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Hanns Günther Hilpert Japans endlose Wirtschaftskrise · Problemstellung und Empfehlungen...

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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Hanns Günther Hilpert Japans endlose Wirtschaftskrise Perspektiven für Japan und die Weltwirtschaft S 44 Dezember 2002 Berlin
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SWP-StudieStiftung Wissenschaft und PolitikDeutsches Institut für InternationalePolitik und Sicherheit

Hanns Günther Hilpert

Japans endloseWirtschaftskrisePerspektiven für Japan und die Weltwirtschaft

S 44Dezember 2002Berlin

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Inhalt

Problemstellung und Empfehlungen 5

Einleitung: Der Zusammenbruch der»Bubble Economy« und seine Folgen 7

Japans ökonomische Malaise: Stagnation undTransformation im Dauerzustand 11Die Konjunktur fest im Griff der Deflation 11Zurückfallen im Produktivitätswachstum 17Die nicht enden wollende Schulden- undBankenkrise 19Japans Staatsfinanzen in der Schuldenfalle? 24Strukturelle Schwächen einer dualen Wirtschaft 28Japans Unternehmensmodell im Wandel 30Reformblockaden in Politik und Gesellschaft 32

Wirtschafts- und Konjunkturpolitikin der Sackgasse 35Wirtschaftspolitische Kontroversen undwirtschaftspolitische Optionen 35Fiskalpolitik 36Geldpolitik 36Währungspolitik 39Strukturpolitik 41

Entwicklungsperspektiven 43Krisenszenarien für Japans Finanzmärkte �Implikationen für Asien und die Weltwirtschaft 43Langfristig Rückkehr auf einenstabilen Wachstumspfad? 47

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SWP-BerlinJapans endlose Wirtschaftskrise

Dezember 2002

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Problemstellung und Empfehlungen

Japans endlose WirtschaftskrisePerspektiven für Japan und die Weltwirtschaft

Die 90er Jahre waren für Japan ökonomisch einDesaster. Mit einer gesamtwirtschaftlichen Wachs-tumsrate von 1,1% über dem Durchschnitt der Dekadebefindet sich Japan am unteren Ende der Rangliste derG-7- und der OECD-Staaten. Trotz mehrfacher kräftigerfiskal- und geldpolitischer Impulse gelang es nicht, dieBinnenwirtschaft nachhaltig konjunkturell zu beleben.Im Gegenteil: Die Konjunkturpolitik konnte nichtverhindern, daß das Land gegen Ende der Dekade ineine Deflation abrutschte, die bislang nicht überwun-den ist. Zudem hat sich die Schulden- und Banken-krise trotz erheblicher Kapitalinfusionen in den ver-gangenen Jahren laufend verschärft. Im Rückblick aufdie 90er Jahre führt das Beispiel Japan drastisch vorAugen, wie schnell ökonomische Führungspositionenverspielt werden können.

Vor diesem Hintergrund ist Ausgangspunkt derStudie die drängende Frage, ob Japan seine ökonomi-sche Krise zu bewältigen und den laufenden Trans-formationsprozeß zu meistern in der Lage ist. DieFrage zu stellen heißt eine negative Antwort darauffür möglich zu halten. Denn erstens wird sich, solangedie aktuelle Banken- und Schuldenkrise nicht nachhal-tig gelöst ist, die Situation auf Japans Finanzmärktenimmer wieder erneut krisenhaft zuspitzen. Undzweitens wird der rasante Anstieg der japanischenStaatsverschuldung mittelfristig zu steigenden Kapi-talmarktzinsen führen und eine schmerzhafte Kon-solidierung der Staatsfinanzen erzwingen, möglicher-weise sogar eine Schuldenkrise des Staates auslösen.Sicherlich sind diese Gefahren für die japanische Wirt-schaft durch entschlossenes Handeln der Politik nochabzuwenden. Doch sind Politik und AdministrationJapans eben auch ein Teil des Problems, und habenbislang wenig zur Lösung der Wirtschaftskrise bei-getragen.

In Anbetracht der Vielzahl politischer und wirt-schaftlicher Herausforderungen kann mit einfachenund schnellen Lösungen zur Bewältigung der Krisenicht gerechnet werden. Nach zehnjährigen frucht-losen Bemühungen um eine Stimulierung der gesamt-wirtschaftlichen Nachfrage sind die Arsenale derFiskal- und der Geldpolitik Japans erschöpft. Auch imBereich der wirtschaftlichen Strukturpolitik hat Japan

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Problemstellung und Empfehlungen

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noch keine angemessene Antwort auf die Heraus-forderungen der Globalisierung gefunden.

Realistischerweise sollte man deshalb davon aus-gehen, daß die Wirtschaftspolitik Japans auch inZukunft nicht die gebotene Entschlossenheit undDurchsetzungsfähigkeit entwickeln wird, die für eineÜberwindung der konjunkturellen Stagnation und füreine Lösung der Schuldenprobleme im Banken- undUnternehmenssektor erforderlich wären. Bei Fort-setzung der gegenwärtigen deflationären Trends istdeshalb der Ausbruch einer Banken- und Finanzkrisenicht unwahrscheinlich. Mittel- bis langfristig drohtangesichts der fiskalischen Schuldendynamik eineSchuldenkrise des Staates. Beide Szenarien wären inerster Linie Krisen des japanischen Finanzmarktsund der realen Wirtschaft Japans. Die entstehendenVerwerfungen können aber auf Asien und die Welt-wirtschaft übergreifen und dort zu realen Wachstums-einbußen führen.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus der MalaiseJapans für Politik und Wirtschaft in Deutschland undEuropa?! Erstens sollte man sich darauf einstellen, daß die

gegenwärtige Stagnation und Agonie der japani-schen Wirtschaft noch einige Jahre anhält und daßsporadisch auftretende krisenhafte Zuspitzungenrealistische Annahmen sind. Japan ist ein warnen-des Beispiel für ein reifes Industrieland, das es vielzu lange versäumt hat, makroökonomische Schief-lagen anzupacken und dringend erforderlicheStrukturreformen durchzuführen. Die internatio-nale Politik sollte im Rahmen der G-7-Kooperationnoch entschlossener als bisher auf Japan einwirken,die vorliegenden Probleme endlich anzupackenund insbesondere die Banken- und Schuldenkriseeiner Lösung zuzuführen.

! Zweitens bleibt zwar Japan die führende Wirt-schaftsmacht Asiens, aber sein internationalesPrestige, seine Finanz- und Wirtschaftskraft habenspürbar gelitten. Die Funktion Japans als ökono-mischer und politischer Stabiltätsanker in Asiendürfte an Bedeutung verlieren. China wird � wiebereits zuweilen in der Vergangenheit � JapansSchwächen ausnützen und in das bestehendeVakuum vorstoßen.

! Drittens sollte man in der allgemeinen Krise derjapanischen Wirtschaft nicht übersehen, daß es dieerfolgreicheren japanischen Industrieunternehmengut verstanden haben, sich an die fortgesetzteNachfrageschwäche und die ungünstigen Rahmen-bedingungen in ihrem Heimatmarkt anzupassen.

Aufgrund ihres Innovationspotentials und ihrerExportkraft bleiben sie dauerhaft leistungsfähigeWettbewerber auf den Weltmärkten. Positiv an derjapanischen Situation ist zudem, daß deutsche undeuropäische Unternehmen die aktuelle Wirtschafts-krise Japans als Chance nutzen können, auf demschwierigen japanischen Markt Fuß zu fassen.

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Einleitung: Der Zusammenbruch der »Bubble Economy« und seine Folgen

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Einleitung:Der Zusammenbruch der »Bubble Economy« und seine Folgen

Nach vier erfolgreichen Dekaden hohen Wirtschafts-wachstums galt Japan zu Beginn der 90er Jahre alsModellökonomie. Gepriesen wurden der weitverbrei-tete Wohlstand, die gute makroökonomische Ver-fassung der Wirtschaft, das hohe technologischePotential und die effizienten Produktions- und Orga-nisationsmethoden in den Industrieunternehmen,eine egalitäre und konsensfähige Gesellschaft sowieeine strategische Weitsicht von Industrie und Wirt-schaftspolitik. Entgegen den geradezu euphemisti-schen Wachstumsprognosen japanischer und inter-nationaler Institutionen zu Beginn der Dekadenahmen konjunkturelle Entwicklung und wirtschaft-liches Wachstum in den 90er Jahren aber eine nichtfür möglich gehaltene verhängnisvolle Wendung.Binnen elf Jahren durchlief die Konjunktur insgesamtdrei Rezessionen (1/92�3/93, 4/97�3/98, 2/01�4/01),nach deren Ende jedoch nicht der jeweils erhoffte sichselbst tragende Aufschwung einsetzte. In der Konse-quenz betrug das gesamtwirtschaftliche Wachstum imJahresdurchschnitt der Jahre 1992�2001 gerade ein-mal 1,1%. Nachdem zu Beginn der 90er Jahre zunächstdie Vermögenswerte für Unternehmen, Grundstückeund Immobilien zu fallen begannen, war dann abetwa Mitte der 90er Jahre die Entwicklung des BIP-Deflators rückläufig, und seit 1999 ist auch die Ent-wicklung der Güterpreise deflationär. Japan rutschtein eine milde Deflation.

Die Konsequenzen der Stagnation von Konjunkturund Wachstum der japanischen Wirtschaft waren undsind weitreichend. Die Vermögensverluste für Haus-halte und Unternehmen im Laufe der Dekade entspre-chen in etwa dem Zweifachen des japanischen Brutto-inlandsprodukts.1 Auf die konjunkturelle Stagnationund die erlittenen Wertverluste reagieren die Haus-halte mit Konsumeinschränkung und Sparen. DenUnternehmen wiederum fehlen lukrative Investitions-chancen, so daß sie verstärkt konsolidieren. Infolgedes doppelten Preisverfalls, an Aktienbörse undImmobilienmärkten, ist zudem Japans Banken- undFinanzsektor in eine bedrohliche Schieflage geraten.Die Gesamtverschuldung des japanischen Staates ist

1 OECD (Hg.), OECD Economic Surveys Japan, Paris: OECD,1999.

aufgrund der hohen jährlichen Haushaltsdefizite zuJahresende 2002 auf den dramatischen Anteilswertvon 140% des BIP gestiegen. Während Japan voreinigen Jahren noch unter allgemeinem Arbeits-kräftemangel litt, liegt die Arbeitslosigkeit inzwischenbei 5,5% (Oktober 2002). Die makroökonomischen Pro-bleme setzen sich auf der Branchenebene und in derMikroökonomie fort. In der Wirtschaftspolitik und aufden Arbeits-, Güter- und Finanzmärkten sind Funk-tionsstörungen zu verzeichnen. Die japanische Wirt-schaft durchläuft einen mehrfachen Transformations-prozeß, der mannigfache Anpassungserfordernissenach sich zieht:! Auf der einzelwirtschaftlichen Ebene steht das

einstmals als vorbildlich gepriesene japanischeUnternehmensmodell unter dem Druck, einehöhere Rentabilität (des Eigenkapitals) zu erzielen.

! Auf der sektoralen Ebene erfordert der laufendeWandel zu einer stärker tertiär ausgerichteten Wirt-schaftsstruktur eine Steigerung von Leistungsfähig-keit und Produktivität des überregulierten und teil-weise staatlich alimentierten Dienstleistungssektors.

! Auf der politisch-institutionellen Ebene muß eineneue Arbeitsteilung und Machtbalance zwischenPolitik, Ministerialbürokratie und Wirtschaft gefun-den werden, nachdem der einst gut funktionie-rende Nachkriegskonsens in diesem einstigen eiser-nen Dreieck zerfallen ist.

! Auf praktisch allen Ebenen erfordert der demogra-phische Übergang soziale, gesellschaftliche undökonomische Reformen.Die Dauer der wirtschaftlichen Stagnation Japans �

in augenscheinlichem Kontrast zur wirtschaftlichenDynamik und Robustheit der vorhergehenden 40Jahre � gibt der wirtschaftlichen Krise Japans einehistorische Dimension mit einer über Japan hinaus-gehenden, weitreichenden Bedeutung für Weltwirt-schaft und Weltwirtschaftspolitik. Japan ist der Weltzweitgrößte Volkswirtschaft (nach den USA), dritt-größte Handelsnation (nach den USA und Deutsch-land) und drittgrößter Investor (nach den USA undGroßbritannien) und verfügt über das weltweithöchste Auslandsvermögen. Etwa ein Drittel der Welt-ersparnisse entfällt aktuell auf Japan. Einst erschüt-terten die Vorstöße der japanischen Industrie in

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Einleitung: Der Zusammenbruch der »Bubble Economy« und seine Folgen

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immer neue Industriesegmente die entwickeltenVolkswirtschaften des Westens. Noch Anfang der 90erJahre ging von Japan eine Revolution in der industriel-len Prozeßtechnologie, in der Arbeitsorganisation undim Qualitätsmanagement aus. Bedeutender noch alsim Verhältnis zu den Industrieländern des Westens istder Einfluß Japans in Asien aufgrund seiner Rolle alsLieferant von Maschinen und Anlagen, als Investor, alsEntwicklungshilfegeber und als Entwicklungsmodell.Mit dem Abklingen wirtschaftlicher Dynamik in Japanverschwanden auch die vormals kräftigen Impulse fürdas Wachstum von Produktion und Einkommen in denostasiatischen Entwicklungs- und Schwellenländern.

Es stellt sich die Frage, wie es zu dem Umschwungkam? Auslöser war der Zusammenbruch der beispiel-losen Spekulation in Vermögenswerten in den späten80er Jahren (Bubble Economy). Die Unternehmens-werte waren explosionsartig angestiegen. Der Nikkei-Aktienindex schnellte von 13 113 Punkten am Jahres-ende 1985 auf den historischen Höchststand von38 915 Punkten (29.12.1989). Die Bodenpreise imGeschäftsviertel von Tokio hatten sich im Zeitraum1985�1988 fast verdreifacht und in den WohngebietenTokios etwa verdoppelt. Es wurde mit einem gewissenStolz kolportiert, daß der fiktive Preis des Grundstücks,auf dem sich der Kaiserpalast in Tokio befindet, demBodenwert von ganz Kanada entspreche. Getragenvon dieser Spekulationswelle und angeheizt durcheine expansive Geldpolitik, boomte auch die realeWirtschaft Japans mit Wachstumsraten von über 5% �deutlich über dem durch das Produktivitätswachstumvorgegebenen langfristigen Wachstumspfad. Gestütztauf amtliche und unabhängige Prognosen, die ein-mütig für die 90er Jahre von durchschnittlichenWachstumsraten des realen Bruttoinlandsproduktsvon 3,5 bis 5% ausgingen, rechneten die Unternehmenmit der Fortsetzung des laufenden Konsum- undInvestitionsbooms. Angesichts der annähernd kosten-losen Finanzierungsmöglichkeiten an Tokios Kapital-märkten entstanden so beträchtliche Überkapazitätenin der gewerblichen Wirtschaft Japans.

Als die Inflation der Vermögenswerte in eine offeneGüterinflation umzuschlagen drohte, reagierte dieBank von Japan resolut mit einer stark restriktivenGeldpolitik: In nur 16 Monaten wurde der offizielleDiskontsatz in vier Stufen von 2,5 auf 6% herauf-gesetzt. Die Spekulationswirtschaft hatte ihr Endegefunden: Sowohl die Aktienkurse der börsennotier-ten Unternehmen als auch die Grundstücks- undBodenpreise in den Metropolen gingen auf Talfahrtund fielen innerhalb von drei Jahren auf die Hälfte

bzw. ein Drittel der vorherigen Höchstwerte. Bereits indieser Phase brachen zahlreiche Immobilien- undFinanzierungsgesellschaften zusammen. Die Konsoli-dierungsphase in den Märkten für Vermögenswertesetzt sich bis in die Gegenwart (Jahresende 2002) fort.

Der Baisse auf den Märkten für Bestandsgüter(Aktien, Grundstücke, Immobilien) folgte die Stagna-tion der Stromgrößen Investition und Konsum. Esstellte sich heraus, daß die Gewinnerwartungen, dieden Investitionen des verarbeitenden Gewerbeszugrunde lagen, ähnlich unrealistisch waren wie dieSpekulationen in Aktien und Grundstücken. So standJapans Unternehmenssektor nicht nur unter den fürRezessionsphasen typischen Zwängen zur Konsolidie-rung und strukturellen Bereinigung, sondern auchvor der Aufgabe, die während der Bubble-Phasegeschaffenen Überkapazitäten in Produktion undAbsatz abzubauen. Dieser unternehmerische Anpas-sungsprozeß ist aufgrund der stagnierenden, zum Teilsinkenden Inlandsnachfrage und infolge des zuneh-menden Importwettbewerbs ebenfalls bis heute nichtabgeschlossen.

Stärker noch als die Industrie waren und sind abervon den Bereinigungen der 90er Jahre die BankenJapans betroffen. Aufgrund der Wertverluste an derAktienbörse und in den Immobilienmärkten mußtensie nicht nur erhebliche Verluste in ihren Eigen-geschäften hinnehmen, sondern saßen auch aufeinem riesigen Berg notleidender Kredite und Bürg-schaften. Das Ausmaß der japanischen Bankenkriseübertrifft sowohl in absoluten Zahlen als auch inRelation zum Bruttoinlandsprodukt alle jüngerenBankenkrisen in Industrieländern, beispielsweise inden USA, Frankreich oder den skandinavischenLändern. Verhängnisvoller als der Umfang des an-gefallenen Abschreibungsvolumens war und ist aberfür die japanische Wirtschaft die Tatsache, daß wederdie Finanzindustrie noch die Aufsichtsbehörden desLandes zu einer entschlossenen und rationalen Krisen-bewältigung in der Lage sind.

Die gegenwärtige Krise Japans ist nicht alleinökonomischer Natur, sondern hat auch eine politischeund gesellschaftliche Dimension. In den 90er Jahrenist die traditionelle japanische Wachstumskoalitioneines eisernen Dreiecks bestehend aus Politik, Wirt-schaft und Ministerialadministration zerfallen. Dieerprobten Mechanismen und Institutionen in Wirt-schaft, Politik und Gesellschaft, mit denen es Japangelang, zum industrialisierten Westen aufzuschließenund ihn teilweise zu überholen, sind offensichtlich füreine postindustrielle Gesellschaft im Zeitalter der

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Die Konjunktur fest im Griff der Deflation

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Globalisierung nicht mehr adäquat. Das einst geprie-sene sozioökonomische Modell Japans muß refor-miert, eventuell gar ganz aufgegeben werden. Abernoch besteht in Politik und Gesellschaft kein Konsensdarüber, wie denn die soziale und gesellschaftlicheZukunft Japans aussehen solle. In Ermangelung vonKonsens und Visionen klammern sich die betroffenenGruppen an ihre althergebrachten Besitzstände. DieÜberwindung dieser Widerstände ist mühselig. Oft hatman den Eindruck, das Land werde von einem Auto-piloten gesteuert, der sich nicht umprogrammierenläßt. Einig ist man sich wohl nur in der allgemeinen,wohl zutreffenden Einschätzung, daß sich das Land ineinem tiefgreifenden gesellschaftlichen und ökonomi-schen Umbruch befinde, der nur mit zwei anderenEreignissen der japanischen Geschichte vergleichbarsei, nämlich der gewaltsamen Öffnung Japans durchdie schwarzen Schiffe des amerikanischen AdmiralsPerry im Jahre 1853, die die Meiji-Restauration zurFolge hatte, und der militärischen Niederlage imZweiten Weltkrieg, die grundlegende Reformen vonPolitik, Gesellschaft und Wirtschaft unter amerikani-scher Oberaufsicht nach sich zog.

Bis in das aktuelle Jahr 2002 bleiben die Struktur-probleme in Japans Wirtschaft, Politik und Gesell-schaft ungelöst. Auch die Baisse der japanischenAktien- und Immobilienmärkte ist in ihrem lang-fristigen Trend ungebrochen. Konjunkturell gelangzwar 1994, 1999 und im Sommer 2002 jeweils einetemporäre Überwindung der zyklischen Rezession,nicht aber die angestrebte nachhaltige, sich selbsttragende Erholung. Es ist deshalb auch nicht zuerwarten, daß der aktuelle � vor allem exportgeleitete� Aufschwung die japanische Wirtschaft dauerhaft ausder Krise herausführen könnte. Länge und Persistenzder wirtschaftlichen Stagnation lassen hingegenvermuten, daß das Zerplatzen der Bubble Economynur ein Auslöser der Stagnationskrise gewesen seinkonnte. Die tieferen Ursachen liegen in der Schwächeder gesamtwirtschaftlichen Nachfrage Japans, in derstrukturell bedingten Wachstumsschwäche seinerWirtschaft und im offensichtlichen Versagen seinerPolitik.

Ungeachtet der hier vertretenen Skepsis, was diemittelfristigen ökonomischen Perspektiven Japansund die Fähigkeit der Wirtschaftspolitik angeht,Lösungen zu finden, sollen einige grundsätzlicheAnmerkungen vorangestellt werden, um für dieEinordnung der japanischen Wirtschaftskrise eineangemessene Perspektive vorzugeben. Trotz der lang-anhaltenden Stagnation der Wirtschaft und der

unsicheren Zukunftsaussichten des Landes bleibtJapan nach wie vor ein reiches Industrieland. Japan istmit einem Bruttoinlandsprodukt von 4141 Mrd. US-Dollar (2001) die wirtschaftlich zweitgrößte Nationder Erde. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 26 100Dollar (2001) nimmt es weltweit einen Spitzenplatzein: Lediglich die USA, Kanada und einige kleine euro-päische Länder sowie Singapur erzielten 2001 imOECD-Vergleich höhere Pro-Kopf-Einkommen. Sicher-lich hat die Arbeitslosigkeit in Japan in den letztenJahren deutlich zugenommen und die sozialen Siche-rungssysteme sind insgesamt weniger gut ausgebautals in Europa, dennoch sind Japans Haushalte weiter-hin wohlhabend, Einkommen und Vermögen personellnach wie vor weitgehend gleich verteilt.2 Berücksich-tigt man ferner, daß über die 90er Jahre die Arbeits-zeiten gesunken, die urbanen Freizeitmöglichkeitengewachsen und infolge von Deregulierung und Libera-lisierung (und Deflation) viele Preise gefallen sind, istdie »verlorene Dekade« der 90er für den japanischenKonsumenten so schlecht nicht gewesen.

Auch hat trotz des stagnierenden Inlandsmarktesdie japanische Industrie ihre führenden Positionenauf dem Weltmarkt weitgehend halten können, ineinzelnen Segmenten (Telekommunikation, Compu-terspiele, Medien, Musik) hat sie an Wettbewerbs-fähigkeit sogar deutlich gewonnen. Aufgrund dieserExportstärken, aber auch bedingt durch die nachfrage-bedingte Importschwäche, belaufen sich JapansHandels- und Leistungsbilanzüberschüsse jährlich aufeinen Wert von 70 bis 110 Mrd. Dollar. Japan verfügtaber nicht nur über eine herausragende Stellung iminternationalen Handel, sondern auch im internatio-nalen Finanz- und Kapitalverkehr, nicht zuletzt kraftdes hohen einheimischen Sparvermögens und derFinanzkraft und technologischen Potenz vieler Groß-unternehmen.

Es ist offensichtlich, daß die systembedingte Wirt-schaftskrise Japans nicht mit den Finanz- und Schul-denkrisen von Schwellenländern zu vergleichen ist. Esist die Krise eines saturierten Industrielandes, dasinfolge von gravierenden makroökomomischen Pro-blemen, Defiziten in der gesamtwirtschaftlichen Pro-

2 So weisen in einem OECD-Vergleich lediglich die LänderSkandinaviens und die Niederlande niedrige Werte in ihrenaktuellen Gini-Koeffizienten auf. Allerdings zeigt die Entwick-lung der 90er Jahre eine zunehmende Ungleichheit in derEinkommens- und Vermögensverteilung Japans an; siehe M.Förster, Trends and Driving Factors in Income Distributionand Poverty in the OECD Area, Paris: OECD, 2000 (LabourMarket and Social Policy Occasional Paper No. 42).

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Einleitung: Der Zusammenbruch der »Bubble Economy« und seine Folgen

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duktivitätsentwicklung und innenpolitischenBlockaden im globalen ökonomischen und technolo-gischen Wettbewerb zurückfällt und an Reputationeinbüßt. Japan befindet sich in einer Agonie, derenEnde noch nicht abzusehen ist. Noch immer wird diegegenwärtige Situation von der Mehrheit der japani-schen Bevölkerung nicht als eine allgemeine Krisewahrgenommen, die schmerzhafte Reformen in derWirtschafts- und Sozialstruktur und im politischenSystem erforderlich machen würde. Dies mag die nachwie vor erstaunliche Gelassenheit zahlreicher Akteureaus Politik und Wirtschaft erklären.

Der weitere Aufbau der Studie ist wie folgt: Derzweite Teil beschreibt und analysiert die verschiede-nen Aspekte der Stagnations- und Transformations-krise Japans. Der dritte Teil behandelt die Optionender japanischen Wirtschaftspolitik. Der vierte Teilwagt den Blick in die Zukunft und zeigt erstens mög-liche Krisenszenarien auf für den nicht auszuschlie-ßenden Fall, daß die Probleme der Banken oder derStaatsverschuldung außer Kontrolle geraten, undzweitens die langfristigen WachstumsperspektivenJapans.

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Die Konjunktur fest im Griff der Deflation

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Japans ökonomische Malaise:Stagnation und Transformation im Dauerzustand

Die Konjunktur fest im Griff der Deflation

Für das wirtschaftliche Wachstum waren die 90erJahre ein verlorenes Jahrzehnt

Unter Wachstumsaspekten waren die 90er Jahre fürJapan ein verlorenes Jahrzehnt: Im Zeitraum 1992�2002 belief sich das wirtschaftliche Wachstum ledig-lich auf 1,1% im Jahresdurchschnitt. Es lag damitdeutlich unter dem OECD-Durchschnitt, während inden (drei) vorherigen Dekaden die Wachstumsratennoch deutlich höher waren als in den anderenIndustrieländern (siehe Abbildungen 1 und 2, S. 12und S. 14). Der Zusammenbruch der Bubble Economymarkierte somit einen tiefen Einschnitt in der Nach-kriegswirtschaftsgeschichte Japans, dem im histo-rischen Vergleich allenfalls der Einbruch in denJahren 1973/74 vergleichbar gewesen sein dürfte.3

Während Japan mit Wachstumsraten von 3,8% imZeitraum 1974�1985, und von 4,8% in der Periode derBubble Economy (1987�1991) deutlich erfolgreicherwar als die Industrieländer Nordamerikas und West-europas, verringerten sich in den 90er Jahren seinegesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten um fast vierProzentpunkte und waren damit � wie bereitserwähnt � deutlich niedriger als in vergleichbarenIndustrieländern.

Konjunkturelle und strukturelle Erklärungen

Bei der Suche nach den Ursachen der japanischenWirtschaftskrise stehen sich grob unterteilt zweikonträre Schulen gegenüber. Position 1 führt dielanganhaltende ökonomische Stagnation auf die

3 Damals hatte nämlich mit der Ölkrise und einer tiefenAnpassungsrezession die fast 20 Jahre anhaltende Phase desbis dato beispiellosen aufholenden WirtschaftswachstumsJapans mit Raten von nahezu 10% im Jahresdurchschnitt einEnde gefunden. In den Folgejahren war dann das japanischeWachstum deutlich niedriger. Siehe Edward Lincoln, JapanFacing Economic Maturity, Washington: The Brookings Insti-tution, 1988, S. 14�68.

Schwäche der gesamtwirtschaftlichen Nachfragezurück. Position 2 betont die Rolle von strukturellenWachstumsdefiziten. Der Streit geht im Kern um dieFrage, ob die Krise makroökonomischer oder struktu-reller Natur ist, also ob die gesamtwirtschaftlicheNachfrageschwäche oder ob die Defizite auf derAngebotsseite der Wirtschaft für die gegenwärtigeKrise verantwortlich sind. In diesem Streit handelt essich keineswegs um eine rein akademische Debatte,denn die Ursachenanalyse befindet auch über diegrundsätzliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Sovertreten die Anhänger der Position 1 eine Politik derNachfragestimulierung und messen den struktur-bedingten Problemen in Japans Wirtschaft nur einenachrangige Bedeutung bei. Nicht überraschenddürfte sein, daß Position 1 über die gesamten 90erJahre die unausgesprochene Regierungspolitik warund heute noch über eine breite Anhängerschaft inPolitik und Ministerien verfügt. Für diesen Kreis ist eszweifellos opportun, die Existenz grundsätzlicherProbleme in Japans ökonomischen Modell zubestreiten, und eine Lösung der Krise in expansiverfiskalischer oder monetärer Stimulierung zu suchen.In dazu konträrer Auffassung legt Position 2 die Priori-tät auf die Angebots- und Strukturpolitik. Mit demderzeitigen japanischen Ministerpräsidenten Koizumifolgt erstmals ein prominenter Politiker � zumindestin seinen offiziellen Verlautbarungen � der Ursachen-analyse von Position 2.

