht. Ich würde sie als Variante 4 oder 5 bezeichnen. Es wäre mir nicht einmal einen Eagle wert gewesen zu erfahren, dass sich Ethels Vulkan auch für Varianten erwärmte.

21 Uhr!, hämmerte es in meinem Kopf. Dass sie Captain Kirby angerufen und in alles eingeweiht hatte,

ließ die Sache allerdings in einem anderen Licht erscheinen. Seither grübelte ich darüber nach, welchen Nutzen Ethel darin sah, dem Got­tesmann eine Lektion in Vulkankunde zu erteilen. Gab es bei der Sal­vation Army eine Art Beichte für Sünden, die man noch gar nicht be­gangen hatte, sondern begehen wollte? Konnte es sein, dass der Cap­tain angesichts eines solchen Glaubenseifers schon mal eine Ladung Schnee herankarrte? Oder plante Kirby, Gott einen guten Mann sein zu lassen und die Variantennummer nach oben zu verschieben?

Ich tigerte in meinem kleinen Apartment auf und ab, was sonst gar nicht meine Art war. Weder Zigaretten noch Bourbon wollten mir auf die Sprünge helfen. Was war los mit mir? Hatte ich mich am Ende in die kleine Ethel verliebt und wollte sonst niemanden mehr an ihren Vulkan heranlassen?

21 Uhr!, hämmerte es in meinem Kopf. Als Brendon gegen acht Uhr anrief, wusste ich erst gar nicht, was

er von mir wollte. Mir stand im Moment nicht der Sinn nach weiteren Details aus Kirbys dunkler Vergangenheit. Mir reichten die Details aus seiner dunklen Gegenwart.

Da Brendon von meiner gewandelten Stimmungslage nichts wis­sen konnte, plapperte er munter drauflos. »Dieser gut zehn Jahre alte Zeitungsbericht über eine Gerichtsverhandlung war hochinteressant.

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Kirby wurde damals wegen eines Banküberfalls angeklagt und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.«

»Na und?«, sagte ich unlustig. »Wart's doch ab. Die interessanten Sachen kommen erst noch. Mit

Kirby zusammen waren zwei Männer angeklagt, die man für seine Komplizen hielt. Man konnte ihnen aber nichts nachweisen und musste sie schließlich freisprechen.«

»Na und?«, wiederholte ich. »So was soll vorkommen.« »Was soll das verdammte Herummaulen?«, empörte sich Bren­

don. »Hat man dich mit Morgengrauen abgefüllt? Ich reiße mir für dich den Arsch auf und du benimmst dich wie eine Trantüte auf Urlaub.«

Ich riss mich am Riemen. Der gute alte Brendon konnte ja nun wirklich nichts für meinen Hänger. »Tut mir Leid, Brendon. Ich versu­che gerade, Schneeballschlachten und flotte Dreier zu verdauen.«

Ich konnte fast hören, wie er die Stirn runzelte. »Willst du mir mehr darüber erzählen?«

»Später, Brendon. Mach du erst mal weiter.« »Na gut, Pat, aber schlaf mir dabei bloß nicht ein.« Er nahm wie­

der Fahrt auf. »Also, wie gesagt: George McKiernan und Harry Haw­kins wurden freigesprochen...«

Mich durchfuhr ein siedend heißer Blitz und ich brüllte in die Sprechmuschel: »WAS HAST DU GERADE GESAGT?«

»He Pat, bis du wahnsinnig geworden?«, beschwerte sich Bren­don. »So etwas kann einen das Trommelfell kosten! Ich habe doch nur gesagt, du sollst nicht einschlafen. Von Herumbrüllen war nicht die Rede.«

»Nein, nein, Brendon«, stammelte ich. »Entschuldige. Wirklich, es tut mir Leid. Aber was hattest du zuletzt gesagt? Die beiden Namen, Brendon, die beiden Namen! Bitte!«

»George McKiernan und Harry Hawkins. Das waren die beiden Kerle, die...«

»George und Harry«, stöhnte ich. »Ist dir nicht gut?«, fragte Brendon besorgt. »Nein, nein, alles in Ordnung«, beruhigte ich ihn. »Ich habe dir

doch von der kleinen Ethel und ihren Liebhabern erzählt: George und

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Harry. Vielleicht ist das alles nur ein Zufall. Vielleicht auch nicht. Mach bitte weiter. Ich werde dir auch bestimmt nicht wieder ins Ohr schrei­en.«

Auf jeden Fall war ich jetzt hellwach. »George McKiernan und Harry Hawkins haben Kirby belastet, ihm

alles in die Schuhe geschoben. Kirby hat dazu nichts gesagt, es einfach hingenommen.«

»Vielleicht war er damals schon erleuchtet und hat das Ganze mit christlicher Milde beurteilt«, warf ich ein und zündete mir eine Lucky an.