In dem wirtschaftswissenschaftlichen Streit um dieUrsachen der japanischen Wirtschaftskrise geht esalso letztlich um die Entscheidung in der grundsätz-lichen Ausrichtung der japanischen Wirtschaftspoli-tik. Dabei schließen sich die Ursachenerklärungen derNachfragetheoretiker und der Angebotstheoretikerkeineswegs aus, denn die japanische Stagnations- undTransformationskrise ist sowohl ein Nachfragepro-blem als auch ein Angebotsproblem. So war und istdie gesamtwirtschaftliche Nachfrage dafür verant-wortlich, daß die Produktionskapazitäten fast die

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Japans ökonomische Malaise: Stagnation und Transformation im Dauerzustand

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Die Konjunktur fest im Griff der Deflation

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gesamte Dekade über unterausgelastet blieben.4 LautSchätzungen dürfte die Nachfragelücke im Jahre 1998zwischen 2,5 und 4,5% des japanischen BIP ausge-macht haben5 und aktuell auf etwa 6% angestiegensein.6 Andererseits weisen die mehrfachen vergeb-lichen Versuche der Wirtschaftspolitik, mit konjunk-turellen Ausgabenprogrammen die gesamtwirtschaft-liche Entwicklung nachhaltig zu stimulieren, daraufhin, daß auch strukturelle Defizite auf der Angebots-seite der japanischen Volkswirtschaft existieren. Zudenken ist insbesondere an die Produktivitätsschwä-chen und Ineffizienzen im privaten Sektor Japans7

oder an den hohen Grad der staatlichen Einflußnahmeauf die Privatwirtschaft. Diese angebotsseitigenFaktoren dürften dafür verantwortlich sein, daß inden 90er Jahren das gesamtwirtschaftliche Potential-wachstum Japans erheblich niedriger ausfiel als inden Dekaden davor.

Japan in der Deflationslücke

Warum wurde das ohnehin nur geringfügig wachsen-de Produktionspotential Japans in den 90er Jahrenvon den Verbrauchern und Unternehmen so wenignachgefragt? Warum gelang nach dem konjunkturel-len Einbruch im Jahre 1992 niemals, die angestrebtenachhaltige Erholung? Welche Komponenten warenund sind für die dauerhafte und in der Tendenz wach-sende Nachfragelücke verantwortlich?

Ökonometrische Analysen geben eine klare Antwortauf diese Fragen. Verantwortlich für den Rückgang desWachstums war vor allem der tiefe Einbruch derBruttoanlageinvestitionen. Demgegenüber leisteten

4 Lediglich im 1. Quartal 1997, als Japans Konsumentenwegen der für den 1.4.1997 angesetzten Erhöhung der Kon-sumsteuer und dem Auslaufen einer temporären Einkom-menssteuersenkung ihre Käufe vorzogen, überstieg diegesamtwirtschaftliche Nachfrage das gesamtwirtschaftlicheAngebot Japans.5 Zum Konzept der Potentialschätzung und für verschiedeneSchätzungen siehe Tamin Bayoumi, Where Are We Going? TheOutput Gap and Potential Growth, in: Tamin Bayoumi/CharlesCollyns (Hg.), Post-Bubble Blues: How Japan Responded to AssetPrice Collapse, Washington: IMF, 2000, S. 89�106.6 Siehe Richard Katz, The Oriental Economist Report, NewYork, März 2002.7 Dazu zählen Landwirtschaft, Bauwesen, Energiewirtschaft,der Großteil des Dienstleistungssektors sowie zahlreichekleine und mittlere Betriebe im verarbeitenden Gewerbe.Zur dualen Struktur der japanischen Wirtschaft siehe denAbschnitt Japans Unternehmensmodell im Wandel.

der private Konsum und die Auslandsnachfrage überdie 90er Jahre hinweg einen positiven, wenn auch nurgeringfügig positiven Beitrag zum wirtschaftlichenWachstum.8 Noch in den Jahren 1990 und 1991 beliefsich die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote9

Japans auf annähernd 20%. Ende der 90er Jahre warsie auf etwa 15% gesunken. Damit ist die Investitions-quote Japans aber immer noch höher als in denmeisten anderen vergleichbaren Industrieländern. Einderartiger Strukturvergleich läßt vermuten, daß derFall der Investitionsquote Japans noch nicht zu Endeist. Erklärungen für die ausgeprägte und dauerhaftegesamtwirtschaftliche Investitionsschwäche Japansfinden sich sowohl bei der weiterhin unbewältigtenHinterlassenschaft der Bubble Economy als auch beiden ungünstigen investiven Rahmenbedingungen,dem Mangel an rentablen Investitionschancen inJapan selbst. Zentral sind die folgenden Faktoren:! Der Zusammenbruch der Bubble Economy zu

Beginn der 90er Jahre erzwang den Abbau vonÜberkapazitäten in der gewerblichen Wirtschaft.Ein übermäßig aufgeblähter Kapitalstock mußteeiner Inlandsnachfrage angepaßt werden, diedeutlich weniger zunahm, als die Unternehmenursprünglich erwartet hatten. Eine Kompensationüber vermehrte Exporte war indes nicht möglich.Zum einen ist Japans Wirtschaft noch binnenorien-tierter als selbst die amerikanische Volkswirtschaft.Auf Exporte entfallen gerade einmal 10% des BIP.Zum anderen stand der Yen bis Mitte der 90er Jahreunter erheblichem Aufwertungsdruck. Eine japani-sche Exportoffensive wäre zudem auf beträchtlicheprotektionistische Gegenwehr gestoßen. Aufgrundder nur schwach zunehmenden Inlandsnachfrage,den nunmehr niedrigen Investitionsrenditen, undden durch Verluste auf Japans Aktienmärkten ver-

8 Zur zentralen Rolle der Bruttoanlageinvestitionen imkonjunkturellen Abschwung zu Anfang der 90er Jahre undals Erklärungsfaktor für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage-lücke siehe übereinstimmend: Taizo Motonishi/HiroshiYoshikawa, Causes of the Long Stagnation of Japan duringthe 1990s: Financial or Real?, in: Journal of the Japanese andInternational Economies, 13 (1999), S. 181�200; RamanaRamaswamy/Christel Rendu, Identifying the Shocks: Japan�sEconomic Performance in the 1990�s, in: Bayoumi/Collyns, Post-Bubble Blues [Fn. 5], S. 45�88; Günter Weinert, What WentWrong in Japan. A Decade-Long Slump, in: Vierteljahresheftezur Wirtschaftsforschung, 70 (2001) 4, S. 463�466.9 Die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote ist definiertals Anteil der Bruttoanlageinvestitionen am BIP.

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Japans ökonomische Malaise: Stagnation und Transformation im Dauerzustand

SJD

1

WP-Berlinapans endlose Wirtschaftskriseezember 2002

4

Aktienkurse

9000

19000

29000

39000 203372.2000

3891612.1989

97752.2002

85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02

Geschäftsklima

-60

-40

-20

0

20

40

60

85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02

Wechselkurse Yen/US-Dollar

80100120140160180200220240260

87 92 97 02

2389.1985

109,431.1999146,55

6.1998

133,642.2002169,35

199079,751995

85 86 87 88 89 90 9 1 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02

Abbildung 2: Konjunkturverlauf in Japan 1985 bis 2002

BIP Wachstum

4,4

3

4,5

6,55,3 5,3

3,1

0,9 0,41

1,6

3,5

1,80,7

2,4

-0,4 -0,5

1

-1,1-2-1012345678

85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02

Quellen: OECD; Bank of Japan, Tokyo Stock Exchange, eigene BIP-Schätzung für 2002 und 2003.

143098.1992

03

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Die Konjunktur fest im Griff der Deflation

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ursachten negativen Vermögenseffekten erhielt derKapazitätsanpassungsprozeß eine besondere Eigen-dynamik und konnte nicht im folgenden Konjunk-turzyklus gebrochen werden.10

! Die Investitionsschwäche wurde noch dadurch ver-stärkt, daß zahlreiche Unternehmen aufgrundeigener Vermögenswertverluste überschuldetwaren, und ihre geringen Gewinne zunächst zurKonsolidierung der eigenen Bilanzen verwendenmußten. Da Japans Banken noch stärker als dieUnternehmen unter Konsolidierungsdruck stehen,wurde die Kreditfinanzierung zuweilen zum Investi-tionsengpaß. Viele Banken schränkten ihre Kredit-vergabe ein, wovon insbesondere die kleinen undmittleren Unternehmen Japans betroffen waren.Prekär war die Finanzierungssituation insbesonde-re im Zeitraum 1997/98 im Zuge der nationalenBanken- und Finanzkrise.11

! Der Kapazitätsabbau im Laufe der 90er Jahre wurdenoch durch weitere einschneidende kurzfristigeNachfrageschocks verschärft.12 Dem aus dem Zusam-menbruch der Bubble Economy resultierenden(Bubble-)Schock folgte ein Währungsschock, als derjapanische Yen von 1992 bis 1995 um fast 50%gegenüber dem US-Dollar aufwertete, teilweisebedingt durch die zu restriktive japanische Geld-politik, und möglicherweise angeheizt durchjapanisch-amerikanische Handelskonflikte. Als sichdann 1996 die Konjunktur endlich zu erholenschien, setzte zum 1. April 1997 ein Fiskalschockdem kurzen Aufschwung ein abruptes Ende: DieKonsumsteuer wurde um zwei Prozentpunkteerhöht und die temporäre Senkung der Einkom-menssteuer lief aus. Der Einbruch der Exportnach-frage aus Asien im Zeitraum 1997 bis 1999 und diedazu parallele Aufwertung des Yen gegenüber den

10 Siehe Albert Ando, Demographic Dynamics and the Causesof the Japanese Recession, Philadelpia: University of Penn-sylvania, 1998; Ramana Ramaswamy, Explaing the Slump inJapanese Business Investment, in: Bayoumi/Collyns, Post-BubbleBlues [Fn. 5], S. 73�76.11 Siehe Ramaswamy, Explaing the Slump in Japanese Busi-ness Investment [Fn. 10], S. 76�81; Motonishi/Yoshikawa, Causesof the Long Stagnation of Japan during the 1990s [Fn. 8],S. 195�199; James Morsink/Tamin Bayoumi, A Peek Inside theBlack Box: The Monetary Transmission Mechanism in Japan,in: Bayoumi/Collyns, Post-Bubble Blues [Fn. 5], S. 143�163.12 Siehe Andrea Boltho/Jenny Corbett, The Assessment: Japan�sStagnation � Can Policy Revive the Economy?, in: OxfordReview of Economic Policy, 16 (2001) 2, S. 3f; Ramaswamy/Rendu, Identifying the Shocks: Japan�s Economic Performancein the 1990�s [Fn. 8], S. 45�88.

asiatischen Währungen stellte einen weiterenAußenschock dar.

! Außerdem hatte sich in den 90er Jahren das Investi-tionsklima am Standort Japan verschlechtert.Günstiger als im Hochlohnland Japan war es nun,im benachbarten Asien, insbesondere in China,industrielle Fertigungsstätten zu erstellen und zubetreiben. Folglich fanden und finden Neuinvesti-tionen vor allem im Ausland statt und industrielleProduktion wird massiv von Japan nach Chinaverlagert. Die quantitative Dimension dieses Verla-gerungsprozesses und der sichtbare Verlust an pro-duktionstechnischen Grundlagen waren und sindAnlaß für die in Japan geführte Debatte um dieGefahr einer industriellen Aushöhlung (Hollowing-Out).13 Das entscheidende Problem im Investitions-kontext liegt darin, daß es Japan an Flexibilität undVitalität mangelt, um die laufenden Kapazitäts-verluste durch Neuinvestitionen im Hochtechno-logie- und Dienstleistungsbereich auszugleichen.Mit anderen Worten. Der Strukturwandel stockt.14

! Last but not least ist das Problem der gesamtwirt-schaftlichen Nachfrageschwäche auch eine zentraleUrsache der daraus ableitbaren (schwachen) Investi-tionsnachfrage. So war der Beitrag des privatenKonsums zum wirtschaftlichen Wachstum Japansin den vergangenen 12 Jahren zwar stets leichtpositiv, doch konnten von dieser insgesamt sehrschwachen Entwicklung nicht die erforderlichenImpulse auf die Investitionen ausgehen. Auch dieanderen Nachfragekomponenten, die Exportnach-frage und der Staatsverbrauch, vermittelten imLaufe der 90er Jahre bestenfalls temporär Investi-tionsanreize. Auffällig sind aber insbesondere diepermanent schlechte Stimmung und der Pessimis-mus in Japans Gesellschaft. Symptomatisch hierfürist das seit 1992 geringe Konsumentenvertrauen.15

Verantwortlich hierfür sind nicht allein die aktuel-len wirtschaftlichen Probleme Japans, sondernmehr noch die Angst vor einer weiteren Verschlech-terung der eigenen persönlichen Situation in derZukunft (Arbeitslosigkeit, Verarmung im Alter).Derlei Befürchtungen sind vor dem Hintergrundder wirtschaftlichen Probleme des Landes, der

13 Siehe Ramaswamy, Explaining the Slump in JapaneseBusiness Investment [Fn. 10], S. 81�83.14 Zu den Strukturproblemen Japans siehe ausführlichunten, S. 29�34.15 Sieht man einmal von den kurzen konsumptiven Boom-phasen ab (3/94�1/95, 4/95�2/96, 3/00�4/00), siehe http://www.esri.cao.go.jp/en/stat/shouhi/0206shouhi-e.xls.

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Japans ökonomische Malaise: Stagnation und Transformation im Dauerzustand

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maroden Staatsfinanzen und des demographischenWandels nicht ganz grundlos.16 Aus individuellerSicht ist es deshalb nicht falsch, vermehrt zu spa-ren, um Vorsorge gegen kommende Lebensrisikenzu treffen. Für die makroökonomische SituationJapans ist dieses Verhalten gleichwohl fatal.Politik und Administration Japans waren bislang

nicht in der Lage, den Ängsten der japanischen Ver-braucher entgegenzuwirken. Im Gegenteil: Angesichtsdes sichtlichen Scheiterns von Regierung und Admini-stration bei der Bewältigung der gegenwärtigen Wirt-schaftskrise wie vorher schon bei unerwarteten Kata-strophen (Erdbeben, terroristischen Anschlägen)bestehen erhebliche Zweifel an ihrer Kompetenz. InAnbetracht der immer zahlreicher zutagetretendenKorruptionsskandale der 90er Jahre kommen grund-sätzliche Zweifel an ihrer moralischen Integrität hin-zu. Wirtschaftspolitisches Handeln hat die ökono-mischen Probleme Japans bislang eher verschärft alsgemindert. Sowohl die spekulativen Übertreibungenin der Bubble Economy der 80er Jahre als auch ihreabrupte Beendigung zu Beginn der 90er Jahre warenmitbedingt durch das Fehlverhalten der Wirtschafts-politik, insbesondere der Geldpolitik. Die staatlicheKonjunkturpolitik ist belastet durch gravierende Fehl-einschätzungen der ökonomischen Lage durch unge-schicktes Timing oder mangelhafte Öffentlichkeits-arbeit. Der japanischen Wirtschaftspolitik wird aus-drücklich ein Versagen in der Bankenkrise, in derFiskalpolitik und in der Geldpolitik vorgeworfen.! Zu lange wurden die Probleme der notleidenden

Kredite im Finanzsektor verschleiert und ver-schleppt. Effektive Sanierungsmaßnahmen wurdenerst sehr spät getroffen. Vor drastischen, abermarktkonformen Maßnahmen scheut man bisheute zurück.17

! Trotz der vorgeblich expansiven Konjunkturstimu-lierung ist die Fiskalpolitik in den 90er Jahren zuwenig expansiv und nicht effektiv genug gewesen.Entgegen den offiziellen Verlautbarungen fiel inden zahlreichen Konjunkturpaketen das tatsäch-liche Stimulans wirtschaftlicher Aktivität nur geringaus. Begünstigt wurden zudem einseitig die derPolitik zugewandten Interessengruppen (Bauwirt-schaft). Allein die fiskalische Expansion im Jahre1995 war ausreichend und setzte tatsächlich einenkonjunkturellen Aufschwung in Gang. Dieser wurde

16 Siehe hierzu S. 17�19.17 Siehe unten, S. 19�24.

aber durch das zu frühe Umschalten auf das Zielder Etatkonsolidierung 1997 abrupt beendet.18

! Auch die Geldpolitik ist zu restriktiv gewesen undhat die deflationären Tendenzen mit verursachtund die japanische Wirtschaft in eine Liquiditäts-falle geführt. Durch ihre Weigerung, Inflationszielezu setzen, und über eine expansive Offenmarkt-politik die monetären Voraussetzungen für einenkonjunkturellen Aufschwung zu schaffen, trägt dieBank von Japan die Mitverantwortung für das An-halten der Stagnation.19

Die gegenwärtige Wirtschaftskrise zeitigt abernicht nur Mengenwirkungen, sondern auch deflatio-näre Preiseffekte. Bereits seit 1991 sinken die Groß-handelspreise um nahezu 1%, die Grundstückspreiseum 5% im Jahresdurchschnitt. Am stärksten ist derPreisverfall für Grundstücke und Immobilien in denurbanen Zentren Japans. Hier sind die Marktwerteinzwischen auf ein Zehntel der einstigen Höchststän-de gesunken. Mitte der 90er Jahre begannen auch dieGüter- und Faktorpreise allgemein zu fallen, erkenn-bar an den fortan negativen Werten des jährlichenBIP-Deflators. Selbst der Konsumentenpreisindex fürganz Japan fiel in den Jahren 1999 und 2000 umjeweils knapp 1%, im Jahr 2001 um genau 1%.20 Erst-mals seit den 30er Jahren befindet sich mit Japanwieder ein Industrieland in einer Deflation, wennes sich auch bislang um eine eher milde Deflationhandelt.

Die geringen Raten des Preisrückgangs verstelltender Geldpolitik viel zu lange den Blick auf die ent-scheidende Ursache der Deflation, nämlich diegesamtwirtschaftliche Nachfragelücke, die damit aucheine deflatorische Lücke ist. Die Bank von Japan nahm(fälschlicherweise) zunächst an, daß angebotsseitigeFaktoren, beispielsweise Importliberalisierung, Dere-gulierungs- und Rationalisierungsprozesse im Binnen-handel und Produktivitätsfortschritte in der Produk-tion für den Preisverfall verantwortlich seien (soge-nannte »gute Deflation«). Derartige Faktoren können

18 Siehe Adam S. Posen, Restoring Japan�s Economic Growth,Washington D.C.: Institute for International Economics, 1998.19 Siehe Paul Krugman, Is�s Baaack: Japan�s Slump and theReturn of the Liquidity Trap, in: Brookings Papers on Eco-nomic Activity, 2 (1998), Washington: Brookings Institution,S. 37�205; ders., Thinking about the Liquidity Trap, in: Journalof the Japanese and the International Economies, 14 (2000),S. 221�237.20 Möglicherweise sind die Deflationsraten aber höher, dadie verwendeten Warenkörbe, anhand der die Preisbewegun-gen gemessen werden, nicht exakt das durchschnittliche Kon-sumentenverhalten in Japan abbilden.

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Zurückfallen im Produktivitätswachstum

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indes nur der Grund für Preissenkungen einzelnerGüter oder Warengruppen sein, aber nicht den gene-rellen Fall des Preisniveaus verursachen. Erst im März2001 setzte die Bank von Japan im Rahmen eines Poli-tikwechsels die Prioritäten auf Bekämpfung der Defla-tion.

Von der laufenden Deflation profitieren zweifellosdie Konsumenten Japans, insbesondere die Käufer vonLebensmitteln und Bekleidung. Negativ betroffen sinddagegen die Unternehmen. Denn bei einer allgemei-nen Deflation fallen Einnahmen und Ausgaben nichtsymmetrisch. Während die Umsatzerlöse und die Ein-nahmen zurückgehen, sind die Lohnkosten nachunten starr, die Nennwerte der Kredite nominal fixiertund die Zinssätze in aller Regel langfristig festgelegt.Zudem fallen in vielen Fällen hohe Abschreibungenfür die erlittenen Vermögensverluste am Aktien- undGrundstücksmarkt an. Unter diesen Umständen ver-schlechtert sich zwangsläufig die Gewinnsituationzahlreicher Unternehmen und die Verschuldungs-quoten steigen. Da immer mehr Unternehmen indiese Zwangslage geraten, teilweise ihren Verpflich-tungen nicht mehr nachkommen können undinsolvent werden, wird inzwischen von Schulden-deflation gesprochen. Auf jeden Fall ist mit denaktuellen deflationären Tendenzen die Bewältigungder Schulden- und Bankenkrise für Japan noch schwie-riger geworden.

Zurückfallen im Produktivitätswachstum

Eine deflationäre Nachfragelücke ist dafür verantwort-lich, daß das japanische Wirtschaftswachstum in den90er Jahren unterhalb der durch das vorhandeneProduktionspotential gesetzten Expansionsmöglich-keiten geblieben ist. Aber auch das Wachstum desProduktionspotentials selbst fiel in den 90er Jahrenmit Raten zwischen 1 und 2,5% enttäuschend niedrigaus. Die Ursache hierfür könnte ebenfalls in dermangelnden gesamtwirtschaftlichen Nachfrageliegen.21 Wahrscheinlicher sind indessen strukturelleUrsachen für den Einbruch im Wachstum des Produk-tionspotentials. In diesem Fall stellt sich allerdings dieFrage, welche »Strukturprobleme« das geringe Wachs-tum des japanischen Produktionspotentials in den

21 Dieser Ansicht ist insbesondere: Hiroshi Yoshikawa,Technical Progress and the Growth of the Japanese Econ-omy � Past and Future, in: Oxford Review of EconomicPolicy, 16 (2000) 2, S. 34�45.

90er Jahren verursacht haben könnten, obgleich beiExistenz analoger Strukturen das Wachstum in den80er Jahren so viel höher ausgefallen war? Die fürJapan gemeinhin aufgeführten Strukturproblemekönnen es bestenfalls teilweise gewesen sein.22 Daherempfiehlt sich zunächst eine langfristige Perspektiveund ein Blick auf Theorie und Empirie der Wachs-tumsökonomie. Zu fragen ist: Existieren wachstums-theoretische Ursachen für den Einbruch des wirt-schaftlichen Wachstums Japans in den 90er Jahren?

Generell unterscheidet die Wachstumstheorietautologisch zwischen zwei Wachstumsbeiträgen:Erstens erhöht sich die wirtschaftliche Leistung einesLandes durch die Zunahme des Faktorinputs, alsomittels Investitionen in den Kapitalstock und dasHumankapital, durch Bevölkerungszunahme,steigende Partizipationsraten etc. Zweitens erfolgteine Leistungssteigerung durch Verbesserung derökonomischen Effizienz aufgrund von Produktivitäts-steigerungen, die auf technischem und organisatori-schem Fortschritt beruhen. Die ökonomische Wachs-tumstheorie zeigt, daß allein der zweite Faktor derlangfristig entscheidende Antrieb für wirtschaftlichesWachstum ist. Ein kumulatives Wachstum der Produk-tionsfaktoren Kapital und Arbeit, das nicht von einerparallelen Zunahme ökonomischer Effizienz begleitetwäre, würde nämlich langfristig gegen Null tendieren,da die Grenzerträge der Investitionen kontinuierlichabfallen. Kontinuierliches wirtschaftliches Wachstumerfordert damit laufend diskrete Anstöße durch tech-nischen und organisatorischen Fortschritt.

Empirische Wachstumsanalysen für Japan zeigennun, daß das Wirtschaftswachstum in den 90er Jahrenvor allem auf Kapitalakkumulation, also auf Investi-tionen in den physischen Kapitalstock, zurückzu-führen war.23 Der Beitrag des Produktionsfaktors

22 Konkret genannt werden: Die Schulden- und Bankenkrise� und damit im Zusammenhang stehend das Kreditgebarender Banken und die niedrige Rentabilität von Investitionen inder gewerblichen Wirtschaft, die duale Struktur der Wirt-schaft, das generell hohe Regulierungsniveau, die Macht vonInteressengruppen und Administration, die hohen Produk-tionskosten und die Probleme des japanischen Unterneh-mensmodells unter der Herausforderung der Globalisierung,die Reformblockaden in Politik und Ministerialbürokratie,die demographische Struktur der japanischen Bevölkerung,die Lücken im sozialen Sicherungssystem, das Bildungs-system. Die Liste ließe sich fortsetzen, ohne daß aber die ent-scheidenden Kausalfaktoren gefunden werden.23 Siehe Fumio Hayashi/Edward C. Prescott, The 1990s inJapan: A Lost Decade, in: Review of Economic Dynamics,5 (2002) 1, S. 206�235; Yujiro Hayami/Junichi Ogasawara,

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Japans ökonomische Malaise: Stagnation und Transformation im Dauerzustand

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Arbeit war sogar negativ, da zu Beginn der 90er Jahredie Wochenarbeitszeit reduziert wurde (Abschaffungder Samstagsarbeit), ohne daß es aber deswegen zueiner höheren Beschäftigung gekommen wäre. Auchnahm das Arbeitskräftevolumen aufgrund deslaufenden demographischen Übergangs in den 90erJahren kaum noch zu. Verbesserungen der gesamt-wirtschaftlichen Produktivität haben nur in ganzgeringem Umfange zum wirtschaftlichen Wachstumin der Dekade beigetragen � ganz im Gegensatz zu den60er, 70er und 80er Jahren. Der Vergleich mit den Vor-jahren zeigt somit, daß der starke Rückgang deswirtschaftlichen Wachstums Japans in den 90erJahren auf einem Rückgang des gesamtwirtschaft-lichen Arbeitsvolumens, vor allem aber auf einemerheblichen Zurückfallen im Produktivitätswachstumberuht � soweit das übereinstimmende Ergebnis derempirischen Wachstumsanalysen.

Theoretisch könnte die geringe gesamtwirtschaft-liche Nachfrage die Ursache für das Abfallen desgesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstumsgewesen sein. In diesem Falle wären bei effektiverUnterauslastung des Produktionspotentials diebei Normalauslastung anfallenden produktivitäts-steigernden Investitionen einfach weggefallen.Plausibler erscheint aber die für geringes Produktivi-tätswachstum übliche Erklärung, daß nämlich struk-turelle Wachstumsdefizite, also angebotsseitigeUrsachen für die Stagnation des wirtschaftlichenWachstums in den 90er Jahren verantwortlich waren.Zwei komplementäre Erklärungslinien erläutern,warum das so gewesen sein könnte.

Erstens war für Japan »nachholendes Wachstum«Anfang der 90er Jahre praktisch nicht mehr möglich.Die Wachstumsökonomie beschreibt das Muster wirt-schaftlichen Wachstums Japans - ähnlich dem derneuen Industrieländer Ostasiens � üblicherweise alsnachholend, das heißt wirtschaftliches Wachstumwird vornehmlich verursacht durch Investitionen indas Sach- und das Humankapital, durch Bevölkerungs-zunahme und durch Migration in die urbanenZentren. Das parallele, durchaus nicht geringe gesamt-wirtschaftliche Produktivitätswachstum war weniger

Changes in the Sources of Modern Economic Growth: JapanCompared with the United States, in: Journal of the Japaneseand International Economies, 13 (1999), S. 12�16; StefanoScarpetta/Andrea Bassanini/Dirk Pilat/Paul Schreyer, EconomicGrowth in the OECD Area: Recent Trends at the Aggregateand Sectoral Level, Paris: OECD, 2000 (OECD Working PaperNo. 248); Yoshikawa, Technical Progress and the Growth of theJapanese Economy [Fn. 21].

auf die eigenen Innovationspotentiale zurückzufüh-ren als vielmehr auf die Fähigkeit zur Assimilationvon im Ausland generierten Technologien (technicalborrowing).24 Japans Wirtschaftswachstum basiertedamit vor allem auf inkrementalen Verbesserungenim Produktionsprozeß und in der Produktqualität,während Grundlagentechnologien vorwiegend ausdem Ausland importiert wurden. Bereits in den 70erund 80er Jahren hatte sich das Wachstumspotentialverringert, weil die Möglichkeiten für ein derartigesfaktorgetriebenes Wachstum nur noch begrenztverfügbar waren. Nur die günstigen Finanzierungs-bedingungen während der Phase der Bubble Economyermöglichten noch einmal einen kräftigen Wachs-tumsschub, Zu Beginn der 90er Jahre war aber derSpielraum für nachholendes Wachstum endgültigausgereizt. Japan war den traditionellen Industrie-ländern des Westens technologisch ebenbürtiggeworden und hatte sie in der Einkommens-entwicklung sogar überholt. Um die hohen Wachs-tumsraten der 70er und 80er Jahre fortzusetzen, hätteJapan in den 90er Jahren � ähnlich den USA � auf derBasis grundlegender Fortschritte in der Informations-und Kommunikationstechnologie die gesamtwirt-schaftliche Produktivität steigern müssen. Da das abernicht geschah, der Übergang zu einem primär produk-tivitätsgetriebenen Wirtschaftswachstum Japan alsonicht gelang, gingen zwangsläufig auch seine gesamt-wirtschaftlichen Wachstumsraten zurück.25

Zweitens steht der starke Rückgang des gesamtwirt-schaftlichen Produktivitätswachstums Japans in den90er Jahren in Zusammenhang mit den hohen undwachsenden (unmittelbaren und mittelbaren) Subven-tionen an ineffiziente Unternehmen und Industrien,zumeist im Zusammenhang mit fiskalischer Stimulie-rung.26 Diese strukturkonservierende Politik mußteauf die gesamtwirtschaftliche Produktivität einennegativen Effekt haben. Sie bewirkte einerseits, daßdie ineffizienten Sektoren einen wachsenden Anteildes Bruttosozialprodukts einnahmen, wodurch sichdie gesamtwirtschaftliche Produktivität im Durch-

24 Hayami/Ogasawara, Changes in the Sources of Modern Eco-nomic Growth [Fn. 23], S. 12�16; siehe auch die eindringlicheDarstellung für die Schwellenländer Ostasiens von Paul R.Krugman, The Myth of Asia�s Miracle, in: Foreign Affairs,73 (1994) 6, S. 62�78.25 Vgl. Jonathan Eaton/Samuel Kortum, Engines of Growth:Domestic and Foreign Sources of Innovation, in: Japan andthe World Economy, 9 (1997) 2, S. 235�259.26 Vgl. Hayashi/Prescott, The 1990s in Japan: A Lost Decade[Fn. 23], S. 28.

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Die nicht enden wollende Schulden- und Bankenkrise

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schnitt verringerte. Andererseits wurden die auf Über-regulierung zurückzuführenden hohen inländischenKosten für Energie, Finanzierung, Transport undDistribution zunehmend zu einem Standortnachteilfür die im internationalen Wettbewerb stehendenIndustriesektoren.27 Vor diesem Hintergrund unter-blieben zahlreiche potentiell produktivitätssteigerndeInvestitionen und das Wachstumspotential der effi-zienteren Sektoren und Unternehmen wurde vermin-dert. Vergleichende Analysen der Produktivitätsent-wicklung japanischer und amerikanischer Branchenin den vergangenen drei Jahrzehnten zeigen deutlichden japanischen Rückstand in der Landwirtschaft, derBauwirtschaft und bei den Dienstleistungen.28

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sowohl dasEnde des nachholenden Wachstums als auch diestrukturkonservierende Wirtschaftspolitik plausibleUrsachen für das geringe Produktivitätswachstum inden 90er Jahren waren. Eine Verbesserung der gesamt-wirtschaftlichen Produktivität, mit anderen Wortendie Rückkehr Japans auf einen stabilen Wachstums-pfad, erfordert entsprechende wachstumsförderndewirtschaftspolitische Maßnahmen. Dies wären zumBeispiel eine Verbesserung der Innovationsförderung,der Forschungs- und Technologiepolitik sowie eineStrukturpolitik, die die Investitionsblockaden löst, dieSubventionen abbaut und über Liberalisierung undDeregulierung den Strukturwandel forciert. DieLösung des Investitions- und Wachstumsstaus ist alsoeine politische Frage. Welche Implikationen dieseErkenntnisse für das langfristige wirtschaftlicheWachstum, in Abstraktion von kurzfristigen Zyklenhaben, wird im letzten Kapitel behandelt.

27 Für eine Dokumentation der Preisunterschiede aus Sichtder Endverbraucher zwischen Japan und anderen Industrie-ländern siehe Mark C. Tilton, Regulatory Reform and MarketOpening in Japan, in: Lonny E. Carlile/Mark C. Tilton (Hg.), IsJapan Really Changing Its Ways? Regulatory Reform and theJapanese Economy, Washington: Brookings Institution Press,1998, S. 163f.28 Vgl. David E. Weinstein, Historical, Structural and Macro-economic Perspectives on the Japanese Economic Crisis, in:M. Blomström/B. Ganges/S. La Croix (Hg.), Japan�s New Economy,Oxford: Oxford University Press, 2001, S. 35�44; Hiroki Kawai/Shujiro Urata, The Cost of Regulation in the Japanese ServiceSector, in: Mordechai E. Kreinin/Michael G. Plummer/ShigeyukiAbe (Hg.), Asia-Pacific Economic Linkages, Amsterdam: Perga-mon, 1999; Scarpetta/Bassanini/Pilat/Schreyer, Economic Growthin the OECD Area: Recent Trends at the Aggregate and Sec-toral Level [Fn. 23]. Siehe auch die folgenden Kapitel.

Die nicht enden wollende Schulden- undBankenkrise

Auf den Verfall der Vermögenswerte nach dem Zer-platzen der Bubble Economy zu Beginn der 90er Jahrefolgten schon bald erste Pressemeldungen über Schief-lagen in Japans Banken- und Finanzsektor undBerichte über Korruptionsskandale im Finanzsektor.Aufgrund der Verluste an Japans Aktienbörsenschrumpfte das Eigenkapital der hier engagiertenFinanzinstitutionen, und die Baisse der Immobilien-märkte führte zu fortgesetzten Kreditausfällen undeinem wachsenden Bestand von Problemkrediten inden Bankenbilanzen. Viel zu lange gaben sich Kredit-wirtschaft, Bankenaufsicht und Politik der trügeri-schen Hoffnung hin, daß die Schuldenkrise im Zugedes erwarteten kräftigen Konjunkturaufschwungsüberwunden werden könne.29 Aber bereits im Jahre1991 mußte Japans Einlagensicherungsfonds � erst-mals seit seiner Gründung � in Anspruch genommenwerden. Gegenstand einer größeren Rettungsaktion inForm von externer Kapitalzufuhr und staatlich arran-gierter Bankenfusion waren zu Jahresbeginn 1995zwei kommunale Kreditgenossenschaften aus Tokyo,nämlich die Tokyo Kyowa Credit Union und die AnzenCredit Union. Als dann im gleichen Jahr sieben deracht Wohnungsbaugesellschaften (Jusen) Japans vorder Insolvenz standen und diese »Jusen-Krise« wieder-um nur durch einen staatlich konzertierten Einlagen-und Forderungsverzicht, vor allem der Großbanken,gelöst werden konnte, war offensichtlich, daß sich dasBanken- und Finanzsystem in größeren Schwierig-keiten befand. Es häuften sich zudem die Berichte inder japanischen und internationalen Presse über In-transparenz und Undurchschaubarkeit der staatlichenRegulierung, das unprofessionelle Risikomanagementder Banken, die offensichtliche Inkompetenz derBehörden und eine bis zur Komplizenschaft reichendeUntätigkeit in der Bankenaufsicht. So unterließ es bei-spielsweise das japanische Finanzministerium imHerbst 1995 umgehend nach Kenntnisnahme betrüge-

29 Für eine detaillierte Beschreibung des historischenVerlaufs der japanischen Schulden- und Bankenkrise siehe C.Fred Bergsten/Takatoshi Ito/Marcus Noland, No More Bashing.Building a New Japan�United States Economic Relationship,Washington: Institute for International Economics, 2001,S. 69�85; Thomas Cargill/Michael Hutchinson/Takatoshi Ito, ThePolitical Economy of Japanese Monetary Policy, Cambridge,MA: MIT Press, 1997; Hanns Günther Hilpert/Helmut Laumer,Japans steiniger Weg ins 21. Jahrhundert, in: ifo schnell-dienst, 51 (1998) 21, S. 14, 21f.

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rischer Handelsaktivitäten der Daiwa Bank am NewYorker Finanzmarkt, die US-Finanzbehörden zu infor-mieren, obwohl es aufgrund internationaler Abkom-men dazu verpflichtet gewesen wäre.

Regierung und Finanzministerium kamen schließ-lich nicht umhin, die Existenz von Problemen imnationalen Bankensektor auch offiziell anzuerkennen.Das geschah erstmals im November 1995 durch eineamtliche Schadensbezifferung, die in den folgendenJahren immer wieder revidiert werden mußte � meistnach oben. In dieser Phase wurde mit der Resolutionand Collection Bank eine Treuhandbank gegründet,deren Aufgabe die Übernahme von in Schieflage gera-tenen Instituten und der Ankauf notleidender Krediteaus dem Bankensektor sein sollte. Unbeschadet dieserersten Krisenmaßnahmen versäumten es aber dieBanken, ernsthafte Konsolidierungsmaßnahmen zuergreifen, bzw. die Aufsichtsbehörden, solche zufordern und durchzusetzen.30

Warum gelingt es Japan nicht, die Bankenkriseeiner Lösung zuzuführen? Warum spitzt sich imGegenteil die Situation immer mehr zu? Neben denVerzögerungen in der Erkenntnisfindung, Beschluß-fassung und Umsetzung erschweren vor allem die pro-zessualen und institutionellen Handlungsdefizite,welche 1995 erstmals zutage traten, die Bewältigungder Schulden- und Bankenkrise. So hielt Japan erstensviel zu lange am Prinzip der Institutssicherung, alsoeiner impliziten Bestandsgarantie für seine Bankenfest. Zweitens erfolgte die Sanierung von angeschlage-nen Banken nicht mit einer anteiligen Haftung vonAktionären und Gläubigern und (zumindest anfangsnicht) durch einen Einsatz von öffentlichen Mitteln,sondern überwiegend auf dem Wege einer Solidar-haftung des gesamten Bankensystems (ConvoySystem). Drittens wurden die Akteure der regulatori-schen Aufsicht und der Finanzindustrie nur in Einzel-fällen disziplinarisch oder juristisch zur Verant-wortung gezogen. Die mangelnde Sanktion derVerantwortlichen ist auch der Grund dafür, daßÖffentlichkeit und Medien Japans vehement die Ver-wendung von Steuergeldern zur Lösung der Banken-krise ablehnen. Die ersten drei Punkte zusammengenommen haben das Risikoverhalten der Bankennachhaltig negativ beeinträchtigt. Anstelle finan-

30 Nach einer Schätzung von Cargill/Hutchinson/Ito, The Politi-cal Economy of Japanese Monetary Policy [Fn. 29], dürfte dieseUnterlassung der japanischen Wirtschaft bereits einenWachstumsverlust von ca. 1% des Bruttoinlandsproduktsüber einen Zeitraum von mindestens drei Jahren bescherthaben.

zieller Eigenverantwortung steht systemkonformesVerhalten (moral hazard). Viertens mangelt es ganzallgemein an Transparenz in Japans Finanzsektor.Aufgrund undurchsichtiger Bilanzierungsrichtlinienund Offenlegungsvorschriften bleibt der wirklichefinanzielle Status der japanischen Finanzinstitutionenim Ungewissen. Zudem fehlt es an klaren und trans-parenten Regeln für das Handeln der Finanzaufsichts-organe, was all ihren Aktivitäten ein hohes Maß anWillkür verleiht. Und fünftens fehlt den zuständigenAufsichtsbehörden die für eine Lösung der Banken-krise erforderliche Glaubwürdigkeit und Autorität,eben weil sie durch eigenes Tun oder Unterlassen einerhebliches Maß an Mitschuld der Schulden- undBankenkrise tragen, weil sie sich in erster Linie alsSachwalter der Interessen der Finanzindustrie, nichtaber der Sparer und Steuerzahler betrachten, und weildie zuständigen Ministerialbeamten auf lukrativeAlterspositionen in der Finanzindustrie hoffen dürfen.Für die notwendigen harten Entscheidungen zurBewältigung der Krise mangelt es deshalb an politi-scher Durchsetzungsfähigkeit. Die hier genanntenfünf Punkte machen deutlich, warum es in Japannicht gelingt, die Banken- und Schuldenkrise einerLösung zuzuführen. Nicht allein Japan, sondern auchzahlreiche andere Industrieländer (etwa die USA,Frankreich, Großbritannien, Skandinavien und Korea)waren in den 80er und 90er Jahren von Bankenkrisenbetroffen. Das Besondere an der Bankenkrise Japans istihre Größendimension und ihre lange Dauer.

Angesichts der zahlreichen Verzögerungen undsystemischen Defizite kann der Ausbruch einergrößeren Finanzkrise während der konjunkturellsensiblen Phase im Herbst 1997 nicht verwundern. Vordem Hintergrund des laufenden regulativen Umbruchs(Big Bang) und neuer Korruptionsskandale im Finanz-ministerium mußten eine Großbank (Hokkaido Taku-shoku Bank) und eine große Wertpapiergesellschaft(Yamaichi Securities) ihre Pforten schließen. Insbeson-dere die Umstände des Zusammenbruchs vonYamaichi Securities schockierten die japanische unddie internationale Finanzindustrie. Zutage tratenkriminelle Praktiken des Managements und Bilanz-verluste in Höhe der Hälfte des Eigenkapitals, vondenen die Aufsichtsbehörden offenbar keine Kenntnishatten geschweige denn, daß sie in der Bilanz aus-gewiesen worden wären. Nach offizieller Verlaut-barung belief sich damals der Gesamtbestand not-leidender Kredite des privaten Bankensektors auf 76,7Bill. Yen (ca. 600 Mrd. Dollar). Diese nach Einschät-zung unabhängiger Analysten noch immer zu gering

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veranschlagte Summe entsprach immerhin demGegenwert von etwa 15% des japanischen BIP. NebenBanken und Wertpapiergesellschaften waren von derFinanzkrise auch Japans Lebensversicherungenbetroffen.

All diese Ereignisse verunsicherten zutiefst JapansKonsumenten, Sparer und Anleger. Weitere Zusam-menbrüche, zuweilen gar eine Kettenreaktion mehre-rer Bankenkonkurse, wurden befürchtet. Angesichtsder undurchsichtigen Lage wurden japanische Finanz-institutionen bei der Kreditaufnahme auf den inter-nationalen Märkten mit einem Strafzins belastet(»Japan Premium«). Das Mißtrauen der internationalenMärkte gegenüber Japans Finanzsystem verstärkte sichzusätzlich, als das Finanzministerium zum Jahres-wechsel 1997/98 kurzfristig gewichtige Änderungender geltenden Bestimmungen für Rechnungslegungund Bilanzierung verfügte, die den Banken per saldoerlaubten, zum Ende des Fiskaljahres bilanzkosme-tisch aufpolierte Ergebnisse vorzulegen.31

Zur Stabilisierung der Märkte und für eine Sanie-rung der Banken wurden im Februar 1998 zwei neueGesetze verabschiedet und ein Finanzvolumen inHöhe von 30 Bill. Yen (ca. 230 Mrd. Dollar) bereit-gestellt. Diese Finanzmittel sollten sowohl einerbesseren Kapitalausstattung von Einlagensicherungs-fonds und Treuhandbank dienen, als auch über einenneu eingerichteten speziellen Fonds dem angeschla-genen Bankensystem frisches Kapital zuführen. Bis aufweiteres garantiert der Staat die Einlagen Privater beiBanken und Lebensversicherungen. Dieser Lösungs-ansatz erwies sich zunächst noch als unzureichend.Die Situation auf Japans Finanzmärkten blieb prekärund die allgemeine konjunkturelle Lage verschlech-terte sich im Jahresverlauf. So wurde in einem weite-ren Gesetzespaket die Bankenaufsicht aus dem Finanz-ministerium herausgelöst und in eine neugegründeteunabhängige Institution überführt, die FinancialServices Agency (FSA). Zur Lösung der Krise wurde dasöffentlich bereitgestellte Finanzvolumen auf nunmehr60 Bill. Yen verdoppelt. Es sollte unter anderemAufgabe der FSA sein, angeschlagene Finanzinstitu-tionen unter staatliche Aufsicht zu stellen und

31 Durch den Erlaß wurde das geltende Niederstwertprinzipfür Aktien, Grundstücke und Immobilien aufgehoben, so daßBuchverluste nicht ausgewiesen werden mußten. Weiterhinwurden der Rückkauf eigener Aktien und eine weitgehendeSaldierung von Forderungen und Verbindlichkeiten inner-halb der Bilanz erleichtert. Seit September 2001 gilt fürAktien, Grundstücke und Immobilien wieder die Bewertungzu Marktpreisen.

abhängig von den Erfolgsaussichten zu sanieren oderabzuwickeln. Dieses Verfahren wurde tatsächlich aufdie beiden schwächsten Großbanken Japans, die Long-Term-Credit Bank und die Nippon Credit Bank gegenEnde des Jahres 1998 angewendet. Die übrigen 15 Groß-banken erhielten Anfang 1999 im Rahmen des Spezial-fonds von der öffentlichen Hand frisches Kapital inHöhe von insgesamt 7,46 Bill. Yen (ca. 58 Mrd. Dollar).

Eine expansive Fiskalpolitik unterstützte dieseSanierungsmaßnahmen, so daß zunächst eine bemer-kenswerte Stabilisierung der Finanzmärkte gelang.Die Notierung der Bankaktien an der Börse verbessertesich zunächst deutlich. Die Banken stellten not-leidende Kredite in ihre Bilanzen ein und schriebensie schrittweise ab. Anleger und Märkte faßten wiederVertrauen und bald verschwand auch das »Japan-Premium«. Hoffnungsvoll durfte stimmen, daß inner-halb des Bankensystems ein Konsolidierungsprozeßbegann, demzufolge sich die Zahl der bestimmendenMarktteilnehmer auf vier große Institutionen ver-ringerte.32

Gleichwohl gelang die angestrebte Sanierung desBankensystems wieder einmal nicht, denn im Laufedes Jahres 2001 spitzte sich die Banken- und Schulden-krise abermals zu, angefacht durch eine im Frühjahreinsetzende scharfe konjunkturelle Rezession. Rezes-sionsperioden sind bekanntlich immer kritisch für dieSolvenz und Liquidität von Unternehmen und ziehenin einem Reinigungsprozeß zahlreiche Insolvenzennach sich. Verschärfend wirkte in diesem Falle nochdie deflationäre Preisentwicklung auf den Vermögens-und Gütermärkten Japans, die die Gewinnsituationder betroffenen Unternehmen verschlechterte und dieKreditschulden weiter ansteigen ließ. Von dem laufen-den Ausleseprozeß in der realen Wirtschaft Japanswaren insbesondere die strukturschwachen BranchenBau, Immobilien und Handel betroffen. ZahlreicheUnternehmen dieser Sektoren sind überschuldet,ertragsschwach und angesichts der erheblichen Über-kapazitäten nicht mehr existenzfähig. Das Kredit-engagement der Banken in diesen Branchen ist be-trächtlich. Zugleich halten die Großbanken bei vielen

32 Die Dai-Ichi-Kangyo Bank, die Fuji Bank und die IndustrialBank of Japan schlossen sich zur Mizuho Holding (Mizuho)zusammen. Die Sumitomo Bank und die aus Mitsui Bank undTaiyo-Kobe Bank entstandene Sakura Bank fusionierten zurSumitomo-Mitsui Banking Corporation (SMBC). Sanwa Bank,Tokai Bank und Toyo Trust Bank bildeten zusammen dieUnited Financial Japan (UFJ). Die aus der Fusion von Bank ofTokyo und Mitsubishi Bank entstandene Bank of Tokyo Mitsu-bishi (BOTM) verband sich mit der Mitsubishi Trust Bank.

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angeschlagenen Unternehmen Anteile am Grund-kapital.

Deshalb war die Verschärfung der Bankenkrise imLaufe des Jahres 2001 nur vordergründig rezessions-bedingt, denn sie machte deutlich, wie wenig offenbarKreditgewerbe und Aufsichtsorgane aus den Fehlernder Vergangenheit gelernt hatten. Für Rezessions-phasen sind Forderungsausfälle symptomatisch, nichtaber Bankenkrisen. Letztere haben immer institutio-nelle und/oder strukturelle Ursachen. So ist nichtnachvollziehbar, warum in den späten 90er Jahren dieZahl neuer fauler Kredite (netto) wieder anstieg.33

Trotz der hohen Forderungsabschreibungen in denvergangenen Jahren34 hat sich das Gesamtvolumennotleidender Kredite seit 1998 erhöht und die Eigen-kapitalausstattung der Banken insbesondere in denvergangenen drei Jahren erheblich verschlechtert.35

Offensichtlich erwirtschaften Japans Banken keineangemessene Rendite. Verantwortlich dafür sind diedünnen Kreditmargen und der starke Wettbewerbs-druck durch staatliche Finanzinstitutionen, insbeson-dere die Postsparkasse.

Die zahlreichen neu hinzugekommenen faulenKredite machen deutlich, daß Japans Banken nochimmer zu freigiebig in der Kreditvergabe an dubioseSchuldner sind, insbesondere wenn es sich um lang-jährige Kunden handelt, und daß sich die Standardsder Kreditprüfung in Japans Finanzindustrie trotz derKrisenereignisse nicht verbessert haben. So zieht manes in der Kreditwirtschaft trotz der Reform des Insol-venzrechts vom April 2000 weiterhin vor, zweifelhafteund uneinbringliche Forderungen säumiger Groß-schuldner ad ultimo zu prolongieren und nicht zuvollstrecken. Zurückhaltend blieb man bislang auchbei der Kapitalisierung notleidender Kredite durchVerkauf an die staatliche Treuhandbank.

Offensichtlich hat auch die Bankenaufsicht kauman Kontrollkompetenz gewonnen. So wurden die

33 Nach einer Aufstellung der großen Wirtschaftstages-zeitung Nihon Keizai Shinbun vom 13.9.2001 sind in denvergangenen Jahren zusätzliche notleidende Kredite angefal-len: 1998 15 Bill. Yen; 1999 6 Bill. Yen; 2000 5 Bill. Yen; 20018,6 Bill. Yen.34 Yoshimasa Nishimura, Professor an der Waseda-Universitätund früherer Direktor der Bankenabteilung des Finanzmini-steriums, schätzt den Gesamtabschreibungsbetrag von 1992bis 2001 auf 72 Bill Yen; Japanese Banks on a DownwardSpiral, in: The Financial Times, 28.1.2002.35 Das Abschmelzen der Eigenkapitalbasis war allerdingsauch durch den Kursverfall an Japans Aktienbörsen bedingtda japanische Banken eigenes Aktienvermögen dem Eigenka-pital teilweise zurechnen dürfen.

Angaben der FSA, welche für Ende März 2002 denGesamtbestand notleidender Kredite in Händen desBankensystems mit 43,2 Bill. Yen (ca. 355 Mrd. Dollaroder 8% des japanischen BIP) bezifferten, durch alter-native Schätzungen glaubhaft in Zweifel gezogen. DerIWF veranschlagte bereits im September 2001 denGesamtbestand notleidender Kredite auf 151 Bill. Yen,und Goldman Sachs Japan spricht heute gar von236 Bill. Yen, was in etwa der Hälfte des japanischenBruttoinlandsprodukts entspräche.36 In der Tat erwie-sen sich die Selbsteinschätzungen der Banken invielen Fällen nach Eintritt eines Konkursfalles als vonAnfang an inkonsistent oder im nachhinein als fehler-haft. Angezweifelt wird ferner die offizielle Annahmeder FSA, daß sich das Problem der notleidendenKredite auf 30 große Unternehmen aus den Problem-branchen Bau, Immobilien und Handel (sogenannte»dirty thirty«) beschränke. Nicht zu unrecht wird einbeträchtliches Volumen zusätzlicher Problemkreditevon seiten der Regionalbanken an kleine und mittlereUnternehmen vermutet.37

Verschärft hat sich auch die Krise der Lebensver-sicherungen. Noch immer existieren zahlreiche Alt-verträge aus den 80er und frühen 90er Jahren mitRenditeversprechen von 4 bis 6%. Erst im Jahre 1996wurde das Renditeversprechen für Neuverträge auf2,5% reduziert. Angesichts der niedrigen Renditen fürjapanische Staatsanleihen (1,5%) und der fortgesetztenBaisse auf den Aktien- und Rentenmärkten war es aberden Lebensversicherungen in den vergangenen Jahrenbestenfalls möglich, durchschnittliche Erträge von 2%zu erzielen. Deshalb mußten in den vergangenen dreiJahren zahlreiche Lebensversicherungen bereits Insol-venz anmelden. Immer mehr Versicherungsnehmerkündigen ihre Policen.

In gleicher Weise, wie die Glaubwürdigkeit undKrisenkompetenz der Aufsichtsbehörden angezweifeltwerden, müssen auch die verfolgten Lösungsansätzehinterfragt werden. So wird die bloße Ankündigungeiner Bereinigung aller Problemkredite in einem Zeit-raum von drei Jahren38 nicht auch zwangsläufig ebendieses Ergebnis zur Folge haben. Dafür bleiben die bis-

36 Für eine Zusammenstellung siehe OECD (Hg.), OECDEconomic Surveys 2000�2001 Japan, Paris: OECD, 2001,S. 173�179.37 Siehe Andreas Moerke, Bankenkrise in Japan � ohne Ende?,Jahrestagung VSJF, JDZB, Berlin, 15.12.2001.38 So Japans Premierminister Junichiro Koizumi am27.9.2001 und der Vorsitzende der FSA, Hakuo Yanagizawa,am 10.10.2001, nochmals am 30.10.2002 Koizumi nun miteinem Zeithorizont zum 31.3.2005.

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lang angekündigten Maßnahmen doch unzureichend.So war bereits im Frühjahr 2002 offensichtlich, daßdie damals angekündigte stärkere Rolle der Treu-handbank und der Einsatz von intensiven Sonder-prüfungen der Banken durch die FSA39 kaum die gebo-tene Verhaltensänderung der Banken und der Banken-aufsicht bewirken werden. Mit diesen Maßnahmenkönnte sich die Ertragssituation der Banken nichtverbessern und auch ihre Eigenkapitaldecke bliebedünn. Dennoch versteifte sich der für die Finanzindu-strie zuständige Minister Hakuo Yanagizawa weiterhindarauf, daß die Banken keiner zusätzlichen staatlichenHilfen bedürfen. Nicht angegangen wurde zudem dasder Bankenkrise zugrundeliegende Problem der Über-schuldung und faktischen Insolvenz von Kreditneh-mern in der gewerblichen Wirtschaft. Allen Beteilig-ten ist bewußt, daß Insolvenzen großer Unternehmennicht gegen den Widerstand der Politik oder der Mini-sterialbürokratie durchzusetzen sind.40

Aufgrund von zwei Ereignissen war aber spätestensim September 2002 nicht mehr zu kaschieren, daß dervon den Aufsichtsorganen und der Regierung verfolgteLösungsansatz gescheitert war. Anfang des Monatsmußte die FSA verkünden, daß die staatliche Garantievon privaten Einlagen im Bankensektor auch über denMärz 2003 hinaus aufrechterhalten werden müsse.Und die Bank von Japan ließ nur wenige Tage späterverlautbaren, daß sie Aktien aus dem Portefeuille derangeschlagenen Großbanken in Höhe von 2 Bill. Yenerwerben werde, um diese von der volatilen, dauerhaftzur Baisse tendierenden Börse unabhängiger zumachen. Mit dieser für eine Zentralbank einmaligenund unorthodoxen Aktion dürfte die Bank von Japanallerdings weniger die Stärkung der Finanzkraft derBanken im Auge gehabt haben. Die Absicht war wohleher, die Finanzaufsichtsbehörde wegen ihrer Untätig-keit bloßzustellen, und damit die Regierung zu einementschlosseneren Handeln aufzufordern.