»Die Erleuchtung kam später«, widersprach Brendon. »Kirby wird in dem Artikel als ruppig und uneinsichtig geschildert, der seine ehe­maligen Komplizen mit hasserfüllten Blicken bedacht hat. Dazu hatte er auch allen Grund. Denn die Beute aus dem Banküberfall war ver­schwunden. Der Staatsanwalt und auch unser Gerichtsreporter waren der Ansicht, dass McKiernan und Hawkins sie beiseite geschafft und Kirby ausgebootet hatten. Da Kirby sich nicht äußerte, konnte man dies allerdings nicht beweisen.«

Meine Gedanken rotierten. Aber ich konnte die Enden der zehn Jahre alten Geschichte beim besten Willen nicht mit den Anfängen der Gegenwart verbinden.

21 Uhr!, hämmerte es in meinem Kopf. »Weiter!«, forderte ich heiser. »Viel mehr gibt der Artikel nicht her. Interessant ist höchstens

noch, dass nicht nur Kirby, sondern auch die beiden anderen ein fettes Vorstrafenregister haben. Tatsächlich haben die drei sich im Gefängnis kennen gelernt und waren einige Monate lang zusammen in einer Zel­le.«

Allmählich begannen sich in meinem Kopf einige der losen Fäden miteinander zu verbinden. »Brendon, das könnte heute Abend noch ziemlich prickelnd werden. Was weißt du sonst noch über George und Harry?«

»Zum Glück war Joseph Zelazny aus der Lokalredaktion im Hause. Er hat damals den Artikel geschrieben und kennt sich aus in der Stadt. McKiernan und Hawkins sind anschließend abgetaucht und haben sich

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eine bürgerliche Existenz aufgebaut - vermutlich mit dem Geld aus dem Bankraub. Sie scheinen Immobilien zu besitzen. Man munkelt auch, dass ihnen ein Nachtclub gehört. Natürlich nicht so direkt. Du weißt schon.«

Plötzlich hatten sich alle losen Fäden miteinander verknüpft. »Ein Nachtclub«, sagte ich. »Ja, das passt. Und George und Harry sind schwer auffindbar, oder?«

»Sie stehen nicht im Telefonbuch, wenn du das meinst. Und sind für niemanden erreichbar. Aber ich denke doch, dass der Geschäfts­führer eines Nachtclubs weiß, wo seine Bosse wohnen.«

»Stimmt. Und genau auf die Art hat der Captain es herausgefun­den.«

21 Uhr!, hämmerte es in meinem Kopf. Ich sah auf die Uhr und war plötzlich mehr als nervös.

»Brendon«, sagte ich hastig. »Ethel hat ihre beiden Liebhaber an­gerufen und ihnen gesagt, sie sei jetzt bereit, ihnen ihren Wunsch­traum zu erfüllen. Sie hat beide für heute Abend zu sich in den Flying Dutchman eingeladen und ihnen ein unvergessliches Erlebnis verspro­chen. Anschließend hat sie den Captain angerufen und ihm davon er­zählt.«

»Das ist nicht dein Ernst!«, stieß Brendon hervor. »Doch.« »Wann soll das Ganze stattfinden?« »Um 21 Uhr. In einer Viertelstunde. Nach dem, was ich von dir er­

fahren habe, dürfte der Captain ebenfalls erscheinen - und einen Freund mitbringen.«

»Wen denn?« »Einen Revolver.«

*

Ich tat, was ich konnte, um Kirby einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ich wählte die Nummer des Chicago Police Department. Zum Glück war Captain Hollyfield nicht nur im Dienst, sondern auch für mich erreichbar. Ich beschwor ihn, sofort einen Streifenwagen zum

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Flying Dutchman zu schicken, um einen Doppelmord zu verhindern. Er versprach, sich darum zu kümmern.