Am 30. Oktober 2002 legte der neuernannte reform-orientierte Minister für Wirtschafts- und Finanzpolitik,Heizo Takenaka, ein Maßnahmenpaket zur Lösung derBanken- und Schuldenkrise und zur Bekämpfung derDeflation vor. Die Banken werden verpflichtet, höhereRückstellungen für Forderungsausfälle in ihre Bilanzeneinzustellen und strengere Maßstäbe bei der Bewer-

39 Siehe Financial Services Agency, Measures for DevelopingStronger Financial System, 12.4.2002, Tokyo; http://www.fsa.go.jp/news/newse.html.40 So wurde das an sich nicht mehr zahlungsfähige Einzel-handelsunternehmen Daiei im November 2001 nur durch dasEingreifen der Politik gerettet.

tung des Eigenkapitals anzulegen. Andererseitswerden überschuldeten mittelständischen Unterneh-men Finanzhilfen in Aussicht gestellt. Außerdemsollen eine Steuersenkung und eine zusätzliche mone-täre Expansion das konjunkturelle Umfeld aufbessern.Positiv an diesen Maßnahmen ist zwar der gewählteumfassende Ansatz. Angesichts der fehlenden Eindeu-tigkeit in den Durchführungsbestimmungen, vorallem bei der Bilanzierung der notleidenden Banken-kredite bleiben auch die neuesten Maßnahmen hinterdem für eine Krisenbewältigung Notwendigen weitzurück.

Die unausgesprochene Krisenbewältigungsstrategieder japanischen Regierung zielt einerseits auf dieSchaffung günstiger Rahmenbedingungen, verbundenmit der Hoffnung auf ein konjunkturell günstigeresUmfeld, andererseits auf eine diskretionäre Feinsteue-rung bei der Regulierung von Banken und Finanz-märkten. So hatte sicherlich die Rückkehr der Bankvon Japan zur Nullzinspolitik im März 2001 eine ver-besserte Zinsspanne und eine erhöhte Zinszahlungs-fähigkeit von Kreditnehmern geringerer Bonität zurFolge. Damit verbesserten sich auch die Ertrags-situation und die Bilanzstruktur der Banken. Auchbewirkten die vom Finanzministerium koordiniertenStützungskäufe in Verbindung mit einem strikt durch-gesetzten Verbot von Leerverkäufen in den ersten dreiMonaten des Jahres 2002 eine unerwartete Kursrallyean Japans Aktienbörsen. Da Bilanzen in Japan jeweilszum Ende des Fiskaljahres am 31. März vorgelegtwerden müssen, hatte diese Aktion die Verbesserungder (in den Bankenbilanzen ausgewiesenen) Eigen-kapitalpositionen zur erwünschten Folge. Die periodi-schen Sonderprüfungen und die kürzlich beschlosseneVerschärfung der Bilanzierungsvorschriften zielennicht nur auf eine Verbesserung der Transparenz,sondern auch auf eine Verhaltensänderung der an-geschlagenen Banken.

Diese Maßnahmen allein werden aber kaum füreine nachhaltige Gesundung der Bankenbilanzen aus-reichen � selbst dann nicht, wenn sich die Konjunkturunerwartet rasch aufhellen sollte. Eine Bewältigungdes Banken- und Schuldenproblems kann nur gelin-gen, wenn Banken und Bankenaufsicht endlich ent-schlossener sowohl auf der Ebene der Kreditgeber (alsoder Banken selbst) als auch der Kreditnehmer (also derverschuldeten Unternehmen) vorgehen und auch ver-mehrt Konkurse zulassen. Sicherlich wird ein der-artiger Lösungsweg kurzfristig eine Verschärfung derdeflationären Tendenzen und einen Anstieg derArbeitslosigkeit zur Folge haben, und man wird nicht

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umhin können, zur Sanierung maroder Banken undUnternehmen auf öffentliche Mittel zuzugreifen, aberjeder weitere Aufschub würde die Gesamtkosten derKrisenbewältigung noch weiter nach oben treiben.

Immerhin ist festzustellen, daß ein formeller insti-tutioneller Rahmen zur Lösung der japanischenBankenkrise vorliegt. Es existiert sowohl eine unab-hängige Behörde zur Aufsicht und Klassifizierung derBanken (die FSA) als auch ein umfangreiches öffent-liches Sicherheitsnetz, das sowohl die Einzelrisikender Sparer als auch das allgemeine Risiko einerBankenpanik auffangen soll (die Treuhandbank undder Spezialfonds zur Rekapitalisierung angeschlage-ner Banken). Dieser institutionelle Rahmen erzwingtaber nicht per se den erforderlichen aktiven Schulden-abbau der Banken. Er nötigt die Banken weder zurVeräußerung fauler Kredite an die Treuhandbanknoch zu einem drastischen Vorgehen gegen säumigeSchuldner, ggf. einer zwangsweisen Forderungsvoll-streckung. Dieser institutionelle Rahmen ist auchnicht die Garantie dafür, daß die erforderlichen Ver-staatlichungen angeschlagener Finanzinstitute zumZwecke einer Abwicklung oder Sanierung durch dieFSA tatsächlich stattfinden. Erforderlich und letztlichentscheidend sind Entschlossenheit und Aktivität derRegulierungsorgane und der Politik. Nichts deutetdarauf hin, daß die Widerstände der Reformgegnerschon überwunden wären.

Laut Berechnungen, die sich an den Maßstäben desUS-Bankensystems orientieren, wäre eine Schrump-fung des gesamten Kreditvolumens Japans um ca. 20%erforderlich, was die Schließung von nahezu jederdritten japanischen Bank zur Folge hätte.41 Auf län-gere Sicht wird eine derart drastische Konsolidierungdes Bankensystems wohl nicht zu vermeiden sein.Kurz- und mittelfristig scheint man sie in Japan abernicht durchsetzen zu wollen resp. zu können. Einerdrastischen Lösung stehen das nach wie vor zwarsystemkonforme, nicht aber eigenverantwortlicheVerhalten der Finanzinstitute entgegen, eine im Kernfortbestehende Komplizenschaft zwischen Bankenund Bankenaufsicht, sowie die Scheu der Politik vorInsolvenzen großer Unternehmen. Deshalb bleibt eineschnelle, entschlossene Bewältigung der Bankenkrisebis auf weiteres unwahrscheinlich. Zu erwarten isteher ein langsamer Ausleseprozeß infolge der Wande-rung der Einleger und der Kreditnehmer mit guter

41 Siehe Takeo Hoshi/Anil Kashyap, The Japanese BankingCrisis: Where Did it Come From and How Will it End?, in:NBER, Macroeconomics Annual 1999, Washington, S. 40�43.

Bonität hin zu den solventeren Finanzinstitutionenund Banken. Denkbar ist aber auch eine Bankenpanik,in der japanische Sparer und Anleger ihre Konten auf-lösen und ihre Finanzanlagen aus dem Bankensystemherausziehen, in Bargeld, Gold und Dollar-Anlagenfliehen oder ihre liquiden Mittel bei der japanischenPostsparkasse oder bei ausländischen Banken an-legen.42

Japans Staatsfinanzen in der Schuldenfalle?

Eine fatale Folge der konjunkturellen Stagnation undder expansiven Fiskalpolitik der zurückliegendenzehn Jahre ist der rasante Anstieg der öffentlichenSchulden Japans. Der Zusammenbruch der BubbleEconomy führte zu einem Einbruch der Steuerein-nahmen, während die staatlichen Ausgaben infolgeder Rezession und aufgrund der zahlreichen Konjunk-turpakete rasch nach oben schnellten. SichtbaresErgebnis der wachsenden Diskrepanz zwischen staat-lichen Einnahmen und Ausgaben waren die hohenHaushaltsdefizite der 90er Jahre. Insbesondere in denvergangenen fünf Jahren stiegen die konsolidiertenDefizite von Zentralregierung und Präfekturen auf diehohen Werte von 5,5% (1998), 7,0% (1999), 6,3% (2000),6,3% (2001) und geschätzten 8,0% (2002) des BIP.43 BisEnde 2002 kumuliert sich die Bruttogesamtverschul-dung des Staates auf den Gegenwert von etwa 140%des BIP. Dies ist relativ gesehen die höchste Staats-verschuldung innerhalb der OECD. Bis Ende 2003dürfte die Quote auf 149% ansteigen.44 Sorge mußaber nicht allein das hohe Niveau der japanischenGesamtverschuldung bereiten, sondern vor allem ihrrascher Anstieg � im auffälligen Kontrast zu den Kon-solidierungserfolgen der USA, Kanadas und Europas inden 90er Jahren. Die Fiskalpolitik Japans ist ganzoffensichtlich aus dem Ruder gelaufen.

In Verlautbarungen der japanischen Regierungwird allerdings mitunter die Schuldensituation alsnicht so gravierend eingeschätzt, wie die obengenann-ten Quoten anzeigen, und es wird debattiert, ob dieBruttogesamtverschuldung als Maßstab zur Bewer-tung der Verschuldungssituation des japanischenStaates überhaupt geeignet ist: Einerseits sind in demgenannten Wert nicht alle auf den japanischen Staat

42 Zu diesem nicht unwahrscheinlichen Szenario siehe dasKapitel über Krisenszenarien.43 Angaben der OECD; dies., Economic Outlook 69, Paris:OECD, Dezember 2001, S. 76.44 Schätzungen der OECD; ebd.

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zukommenden Lasten einbezogen. Andererseitsverfügen die Zentralregierung, die Präfekturen unddie Sozialversicherungen Japans selbst über großeBestände an Finanzaktiva, welche die Staatsverschul-dung des Landes in einer Netto-Betrachtung erheblichgeringer erscheinen lassen.

In der Tat belief sich Ende 2001 die japanischeStaatsverschuldung auf Netto-Basis »nur« noch aufeinen Anteil von schätzungsweise 55% des BIP (Brutto:132%). Dieser Wert liegt schon sehr viel näher amOECD-Durchschnitt (der staatlichen Nettogesamt-verschuldung) und würde isoliert betrachtet dasSchuldenproblem Japans stark relativieren. Allerdingsstellt sich angesichts der großen Diskrepanz zwischenBrutto- und Nettoverschuldung Japans die Frage nachder Bonität der staatlichen Finanzaktiva.45 Buchungs-technisch handelt es sich bei dem staatlichen Finanz-vermögen im wesentlichen um Geldforderungen ausInvestitionen der Postsparkasse, der Pensionskassenund des Zentralstaats im Rahmen des staatlichen Treu-handfonds (Trust Fund Bureau) und um sogenanntesonstige Aktiva. Soweit ein nicht geringer Teil desstaatlichen Finanzvermögens aus japanischen undUS-amerikanischen Staatsschuldtiteln sowie aus Devi-senreserven besteht,46 ist eine Saldierung zwischenAktiva und Passiva zweifellos berechtigt. Andererseitsist der staatliche Treuhandfonds jedoch mit Einlagenoder Krediten in vielen öffentlichen Unternehmenund staatlichen Finanzinstitutionen engagiert, derenfinanzielle Leistungskraft angeschlagen ist oder diepotentiell erhebliche Belastungen für den Staatshaus-halt repräsentieren. So benötigt beispielsweise dasgrößte Treuhandfondsunternehmen, die HousingLoan Corporation, für ihre operative Tätigkeit alljähr-lich hohe Subventionen. Im Falle der öffentlichenEisenbahngesellschaften und der öffentlichen Auto-bahngesellschaft ist mit hohen Folgelasten zu rech-nen. Die staatliche Entwicklungsgesellschaft fürHokkaido und Tohoku hat beträchtliche notleidendeKredite in ihren Büchern. Generell sind zwar die Ein-nahmen und Ausgaben der meisten Treuhandfonds-unternehmen ausgeglichen, die Kapitaldecke ist aberdünn, so daß schon ein geringfügiges operativesDefizit staatliche Garantieleistungen erfordern würde.

45 Siehe zum folgenden T. Callen/M. Mühleisen/S. Kalra/T. Nagaoka, Japan, Economic and Political Developments,Washington: IMF, Dezember 2001, S. 42�44.46 Dieser Teil der staatlichen Finanzaktiva Japans von hoherBonität und Liquidität dürfte immerhin einen Anteil von17,2% ausmachen; Douglas Ostrom, Government Deficits andDebt: Tokyo�s Dilemma, in: JEI Report, 21 (2000) 2A, S. 8.

Angesichts der insgesamt eher durchwachsenenfinanziellen Situation der staatlichen Finanzaktiva istdas Risiko einer Insolvenz für einen Teil der öffent-lichen Unternehmen und staatlichen Finanzinstitu-tionen sicherlich nicht unrealistisch. Es läßt sichsogar argumentieren, daß das Ausfallrisiko teilweisebereits eingetreten ist, da der japanische Staat vieleAktivitäten von Treuhandfondsunternehmen nur mitSubventionen (im Rahmen von Schattenhaushalten)am Leben erhalten kann. Solvenz und Bonität der japa-nischen Staatsfinanzen lassen sich demnach nicht mitVerweis auf eine niedrige Nettoverschuldungsquoterechtfertigen.47 Verfehlt ist aber auch die Gegen-position, die die Bruttoverschuldungsquote Japansunter Einbeziehung (1) der Garantieverpflichtungender japanischen Schattenhaushalte im Rahmen des»Fiscal and Investment Loan Programm« (FILP), (2) derKosten für die Sanierung des privaten Bankensystemsund (3) der Pensionsverpflichtungen des Staates alsetwa doppelt so hoch wie offiziell ausgewiesen veran-schlagt.48 Denn die drei zuletzt genannten Positionensind nicht tatsächliche (also in der Vergangenheitbereits angefallene) Verbindlichkeiten, sondern stellenzukünftige Belastungen für den japanischen Staats-haushalt dar. Diese Belastungen sind allerdings erheb-lich, wenngleich sie auch der Höhe nach noch nichtfeststehen. So werden Zentralstaat und Präfekturensicherlich noch beträchtliche Aufwendungen zurSanierung des maroden privaten Bankensystems unddes teilweise defizitären öffentlichen Sektor leistenmüssen. Auch werden aufgrund der fortschreitendenAlterung der japanischen Gesellschaft die staatlichenAusgaben für Rentenzahlungen, für Gesundheits-leistungen und zur Altenpflege Jahr für Jahr zuneh-men. Der staatliche Anteil an den gesamten Sozial-versicherungsleistungen Japans beläuft sich gegen-wärtig auf ca. 20%, nimmt aber im Zuge der unter-nehmerischen Umstrukturierung und mit wachsenderArbeitslosigkeit in der Tendenz zu.49 Last but not leastmuß der japanische Staat auch für die Rentenzahlun-

47 So z.B. Yukio Yamaga, Itsuwari no Kiki, Honmono no Kiki[Lüge und Wahrheit der Krise], Tokyo: Toyo Keizai Shinposha,1997.48 So veranschlagten zum Beispiel D. Asher und A. Smithersvon der John Hopkins University die Bruttoverschuldungs-quote Japans auf ca. 250% des BIP; zit. nach The FinancialTimes, 11.6.1998.49 Siehe Hamid Faruqee/Martin Mühleisen, Population Aging inJapan: Demographic Shock and Fiscal Sustainability, Washing-ton: IMF, April 2001 (IMF Working Paper WP/01/40), S. 7.

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Japans ökonomische Malaise: Stagnation und Transformation im Dauerzustand

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gen der Postsparkassen und der Pensionskassen garan-tieren.

Die Hypothek der hohen zukünftigen Belastungendes japanischen Staatshaushaltes, das bereits heuteexorbitant hohe Volumen der japanischen Staats-schuld sowie der rasche Anstieg der staatlichen Ver-schuldung in den letzten Jahren sind berechtigterGrund und Anlaß für die mehrmalige Herabstufungder Kreditwürdigkeit Japans durch die internationalenRating-Agenturen Moody, Standard and Poor undFitch. Im Sommer 2002 fiel das Rating Japans beiMoody sogar unter das von Botswana � sehr zum Ärgerdes japanischen Finanzministeriums. In der Sicht-weise der Rating-Agenturen ist die gegenwärtigeFiskalpolitik Japans nicht mehr tragfähig. Die japa-nische Regierung betrachtet die schlechte Einstufungdes Landes hingegen als unfair und verweist auf dieBesonderheiten in der japanischen Staatsschuld(siehe unten).

Im Jahre 2001 überstiegen die öffentlichen SchuldenJapans die jährlichen Einnahmen des Staates umden Faktor 4,65 (1995: 2,88).50 Ohne Konsolidierungs-anstrengungen wird das jährliche staatliche Haus-haltsdefizit infolge steigender Sozialausgaben undzunehmender Zins- und Tilgungsbelastungen vonderzeit 8% bald auf einen Wert von 10% des BIP an-steigen. Wenn es nicht zu einer Kehrtwende in JapansHaushaltspolitik kommt, wird sich wahrscheinlichschon im Jahre 2008 die Bruttoverschuldungsquoteauf einen Anteil von 200% des BIP erhöht haben.Abgesehen von dieser besorgniserregenden Dynamikist es bedenklich, daß das Defizit überwiegend struk-turell, nicht jedoch konjunkturell bedingt ist.51 In derjapanischen Haushaltspolitik deutet sich allerdingsein zögerlicher Umschwung an. Bereits für das Fiskal-jahr 2001 setzte Ministerpräsident Koizumi für Neu-emissionen japanischer Schatzanweisungen eine Ober-grenze von 30 Bill. Yen fest und leitete kostendämp-fende Maßnahmen im Gesundheitssektor ein.

Bei einer Gesamtbewertung der Situation ist esfatal, daß in der gegenwärtigen konjunkturellen Aus-nahmesituation einer deflatorischen Nachfragelückejegliche fiskalische Restriktion � also Konsolidierungder staatlichen Haushalte � Gift für Konjunktur undWachstum sein muß. Diese Erfahrung mußte zuletztMinisterpräsident Hashimoto machen, der zur Haus-

50 Angaben von Moody, zitiert nach: Downgrad Fears CastShadow over Japan, in: The Financial Times, 14.2.2002, S. 24.51 Siehe hierzu die Potentialschätzungen des IMF: Callen/Mühleisen/Kalra/Nagaoka, Japan, Economic and Political Devel-opments [Fn. 45], S. 42.

haltskonsolidierung zum 1. April 1997 die Konsum-steuer um zwei Prozentpunkte heraufsetzte und tem-poräre Einkommenssteuersenkungen auslaufen ließ,im Ergebnis der Maßnahmen aber dem damals geradebegonnenen konjunkturellen Aufschwung ein abrup-tes Ende bereitete. Die dann folgende tiefe Rezessionkonnte nur durch eine stark expansive Fiskalpolitiküberwunden werden, die dem öffentlichen Schulden-aufbau aber eine neue, zusätzliche Dynamik verlieh.Daher ist die dringend gebotene fiskalische Konsolidie-rung der japanischen Staatsfinanzen aus konjunktur-politischen Gründen ein eher verwegenes Vorhaben.Aus diesen Gründen steht selbst die leicht restriktiveBudgetpolitik der Koizumi-Administration in derKritik.

Japan befindet sich offensichtlich in einem Dilem-ma zwischen Deflations- und Verschuldungspolitik.Der kurzfristigen Not gehorchend, die Lücke zwischengesamtwirtschaftlichen Angebot und Nachfrage nichtweiter künstlich zu vergrößern, war der Kurs der staat-lichen Fiskalpolitik in den letzten Jahren expansiv oderzumindest neutral. Kurzfristig ist für Japans Wirtschaftund Gesellschaft die Verschuldungspolitik sicherlichdas geringere Übel. Je länger jedoch die unvermeid-bare fiskalische Konsolidierung und Sanierung hinaus-gezögert wird, desto schmerzhafter und beschwerlicherwird sie am Ende sein.

Was sind die Kosten der hohen und wachsendenöffentlichen Verschuldung für Japans Wirtschaft undGesellschaft? Keynesianisch ließe sich argumentieren,daß die laufende Verschuldung für Konjunktur undWachstum positiv sind, da im gegebenen Unter-beschäftigungsgleichgewicht die durch Schulden-aufnahme finanzierten expansiven Staatsausgabenkeine privaten Konsum- und Investitionsausgabenverdrängen würden (sogenanntes »Crowding-Out«).Diese Sichtweise übersieht jedoch die negativen Ver-trauenseffekte, die von der hohen Staatsverschuldungausgehen. Japans private Konsumenten sehen mitwachem Auge die staatlichen Schuldenlast und fürch-ten eine Schmälerung der eigenen Einkommen undVermögen in der Zukunft. Anstatt zu konsumierenund damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zustärken, sparen sie und kaufen Staatsanleihen.52

Bedenklicher als diese allokativen Effekte sind abernoch die »intertemporalen« Verteilungseffekte der

52 Siehe hierzu Allan H. Meltzer, Monetary Transmission atLow Inflation: Some Clues from Japan, in: Monetary and Eco-nomic Studies, Special Edition, 19 (Februar 2001), S. 29f;Toshiki Tomita, Japan�s Fiscal Predicament: The Threat of Non-Keynesian Effects, in: NRI-Quarterly (Tokyo), Frühjahr 1998.

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Japans Staatsfinanzen in der Schuldenfalle?

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japanischen Staatsverschuldung. Langfristig bedeutendie hohen öffentlichen Schulden eine Lastenverschie-bung von der gegenwärtigen zur kommenden Gene-ration, die später einmal die öffentlichen Schuldentilgen und verzinsen muß. Nachdem eine Steuer-finanzierung der laufenden Haushaltsdefizite bislangkonjunkturell nicht sinnvoll und politisch nichtdurchsetzbar war, wird die Steuerbelastung in Zu-kunft entsprechend höher ausfallen müssen. DieLastenverschiebung in die Zukunft ist um so prekärer,als im Zuge des laufenden demographischen Über-gangs der Anteil der im Arbeitsleben aktiven Bevöl-kerung in den kommenden Jahren schrumpfen, derAnteil der Älteren jedoch kräftig ansteigen wird. Umdie kommenden sozialstaatlichen Belastungen besserzu bewältigen, müßte eine verantwortungsvolleFiskalpolitik Überschüsse bilden, nicht aber Defizite.Prekär ist diese Lastenverschiebung aber auch mitBlick auf so manche der Gegenwerte, die mittelsstaatlicher Schuldenaufnahme geschaffen wurden:Brücken und Straßen, die hohe Betriebskosten verur-sachen, aber kaum genutzt werden, überdimensio-nierte Flughäfen, die wegen hoher Landegebührenvon Fluggesellschaften gemieden werden, versiegelteKüsten und Landschaften,53 und unausgelastete Fuß-ballstadien mit hohen Betriebskosten. Die Folgekostenall dieser Objekte werden künftigen Generationen auf-gelastet.

Wie ist die weitere Entwicklung der japanischenStaatsfinanzen einzuschätzen? Befindet sich Japanbereits in einer Schuldenfalle, in der es zur Bezahlungder anlaufenden Zinsen sich immer höher verschul-den muß? Angesichts des erreichten Schuldenstandesund der besorgniserregenden Dynamik der Schulden-entwicklung ist die Lage auf jeden Fall brisanter alsdie der ähnlich eingestuften Länder Estland, Chile,Ungarn und Botswana. Eine Schuldenkrise Japanshätte zudem sehr viel gravierendere Auswirkungenauf die Weltfinanz- und Kapitalmärkte und auf dieWeltwirtschaft. Dennoch ist die Situation Japanselementar anders als die Lage der meisten anderenSchuldnerländer.

Drei fundamentale Unterschiede fallen ins Auge:Zunächst einmal stehen der hohen Verschuldung desjapanischen Staates beträchtliche Vermögenspositio-nen der privaten Haushalte im In- und Ausland gegen-über. Japan ist mit einem Nettoforderungsbestand vonüber 1,1 Bill. US-Dollar der Welt größter Nettogläubi-

53 Dazu ausführlich Alex Kerr, Dogs and Demons, New York:Hill and Wang, 2001.

ger. Man könnte also argumentieren, Japan könne sicheben öffentliche Schulden über einen längeren Zeit-raum »leisten«. Diese Argumentation kann aber nurdann stichhaltig sein, wenn der Staat tatsächlich überSteuern auf das Vermögen der privaten Haushalte zu-greifen kann. In der Tat befindet sich Japan hiergrundsätzlich in einer vorteilhaften Position, da dieSumme der staatlichen Steuereinnahmen in Relationzum Bruttoinlandsprodukt des Landes noch vergleichs-weise gering ist. Japans Steuerquote beläuft sichgerade einmal auf 22,9%, während sie in den USA26,2%, in Deutschland 31,0%, in Frankreich 40,6%, inSchweden sogar 55,8% beträgt.54 Der japanischeFinanzminister hat also durchaus einen beträcht-lichen Spielraum für eine Verbesserung seiner Steuer-einnahmen, beispielsweise durch die Anhebung derallgemeinen Verbrauchssteuer oder die Verbreiterungder Bemessungsgrundlage der Einkommens- undKörperschaftssteuer. Diese theoretisch vorhandenenMöglichkeiten sagen allerdings nur wenig über dietatsächlichen Chancen einer Steuererhöhung impolitischen Prozeß aus. Alle tatsächlichen oderversuchten Steuererhöhungen Japans der vergange-nen Jahre sind nämlich auf erhebliche öffentlicheKritik und Widerstände gestoßen. Das wird sicherlichauch in Zukunft so sein. Um Steuererhöhungen zurSanierung der maroden Staatsfinanzen politischdurchzusetzen, wird es neben erheblicher politischerAnstrengungen vor allem auch ausreichender wirt-schafts- und finanzpolitischer Glaubwürdigkeit derRegierung bedürfen. Überlegungen, die japanischenStaatsfinanzen über ein erhöhtes Steueraufkommenzu sanieren, sind deshalb mit Skepsis zu betrachten.

Zum zweiten ist die hohe öffentliche Verschuldungdes japanischen Staates eine auf japanische Yenlautende Binnenverschuldung. Die Gläubiger sind imwesentlichen japanische Kreditgeber. Lediglich 3,6%der japanischen Staatsanleihen waren zum 30. Juni2002 in ausländischer Hand. Erheblich größere An-teile hielten vor allem die Bank von Japan (15,0%),private japanische Finanzinstitutionen (40,2%) und dieöffentliche Hand selbst, einschließlich des staatlichenTreuhandfonds (30,6%).55 Das Kreditausfallrisiko

54 Angaben des Finanzministeriums auf der Grundlage vonOECD-Daten; Ministry of Finance (Hg.), Let�s Talk about Taxes,Tokyo: MoF, S. 26. Die niedrige Steuerquote Japans erklärtsich u.a. durch die Finanzierung von staatlichen Leistungenüber Schattenhaushalte, insbesondere das »Fiscal Investmentand Loan Programm« (FILP). Die Staats(ausgaben)quote Japansist deshalb entsprechend höher.55 Quelle: Bank of Japan (Hg.), Monthly Report of Recent

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Japans tragen damit fast ausschließlich Inländer.Wichtiger noch: Die japanische Politik und Admini-stration können auf die unter ihrer Jurisdiktionstehenden oder zumindest mittelbar von ihr abhän-gigen Kreditgeber Druck ausüben, neu aufgelegteStaatsanleihen aufzunehmen.56 Die Gefahr einer inter-nationalen Schuldenkrise, wie in Thailand, Korea oderArgentinien, besteht also im Falle der Binnenverschul-dung Japans nicht. Eine gewichtige Einschränkungbedeutet zudem die Tatsache, daß die japanischenStaatsschulden auf Yen lauten. Ein Kreditausfallrisikoist damit nur theoretisch denkbar. Denn die Bank vonJapan wird immer in der Lage sein, in beliebigerMenge Geld zu emittieren, um japanische Staats-anleihen zu kaufen und eine drohende Zahlungsun-fähigkeit des Staates zu vermeiden. Sicherlich wäredie Rückzahlung der öffentlichen Schulden durch dieNotenpresse eine extreme Option. Sie würde ange-sichts der gesetzlich garantierten Unabhängigkeit derBank von Japan erhebliche institutionelle Brüche vor-aussetzen. Sie hätte auch einen Kursverfall derjapanischen Staatsanleihen, eine eskalierende Infla-tion und fortgesetzte Währungsverluste zur Folge.Dies wäre in der Tat das »worst case«-Szenario einerstaatlichen Überschuldung. Dieses Szenario mag un-wahrscheinlich sein, es ist aber realistischer als einoffen erklärter Staatsbankrott.57

Zum dritten befindet sich Japans Finanzminister inder glücklichen Lage, noch immer zu extrem günsti-gen Bedingungen Kapital auf Japans Rentenmärktenaufnehmen zu können. Vor dem Hintergrund derNullzinspolitik der Bank von Japan und der laufendenDeflationstendenzen verzinsen sich die Japan Govern-ment Bonds (JGB) derzeit nominal gerade einmal mit1,4%.58 Dank des niedrigen Zinssatzes ist trotz deshohen Schuldenstandes die Zinsbelastung des japani-

Economic and Financial Developments, Tokyo: BoJ, 2001.56 Dieses Argument läßt sich allerdings auch umdrehen:Japan ist damit nicht dem effektiven Frühwarnsystem aus-gesetzt, das von den internationalen Finanz- und Kapital-märkten ausgeht. Inländische (japanische) private und insti-tutionelle Anleger verlassen nicht so rasch den heimischenKapitalmarkt, wie dies ausländische Kreditgeber tun würden.57 Implizit ist genau dies die Position des japanischenFinanzministeriums. Einer ihrer? Sprecher erklärte: »Al-though we have no intention to monetize, it is the rightof a sovereign issuer to make currency. ... So it is almost un-thinkable that we would default« (zit. nach The Economist,18.5.2002, S. 76).58 Zum Vergleich: Die Nominalzinsen für US-Treasury Bondsbelaufen sich auf etwa 5,5%, für deutsche Bundesschatz-anleihen auf etwa 5%.

schen Staatshaushaltes noch immer vergleichsweisegering. So beliefen sich im vergangenen Fiskaljahr2001 die jährlichen Zinsausgaben auf 10,4 Bill. Yen.Dies entsprach gerade einmal 2% des japanischenBIP.59 Damit hat Japan heute sogar relativ geseheneine geringere Budgetbelastung durch Zinsausgabenals in den 80er Jahren. So ist aufgrund der niedrigenNominalzinsen für das japanische Schatzamt die Kapi-talaufnahme zur Tilgung und Verzinsung der angelau-fenen Schulden bislang weitgehend unproblematisch.

Die niedrigen Zinsen heute können aber nicht überden Ernst der Lage morgen hinwegtäuschen. Zwar istdie aktuelle Zinsbelastung gering, dafür ist der Schul-denstand hoch und die Dynamik im Schuldenaufbauungebrochen. Die Nominalzinsen mögen zwar niedrigsein, ökonomisch entscheidend sind jedoch die umein bis zwei Prozentpunkte höheren Realzinsen. Dielaufende Deflation geht somit nicht nur zu Lasten derüberschuldeten Unternehmen aus Japans Privatwirt-schaft, sondern bringt auch den Staat in eine prekärefinanzielle Situation. Eine dramatische Zuspitzungdürfte eintreten, sobald die Zinsen in Japan wiederansteigen. Bei Fortsetzung der laufenden Entwicklungist deshalb eine japanische Staatsschuldenkrise un-vermeidlich.60 Mittel- bis langfristig steht Japan vorder sehr schwierigen Aufgabe, seine öffentlichen Haus-halte zu konsolidieren und die Staatsfinanzen insge-samt zu sanieren. Dies kann auf dem Wege der Ein-nahmensteigerung, das heißt einer Steuererhöhungerfolgen. Es kann auch auf dem Wege der Ausgaben-senkung geschehen, was vor allem eine Verringerungder öffentlichen Investitionen und einen Abbau desSozialstaats erfordern würde. Möglich und nichtunwahrscheinlich ist aber auch eine Inflationierungder Währung. Am wahrscheinlichsten ist es, daß alledrei Optionen gewählt werden.

Strukturelle Schwächen einerdualen Wirtschaft

Seit jeher existiert neben der wettbewerbsfähigenExportwirtschaft Japans ein nur wenig leistungsfähi-ger, überregulierter Binnensektor. Zu diesem gemes-sen an Wertschöpfung und Beschäftigungsvolumengrößeren Teil der japanischen Volkswirtschaft zählen

59 Berechnungen nach den Angaben des japanischen Finanz-ministeriums, http://www.mof.go.jp/english/budget/brief/2001/brief04htm.60 Zum Szenario einer Staatsschuldenkrise siehe das Kapitelüber Krisenszenarien.

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Strukturelle Schwächen einer dualen Wirtschaft

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die Landwirtschaft, die Bauwirtschaft, der Immo-biliensektor, zahlreiche Dienstleistungen (Handel,Finanzwirtschaft, Transport, Versorgungswirtschaft)sowie weite Teile des industriellen Kleingewerbes. DieMehrzahl der hier angesiedelten Betriebe kann imnationalen Wettbewerb nur dank der Abschottung desBinnenmarktes und der intensiven sektoralen Regulie-rung überleben. Die Bauwirtschaft profitiert zudemvon den vielen öffentlichen Aufträgen.61

Das Problem der strukturschwachen BranchenJapans hat sich in den 90er Jahren trotz der zahlreichenmedienwirksamen Deregulierungsmaßnahmen zuge-spitzt. Da viele der betroffenen Sektoren (Landwirt-schaft, Bau, Handel, Kleingewerbe) gut mit der Politikund der Ministerialbürokratie vernetzt sind, haben siees verstanden, zur »Überbrückung« der Krise »tempo-räre« staatliche Hilfen oder laufend öffentliche Auf-träge zu erwirken. Neben den regulären Haushalts-ausgaben wurden diese Maßnahmen über Schatten-haushalte und Konjunkturpakete finanziert. Per saldohat sich damit in den 90er Jahren das Ausmaß derStrukturbeihilfen und Anpassungssubventionen fürwettbewerbsschwache Sektoren eher erhöht. DieseProtektion ist mithin dafür verantwortlich, daß dietraditionelle duale Struktur der japanischen Wirtschafttrotz der gesamtwirtschaftlichen Nachfrageschwächeund der Importliberalisierung intakt geblieben ist.Insbesondere der Anteil der Bauwirtschaft an dergesamtwirtschaftlichen Leistungserstellung ist mitnoch gut 7% im Jahre 2000 weiterhin sehr hoch. DieBeschäftigung in diesem Sektor hat im Laufe der 90erJahre sogar zugenommen. Ein weiterer Problemsektor,der Einzelhandel, hat in den 90er Jahren das Angebotan Einzelhandelsflächen beträchtlich erweitert.

Die staatliche Protektion der strukturschwachenpolitiknahen Branchen hat � wie bereits erwähnt � dasgesamtwirtschaftliche Produktivitätsniveau gesenkt.Sie hat die Entstehung und Entwicklung neuer Märktebehindert. Die Protektion ist damit auch dafür verant-wortlich, daß die Profile von gesamtwirtschaftlichemAngebot und Nachfrage nicht mehr zusammenpassen.Hätte es die Kapital-Fehlallokationen in den 80er und90er Jahren nicht gegeben, fielen heute wohl die effek-tive gesamtwirtschaftliche Nachfrage höher und diegesamtwirtschaftliche Nachfragelücke geringer aus. Eswäre aus volkswirtschaftlicher Sicht sinnvoller

61 Dazu in detaillierter empirischer Darstellung McKinseyGlobal Institute, Why the Japanese Economy Is Not Growing:Micro Barriere�s to Productivity Growth, Washington:McKinsey, Juli 2000.

gewesen, die Priorität der staatlichen Ausgaben nichtauf die politischen Klientelinteressen zu legen, sondernauf die Schaffung einer angemessenen Infrastrukturfür den IT-Sektor, auf den Gesundheits- und Pflegesek-tor, den privaten Wohnungsbau und den Umwelt-schutz zu legen.62 So kann es nicht verwundern, daßdie Alimentierungspolitik von der übrigen Privatwirt-schaft zunehmend kritisch gesehen wird. Denn für dieUnternehmen der gewerblichen Wirtschaft, die iminternationalen Wettbewerb stehen, wird die Existenzder leistungsschwachen Branchen zu einer immergrößer werdenden Belastung. Die auf »Überregulie-rung« zurückzuführenden hohen inländischen Kostenfür Land, Energie, Transport, Kommunikation, Distri-bution und unternehmerische Dienstleistungen sindgravierende Wettbewerbsnachteile am Standort Japan.Die hohen Kosten sind auch eine der wesentlichenAntriebskräfte für die Verlagerung von industriellenFertigungsstätten nach China.

Eine wirtschaftspolitische Umkehr bei der Alimen-tierung und Regulierung der strukturschwachenBranchen hätte nicht nur positive volkswirtschaftlicheEffekte zur Folge, sie würde auch einen wichtigenBeitrag zur fiskalischen Konsolidierung leisten. Tat-sächlich ist die grundsätzliche Notwendigkeit wirt-schaftspolitischer Reformen in diesem Bereich inPolitik, Wirtschaft und Administration Japans prinzi-piell unumstritten und es wurden in den vergangenenJahren bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen. Soverfolgte die Wirtschaftspolitik Mitte der 90er Jahreein umfangreiches Deregulierungsprogramm undauch der reformorientierte Ministerpräsident Koizumiverfügte eine Begrenzung der jährlichen Budget-ausgaben für öffentliche Bauten. Zahlreiche wett-bewerbsbeschränkende staatliche Vorschriften undHandelshemmnisse wurden aufgehoben odergelockert, was spürbare Preissenkungen für Konsu-menten und Unternehmen zur Folge hatte, so zum Bei-spiel bei den Einzelhandelspreisen für Lebensmittelund Bekleidung.

Trotz der positiven Ansätze ist der erforderlichegrundsätzliche Kurswechsel hin zu einem freien,transparenten und regelgebundenen Regulierungs-system nicht zu erwarten. Zum einen sind die Wider-stände in den betroffenen Branchen, aber auch inPolitik und Verwaltung zu groß. Ein derartiger Schritt

62 Genau diese Sektoren wurden im jüngsten Bericht desMETI-Ausschusses für industrielle Struktur als Wachstums-branchen identifiziert; Ministry of Economy, Trade and Industry(Hg.), White Paper on International Trade: External EconomicPolicy Challenges in the 21st Century, Tokyo: METI, 2001.

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würde traditionelle Besitzstände und alte Gewohn-heiten gefährden. Zum anderen ist eben das freie,transparente und regelgebundene Regulierungs-system, das in erster Linie den Verbrauchern und denSteuerzahlern verpflichtet ist, nicht das konzeptio-nelle Ziel von industrieller Regulierung in Japan.63

Regulierung ist in Japan in erster Linie sozial- undbeschäftigungspolitisch motiviert und verfolgt diesektoralen Entwicklungen in einer ganzheitlichenSichtweise. Zielgrößen sind etwa Versorgungssicher-heit, Verteilungsgerechtigkeit, Beschäftigungssiche-rung und die Wettbewerbsfähigkeit der Branche. Diestaatliche Einflußnahme auf die Privatwirtschafterfolgt über die Vergabe von Lizenzen, spezielle Hand-lungsanweisungen an die Betriebe, über informelleKontakte zwischen Ministerium und Unternehmens-leitung sowie über staatliche Mitwirkung in öffent-lichen oder privaten Institutionen und Körperschaf-ten, deren Aufgabe die Selbstregulierung der Bran-chen ist, zuweilen auch ihre Kartellierung. Vondiesem Regulierungssystem eines engen und einver-nehmlichen Zusammenwirkens haben in der Vergan-genheit Administration, Politik und Produzentengleichermaßen profitiert, zumeist zu Lasten der Ver-braucher oder der Allgemeinheit. Eine grundsätzlicheÄnderung des Systems liegt nicht im Interesse derBeteiligten. Die Deregulierungsbemühungen der 90erJahre zielten deshalb nur auf eine Verbesserung vonEffizienz, auf eine Revitalisierung des Systems, sowieauf eine Verringerung der fiskalischen Kosten. Es gingnicht um einen Rückzug des Staates zugunsten derSelbstregulierungskräfte des Marktes. Deregulierungin Japan bedeutet nicht Marktöffnung und Befreiungvon staatlicher Bevormundung, sondern nur, wie es indem in Japan üblichen Begriff (für Deregulierung)zum Ausdruck kommt, eine »Lockerung der Regeln«(kisei kanwa). Es kann deshalb auch nicht über-raschen, daß der Prozeß der japanischen Deregulie-rung aus der Sicht ausländischer Wettbewerber bis-lang enttäuschend war.64 Zwar ist zu erwarten, daßder Deregulierungsprozeß in den kommenden Jahren

63 Für eine Darstellung von Regulierung und Deregulierungin Japan siehe: Lonny E. Carlile/Mark C. Tilton, RegulatoryReform and the Developmental State, in: dies., Is Japan ReallyChanging Its Ways? Regulatory Reform and the JapaneseEconomy, Washington: Brookings Institution Press, 1998,S. 1�10; Mark C. Tilton, Regulatory Reform and Market Open-ing in Japan, ebd., S. 184�191.64 Siehe Carlile/Tilton, Is Japan Really Changing Its Ways?[Fn. 63], S. 206�216; Edward J. Lincoln, Arthritic Japan,Washington: Brookings Institution Press, 2001, S. 154�164.

voranschreitet. Entscheidende Impulse auf eine öko-nomische oder technologische Erneuerung werdenvon ihm aber nicht ausgehen. Deshalb dürfte dieduale Struktur der japanischen Wirtschaft auch lang-fristig Bestand haben.

Japans Unternehmensmodell im Wandel

Aufgrund seiner beeindruckenden Weltmarkterfolgeund innovatorischen Leistungen galt das japanischeUnternehmensmodell bis Anfang der 90er Jahre weit-hin als Vorbild für langfristig ausgerichtetes, effek-tives Management. Organisatorische Innovationen wie»Kaizen«, »Just-in-Time-Production«, »Total QualityControl« wurden in japanischen Unternehmen ent-wickelt und von westlichen Betrieben mit Erfolgübernommen. So erfolgreich dieses Unternehmens-modell Japan den Prozeß des wirtschaftlichen undtechnologischen Aufholens aber ermöglichte,65 soschwer taten sich die Unternehmen in der Stagna-tionsperiode der 90er Jahre, im globalen Wettbewerbmitzuhalten und den unvermeidbaren strukturellenWandel zu gestalten. Sie konnten die in der US-Wirt-schaft erzielten Produktivitätsverbesserungen imDurchschnitt nicht nachvollziehen, und Japan fiel inallen internationalen Vergleichen der unternehmeri-schen Wettbewerbsfähigkeit deutlich zurück.66

Offensichtlich hat das japanische »Stakeholder«-Modell, in dem das typische japanische Unternehmendie Arbeitsbeziehungen, die Finanzierung, das indu-strielle Zulieferwesen und den Vertrieb mit langfristi-gen Vertragsbeziehungen organisiert und in demBeteiligungen am Aktienkapital eher dokumentari-schen Charakter haben und dem Schutz vor unfreund-licher Übernahme dienen,67 zwei implizite Voraus-setzungen, die nun nicht mehr vorliegen, nämlich einhohes gesamtwirtschaftliches Wachstum und eine

65 Siehe M. Aoki/H. Patrick, The Japanese Main Bank System:Its Relevance for Developing and Transforming Economies,Oxford: Oxford University Press, 1994.66 Für eine Zusammenstellung siehe T. Callen/M. Mühleisen/S. Kalra/T. Nagaoka/B. Hunt/D. Laxton/W. J. McKibbin, Japan:Selected Issues, Washington: IMF, 2001, S. 84.67 Für einen Überblick siehe Aoki/Patrick, The Japanese MainBank System [Fn. 65]; Hanns Günther Hilpert, StrategischeUnternehmensverflechtung in Japan (Keiretsu): Vorteile iminternationalen Wettbewerb?, in: ifo schnelldienst, 47 (1994)27, S. 17-24; T. Hoshi/A. Kashyap/D. Scharfstein, Corporate Struc-ture, Liquidity and Investment: Evidence from JapaneseIndustrial Groups, in: Quarterly Journal of Economics, 27(1991) 1.

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Japans Unternehmensmodell im Wandel

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pyramidenförmige demographische Struktur. Unterden veränderten Rahmenbedingungen der 90er Jahrewaren aber nicht mehr die effektive Mobilisierung vonRessourcen und der Ausgleich von Interessen in einerinnerjapanischen Wachstumskoalition der entschei-dende Erfolgsfaktor, sondern Transparenz, Neutrali-tät, Effizienz und Reaktionsgeschwindigkeit. Das japa-nische System zeigte sich als wenig leistungsfähig, alsineffizient, als intransparent und zuweilen auch alskorrupt. Unter den veränderten Rahmenbedingungender 90er Jahre waren zunächst nur wenige Unter-nehmen in der Lage, die richtigen Weichenstellungenvorzunehmen.68 Andererseits erwiesen sich die Ver-sprechungen lebenslanger Anstellung und senioritäts-bezogener Bezahlung angesichts der fallenden Um-sätze und Gewinne als brüchig. Zutage traten betrieb-liche Verletzungen von gesetzlichen Sicherheits- undGesundheitsnormen, kriminelle Geschäftspraktikenund Korruptionsskandale. Diese Ereignisse wie auchgenerell die schlechten Geschäftsergebnisse der Unter-nehmen werden als ein Versagen von Aufsicht undKontrolle der Hausbanken und der staatlichen Auf-sichtsbehörden � generell als Systemversagen �bewertet.

Die genannten Defizite zeigen an, daß die ange-strebte Revitalisierung der japanischen Wirtschaftnicht allein mit wirtschaftspolitischen Maßnahmenauf der Makro- und Branchenebene gelingen kann,sondern auch einschneidender institutioneller Refor-men auf der Unternehmensebene bedarf. Für eineRestrukturierung müßten die Unternehmen dieAnsprüche der Stakeholder-Gruppen (d.h. der Beschäf-tigten, der Geschäftspartner auf der vor- und der nach-gelagerten Ebene, der staatlichen Bürokratie) zurück-drängen und ihre Geschäftspolitik eindeutig an derbetriebswirtschaftlichen Rentabilität ausrichten. Einesolche Reformagenda bedarf eines Aufsichtsrates, derdas Management wirksam kontrolliert und allein denAktionären verantwortlich wäre. Eine derartige vor-rangige Ausrichtung an Effizienz und unternehme-rischer Leistungsfähigkeit zu Lasten gesellschaftlicherTeilhabe und Verteilungsgerechtigkeit würde das japa-nische Unternehmensmodell dem angelsächsischenSystem annähern. Dieser Wandel wird allerdings nochvon Wirtschaft und Gesellschaft Japans mehrheitlichabgelehnt. Ihm stehen zudem zahlreiche Hindernisse

68 Siehe Michael E. Porter/Hirotaka Takeuchi/Mariko Sakakibara,Can Japan Compete, Cambridge, MA 2000.

entgegen, so daß der bisherige Transformationsprozeßnur äußerst schleppend verläuft:69

! Die inflexiblen japanischen Arbeitsmärkte hemmendie betriebswirtschaftlich notwendigen unterneh-merischen Restrukturierungsprozesse. Ein Arbeits-platzwechsel scheitert oftmals an der einfachenTatsache, daß Rentenansprüche bei Kündigungenverfallen. Betriebsbedingte Kündigungen unter-liegen starken Beschränkungen durch das Arbeits-recht. Anpassungen erfolgen deshalb fast aus-schließlich über Frühpensionierung, Versetzungund den Verzicht auf Neueinstellung.70

! Infolge unzureichender Vorschriften für die Rech-nungslegung, insbesondere unpräzisen Bewertungs-maßstäben für Vermögenswerte, mangelt es denUnternehmensbilanzen an der notwendigen Klar-heit, Aussagekraft und Transparenz. Nicht zuletztaus diesem Grunde entscheiden über Unter-nehmensfusionen und -übernahmen weiterhin dieStakeholder selbst. Außenseitern fehlen die erfor-derlichen betriebswirtschaftlichen und finanziellenInformationen, um unabhängig vorgehen zukönnen. Bei einem Konflikt würden sie außerdemauf erhebliche Widerstände stoßen. Für auslän-dische Investoren ist zudem die steuerliche Diskri-minierung ausländischer Unternehmen bei Unter-nehmensakquisitionen ärgerlich.71

! Die Kredit- und Kapitalmärkte funktionieren in-folge der Verwerfungen in Gefolge des Zusammen-bruchs der Bubble Economy oft nur mangelhaft, sodaß viele etablierte Kreditnehmer trotz ausbleiben-der Tilgung weiterhin Kredite erhalten, währendpotentiellen Neukunden der Zugriff auf Kreditkapi-tal verweigert wird.

! Der mittel- bis langfristig unvermeidbare institutio-nelle Wandel gefährdet zwangsläufig auch institu-tionelle und finanzielle Besitzstände der Unter-nehmensleitung und Ministerialbürokratie. Eskann deshalb nicht überraschen, daß Entschei-dungsträger, die kurz vor der Pensionierung stehen,Änderungen zu ihren Lasten mit allen ihnen zur Ver-fügung stehenden Mitteln hintertreiben. Unter-

69 Siehe Martin Schulz, The Reform of (Corporate) Gover-nance in Japan, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsfor-schung, 70 (2001) 4, S. 533�538.70 Siehe Callen et al., Japan: Selected Issues [Fn. 66], S. 85�88.71 Zum letzten Punkt siehe Nicholas Benes, Reform Ideas.How to Promote FDI in Japan. Japanese Corporations WouldBenefit if Acquisitions by Foreign Companies Were En-couraged through Legal Reforms, in: The Asian Wall StreetJournal, 3.6.2002, S. 11.

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nehmerische Restrukturierungsprozesse setzendeshalb oft einen Generationswechsel voraus.Die Aufstellung verdeutlicht, warum der unter-

nehmerische Transformationsprozeß so langsam undzögerlich verläuft. Hoffnungsfroh stimmt immerhin,daß der Gesetzgeber nach und nach die Grundlagenfür den ablaufenden Wandel schafft.72 Als Meilensteineanzusehen sind die Deregulierung und Liberalisierungder Finanzmärkte (Big Bang, 1997�2002), die Zulas-sung von Holding-Gesellschaften (1998), die Moderni-sierung des Insolvenzrechts (2000), die Präzisierungvon Rechnungslegung und Bewertungsvorschriften(seit 2000) und die geplante aktionärsfreundliche Um-gestaltung des Unternehmensrechts.

Auf der Ebene der Unternehmen selbst ist diegrundsätzliche Notwendigkeit stärkerer Ausrichtungan Eigenkapitalrentabilität und Aktionärsinteressenim Prinzip unumstritten und die Umstrukturierunghat bereits beträchtliche Fortschritte gemacht. Unter-nehmensvorstände werden verkleinert, ihre Entschei-dungsgewalt aber vergrößert. Zudem besetzen Unter-nehmen ihre Vorstandspositionen zunehmend extern.Der zwischenbetriebliche Transfer von Pensionsan-sprüchen bei einem Stellenwechsel ist möglich gewor-den. Die Anteile wechselseitigen Aktienbesitzes imUnternehmenssektor nehmen ab. Statt dessen investie-ren private Haushalte und Ausländer zunehmend imAktienmarkt. Die großen Unternehmenskonglome-rate, insbesondere im Elektrosektor, entflechten ihreAktivitäten, mit dem Ziel besserer Rentabilität und derKonzentration auf Kernkompetenzen. Die Zahl derUnternehmensfusionen und -übernahmen steigt seitMitte der 90er Jahre, wobei die industrielle Umstruk-turierung teilweise dem Konsolidierungsmuster imBankensektor folgt. Statt vormals acht gibt es heutemit der Mitsubishi-Gruppe, der Mitsui-Sumitomo-Gruppe, der Mizuho-Gruppe und der Sanwa-Tokai-Gruppe nur noch vier große Unternehmensgruppenin Japan. Ausländische, vornehmlich westliche Unter-nehmen, sind aufgrund ihres Management-Know-hows, ihrer Absatzkanäle im Ausland und ihrer Repu-tation attraktive Partner, die konkreten Restrukturie-rungsprozessen sowohl Nachdruck als auch Glaub-würdigkeit verleihen. Die erfolgreiche Sanierung desangeschlagenen Automobilherstellers Nissan durchden von Renault entsandten Manager Carlos Ghosn

72 Siehe Schulz, The Reform of (Corporate) Governance inJapan [Fn. 69], S. 538�543; Yishay Yafeh, Corporate Governancein Japan: Past Performance and Future Prospects, in: OxfordReview of Economic Policy, 16 (2000) 2, S. 83.

gilt als beispielgebend für die Restrukturierung derjapanischen Industrie.

Die genannten Tatsachen sind ermutigend, abernoch fehlt dem Prozeß die notwendige Breite. Sodürften noch weitere fünf bis zehn Jahre verstreichen,bis er abgeschlossen ist und die getroffenen Maßnah-men ihre volle Wirkung zeigen. Zudem wird eineStimulierung nur dann gelingen können, wenn diegesamtwirtschaftliche Nachfrage sich erholt und diepolitischen und gesellschaftlichen Rahmendatenwieder intakt sind. Mit anderen Worten. Die Politik inJapan ist aufgerufen, den Vorleistungen der Privatwirt-schaft zu folgen.

Reformblockaden in Politik und Gesellschaft

Die in den vorangehenden Kapiteln beschriebenenStrukturdefizite � bedrohliche Schieflage im Banken-sektor, wachsende Last der Staatsschulden, hohesRegulierungsniveau, institutionelle Schwächen imjapanischen Unternehmensmodell � machen deutlich,daß die Stagnations- und Transformationskrise Japanseben nicht nur auf fehlender gesamtwirtschaftlicherNachfrage beruht, sondern auch ein gravierendesAngebotsproblem ist. Es sind nämlich die genanntenStrukturdefizite, welche für die hohen Produktions-kosten in Japan und die niedrige Rentabilität von Inve-stitionen in der gewerblichen Wirtschaft verantwort-lich sind und Japan im Zustand konjunkturellerStagnation verharren lassen. Dabei ist mit den genann-ten Punkten die Liste der Strukturprobleme Japansnoch gar nicht vollständig aufgezählt. Zu erwähnensind etwa auch der Nachholbedarf im Umweltschutz,die institutionellen Mängel in Steuersystem undFinanzverfassung, die Lücken im sozialen Sicherungs-system, sowie das Bildungssystem.73

Warum fällt Japan die Bewältigung seiner Reform-agenda so schwer? Zwar finden Reformen seit mehre-ren Jahren statt, doch bleiben die im politischen Pro-zeß getroffenen Entscheidungen hinter dem jeweilsErforderlichen weit zurück. Grundlegende Verände-rungen in den obengenannten Bereichen müßtennicht nur den Widerstand mächtiger Partikularinter-essen überwinden, sondern würden auch an denGrundfesten des in der Nachkriegszeit gewachsenen

73 Eine Zusammenstellung, Erörterung und Bewertung derStrukturprobleme Japans und der notwendigen Struktur-reformen findet sich in den OECD-Berichten zu Japan, sieheOECD (Hg.), OECD Economic Surveys Japan 1998�1999, Paris:OECD, S. 191�226, und Ausgabe 1999�2000, S. 95�133.

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Reformblockaden in Politik und Gesellschaft

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Wirtschafts- und Gesellschaftssystems rühren. Füreinen radikalen Systemwandel ist Japan offensichtlichnoch nicht bereit. Dem an sich notwendigen Verände-rungsprozeß stehen durchgreifende Reformblockadenin Gesellschaft, Politik und Administration entgegen:! Von der Wählern geht kein klares Mandat für einen

politischen und wirtschaftlichen Wandel aus. Dierechnerische Mehrheit der Wahlbevölkerung profi-tiert partikularistisch vom bestehenden Wirt-schaftssystem. Die ländlichen Regionen, die Land-wirtschaft, die Bauwirtschaft, die Hausbesitzer, dieÄrzte und der Gesundheitssektor, die staatlicheBürokratie, und die Gruppe der mittleren An-gestellten werden sich zuverlässig immer danngegen Veränderungen stellen, wenn sie selbst vonihnen betroffen sind. Das bestehende Wirtschafts-modell der »Japan Incorporated«, das bis in die 90erJahre den Menschen Wohlstand und Wachstum,Gleichheit und Sicherheit garantierte und in demtraditionellen Kanon der Werte und Verhaltens-weisen des Landes74 tief verwurzelt ist, steht nichtgrundsätzlich in Frage.75 Reformen werden von derBevölkerung zwar durchaus gewünscht und dergegenwärtige reformorientierte MinisterpräsidentKoizumi erfreut sich hoher Popularität. Aber er hatbestenfalls einen abstrakten Pakt mit der medialenÖffentlichkeit geschlossen. Seine Macht verdankt ernicht dem allgemeinen Wählerwillen, sondern derUnterstützung durch die Untergliederungen derRegierungspartei LDP.