Ich griff Hut und Mantel und stürmte aus dem Apartment. Ich hastete die Treppen aus dem dritten Stock ins Erdgeschoss hinab und zog mir dabei den Mantel an. Mir war klar, dass ich länger als eine Viertelstunde brauchen würde, um zum Flying Dutchman zu kommen, aber ich versuchte mein Bestes. Ich warf mich hinter das Lenkrad des Plymouth, startete den Motor und gab Gummi. Aber das Schicksal war gegen mich. Erwähnte ich schon, dass der Verkehr in Chicago die Hölle ist? Das gilt für fast jede Tages- und Nachtzeit. Aber am Samstag­abend packt der Teufel persönlich mit an und schippt eine zusätzliche Waggonladung Kohle ins Feuer.

Es lief darauf hinaus, dass ich erst um zwanzig nach neun am Fly­ing Dutchman eintraf. Die Polizeiabsperrung vor dem Hotel ließ mich ahnen, dass ich zu spät gekommen war.

Es hatten sich bereits Dutzende von Schaulustigen eingefunden. Mehrere Reporter und Fotografen waren ebenfalls schon vor Ort. Ich drängelte mich durch die Menschenansammlung nach vorn bis zur Ab­sperrung. Ein Stück weiter lag ein regungsloser menschlicher Körper in seinem Blut. Daneben entdeckte ich eine Tommy-Gun und eine blaue Uniformmütze. Der Tote war Captain Kirby. Ich wollte mir die Sache genauer ansehen, aber ein schwergewichtiger Polizist versperrte mir den Weg.

»Zurückbleiben!«, herrschte er mich an. »Ich bin von der Presse. Was ist passiert?«, log ich schamlos. Mr. Blechmarkenbrust gab sich mitteilungsfreudig. »Der Mann hat

erst im Hotel und dann auf der Straße herumgeballert. Als meine Kol­legen eintrafen, hat er sie ebenfalls unter Beschuss genommen. Die haben das Feuer erwidert und so kam er dann selbst ums Leben. Wahrscheinlich war es genau das, was er wollte.« Er runzelte die Stirn. »Für welche Zeitung schreiben Sie? Von der Tribune sind schon Leute da.«

»Ich bin Korrespondent von der New York Times«, behauptete ich. »Geben Sie den Weg frei, Officer. Oder wollen Sie, dass die Chica­goer Polizei in New York eine schlechte Presse bekommt?«

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Damit wäre ich nicht durchgekommen. Tatsächlich gab er sich plötzlich ziemlich zugeknöpft und wollte meinen Presseausweis sehen. Zum Glück traf gerade ein weiteres Polizeifahrzeug ein. Unter den aus­steigenden Beamten erkannte ich Lieutenant Quirrer und Captain Hol­lyfield. Ich machte mich durch Winken bemerkbar.

Quirrer tat so, als würde er mich nicht bemerken, aber Hollyfield kam heran.

»Lassen Sie den Mann passieren«, wies er den Polizisten an, der mir den Weg versperrte.

Mr. Blechmarkenbrust sah mich verärgert an, gab dann aber den Weg frei.

»Der Tipp war gut, Connor«, begrüßte mich Hollyfield, »aber er kam leider zu spät.«

»Warum er so spät kam und was Sie mit der Angelegenheit zu tun haben, werden wir noch genau untersuchen«, versprach mein beson­derer Freund Quirrer.

Hollyfield beachtete ihn nicht und ging mit mir zu der Leiche von Kirby, deren Umrisse gerade mit Kreidestrichen fixiert wurden. In das Hotel wurden Särge getragen. Zu meiner Beklemmung stellte ich fest, dass es drei waren. Eine wachsbleiche Mrs. Osteuropa ließ die Sarg­träger passieren.

»Drei Särge?«, krächzte ich Hollyfield an und zeigte zum Flying Dutchman.

»Zwei Männer und eine Frau«, bestätigte Hollyfield. »Er hat sie gemeinsam im gleichen Zimmer erwischt. Freunde von Ihnen?«

Ich räusperte mich. »Die Frau war eine... flüchtige Bekannte. Wirklich schade um sie. Man könnte fast sagen, ein Vulkan ist erlo­schen.« Arme kleine Ethel.

Ich wandte mich ab und zündete mir eine Zigarette an.

*

Ich gab noch am gleichen Abend meine Aussage zu Protokoll. Be­stimmte Details, die der Wahrheitsfindung kaum dienlich sein konnten, verschwieg ich. Danach ließ ich mich bei Dunky voll laufen.

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Dank meiner Hinweise konnte Hollyfield die Ermittlungen nach nur wenigen Tagen abschließen. Er zeigte sich erkenntlich und ließ mich den Abschlussbericht lesen. Endlich ergab sich für mich ein Gesamt­bild. Einiges konnte man allerdings nur vermuten, weil Kirby sein Wis­sen mit ins Grab genommen hatte.