! Der notwendige wirtschaftliche und gesellschaft-liche Veränderungsprozeß müßte eigentlich � wiefür eine konstitutionelle Demokratie üblich undgeboten � von der Politik geleitet und gestaltetwerden. In Japan sind aber für die inhaltliche undkonzeptionelle Gestaltung von Gesetzesvorhabenin aller Regel nicht Regierung und Parteien maß-gebend, sondern die Ministerialbürokratie und dieaus ihr hervorgehenden Vizeminister. Die faktischeAufgabe der Politik liegt vor allem in der Vertre-tung und im Ausgleich der zahlreichen Partikular-interessen. Eine dominierende Rolle spielen hierbeidie machtvollen informellen politischen Interes-

74 Als traditionelle japanische Werte gelten beispielsweisedie Gruppenorientierung, die Präferenzen für Sicherheit unddie Angst vor Risiken, der Respekt für Hierarchie, die Bedeu-tung persönlicher Beziehungen, das Wahren von Gesicht undäußerer Fassade, das Gebot zu Konsens und Harmonie.75 Siehe hierzu detailliert: Edward J. Lincoln, Arthritic Japan.The Slow Pace of Economic Reform, Washington: BrookingsInstitution Press, 2001, S. 94�152.

senverbände (zoku), die � im festen Griff der jewei-ligen Lobbygruppe � sowohl den institutionalisier-ten Meinungsbildungsprozeß innerhalb der Regie-rungspartei LDP als auch den parlamentarischenGesetzgebungsprozeß in ihren Grundzügen letzt-lich bestimmen. Der überragende Einfluß der»zoku« ist die bedeutendste, aber nicht die einzigeinstitutionelle Hürde, die einem tiefgreifendenReformprozeß entgegensteht. Folgenschwer sindauch das repräsentative Übergewicht der länd-lichen Wahlkreise, die starke Abhängigkeit derParlamentarier von ihren lokalen, meist agrarischoder kleingewerblich dominierten Unterstützer-gruppen (koenkai) sowohl bei der Mobilisierungvon Wählerstimmen als auch bei der Finanzierung,und das Fehlen von Richtlinienkompetenz oderexekutiven Vollmachten des Premierministers.76

Aufgrund dieser Strukturen ist die Politik Japanszur Impulsgebung oder zur Gestaltung des wirt-schaftlichen und gesellschaftlichen Wandels nichtwirklich in der Lage. Selbst ein so veränderungs-bereiter und reformorientierter Ministerpräsidentwie Junichiro Koizumi muß sich weitgehend aufseine Rolle als Vermittler in Interessenkonfliktenbeschränken. Anstatt überkommene Strukturenaufzubrechen und den unvermeidlichen wirtschaft-lichen und gesellschaftlichen Wandel positiv zugestalten, läuft die Politik den Ereignissen hinter-her.

! Die trotz allem beschlossenen Strukturreformenentspringen also nicht dem demokratischen Willenzur Veränderung oder dem Gestaltungswillen derPolitik, sondern sind eher Entscheidungen vonTechnokraten aus grundsätzlicher Einsicht in dieökonomischen Sachzwänge vor dem Hintergrundder anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation.Höchst problematisch ist auch die Rolle der Admi-nistration als Träger des reformerischen Wandelsselbst, da sie ein nicht zu unterschätzendes Eigen-interesse am Festhalten des Status quo hat. DasWirken der Beamtenschaft, die � durch elitäre Aus-lese geformt � ein hohes Arbeitsethos verkörpertund in engem kooperativem Zusammenwirken mitder Privatwirtschaft den wirtschaftlichen und tech-nologischen Aufholprozeß in der Nachkriegs-periode vorantrieb, wirkt bis heute als Mythos und

76 Zu den Reformblockaden in der Politik, siehe: Aurelia G.Mulgan, Japan: A Setting Sun, in: Foreign Affairs, 79 (2000),S. 40�52; A Survey of Japan: What Ails Japan?, in: The Econo-mist, 20.4.2002, S. 6�11.

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Japans ökonomische Malaise: Stagnation und Transformation im Dauerzustand

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Ansporn in der Ministerialbürokratie fort. Der Ein-satz der Bürokraten erfolgte aber nie uneigennüt-zig. Aufgrund der zahlreichen staatlichen Interven-tionsmöglichkeiten77 halten die Beamten eineeinzigartige Machtposition gegenüber der Wirt-schaft und dürfen deshalb auch mit gut dotiertenStellen nach der Pensionierung (»amakudari«)rechnen, die eine Kompensation für die im Ver-gleich zur Privatwirtschaft generell schlechtereEntlohnung ist. Es versteht sich von selbst, daß einsolches System in hohem Grade korruptionsanfälligist. Zweifellos hat die Beamtenschaft ein nicht zuunterschätzendes Eigeninteresse am Fortbestehender »Japan Incorporated«. Sie wird den Reform-prozeß eher blockieren als vorantreiben.Zusammenfassend ist festzustellen, daß der gesell-

schaftliche und politische Veränderungs- und Reform-druck insgesamt schwach ist. Da zudem das bestehen-de Wirtschaftssystem tief in dem gewachsenen Werte-system Japans verankert ist, kann ein ökonomischerund gesellschaftlicher Wandel Japans nur in Gleich-klang mit einem entsprechenden Wertewandel gelin-gen. Transformation und Reform in Japan werdenwohl auch in Zukunft nur graduelle Fortschrittemachen.

77 Die Möglichkeiten der japanischen Bürokratie, ihren Ein-fluß und ihre Macht gegenüber der Wirtschaft geltend zumachen, sind vielfältig. Sie beginnen bei der behördlichenVergabe von öffentlichen Aufträgen oder der Erteilung vonLizenzen, erstrecken sich auf Finanztransfers an ländlicheRegionen, an die Landwirtschaft und an andere Industrien,beinhalten die sogenannten administrativen Handlungs-empfehlungen (administrative guidance) und die indikativenPlanvorgaben im Rahmen staatlicher Entwicklungspläne undindustriepolitischer Visionen, und umfassen stets die Mög-lichkeit, außerplanmäßig Betriebs- oder Finanzprüfungenvorzunehmen.

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Wirtschaftspolitische Kontroversen und wirtschaftspolitische Optionen

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Wirtschafts- und Konjunkturpolitik in der Sackgasse

Wirtschaftspolitische Kontroversen undwirtschaftspolitische Optionen

Die Tiefe des Wachstumseinbruchs und die Dauer derStagnation der zweitgrößten Volkswirtschaft der Erdehaben eine breite, vor allem in Japan und den USAgeführte Debatte um die »richtige« Wirtschaftspolitikzur Bewältigung der japanischen Wirtschaftskrisehervorgerufen. Während in bestimmten Punktendurchaus ein theoretischer Konsens gefunden werdenkonnte, zum Beispiel ist die Priorität, die der Lösungder Schulden- und Bankenkrise einzuräumen ist, un-umstritten, und es überwiegt insgesamt der Eindruckeiner bislang unentschiedenen Debatte und zuweilender Ratlosigkeit. Die zum Teil heftigen Kontroversenkreisen insbesondere um die folgenden Fragen:! Führen eher konjunkturstimulierende oder struk-

turell ansetzende Maßnahmen zu der angestrebtenwirtschaftlichen Gesundung?

! Ist Fiskalpolitik, Geldpolitik oder Währungspolitikder erfolgversprechende Therapieansatz im Rah-men der Nachfragesteuerung?

! Warum haben die Stimulierungsmaßnahmen bzw.die Strukturpolitik der vergangenen zehn Jahrenicht die erhofften Ergebnisse erzielen können?Wie bereits ausgeführt, widersprechen sich die

parallelen Ursachenanalysen von Nachfragetheoreti-kern und Angebotstheoretikern nicht zwangsläufig.Die japanische Stagnations- und Transformationskriseläßt sich sowohl auf gesamtwirtschaftliche Nachfrage-defizite als auch auf strukturelle Probleme zurück-führen. Die Erfahrungen der 90er Jahre haben indes-sen ein verhängnisvolles Dilemma zwischen einseiti-ger Nachfragepolitik und Strukturpolitik offengelegt.Einerseits hätte eine entschlossene Politik der struk-turellen Bereinigung einen Anstieg der Unternehmens-konkurse und eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit zurFolge. Einkommen, Produktion und BeschäftigungJapans würden weiter sinken und die deflatorischeLücke würde anwachsen. Andererseits geht eine Wirt-schaftspolitik, die allein auf dem Wege der Nachfrage-steuerung operiert, kurz- und mittelfristig zu Lastender grundsätzlich notwendigen Strukturreformen.Reformen werden verschoben, um die prioritäre kon-junkturelle Gesundung nicht zu gefährden. Wenn sich

aber die konjunkturelle Situation gebessert hat � sogeschehen in den kurzen Aufschwungperioden der90er Jahre � fehlt der öffentliche Druck, den Reform-prozeß wieder aufzunehmen. Um diese Abläufewissend, propagieren die Reformgegner in Politik undAdministration Japans die Politik der Nachfragesteue-rung. So wurden in den Jahren 1992 bis 1999 laufendfiskalische Ausgabenprogramme aufgelegt, die zudemreichlich Raum zur Alimentierung der eigenen Klien-tel ließen. Seit 1999 wird vehement von den Reform-gegnern eine Anti-Deflationspolitik oder die Abwer-tung des Yen gefordert. Problematisch ist die Politikder Nachfragesteuerung aber auch deshalb, weil ohnebegleitende strukturpolitische Maßnahmen kaum derangestrebte Umschwung hin zu positiven und opti-mistischen Zukunftserwartungen unter Japans Kon-sumenten und Investoren gelingen wird.

Vor diesem Hintergrund kann allein eine geeigneteVerbindung von Nachfrage- und Strukturpolitik erfolg-versprechend sein. Die Überwindung der pessimisti-schen Grundstimmung unter Konsumenten undInvestoren müßte konjunkturpolitisch Prioritäterhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Stimulie-rung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage notwen-dig, aber nicht hinreichend. Des weiteren bedarf eseines mittelfristigen Reformfahrplans, dessen Um-setzung sofort beginnen müßte. Die Wirtschaftspolitikmüßte also gleichzeitig und abgestimmt Maßnahmenauf den Ebenen der Fiskalpolitik, der Geldpolitik, derWährungspolitik und der Strukturpolitik treffen. Diefolgenden Abschnitte beleuchten die zurückliegendenErfahrungen und die begrenzten Erfolge Japans indiesen Politikbereichen. Sicherlich hat die nachfrage-orientierte Konjunkturpolitik der 90er Jahre einAbgleiten Japans in eine Depression verhindernkönnen, es gelang aber nicht die angestrebte nach-haltige Stimulierung der wirtschaftlichen Aktivität. Inder nun gegebenen Konstellation verbleiben nur nochwenig erfolgversprechende Handlungsalternativen.

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Wirtschafts- und Konjunkturpolitik in der Sackgasse

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Fiskalpolitik

Das klassische keynesianische konjunkturpolitischeInstrument, die fiskalische Expansion über staatlicheAusgabenprogramme, war in Japan der 90er Jahreoffensichtlich wirkungslos. Obwohl das japanischeFinanzministerium über die gesamte Dekade in wach-sender Höhe (Billionen Yen) immer neue konjunktur-politische Programme auflegte, die nominell eineGrößenordnung von bis zu 6% des BIP erreichten,gelang eine dauerhafte konjunkturelle Stimulierungnie. Für das Scheitern der Fiskalpolitik waren sicher-lich Fehler der Wirtschaftspolitik und das Versagender einst gut funktionierenden Transmissionsmecha-nismen verantwortlich.78 Vor allem blieb der in denKonjunkturpaketen enthaltene Anteil an tatsäch-lichen stimulierenden Mehrausgaben (ma mizu) ver-gleichsweise gering.79

Die Öffentlichkeit erkannte schnell die Diskrepanzzwischen Sein und Schein, so daß die von der Regie-rung erhofften Ankündigungseffekte niemals eintra-ten. Vielmehr wurde die Glaubwürdigkeit staatlicherAusgabenpolitik dauerhaft verspielt. Problematischwaren weiterhin die einseitige Bevorzugung bestimm-ter Interessengruppen, vor allem der Bauindustrie,sowie die mangelnde Stetigkeit der Fiskalpolitik. Kon-junkturpolitisch war insbesondere das abrupteUmschalten von fiskalischer Expansion auf fiskalischeRestriktion zum 1. April 1997 ein schwerwiegenderFehler, als über eine Erhöhung der Konsumsteuer umzwei Prozentpunkte, das Auslaufen einer zeitlichbegrenzten Senkung der Einkommenssteuer und eineErhöhung von Sozialbeiträgen dem privaten Sektorder Gegenwert von etwa 2% des japanischen BIP ent-zogen wurde. Die hohen Volumen der staatlichenKonjunkturprogramme selbst strahlen zunehmendnegative Effekte auf der Ebene der Konsumenten aus.Für den japanischen Steuerzahler wird immer offen-sichtlicher, daß sich die öffentlichen Ankündigungenneuer Konjunkturprogramme heute in zusätzlichenSteuern morgen niederschlagen werden.

Nach nunmehr zehn Jahren glücklosen fiskalpoliti-schen Agierens sind die der Fiskalpolitik verbleiben-den Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Fis-kalpolitik kann unter den gegebenen Umständen

78 So blieben die Akzeleratoreffekte wegen dem fortbeste-henden Kapazitätsüberhang der Wirtschaft und der Kredit-rationierung der Banken gering.79 Für einen analytischen Nachweis siehe Adam Posen,Restoring Japan�s Economic Growth, Washington: Institutefor International Economics, 1998.

bestenfalls in Kombination mit anderen Politikmaß-nahmen Ergebnisse zeitigen. Eine fiskalische Expan-sion verbietet sich aber aus zwei Gründen. Zum einensollte angesichts des bereits hohen staatlichen Schul-denstandes die öffentliche Verschuldung nicht überGebühr weiter ansteigen. Eher sollte die Verschuldungmittelfristig zurückgeführt werden. Zum anderen sindvon fiskalischen Mehrausgaben kaum positive Effektezu erwarten. Unabhängig davon, ob sich die Expan-sion in staatlichen Ausgabenprogrammen oder inSteuersenkungen niederschlägt, dürften die japani-schen Konsumenten in Erwartung höherer Steuerzah-lungen nicht mehr Ausgaben tätigen, sondern eherihre Ersparnisse erhöhen und damit die fiskalischeExpansion gesamtwirtschaftlich kompensieren.Wegen derartiger kompensatorischer Effekte wirdeine fiskalische Expansion auch künftig wohl kaumeine dauerhafte konjunkturelle Stimulierung bewir-ken. Letztere könnte schon eher infolge vorsichtigerstaatlicher Konsolidierungsbemühungen eintreten.80

Es empfiehlt sich deshalb ein graduelles Zurückfahrendes Haushaltsdefizits und eine mittelfristige Strategiezur Reduzierung der Staatsschulden. Die von Minister-präsident Koizumi angekündigte Beschränkung derjährlichen Emission von Staatsanleihen auf dasVolumen von 30 Billionen Yen dürfte wohl einerderartigen Strategie entsprechen. Im übrigen bietetauch eine fiskalische Konsolidierungspolitik Möglich-keiten zu aktiver Gestaltung. Denkbar ist etwa, diebislang für öffentliche Bauinvestitionen eingesetztenMittel zur steuerlichen Förderung des privatenWohnungsbaus oder zum Ausbau der informations-technologischen Infrastruktur einzusetzen.81

Geldpolitik

Monetäre Expansion gilt in wirtschaftspolitischerTheorie und Praxis gemeinhin als ein effektives Instru-ment zur Bekämpfung von konjunktureller Stagna-tion und Unterbeschäftigung. Aber auch auf dem Feldder Geldpolitik scheint Japan inzwischen in eine Sack-gasse geraten zu sein. Zinspolitisch befindet sich diejapanische Geldpolitik bereits seit dem Jahre 1992 auf

80 Siehe hierzu Meltzer, Monetary Transmission at Low In-flation [Fn. 52], S. 29f; Toshiki Tomita, Japan�s Fiscal Predica-ment: The Threat of Non-Keynesian Effects, in: NRI-Quarterly,Frühjahr 1998.81 Zu diesem Vorschlag siehe Bergsten/Ito/Noland, No MoreBashing. Building a New Japan�United States EconomicRelationship [Fn. 29], S. 96�100, 106�110.

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Geldpolitik

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einem eindeutig expansiven Kurs. Nach mehreren vor-herigen Senkungsschritten wurde im September 1995der Diskontsatz � der offizielle Leitzins der Bank vonJapan � auf den damaligen Rekordtiefstand von 0,5%herabgesetzt. Im Laufe des Jahres 2001 fiel er in dreiweiteren Schritten sogar auf 0,1% und verharrt aufdiesem Tiefpunkt bis heute. Trotzdem hat sich dieGeldmenge (M2+CD) nur mäßig vergrößert und dieBankausleihungen (Loans and Discounts) haben nahe-zu stagniert (im Zeitraum 1992�1997) oder sind sogarzurückgegangen (seit 1998). Die Transmission einermonetären Expansion auf die reale Wirtschaft gelingtin Japan offenbar nicht mehr. Auch haben sich trotzder Niedrigzinspolitik die deflationären Tendenzen inJapan über die 90er Jahre laufend verstärkt: Seit 1991fallen die Großhandelspreise leicht, die Grundstück-spreise deutlich. Der Index der Konsumentenpreise istseit 1999 rückläufig. Sichtbar wird nun auch dasWirken von endogenen Deflationsverstärkern:(1) Verbraucher und Unternehmen stellen ihre Käufezurück, weil sie mit weiteren Preissenkungen rech-nen. (2) Da die Absatzpreise schneller als die Kostenfallen und der Nominalwert von Krediten langfristigfixiert ist, verschlechtert sich mit der Deflation dieGewinnsituation der Unternehmen und die Verschul-dungsquoten steigen. Es kommt vermehrt zu Kon-kursen und Arbeitslosigkeit, wodurch die gesamtwirt-schaftliche Nachfrage weiter zurückgeht und derDeflationsdruck zunimmt.

Da die offizielle Diskontpolitik nicht wirkte, ver-sucht die Bank von Japan seit Ende der 90er Jahre überdirekte Ausleihungen am Interbankenmarkt die Liqui-dität zu expandieren. Sie setzte deshalb im Februar1999 den Zinssatz für Tagesgelder auf 0,002% undführte ein quantitatives Ziel für die täglich fälligenEinlagen ein. Mit dieser Nullzinspolitik sollte dieDeflation besiegt werden. Nachdem die Zentralbankzwischenzeitlich (August 2000) die Tagesgeldsätzewieder erhöht hatte � in Verkennung der nach wievor fragilen konjunkturellen und der monetärenSituation �, kehrte sie im Februar 2001 wieder offiziellzur Nullzinspolitik zurück. Dennoch bleiben die defla-tionären Tendenzen ungebrochen und die privatenHaushalte und die Unternehmen scheinen ihre Zurück-haltung bei Investitionen und Konsum nicht aufgebenzu wollen.

Die praktische Wirkungslosigkeit der Geldpolitikläßt sich nur teilweise durch strukturelle Faktorenerklären, also durch Konsolidierungsbemühungenund Kreditrationierung der Banken, Unterentwick-lung des Konsumentenkredits und sektorale Wett-

bewerbsschwächen in der japanischen Wirtschaft.Überzeugender ist vielmehr die Hypothese, daß sichdie japanische Wirtschaft in einer Liquiditätsfalle82

befinde, also in einer Situation, in der die privatenKonsumenten und Investoren eine langanhaltendeRezession mit entsprechenden Einkommens- undGewinnrückgängen erwarten und selbst bei Nominal-zinssätzen von nahezu Null verstärkt sparen bzw. aufdie Aufnahme von Krediten verzichten und Investiti-onszurückhaltung üben. In einer derartigen Liquidi-tätsfalle kann konventionelle Geldpolitik keine kon-junkturpolitische Wirkung mehr entfalten, denn beiNominalzinsen von Null ist der für eine Beseitigungdes strukturellen Sparüberschusses, also zur Wieder-herstellung von Vollbeschäftigung erforderlicheRealzins83 negativ.

Es kann nicht überraschen, daß in Anbetracht vonDeflation, Liquiditätsfalle und (realer) Unterbeschäf-tigung die Frage nach der Verantwortung der Geld-politik gestellt wird und die Politik der Bank vonJapan zunehmend kontrovers beurteilt wird. Dieseverweist auf ihre Niedrigzinspolitik und konstatiert,daß die potentiell expansiven Wirkungen der mone-tären Expansion im Bankensektor und in der Privat-wirtschaft verpuffen. Notwendig für einen wirtschaft-lichen Aufschwung seien in erster Linie die Lösung derBankenkrise und die Durchführung strukturellerReformen.84 Von ihren zahlreichen Kritikern wird derjapanischen Geldpolitik hingegen vorgeworfen, sieorientiere sich zu einseitig am Gebot der Preisniveau-stabilität, nicht aber an dem konjunkturell Notwendi-gen. Unabhängig davon, ob nun die theoretischeAnnahme einer Liquiditätsfalle auf Japan zutreffe odernicht, sei die Geldpolitik seit Anfang der 90er Jahre

82 Das auf Keynes zurückgehende theoretische Konzept einerLiquiditätsfalle verwendete Paul Krugman zur Analyse dermonetären und konjunkturellen Situation Japan erstmalsEnde 1997. Inzwischen folgt die Wirtschaftswissenschaftmehrheitlich seiner Argumentation;. siehe vor allem Krug-man, Is�s Baaack: Japan�s Slump and the Return of the Liqui-dity Trap [Fn. 19], S. 137�206; Benjamin Hunt/Douglas Laxton,The Zero Interest Rate Floor (ZIF) and Its Implications forMonetary Policy in Japan, Washington: IMF, 2001 (IMFWorking Paper 1/186); Lars Svensson, The Zero Bound inan Open Economy: A Foolproof Way of Excaping from theLiquidity Trap, in: Monetary and Economic Studies, SpecialEdition, 19 (Februar 2001), S. 277�312.83 Realzins ist definiert als Nominalzins abzüglich der Infla-tionsrate bzw. als Nominalzins zuzüglich der Deflationsrate.84 Siehe Naruki Mori/Shigenori Shiratsuka/Hiroo Taguchi,Policy Responses to the Post-Bubble Adjustments in Japan: ATentative Review, in: Monetary and Economic Studies, SpecialEdition, 19 (Februar 2001), S. 323�360.

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insgesamt zu restriktiv gewesen. Die niedrigen Nomi-nalzinssätze seien deshalb kein Ausweis expansiverPolitik, sondern eine Folge restriktiver Geldpolitik.85

Über die Analyse der japanischen Geldpolitik in den90er Jahren hinausgehend, fordert die wachsende,bis hin zur japanischen Regierung und zum IWFreichende Zahl der Kritiker eine für die Gegenwartaktivere und eine expansivere Politik. In der gegen-wärtigen Situation sei Geldpolitik durchaus nichtmachtlos und müsse sich nicht nur darauf beschrän-ken, die Politik nachdrücklich zu ermahnen, endlichdie erforderlichen Strukturreformen durchzuführen.Die Bank von Japan müsse sich vielmehr dazu ent-schließen, am Bankensektor vorbei, direkt auf dasVerhalten der Konsumenten und Investoren einzuwir-ken. In diesem Sinne hat Paul Krugman eine radikalegeldpolitische Empfehlung bereits 1998 vorgestellt86

und hierfür eine wachsende Zahl an Anhängerngewonnen. Dem Vorschlag zufolge müßte die Bankvon Japan glaubwürdig die Inflationierung der Wäh-rung ankündigen und diese Ankündigung dann auchpraktisch umsetzen. Da durch die Vorgabe eines Infla-tionsziels die Deflationserwartungen gebrochen, dieInflationserwartungen der Wirtschaftssubjekte aberwieder positiv werden, werde es möglich, bei Nominal-zinsen von Null, den japanischen Realzins unter Nullzu senken. So könne eine monetäre Stimulierung derjapanischen Konjunktur gelingen. In dem hypotheti-schen Fall der Inflationierung würden die privatenHaushalte und die Unternehmen, da sie künftig mitPreissteigerungen rechnen müßten, ihre Ausgaben(Konsum und Investition) erhöhen.87 In diesemSzenario wären auch die Transmissionsprobleme derjapanischen Geldpolitik infolge der Banken- undSchuldenkrise kein unüberwindliches Hindernis. DieBank von Japan könnte nämlich die Geschäftsbankeneinfach umgehen, indem sie Vermögensgüter (Aktien,Grundstücke und Immobilien, im Extremfall gar Kon-sum- und Investitionsgüter) direkt von der Privatwirt-

85 Als Beispiel für viele: Bennett T. McCallum, JapaneseMonetary Policy, Shadow Open Market Committee, 30.4.2001,http://www.somc.rochester.edu/Apr01/McCallumApr01.pdf;Meltzer, Monetary Transmission at Low Inflation [Fn. 52],S. 13�34; John B. Taylor, Low Inflation, Deflation, and Policiesfor Future Price Stability, in: Monetary and Economic Studies,Special Edition, 19 (Februar 2001), S. 35�52.86 Siehe Krugman, Is�s Baaack: Japan�s Slump and the Returnof the Liquidity Trap [Fn. 19].87 Zum Vorschlag der Inflationierung siehe Bergsten/Ito/Noland, No More Bashing [Fn. 29], S. 90�94; Krugman, Is�sBaaack: Japan�s Slump and the Return of the Liquidity Trap[Fn. 19]; Svensson, The Zero Bound in an Open Economy [Fn. 82].

schaft erwirbt oder als Käufer von ausländischerWährung auf den internationalen Devisenmärktentätig wird. Denkbar ist auch der unmittelbare Ankaufvon japanischen Staatsanleihen, wodurch sich imübrigen die langfristigen Kapitalzinsen verringernwürden, oder die Vergabe von Kassenkrediten an diejapanische Zentralregierung, also eine inflations-finanzierte Haushaltsfinanzierung.88

Die Bank von Japan hat sich bislang standhaft ge-weigert, ihre Geldpolitik an selbst gesetzten Inflations-zielen auszurichten, also positive Inflationsraten alsgeldpolitische Zwischenziele anzukündigen und siehat für diese Haltung heftige Kritik aus dem Ausland,aus der Wissenschaft und selbst aus dem japanischenFinanzministerium geerntet. Sie hält die Politik einerInflationierung für wenig effektiv und hochriskant.Sie bekundet, daß sich angesichts der vorhandenenÜberkapazitäten und des weitverbreiteten Pessimis-mus in Japan über eine Geldmengenexpansion diegesamtwirtschaftliche Nachfragelücke nicht schließenlasse. Weiterhin ziehe die durch die Geldmengen-expansion entstehende Liquiditätsschwemme nichtnur beträchtliche Inflationsrisiken nach sich, sondernkönne auch zu erheblichen Preisverzerrungen undSchieflagen auf den Kapital- und Finanzmärktenführen. Die Erfahrung des Economic Bubble der Jahre1986�1991 dürfe nicht wiederholt werden. Als Sach-walterin der Interessen von Sparern und Pensionären,gerade auch vor dem Hintergrund des demographi-schen Übergangs in Japan, fürchtet die Bank vonJapan um ihre in Jahrzehnten erworbene Reputationals Hort der Geldwertstabilität und um ihre erst kürz-lich (1998) gesetzlich zugesicherte Unabhängigkeit.Die Kritik aus Politik und Administration an ihrerPosition betrachtet sie als in erster Linie innenpoli-tisch und interessenpolitisch motiviert, da die Forde-rung nach einer expansiveren Geldpolitik insbeson-dere von den Gegnern strukturpolitischer Reformenvehement vertreten wird.

Trotz dieser grundsätzlichen Bedenken ist die Bankvon Japan in der Realität ein Stück auf ihre Kritikerzugegangen. Im Zuge ihrer Rückkehr zur Nullzins-politik im Februar und März 2001 hat sie eine positiveVeränderungsrate des allgemeinen Konsumentenpreis-

88 Zu dem Vorschlag der inflationsfinanzierten Fiskalpolitiksiehe Ben Bernanke, Japanese Monetary Policy: A Case of Self-Induced Paralysis?, in: Adam Posen/Ryoichi Mikitani (Hg.),Japan�s Financial Crisis and its Parallels to U.S. Experience,Washington: Institute for International Economics, 2000,S. 149�166.

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Währungspolitik

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index als geldpolitisches Ziel offiziell festgelegt.89 Tat-sächlich kauft sie seit dieser Kehrtwende im Rahmenihrer Offenmarktpolitik aktiv japanische Staats-anleihen an, was sich möglicherweise auf die Kapital-märkte zinssenkend auswirkt, und interveniert aufden internationalen Devisenmärkten durch Käufe vonUS-Dollar. Aber auch diese zusätzliche geldpolitischeLiquiditätserweiterung hat die Deflationserwartungenauf den Gütermärkten nicht brechen, die Ausgaben-neigung des privaten Sektors nicht verstärken können.

Währungspolitik

Eine Kompensation der schwachen inländischen Nach-frage bildete von Beginn der Stagnationsphase 1992an bis zur Asienkrise die Nachfrage des Auslandes.Andererseits verschärfte der Einbruch der Auslands-nachfrage aus Asien in den Perioden 1997/98 und2001 die laufende Rezession in Japan. Wenn auch derAnteil der Exporte am japanischen Bruttoinlands-produkt mit meist ca. 10% vergleichsweise gering ist,reagiert die japanische Binnenkonjunktur dochimmer sehr sensibel auf Schwankungen der Export-nachfrage: Konjunkturelle Erholung und Aufschwün-ge der japanischen Wirtschaft werden normalerweisevon wachsenden Exporten ausgelöst bzw. getragen,konjunkturelle Abschwünge von einer Exportschwächeeingeleitet.

Deshalb kann es auch nicht überraschen, daß dieWährungsrelation zwischen Yen und Dollar wegen deskonjunkturellen Risikos ein ganz wichtiges Datum fürdie japanische Wirtschaftspolitik darstellt. Währendder Außenwert des Yen in der Ägide des Festkurs-systems von Bretton Woods konstant bei 360 Yen/Dollar notierte, steht er seit 1971 ständig unter Auf-wertungsdruck. Dramatisch war der Anstieg des Yen-Außenwertes von 150 Yen/Dollar (im März 1991) auf79,75 Yen/Dollar (im April 1995). Damals erreichte derAußenwert des Yen seinen bisherigen Höchststand.Seither notiert er deutlich schwächer, bei allerdingserheblichen Schwankungen. So fiel der Yen von April1995 bis August 1998 auf 147 Yen/Dollar, wertetedann bis Januar 2000 wieder auf 102 Yen/Dollar auf,nur um bis Februar 2002 wieder auf 133 Yen/Dollarabzufallen.

Derartige Währungsschwankungen verändern diepreisliche Wettbewerbsfähigkeit japanischer Handels-güter unmittelbar. Da japanische Exporte und Im-

89 Siehe Bergsten/Ito/Noland, No More Bashing [Fn. 29], S. 94�96.

porte weitgehend in US-Dollar fakturiert werden undauch der Finanz- und Kapitalverkehr Japans mit demAusland überwiegend in Dollar erfolgt, belasten diestarke Schwankungsbreite des Yen und die davon aus-gehenden Risiken für Investoren und Außenhändlerdie japanische Volkswirtschaft ganz erheblich.Aufwertungen des Yen haben regelmäßig (mit Ver-zögerung) eine Verschlechterung der japanischenHandels- und Leistungsbilanz zur Folge. Abwertungenführen zu einer Verbesserung.90 Aufgrund des Zusam-menhangs zwischen Wechselkursen und Leistungs-bilanz hatte der Außenwert des Yen immer eine immi-nent hohe politische Bedeutung sowohl in Japanselbst als auch in Washington, und der WechselkursYen�Dollar wurde in den 80er und 90er Jahren immerwieder zur Zielgröße international konzertierter Inter-ventionen der G 7 oder der G 3.

Entscheidend für die Entwicklung von Wechsel-kursen sind (bei freiem Kapitalverkehr und autonomerGeldpolitik) aber nicht die währungspolitischen Inter-ventionen der Zentralbanken, sondern der gesamtemakroökonomische Datenkranz: Was waren die ent-scheidenden Bestimmungsfaktoren für den Wechsel-kurs Yen�Dollar in den 90er Jahren?91 Als sicher darfgelten, daß die (im Vergleich zu den USA) niedrigenNominalzinsen in Japan keinen kausalen Einfluß aufden Wechselkurs ausgeübt haben können. Möglicher-weise aber die Realzinsen: Denn angesichts der unter-schiedlichen Preisniveauentwicklung in Japan undden USA sind die Realzinsdifferenzen zwischen beidenStaaten erheblich niedriger als die Nominalzinsen,obgleich noch immer positiv. Offenbar kompensierenstabile Aufwertungserwartungen für den Yen die(vergleichsweise) niedrigeren Zinserträge in Japan. DieErwartung einer Yen-Aufwertung gründet in dem seit1971 anhaltenden langfristigen Aufwertungstrenddes Yen, den permanent hohen japanischen Leistungs-bilanzüberschüssen (und Sparüberschüssen) sowie denperiodisch wiederkehrenden japanisch-amerikani-

90 Für einen empirischen Nachweis siehe ebd., S. 102, sowiedie dort angegebene Literatur. Ein Einfluß des Yen-Dollar-Wechselkurses auf Inflation oder wirtschaftliches WachstumJapans ist indes nicht festzustellen; siehe Tamin Bayoumi, TheMorning After: Explaining the Slowdown in Japanese Growth,in: Bayoumi/Collyns, Post-Bubble Blues [Fn. 5], S. 21�39.91 Zu den Determinanten des Yen-US-Dollar-Wechselkursesin den 90er Jahren siehe Ronald McKinnon/Kennichi Ohno, TheForeign Exchange Origins of Japan�s Economic Slump andLow Interest Liquidity Trap, in: The World Economy, 24 (2000)3; Gunther Schnabl, Weak Economy and Strong Currency �The Origins of the Strong Yen in the 1990s, in: Vierteljahres-hefte zur Wirtschaftsforschung, 70 (2001) 4, S. 490�496.

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Wirtschafts- und Konjunkturpolitik in der Sackgasse

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schen Handelskonflikten. Ein weiterer Bestimmungs-faktor für den permanenten Aufwertungsdruck aufden Yen sind die Inflationsdifferentiale (zwischenJapan und den USA), bedingt durch die vergleichs-weise restriktive japanische Geldpolitik. So verlaufendie Entwicklung der Kaufkraftparität für Japanshandelbare Güter (Exportsektor) und der Yen-Dollar-Wechselkurse nahezu parallel.

In dem hier skizzierten währungspolitischen Um-feld kann eine aktive japanische Währungspolitikpotentiell zwei Ziele verfolgen: Erstens könnte sieversuchen, die Währungsschwankungen des Yen ineinem wirtschaftspolitisch und konjunkturell gün-stigen Sinne zu beeinflussen, das hieße konkret, denYen abzuwerten. Zweitens könnte sie versuchen, dielaufenden Währungsschwankungen zu stabilisierenund einen stabilen, erwartungssicheren Außenwert zugewährleisten.

De facto ging es der japanischen Währungspolitikder vergangenen Jahre darum, dem langfristigenAufwertungstrend � und damit der Verschlechterungder Wettbewerbsfähigkeit der japanischen Export-industrie � entgegenzuwirken und insbesondere einÜberschießen von Aufwertungsbewegungen abzufan-gen. Dabei war die Bank von Japan mit ihren Wäh-rungsinterventionen meist nur insofern erfolgreich,als es ihr gelang, die Aufwertungen zu verzögern.Langfristig konnte sie sich aber nicht gegen den Trendstemmen. Japan mußte die bittere Erfahrung machen,daß Interventionen gegen eine zu starke Aufwertungder heimischen Währung nur dann Erfolg hatten,wenn auch die USA einen weiteren Wertverlust desDollar vermeiden wollten und sich an einer konzer-tierten Aktion beteiligten.92 Vor allem aber bedurftees, um eine laufende Yen-Aufwertung zu stoppen, alsentscheidender Maßnahme immer auch der Unter-stützung durch eine restriktive Geldpolitik, sogeschehen beispielsweise in den Jahren 1986�1988,1990�1995 und 1999/2000.93 Diese Erfahrungen zeigen,daß japanische Währungspolitik heute sowohl auf dieUnterstützung des Auslandes, insbesondere der USA,als auch der geldpolitischen Instanzen des Inlandes,also der Bank von Japan, angewiesen ist. Auch letzte-

92 Siehe Madeleine Preisinger-Monloup, Der Yen im Jahre 2000.Die internationale Rolle der japanischen Währung zwischenDollar und Euro, unveröffentlichtes Manuskript, StiftungWissenschaft und Politik: Ebenhausen, November 1998(AP 3084), S. 29.93 Siehe Meltzer, Monetary Transmission at Low Inflation[Fn. 52], S. 31; Schnabl, Weak Economy and Strong Currency[Fn. 91], S. 498.

res ist nicht mehr gewährleistet, seitdem diese 1998 indie vollständige Unabhängigkeit entlassen wurde undprimär der Aufgabe verpflichtet ist, die Preisniveau-stabilität des Yen zu sichern.

Trotz dieser Handlungsrestriktionen stellt sich dieFrage, ob die japanische Währungspolitik zur Bewälti-gung der ökonomischen Krise nicht nur passiv aufAufwertungsschübe reagieren, sondern vielmehr eineaktive Währungspolitik betreiben sollte. Dies könnte,wie bereits erwähnt, eine aktive Abwertungspolitikoder eine Politik der Wechselkursstabilisierung sein.1. Aus Sicht der japanischen Binnenwirtschaft ist eine

Yen-Abwertung, gerade angesichts der faktischenAussichtslosigkeit von Fiskal- und Geldpolitik, einekonjunkturpolitisch positive Maßnahme. Eine Ab-wertung des Yen stimuliert die Exportnachfrageund vermag damit die gesamtwirtschaftliche Nach-fragelücke ein Stück weit zu schließen. Japan wirdals Standort für Direkt- und Portfolioinvestitionenwieder etwas attraktiver, und der laufenden Ver-lagerung der industriellen Fertigung nach Chinakann tendenziell entgegengewirkt werden. Weiter-hin wirkt eine abwertungsbedingte Verteuerungdes Importangebots deflationsdämpfend. Da fernereine gezielte Abwertung des Yen nur über aktiveKäufe von Dollar oder US-Schatzanleihen durch dieBank von Japan zu erreichen ist, würde eine Abwer-tung gleichermaßen eine Ausweitung von Liquidi-tät und damit eine Inflationierung bewirken. DieRealzinsen könnten in den negativen Bereich ge-drückt werden.94 Diesen positiven Effekten einerYen-Abwertung stehen indes erhebliche Risiken fürdie japanische Binnenwirtschaft und die Weltwirt-schaft gegenüber. So könnte eine aus dem Ruderlaufende währungspolitisch motivierte Geldmen-genexpansion eine Abwertungs- und Inflations-spirale entstehen lassen, die von den geldpoliti-schen Instanzen Japans dann nicht mehr beherrsch-bar wäre. Gegen eine Yen-Abwertung als isoliertewirtschaftspolitische Maßnahme spricht auch daspolitische Umfeld in Japan: Ähnlich wie eine Anti-Deflationspolitik würde sie die Gegner von Struk-turreformen stärken, die Reformkräfte hingegenschwächen Aus diesem Grunde lehnt die Bank vonJapan die Politik einer gezielten Abwertung des Yenstrikt ab. Außenwirtschaftlich würde eine Abwer-

94 Für die wirtschaftspolitische Empfehlung einer Yen-Abwertung siehe Meltzer, Monetary Transmission at LowInflation [Fn. 52], S. 30�32; Hans-Werner Sinn, Die japanischeKrankheit, München: ifo Institut für Wirtschaftsforschung,13.6.2001 (ifo Standpunkt Nr. 26).

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Strukturpolitik

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tung des Yen überdies die exportabhängigen Kon-junkturen der asiatischen Nachbarländer Japansbelasten und könnte eine neue Runde im Abwer-tungswettlauf in Asien einläuten. Eine Abwertungdes Yen erscheint in aktueller Sicht auch angesichtsder gegenwärtigen Dollarschwäche nur schwer vor-stellbar. Ferner ist zu erwarten, daß eine Abwer-tung protektionistische Gegenmaßnahmen des US-Kongresses nach sich zöge. Eine Unterstützung derYen-Abwertung durch das Ausland erscheint des-halb in der aktuellen Situation ausgeschlossen.

2. Anstatt der japanischen Konjunktur auf dem Wegeder Abwertung kurzfristig einen Vorteil zu ver-schaffen, könnte Währungspolitik auch daraufhinwirken, die auf den Yen bezogenen Wechsel-kurserwartungen langfristig zu stabilisieren unddie Wechselkursschwankungen zu dämpfen. Auchin diesem Falle wäre es erforderlich, den auf demYen lastenden Aufwertungsdruck zu beseitigen.Nicht der Kassawert des Yen, sondern sein Termin-wert müßte dann gesenkt werden. Ein derartigeswirtschaftspolitisches Ziel läßt sich nicht überDevisenmarktinterventionen erreichen, sondernallein über (außenwirtschafts)politische Maßnah-men. Letztendlich notwendig wäre eine Koordinie-rung zwischen der japanischen und der amerikani-schen Geldpolitik, beispielsweise in Form einesamerikanisch-japanischen Währungspaktes.95

Strukturpolitik

Im Grunde ist es unangemessen, Strukturpolitik alswirtschaftspolitische Therapiemaßnahme in Zeitenvon Deflation und Nachfrageschwäche in Erwägungzu ziehen. Erstens haben angebotsseitige Struktur-reformen keinen unmittelbaren Einfluß auf die Ent-wicklung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage.Zweitens ist die pauschale Feststellung von Struktur-problemen als Ursache von Rezession und Wachs-tumsschwäche an sich problematisch. Denn Struktur-probleme sind langfristige Phänomene und es istschwierig, kurzfristige Wachstumsergebnisse auflangfristige Strukturen zurückzuführen, die meistschon in konjunkturellen Boomzeiten existierten.

95 Zu diesem Vorschlag siehe Ronald McKinnon/KennichiOhno, Resolving Economic Conflict between the United Statesand Japan, Cambridge MA: MIT Press, 1997; dies., The ForeignExchange Origins of Japan�s Economic Slump and LowInterest Liquidity Trap [Fn. 91].

Die vorangehenden Ausführungen haben indesgezeigt, daß die Stagnations- und Transformations-krise Japans nicht nur ein Nachfrageproblem darstellt,sondern eben auch ein Angebotsproblem ist. In einerderartigen Analyse hat die ökonomische MalaiseJapans also nicht nur konjunkturelle, sondern auchreale strukturelle Ursachen.96 Unter diesen Umstän-den können Maßnahmen auf der Nachfrageseitealleine nicht hinreichen, um die Erwartungen derKonsumenten und der Investoren vom Pessimismuszum Optimismus zu wenden. Vielmehr bedarf es auchunterstützender angebotspolitischer Maßnahmen, dieden unvermeidlichen strukturellen Anpassungsprozeßbeschleunigen bzw. erleichtern. Neben einer vertrau-ensstiftenden Lösung der Banken- und Schuldenkrisewäre in Japan also eine Angebotspolitik notwendig,die Innovationen anregt, den Wettbewerb fördert unddie Investitionsbedingungen verbessert. Sofern derar-tige Reformen die privaten Haushalte und Unterneh-men mittel- bis langfristig wieder mit einer positivenEinkommensentwicklung rechnen lassen, könnten sieauch privaten Konsum und private Investitionstätig-keit stimulieren.

So gesehen sind Strukturreformen keine Alterna-tive zu den auf der Nachfrageseite ansetzenden Maß-nahmen. Sie sind vielmehr eine notwendige, paralleldurchzuführende Ergänzung. Bei der Durchführungstrukturpolitischer Maßnahmen müßten gleichwohldie nicht unerheblichen konjunkturellen Risiken derStrukturpolitik beachtet werden. So wird eine Bereini-gung der Schuldenkrise zunächst einmal die Unter-nehmenskonkurse und die Arbeitslosigkeit ansteigenlassen. Einkommen, Produktion und Beschäftigungwürden weiter sinken, die Nachfragelücke sich erwei-tern und die Deflationstendenzen sich verstärken.Insofern besteht durchaus ein Dilemma zwischenStrukturpolitik und Nachfragepolitik. Deshalb emp-fiehlt sich für die Strukturpolitik ein abgestimmtesVorgehen, das die konjunkturbedingten Risikenberücksichtigt und zwischen kurzfristig notwendigenund langfristig unvermeidlichen Maßnahmen abwägt.

Mit dem Regierungsantritt von MinisterpräsidentJunichiro Koizumi im April 2001 rückte erstmalsreformorientierte Angebotspolitik anstelle keynesiani-scher Nachfragepolitik in den Mittelpunkt der offizi-ellen japanischen Wirtschaftspolitik. Bereits in seiner

96 Für eine derartige »realwirtschaftliche« Erklärung derjapanischen Wirtschaftskrise siehe Dominic Wilson, Japan�sSlow-Down: Monetary Versus Real Explanations, in: OxfordReview of Economic Policy, 16 (2001) 2, S. 18�33.

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Wirtschafts- und Konjunkturpolitik in der Sackgasse

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Antrittsrede vor dem japanischen Unterhaus erklärteKoizumi � in bewußter Abgrenzung zu seinen Vor-gängern � seine Absicht, »ununterbrochen Struktur-reformen voranzutreiben«. Wenig später, am 21. Juni2001, stellte der in der Wirtschaftspolitik federfüh-rende Ausschuß für Wirtschafts- und Fiskalpolitik, indem Koizumi selbst den Vorsitz innehatte, die neuen»Eckpunkte der Konjunkturpolitik und Strukturreformder japanischen Wirtschaft« vor. Dabei wurden dieoben genannten Strukturprobleme zusammen-hängend erörtert und eine umfassende Reformagendavorgestellt. Am 21. September 2001 wurde ein Reform-fahrplan bekanntgegeben, der sowohl einen Zeitplannannte, als auch die zu setzenden Prioritäten festhielt.Noch zahlreiche weitere programmatische Papieresollten folgen.97 Die offiziellen Ankündigungen desAusschusses für Wirtschafts- und Fiskalpolitik zeigenin der Tat das notwendige Verständnis für JapansStrukturprobleme.

Tatsächlich besteht in der japanischen Regierungkein Erkenntnisproblem mehr. Die Probleme liegenvielmehr in der politischen Umsetzung des als richtigErkannten. Trotz aller Reformrhetorik konnten auchin der Amtszeit Ministerpräsident Koizumis auf demFeld der Strukturreformen keine entscheidenden Fort-schritte erzielt werden. Sowohl das Programm zurNeuordnung und Privatisierung der Institutionen undKörperschaften öffentlichen Rechts (November 2001)als auch die Reform der öffentlichen Krankenversiche-rung und die Postreform (Juni 2002) blieben deutlichhinter dem wirtschaftspolitisch Wünschenswertenund hinter den offiziellen Ankündigungen zurückund enttäuschten die Öffentlichkeit und die Märkte.Als im November 2001 das angeschlagene Einzelhan-delsunternehmen Daiei durch Interventionen derPolitik gerettet wurde, galt dies als Zeichen dafür, daßweiterhin die Schuldenkrise nicht mit der gebotenenEntschlossenheit bewältigt wird, insbesondere dann,wenn die Existenz von Großunternehmen betroffenist. In gleicher Weise enttäuschte das im Oktober 2002erlassene Maßnahmenpaket zur Bekämpfung derDeflation und der Schieflagen im Bankensektor, weilwieder einmal die Verpflichtungen der Banken zurOffenlegung ihrer notleidenden Kredite nicht aus-reichen dürften.

97 Für eine Zusammenstellung siehe Council on Economic andFiscal Policy, in: http://www5.cao.go.jp/keizai/index-e.html; füreine Zusammenfassung und Interpretation siehe Sahoko Kaji,Japan�s Lost Decade, the Koizumi Reforms and Prospects forthe Future, Tokyo: Keio University, 2001 (COE DiscussionPaper No. 0107).

Es kann deshalb nicht überraschen, daß Minister-präsident Koizumi, der aufgrund seines Reformeifersund seines neuen Politikstils zunächst Zustimmungs-werte von annähernd 80% erreichen konnte, inzwi-schen erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat.Aufgrund der geringen Reformfortschritte derKoizumi-Administration, der immerhin ein Premier-minister mit einem ausdrücklichen Reformmandatvorsteht, müssen die weiteren Perspektiven der japa-nischen Strukturpolitik sehr skeptisch gesehenwerden. Der Reformprozeß wird zwar fortgesetztwerden und auch gewisse Ergebnisse zeitigen. Ent-scheidende Impulse für eine Überwindung der Kriseund einen ökonomischen Aufschwung Japans solltenaber nicht erwartet werden. Die Reformblockadenbleiben wirksam.

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Krisenszenarien für Japans Finanzmärkte � Implikationen für Asien und die Weltwirtschaft

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Entwicklungsperspektiven

Krisenszenarien für Japans Finanzmärkte �Implikationen für Asien und dieWeltwirtschaft

Der ökonomische und politische Abstieg Japans istnicht unaufhaltsam. Zwar hat sich Japans Wirtschafts-politik in eine Sackgasse manövriert, aber noch immerwäre die Politik gut in der Lage, die gegenwärtigeKrise aus eigener Kraft zu bewältigen. Sie müßte aller-dings Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeitentwickeln und aktiv handeln. So bedürfte es für eineBelebung der wirtschaftlichen Aktivität konzertierterAktionen von Fiskal- und Geldpolitik und der Beendi-gung der fruchtlosen gegenseitigen Schuldzuweisun-gen und wenig effektiven Alimentierung der Bauindu-strie. Zur Lösung der Schulden- und Bankenkrisemüßten größere Unternehmenskonkurse zugelassenwerden. Die angeschlagenen Finanzinstitute müßtenverstaatlicht und anschließend rekapitalisiert oderendgültig vom Markt genommen werden. Da erneutSteuergelder für die Bankensanierung aufgewendetwerden, bedarf es möglicherweise auch strafrecht-licher Konsequenzen für die Verantwortlichen ausder Finanzindustrie und der Finanzaufsicht.

Realistischerweise sollte man davon ausgehen, daßdie japanische Politik in absehbarer Zeit nicht in derLage ist, die für eine Bewältigung der Wirtschaftskrisenotwendigen Entscheidungen zu treffen und durch-zusetzen. Seit Beginn der Krise im Jahre 1993 bliebenPolitik und Administration Jahr für Jahr eine über-zeugende Antwort auf die tiefe Konjunktur- undStrukturkrise Japans schuldig. Infolge der mangeln-den Transparenz über die tatsächliche Lage derFinanzindustrie und des komplizenhaften Handelnsder Aufsichtsorgane harrt die Schulden- und Banken-krise noch immer ihrer Lösung. Auch die Koizumi-Administration hat ihre anfänglich immens hohePopularität in der Bevölkerung nicht zur Umsetzungglaubwürdiger Reformschritte nutzen können. Wennaber die japanische Politik zu einer Überwindung vonökonomischer Stagnation und zu einer Lösung dervielfältigen Strukturprobleme nicht in der Lage ist,sollte man sich auf krisenhafte Entwicklungen imangeschlagenen Bankensektor und im Bereich derStaatsschulden einstellen. Die im folgenden betrach-

teten Krisenszenarien stellen keine zwangsläufigenEntwicklungen dar. Ihr Eintreten ist aber bei Fort-setzung der gegenwärtigen Trends durchaus wahr-scheinlich, vielleicht sogar unvermeidlich.

Krisenszenario I: Finanz- und Bankenkrise

Seit 1998 nimmt das Volumen der notleidendenKredite in Händen des privaten Bankensektors rascherzu, als die Banken Kreditabschreibungen vornehmenkönnen.98 Dieser Negativtrend ist um so erstaunlicher,als die Banken noch im Jahre 1998 von der öffentlichenHand umfangreiche Finanzmittel zur Bereinigung derSchuldenkrise erhielten. Sicherlich war die Zunahmeder faulen Bankenkredite in jüngster Zeit auch durchdie konjunkturelle Rezession bedingt. Der wesentlicheAntriebsfaktor für die Zunahme fauler Bankenkreditein den vergangenen drei Jahren dürfte jedoch vorallem in den laufenden deflationären Preistendenzenliegen.99 Bis in die aktuelle Gegenwart ist der Rückgangdes Preisniveaus auf der Ebene der Einzelhandels- undGroßhandelspreise ungebrochen. Auch fehlen nochimmer die erforderlichen überzeugenden Anstrengun-gen von seiten der Banken und staatlichen Aufsichts-behörden zur Überwindung der Banken- und Schulden-krise.100 Sollte eine entschlossene Krisenbereinigung

98 Zu Entstehung, Verlauf, Größenordnungen und Reform-hindernissen in der Schulden- und Bankenkrise siehe S. 19�24.99 Siehe hierzu: Yutaka Harada, Non-Performing Loans Asa Result of Deflation, Tokyo: Center for Global Commu-nications, 2002, http://www.glocom.org/debates/200203_harada_non/ index.html.100 So ist es den Banken noch immer möglich, den wirk-lichen Zustand ihrer Bilanzen zu verschleiern und dieBereinigung der notleidenden Forderungen zu verschleppen,ohne auf Einwendungen der FSA zu stoßen. Von folgendendubiosen Geschäftspraktiken wird berichtet: (1) Banken undLebensversicherungen verbessern durch vermehrte wechsel-seitige Kapitalbeteiligungen die offiziell ausgewiesene Eigen-kapitalposition; (2) Banken wandeln zweifelhafte Forderun-gen an konkursreife Bauunternehmen in Beteiligungen anderen Eigenkapital um, so daß die verbleibenden oder dieneu vergebenen Forderungen in einer günstigeren Risiko-stufe klassifiziert werden können; (3) Banken veräußern nurin geringem Maße notleidende Kredite an die staatliche Treu-handbank; (4) Der Kapazitätsabbau im Zuge der Banken-

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Entwicklungsperspektiven

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ausbleiben, ist zu erwarten, daß das Bankensystem inseiner Gesamtheit weiterhin notleidende Krediteanhäuft, bis schließlich Konkurse von Banken undeine anschließende Bankenpanik nicht mehr zu ver-meiden sind.

Wann und wie es zum Ausbruch einer Banken- undFinanzkrise kommt, ist allerdings ungewiß. Auslöserder Krise könnte beispielsweise der Zusammenbrucheiner größeren Bank oder Lebensversicherung sein.Denkbar ist auch der Konkurs einer Regionalbank, dergravierende Konsequenzen für die Finanzen derbetroffenen Präfektur nach sich zöge.101 Als kritischkönnte sich auch die Fortsetzung der Börsenbaisseoder ein Ansteigen der langfristigen Zinsen erweisen.Die Bankenkrise der Jahre 1997/98 illustriert, wie diezu erwartende, in ihrem Ausmaß und Verlauf wohlnoch dramatischere Bankenkrise aussähe. In Analogiekönnte folgendes Ablaufmuster eintreten:102

! Im Gefolge des Zusammenbruchs einer Bank odereines Großunternehmens lösen Sparer und Anlegerihre Konten bei angeschlagenen oder schlechtbeleumdeten Banken auf und wandern zu denpotentiell sicheren Instituten. Dies wären ausaktueller Sicht vor allem die Postsparkasse, einigeRegionalbanken, die renommierteren ausländi-schen Institute am Finanzplatz Tokyo sowie die vierdurch Fusion entstandenen Großbanken, von denenangenommen wird, sie seien zu groß für einen Kon-kurs.103 Die japanischen Sparer und Anleger werdenauch unmittelbar in Bargeld, Gold oder ausländi-sche Anlagen flüchten. Angesichts des brüchigenVertrauens in das Banken- und Finanz-systemfinden derlei Umschichtungen bereits seit gerau-mer Zeit statt und dürften an Fahrt gewinnen.

fusionen stockt. Siehe Fearing Japan. The Rest of the WorldCan�t Let Tokyo Keep Storing up Trouble, in: The Asian WallStreet Journal, 24.4.2002.101 Welche japanischen Finanzinstitutionen sich in einerkritischen Lage befinden, ist unklar. Die Bilanzen selbstgeben nur ein unvollständiges Bild, die aufsichtsführendeFinancial Services Agency (FSA) veröffentlicht nicht mehrwie zu früheren Zeiten Daten zur Situation der einzelnenBanken.102 Zu diesem Krisenszenario siehe Adam S. Posen, TheLooming Japanese Crisis, in: International Economics Briefs(Washington: Institute for International Economics), 02-5(2002), S. 6�8.103 Dies sind die Mizuho Holding, die Sumitomo-MitsuiBanking Corporation, die United Financial Japan und dieBank of Tokyo Mitsubishi. Aber selbst die Sicherheit der Groß-banken ist fraglich. Der Minister für Wirtschafts- und Finanz-politik, Heizo Takenaka, betonte bereits, keine Bank sei »toobig to fail«.