Alles in allem war es die Geschichte einer Rache. Kirby hatte mit McKiernan und Hawkins im Gefängnis gesessen und wohl dort schon mit ihnen zusammen den Banküberfall geplant. Nach dem Überfall hat­ten sie ihn gelinkt. Warum er sie nicht bereits in der Gerichtsverhand­lung ans Messer lieferte, blieb unklar. Ich nahm an, dass er sich schon damals entschlossen hatte, sie nicht so billig davonkommen zu lassen, sondern umzubringen. Während McKiernan und Hawkins ihre Freiheit genossen und das erbeutete Geld anlegten, saß Kirby im Knast und schmiedete Rachepläne. Irgendwann kam er mit der Salvation Army in Kontakt. Vielleicht wollte er sich wirklich ändern, vielleicht hatte er nie etwas anderes vorgehabt, als sie für seine Zwecke zu benutzen. Je­denfalls gab er sich als reuiger Sünder und Bekehrter. Darin war er sehr gut und er brachte es später, als er wieder draußen war, bis zum Captain der Heilsarmee und ›Mitmenschen der Woche‹. Aber seine Ra­che vergaß er nicht.

An seine früheren Komplizen kam er nicht so ohne weiteres heran, denn sie waren abgetaucht. Aber er hatte gehört, dass sie über einen Strohmann einen Nachtclub betrieben. Als Captain der Heilsarmee war er dauernd an der Nachtclubfront. Er fragte herum, wem die einzelnen Clubs gehörten und schließlich fand er heraus, welcher davon im Besitz von George und Harry war. Irgendwie brachte er den Geschäftsführer dazu, ihm die Adressen der beiden zu verraten. Aber McKiernan und Hawkins hatten immer damit gerechnet, dass er irgendwann aufkreu­zen würde und sich gut abgesichert. Hollyfield hatte herausgefunden, dass ihre Häuser Festungen glichen und in der Öffentlichkeit ließen sie sich kaum sehen und schon gar nicht gemeinsam.

Dann lief Kirby ein drogenabhängiges Mädchen über den Weg, ein ganz süßes rotblondes Ding mit einem ziemlich großen Appetit auf Männer. Vielleicht versuchte er ihr anfangs sogar zu helfen, nicht nur als Appetithappen, aber irgendwann erinnerte er sich an die Zeit im

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Knast, an die Gespräche, die damals geführt wurden. Er kannte die Schwäche von George und Harry für junges Gemüse. Und ihre Wunschträume, die in Richtung einer speziellen Variante gingen.

Kirby versorgte Ethel mit Kokain und setzte sie auf George und Harry an. Dass dem kleinen Vulkan nur schwer zu widerstehen war, konnte ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Natürlich hätte Kirby einen der beiden bei einem der früheren Rendezvous im Flying Dutchman töten können, aber dann wäre der andere wahrscheinlich untergetaucht. Er wollte sie beide. Und er wusste, wie er sie dazu bringen konnte, gemeinsam im Flying Dutchman aufzukreuzen.

Fast wäre der Plan gescheitert, weil Ethels Brüder etwas spitzge­kriegt hatten. Dieses Problem löste Kirby, indem er mich engagierte. Dass er mich danach nicht so einfach abschütteln konnte, gefiel ihm nicht. Aber leider brauchte ich zu lange, um ihm auf die Schliche zu kommen.

Alles in allem hatte ich mich als schlechter Prophet erwiesen, als ich Kirby unterstellte, nur einen Doppelmord zu planen und sich dafür mit einem Revolver zu bewaffnen. Der Gotteskrieger hatte niemals die Absicht gehabt, Ethel zu schonen und sich im Zweifel lieber für eine Tommy-Gun entschieden. Aus den alten Tagen wusste er, wie man an so etwas herankam. Mit der Maschinenpistole hatte er später auch auf der Straße wild um sich geschossen, bis die Polizisten dem Treiben ein Ende machten.

Dass Captain Kirby George und Harry mit kleinen Löchern verse­hen hatte, konnte ich nicht billigen, aber in gewisser Weise verstehen. Die Art und Weise, wie er die kleine Ethel für seine Zwecke benutzt hatte, fand dagegen meinen Abscheu. Und am wenigsten konnte ich ihm verzeihen, dass er sie am Ende wie George und Harry behandelt hatte. Wie er das dem lieben Gott erklären wollte, wusste ich beim besten Willen nicht.

Ende

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