! Im Zuge der Bankenpanik erleben die japanischenWertpapierbörsen einen Crash. Der Nikkei-Aktien-index fällt auf neue Tiefstände. Aufgrund der ent-stehenden Vertrauenskrise sinkt der Außenwert desYen in Relation zu Dollar und Euro deutlich ab.

! Die langfristigen Zinsen in Japan steigen und dieKurswerte japanischer Staatsanleihen fallen. DieRisikobewertung Japans durch die internationalenRating-Agenturen verschlechtert sich weiter. Aufden internationalen Anleihemärkten werden dieBanken aus Japan neuerlich mit einem Strafzins,dem »Japan Premium«, belastet. Es setzt Kapital-flucht ein und der Wechselkurs des Yen fällt weiterab.

! In der realen Wirtschaft kommt es zu zahlreichenUnternehmenskonkursen. Der private Konsum undvor allem die privaten Bruttoanlageinvestitionenbrechen ein, so daß die Konjunktur abermals ineine Rezession eintaucht.Bei Annahme eines derartigen Krisenablaufs ergeben

sich für die internationalen Finanzmärkte und dieWeltwirtschaft folgende Implikationen:! Unmittelbare Verluste ausländischer Finanzinstitu-

tionen, Unternehmen und Anleger dürften auf-grund des relativ geringen ausländischen Engage-ments in Japans marodem Finanzsektor eherbegrenzt sein, so daß ein Übergreifen der Finanz-panik auf das Ausland wohl auszuschließen ist.104

! Ungewiß ist zunächst der Einfluß auf die inter-nationalen Finanzmarkt- und Kapitalmarktzinsen.So werden einerseits die Repatriierung japanischenKapitals (vor allem aus den USA und aus Asien)sowie die allgemeine Verunsicherung, die vonder japanischen Krise ausgeht, (kurzfristig) zins-steigernd wirken. Andererseits wird die Kapital-flucht aus Japan (und Asien) mittelfristig zu einemvermehrten Angebot von Anlagekapital auf deninternationalen Märkten führen, was sich zinssen-kend auswirken sollte.105 Letzterer Effekt sollteauch überwiegen (siehe unten).

! Infolge der Banken- und Finanzkrise in Japan undder dadurch ausgelösten Abwertung des Yen dürf-ten auch die Währungen der Schwellenländer Ost-asiens unter erheblichen Abwertungsdruck geraten.Die Erfahrung mit Yen-Abwertungsphasen (1989/90,1996�1998, 2000/2001) hat gezeigt, daß in ihrer

104 Siehe Posen, The Looming Japanese Crisis [Fn. 102], S. 8.105 Für eine analoge Wirkungsanalyse siehe Douglas Ostrom,Japan�s Role in Global Financial Markets: Getting Credit forBeing the World�s Biggest Creditor, in: JEI Report, 19 (1998),43A, S. 9�13.

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Krisenszenarien für Japans Finanzmärkte � Implikationen für Asien und die Weltwirtschaft

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Folge das wirtschaftliche Wachstum der aufstreben-den Länder Ostasiens zurückgeht und deren Wäh-rungen ebenfalls abwerten. Eine Yen-Abwertung ver-ringert das Volumen japanischer Direktinvestitio-nen und Kreditvergabe in der Region und verbessertdie preisliche Wettbewerbsfähigkeit japanischerGüter und Leistungen gegenüber Konkurrenz-produkten (aus Asien). Dieser Wirkungsmechanis-mus und die Erfahrungen der Vergangenheit lassendeshalb als Folge einer japanischen Finanzkriseeine Abwertungsspirale in Asien erwarten. Auf-grund der schwachen strukturellen Verfassung derVolkswirtschaften Südostasiens ist nicht auszu-schließen, daß die Finanzkrise auch auf dieseLänder übergreift und in eine Anpassungsrezessionmündet. Sehr viel widerstandsfähiger werden wohlSüdkorea (nicht zuletzt aufgrund der umfangrei-chen Strukturreformen der letzten Jahre), Taiwanund die VR China (deren Kapitalverkehr mit demAusland noch nicht liberalisiert ist) reagieren, aberauch in den zuletzt genannten Ländern dürfte daswirtschaftliche Wachstum kurzfristig zurückgehenund die Währungen (Koreas und Taiwans) werdenabwerten.

! Die rezessive Entwicklung in Japan und Ostasien inVerbindung mit einer Veränderung der Währungs-relationen zwischen Japan/Asien und den Industrie-ländern Europas und Nordamerikas hätte spürbareAuswirkungen auf die Weltwirtschaft. Die von Ost-asien ausgehende Exportnachfrage würde geschmä-lert, die billiger gewordenen Importe aus Japan undOstasien würden auf den internationalen Güter-märkten Konkurrenzprodukte aus Europa undNordamerika verdrängen. Je nachdem, wie eng dieaußenwirtschaftliche Verflechtung mit bzw. dieKonkurrenzsituation zu Japan und Ostasien ist,wird es für die Industrieländer aus Europa undNordamerika zu gesamtwirtschaftlichen Wachs-tumsverlusten kommen. Aus deutscher Sicht amstärksten betroffen wären der Maschinen- undFahrzeugbau, die Chemie und die elektrotechni-sche Industrie.

! Während die externen Auswirkungen einer Banken-und Finanzkrise in Japan außenwirtschaftlich ehernegativ wären, könnten die monetären externenEffekte für Asien und die Weltwirtschaft durchauspositiv ausfallen. Das aus Japan flüchtende Spar-vermögen würde nach Anlagemöglichkeiten imAusland suchen, wodurch sich das Weltkapital-angebot (außerhalb Japans) per saldo erhöhenwürde. Die Realzinsen würden fallen und zusätz-

liche Investitionen anregen. Daraus zögen vor allemdiejenigen Volkswirtschaften einen Vorteil, derenUnternehmenssektor stark verschuldet ist. Kurz-fristig dürfte die Region Ostasien noch mit einem»Japan-Malus« behaftet sein, so daß vor allem dieUSA und in geringerem Maße Europa von Kapital-zuflüssen aus Japan (und Asien) profitieren sollten.Spätestens ein Jahr nach Ausbruch der Bankenkrisein Japan sollte aber der Nettoeffekt auch in Asien(außerhalb Japans) positiv sein und Direktinvesti-tionen und Portfolioinvestitionen vermehrt in dieRegion fließen. Auch japanische Unternehmenwürden trotz schwachem Yen verstärkt in Asieninvestieren, da sich die Finanzierungsbedingungenhier im Vergleich zu Japan verbessern würden.106

Krisenszenario II: Schuldenkrise des Staates

Ende 2001 belief sich die BruttoverschuldungsquoteJapans auf den Gegenwert von 132% des BIP. Sie dürftenach Schätzungen der OECD Ende 2002 140% undEnde 2003 149% betragen.107 Infolge steigender Sozial-ausgaben und zunehmender Zins- und Tilgungsbela-stungen dürfte das jährliche staatliche Haushaltsdefi-zit bei anhaltend schwacher gesamtwirtschaftlicherNachfrage und bei Unterlassung durchgreifenderstaatlicher Konsolidierungsanstrengungen108 vonderzeit 8% bald auf einen Wert von etwa 10% des BIPansteigen. Demnach könnte sich bei Fortsetzung derlaufenden Schuldendynamik die Bruttoverschuldungs-quote schon im Jahre 2008 auf einen Anteil von 200%des BIP erhöht haben. Bereits für das Jahr 2001 beliefsich die Relation zwischen öffentlichen Schulden(Gesamtbestand) und jährlichen Steuereinnahmen auf

106 Für dieses Szenario siehe Tim Callen/Warwick J. McKibbin,Policies and Prospects in Japan and the Implications for theAsia-Pacific Region, Washington: IMF, 2001 (IMF WorkingPaper 01/131).107 Schätzungen der OECD: dies. (Hg.), Economic Outlook 69,Paris: OECD, Dezember 2001.108 Die japanische Haushaltspolitik bemüht sich heute be-reits um Konsolidierung, allerdings mit begrenztem Erfolg:Die Ausgaben für öffentliche Bauten wurden bereits für dasvergangene Fiskaljahr (2001) etwas zurückgefahren. Anderer-seits lassen sich die staatlichen Aufwendungen für Sozialesangesichts der gegebenen politischen Widerstände kaumbeschränken. Die Zuweisungen an die Präfekturen sindebenfalls weitgehend langfristig festgelegt. In der aktuellenpolitischen Lage und angesichts der konjunkturell ange-spannten Situation ist deshalb mit einer einschneidendenKonsolidierung kaum zu rechnen.

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Entwicklungsperspektiven

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einen Wert von 17,7. Im Fiskaljahr 2008 dürfte dieQuote auf 30 angestiegen sein.109 Sobald die Zinsensteigen, ist der Zeitpunkt absehbar, von dem ab derSchuldendienst schneller wächst als die laufendenEinnahmen des Staates. Zwar ist die staatliche Kredit-aufnahme bei dem derzeit niedrigen langfristigenZinssatz von 1,4% noch relativ unproblematisch,110

doch zeigen die aufgeführten Trendentwicklungen,daß à la longue eine japanische Staatsschuldenkriseunvermeidlich ist. Bestenfalls muß zu ihrer Abwen-dung mit einer scharfen Konsolidierungskrise gerech-net werden.111

Ungewiß ist allerdings ebenso wie bei dem erstenSzenario, wann die japanische Staatsschuldenkriseeintreten wird. Problematisch wird die Situation fürdas japanische Schatzamt, sobald die Nominal- undRealzinsen am langfristigen Kapitalmarkt ansteigen.Das könnte etwa in folgenden Situationen geschehen:! Es ist möglich, daß sich im Zuge der gegenwärtigen

expansiven Geldpolitik die laufenden Deflations-erwartungen drehen. Als Kompensation für denerwarteten Geldwertverlust werden die Anlegerdann eine höhere Nominalverzinsung verlangen.

! Es ist auch möglich, daß japanische Anleger � wieheute bereits die internationalen Rating-Agenturen� das Kreditrisiko japanischer Staatsanleihen höhereinschätzen, als es gegenwärtig die japanischenFinanzmärkte tun. In diesem Fall würden mitschrittweise sinkender Bonität die japanischenStaatsanleihen mit einem wachsenden Risiko-aufschlag belastet, so daß die Nominal- und Real-zinsen ansteigen.112

! Denkbar ist aber auch ein abrupter Zinsanstieg beiAuftreten eines Schocks, beispielsweise bei Insol-venz einer Bank oder einer Lebensversicherungoder bei plötzlich auftauchender Schieflage einer

109 Schätzung, vgl. Paul J. Scalise, The Looming JapaneseCrisis: Government Finance � Response, in: NBR JapanForum (Econ), 27.5.2002, http://lists.nbr.org/japanforum/showMessage.asp?ID-4704.110 Erste Warnzeichen sind jedoch nicht zu übersehen:Am 20. September 2002 konnte das japanische Schatzamterstmals nicht alle neu aufgelegten Schuldverschreibungenam Markt unterbringen. Die Laufzeit der neuemittiertenSchuldverschreibungen ist zudem in den vergangenen 12Monaten schrittweise verkürzt worden.111 Zur Entwicklung und zur Diskussion der Problematikder japanischen Staatsschulden siehe S. 24�28.112 Bereits heute sind die Nominalzinsen von JapaneseGovernment Bonds (JGB) höher als die von Samurai-Bonds derLänder Italien und Spanien, welche auf japanische Yen lautenund in Tokyo aufgelegt werden.

Präfektur oder Kommune, für deren Schulden derZentralstaat einstehen muß.

Eine unangenehme Folge der steigenden Nominalzin-sen wäre die sehr schnell ansteigende Zinsbelastungdes öffentlichen Haushalts. Dieses Problem würden dieKapitalmärkte rasch erkennen, so daß sie aufgrund derverschlechterten fiskalischen Situation nochmals eineErhöhung der Risikoaufschläge fordern würden. Untersteigenden Nominalzinsen hätte aber nicht nur dieöffentliche Hand zu leiden, sondern auch eine beträcht-liche Zahl hochverschuldeter japanischer Unterneh-men. Auch ihre Zinsbelastung würde rasch ansteigen,die fristgerechte Bedienung der Schulden würdeimmer schwieriger. Infolge einer derartigen Entwick-lung könnten auch einzelne Banken in Schieflagegeraten.

Bei ansteigenden Nominalzinsen würden die Kurs-werte für Japan Government Bonds (JGB) fallen, so daßdiese bei privaten und institutionellen Anlegern anAttraktivität einbüßen würden, zumal in einer derarti-gen Situation weitere Abstufungen Japans durch dieinternationalen Rating-Agenturen zu erwarten wären.In diesem Szenario müßten japanische Anleger beiJGB-Neuemissionen mit Kursverlusten rechnen, dasAusfallrisiko ließe sich nicht mehr von vornhereinausschließen. Denkbar wäre nun, daß das japanischeSparkapital vermehrt Anlagen im Ausland suchenwürde. Die Folge wäre eine sich fortsetzende Abwer-tung des Yen und ein Muster des Krisenverlaufs ähn-lich dem bei Szenario I (Banken- und Finanzkrise).Allerdings müßten im Falle einer Staatsschuldenkriseauch ausländische Anleger mit beträchtlichen Ein-bußen aus Kurs- und Währungsverlusten rechnen. Siehalten zwar nur ca. 4% der japanischen Staatsschuld-verschreibungen, aber dies allein ist bereits ein hohesVolumen.

Zweifellos laufen vorliegende Trends auf eine japa-nische Staatsschuldenkrise hin, die öffentlichenSchulden Japans können nicht grenzenlos steigen.Dennoch ist das Szenario einer Staatsschuldenkriseaus gegenwärtiger Sicht weniger wahrscheinlich alsdas einer Banken- und Finanzkrise, bleibt jedoch fürdas japanische Schatzamt die Situation auf den An-leihemärkten für Japan Government Bonds (JGB) dis-kretionär kontrollierbar. Die institutionellen AnlegerJapans, vor allem Banken und Lebensversicherungen,sind angesichts ihrer schwachen finanziellen Verfas-sung, aber auch aufgrund der generell hohen Regulie-rungsdichte auf Japans Finanzmärkten, auf das grund-sätzliche Wohlwollen der staatlichen Instanzen undAufsichtsorgane angewiesen. Sie können sich deshalb

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Langfristig Rückkehr auf einen stabilen Wachstumspfad?

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kaum erlauben, ein geringeres Volumen japanischerSchatzanleihen bei den laufenden Neuemissionenaufzunehmen, als ihnen jeweils zugeteilt wurde. Der-artige Widerstände sind noch am ehesten von densolventeren Finanzinstitutionen Japans zu erwarten.Sollte dennoch der Kauf von JGBs privaten japanischenAnlegern weniger attraktiv erscheinen als vorab vomSchatzamt erwartet, können immer noch staatlicheInstitutionen � die Bank von Japan und der staatlicheTreuhandfonds � in die Bresche springen. Im Fiskal-jahr 2001 entfielen auf diese beiden Institutionen be-reits ca. 43% des neu aufgelegten Anleihevolumens.

Welche Implikationen für Asien und die Weltwirt-schaft sind zu erwarten? Wie aufgezeigt, können voneiner Finanzmarkt- und Bankenkrise oder einer staat-lichen Schuldenkrise in Japan beträchtliche negativeAusstrahlungen auf die Finanzmärkte und die realenGütermärkte Asiens und der Weltwirtschaft ausgehen.Gleichwohl wird vor allem Japan selbst den ganz über-wiegenden Anteil der Kosten der Krise und der darausentstehenden Verwerfungen tragen müssen. Es sindjapanische Haushalte, japanische Unternehmen sowieder Staat selbst, die in erster Linie von der Vernich-tung von Finanz- und Kapitalvermögen, von dem Zu-sammenbruch von Banken und Unternehmen, demAnstieg der heimischen Kapitalmarktzinsen, der Ab-wertung des Yen, dem Einbruch der Inlandskonjunk-tur und der Einbuße an internationalem Renommeefür Japan betroffen sind. Aufgrund der relativ gerin-gen Außenverflechtung der japanischen Volkswirt-schaft und des geringen ausländischen Anteils amjapanischen Finanzmarkt, werden die unmittelbarenVermögens- und Einkommensverluste von Ausländerninfolge einer potentiellen Krise Japans begrenztbleiben. Allerdings können von den entstehendenVerschiebungen in den Wechselkursrelationenerhebliche Auswirkungen auf die Weltkonjunkturausgehen. Eine Abwertung des Yen und unter Um-ständen weise auch anderer asiatischer Währungenhätte Marktanteils- und Einkommensverluste euro-päischer und nordamerikanischer Wettbewerber zurFolge. Ähnlich wie bei der Asienkrise müßten Deutsch-land und Europa Wachstumseinbußen hinnehmen.Darüber hinaus hätte eine japanische Finanz- undWirtschaftskrise auch politische Implikationen für dieasiatische Region: China würde sich innerhalb Asiensund gegenüber dem Westen als neuer, »besserer«Stabilitätsanker für die Region profilieren.

Selbst wenn Japan eine Finanzkrise vermeidenkönnte, birgt die lange Agonie erhebliche Kosten fürdie Weltwirtschaft und insbesondere für Ostasien in

sich. Dadurch, daß Japans Wirtschaft sich im Zustandder ökonomischen Stagnation befindet, fehlen diepotentiell positiven Wachstumseffekte, die einst voneinem vitalen und ökonomisch robusten Japan aus-gingen. Als Lieferant von Maschinen und Anlagen, alsExportmarkt für Vorprodukte und Fertigwaren, alsInvestor und Finanzier, als Entwicklungshilfegeber,als Lieferant von Technologie und Management-Know-how nimmt Japan noch immer eine ganz zentraleRolle in Asien ein. Diese Funktionen kann Japanimmer weniger ausfüllen. Die ökonomische Stagna-tion erzeugt damit auch einen Stabilitätsverlust fürGesamtasien.

Langfristig Rückkehr auf einenstabilen Wachstumspfad?

Wenngleich sich Japan im Jahr 2002 in der günstigenPhase eines (hauptsächlich exportgetriebenen) kon-junkturellen Ausschwungs befindet, bleiben die vonjapanischen und ausländischen Prognostikern erwar-teten jährlichen wirtschaftlichen Wachstumsratenäußerst bescheiden. Kurzfristig darf nicht mit einerLösung der Stagnations- und TransformationskriseJapans gerechnet werden, eher mit einer krisenhaftenZuspitzung (siehe oben).

Wie sehen aber die langfristigen Wachstums-perspektiven in Abstraktion von kurzfristigen kon-junkturellen Zyklen und den mittelfristig hemmen-den strukturellen Verwerfungen aus? Kann es Japangelingen, wieder auf einen stabilen Wachstumspfadmit den bekannt hohen Zuwachsraten zurückzukeh-ren (s. Abbildung 1)? Zur Beantwortung dieser Fragewird auf die oben vorgestellten theoretischen und em-pirischen Analysen des japanischen Wirtschaftswachs-tums zurückgegriffen. Wie erwähnt, entsteht wirt-schaftliches Wachstum aufgrund der Zunahme derFaktoren Kapital und Arbeit und infolge der Ver-besserung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität.Es ist offensichtlich, daß angesichts der enttäuschen-den Entwicklung in den 90er Jahren eine Steigerungder gesamtwirtschaftlichen Produktivität absolutinstrumental für das zukünftige wirtschaftlicheWachstum Japans sein wird. Von Bedeutung wirdweiterhin der Einfluß der Demographie sein.

Die Implikationen aus der neoklassischen Wachs-tumsfunktion sind simpel: Bleibt die Wachstumsrateder gesamtwirtschaftlichen Produktivität weiterhin soniedrig, wird Japan im wirtschaftlichen Wettbewerbweiter zurückfallen. Steigt sie aber wieder an, kann

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Entwicklungsperspektiven

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Japan seine Position zumindest halten. Wie gezeigtwurde, sind plausible Ursachen für das niedrigeProduktivitätswachstum der 90er Jahre das Ende desnachholenden Wachstums und die strukturkonservie-rende Wirtschaftspolitik. Wendet man diese beidenUrsachen ins Positive, besteht für Japans Zukunft keingrundsätzlicher Anlaß zu Pessimismus.

Denn Japans Wirtschaft verfügt aufgrund der Rück-stände in der Informations- und Kommunikations-technologie über erhebliches Potential für nachholen-des Wachstum. Empirische Untersuchungen in denUSA haben gezeigt, daß Investitionen in die Informa-tions- und Kommunikationstechnologie sehr hoheProduktivitätseffekte aufweisen. Der Anteil dieserSektoren an den gesamten BruttoanlageinvestitionenJapans wird in den kommenden Jahren beträchtlichzunehmen. Somit könnte Japan durch Implemen-tierung der in den USA geschaffenen Innovationensein gesamtwirtschaftliches Produktivitätswachstumund damit auch das gesamtwirtschaftliche Wachstumkräftig steigern.113 Dazu müßten allerdings struktu-relle Hemmnisse aus Japans Arbeitsmärkten und inder »New Economy« selbst beseitigt werden.114 Ingleicher Weise schlummern ungenutzte Wachstums-spielräume in den Produktivitätsrückständen undWettbewerbsdefiziten der strukturschwachenBranchen Japans.115 Über Effizienzverbesserungen undKapazitätsabbau könnten die strukturschwachenBranchen erhebliche Wachstumsbeiträge leisten.Diese Strategie setzt allerdings den Willen und dieFähigkeit der Politik zu Deregulierung und Struktur-reform voraus. Die potentiellen Wachstumsgewinne,die aus einem derartigen Politikwechsel resultierenwürden, schätzt das METI auf 2,5 Prozentpunktezusätzliches jährliches Wachstum.116

Während Produktivitätsverbesserungen das wirt-schaftliche Wachstum Japans in den kommendenJahren potentiell positiv beeinflussen, ist der Einflußder demographischen Entwicklung eher negativ zusehen: In Japan hat der Prozeß des demographischen

113 Vgl Yasuyoshi Masuda, Japan�s Economy in the ComingDecade � Towards Rebirth Through Creative Destruction,Tokyo: Fuji Research Institute Corporation, Juli 2001 (FujiResearch Paper 22), S. 5�7.114 Siehe Callen et al., Japan: Selected Issues [Fn. 66], S. 96�102.115 Siehe Scarpetta/Bassanini/Pilat/Schreyer, Economic Growthin the OECD Area: Recent Trends [Fn. 22]; McKinsey GlobalInstitute, Why the Japanese Economy Is Not Growing [Fn. 60].116 Vgl. Ministry of International Trade and Industry/SanwaResearch Institute, Keizai kozo kaikaku no koka shisan ni tsuite[Schätzungen der Auswirkung von wirtschaftlichen Struktur-reformen], Tokyo: MITI, 2000.

Übergangs erst relativ spät begonnen, vollzieht sichaber sehr viel abrupter und auch erheblich schnellerals etwa in Europa. So ist Japans Geburtenrate vondurchschnittlich 3,65 Kindern (pro Frau im gebärfähi-gen Alter) im Jahre 1950 auf 2,13 Kinder im Jahre 1970und auf 1,36 Kinder im Jahre 2000 gefallen. Die durch-schnittliche Lebenserwartung in Japan, die noch imJahre 1960 niedriger war als in den übrigen OECD-Ländern, ist heute die höchste weltweit: bei Frauen 85Jahre und bei Männern 78 Jahre. Infolge des demogra-phischen Wandels dürfte die Bevölkerung Japans imJahre 2006 ihre maximale Größe erreichen und in denFolgejahren kontinuierlich abnehmen � bei weiterhinsteigender Lebenserwartung. Das Arbeitskräftepoten-tial Japans wird schon etwas früher in absolutenZahlen schrumpfen, wahrscheinlich beginnend imJahr 2002, und es wird in Relation zu der Gruppe derÄlteren � nicht mehr Erwerbstätigen � an Bedeutungverlieren. Betrug das Verhältnis zwischen der Gruppeder 15- bis 64jährigen und der Gruppe der 65jährigenund Älteren im Jahre 1990 noch 5,7:1, so fiel es imJahre 2000 auf 3,9:1, wird 2010 wahrscheinlich auf2,8:1 absinken und im Jahr 2025 sogar 2,1:1 betragen.117

Der Prozeß des demographischen Übergangs inJapan macht deutlich, daß eine Rückkehr zu derBoomphase des »transitional growth«, die mituntervon einem kraftvollen Wachstum von Bevölkerungund Arbeitskräftepotential gespeist wurde, ausge-schlossen ist.118 Auch langfristig wird sich Japan miteher niedrigen Wachstumsraten bescheiden müssen,die allerdings nicht zwangsläufig so niedrig ausfallenmüssen wie in den 90er Jahren. Diese Skepsis gründetsich vor allem auf der Einsicht, daß der Beitrag desFaktors Arbeit zum wirtschaftlichen Wachstum Japansin den kommenden Jahren und Dekaden negativ seinwird. Außerdem verändert sich die qualitative Zusam-mensetzung des Arbeitskräftepotentials. JapansErwerbspersonen werden älter, und sie werden immerweniger in der Industrie und immer mehr im tertiä-ren Sektor beschäftigt sein. Damit wird die Implemen-tierung von technischem Fortschritt und von Produk-tivitätsfortschritten tendenziell immer schwieriger.

117 Angaben entnommen aus: Statistics Bureau, Ministry ofPublic Management, Home Affairs, Post and Telecommunications(Hg.), Japan Statistical Yearbook 2002, Tokyo 2002; NationalInstitute of Population and Social Security Research (Hg.), PopulationProjections for Japan. 2001�2050, Tokyo, Januar 2002.118 Vgl. Andrew Mason/Naohiro Ogawa, Population, LaborForce, Saving, and Japan�s Future, in: M. Blomström/B. Ganges/S. La Croix (Hg.), Japans New Economy, Oxford: Oxford Univer-sity Press 2001, S. 57�72.

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Langfristig Rückkehr auf einen stabilen Wachstumspfad?

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Weiterhin könnte der Prozeß der Schrumpfung undAlterung der japanischen Bevölkerung auch auf dieBildung von Sparkapital und die Investitionsneigungin Japan einen ungünstigen Einfluß nehmen. Eskönnte nämlich zu vermehrter Auflösung von Spar-einlagen im Rahmen des natürlichen Lebenszykluskommen, und möglicherweise wird auch die Zahl derInvestitionsmöglichkeiten bei abnehmendem privatemKonsum in Japan (infolge des Bevölkerungsrückgangs)rückläufig sein.

Diesen generell negativen Tendenzen können zweiFaktoren entgegenwirken. Zum einen kann und wirdArbeit durch Kapital substituiert werden, denn mitzunehmender Arbeitskräfteknappheit werden dieReallöhne ansteigen. In der Konsequenz wird die Pro-duktion kapitalintensiver und die Arbeitsproduktivi-tät nimmt zu (nicht aber notwendigerweise diegesamtwirtschaftliche Produktivität). Zum anderenkann die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik kom-pensierend wirken. Erforderlich wären eine Erhöhungder Partizipationsrate der Frauen, eine verstärkteEinwanderung von jungen Fachkräften nach Japan,eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters und eineFamilienpolitik, die zu einer Trendwende in derEntwicklung der Geburtenrate und des generativenVerhaltens führt. Eine solche Politik würde allerdingstiefgreifende Reformen in Japans Wirtschaft undGesellschaft voraussetzen und eine Reformfähigkeit,die Japan in den vergangenen Jahren nur in Ansätzengezeigt hat.

Sowohl die Abmilderung der negativen Effekte derBevölkerungsabnahme als auch der notwendigeAnstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktivitäterfordern weitsichtiges politisches Handeln im ökono-mischen, im sozialen und im gesellschaftlichenBereich. In Anbetracht der bislang zögerlichen, aufkleine Schritte bauenden Reformstrategie ist zuerwarten, daß es geraume Zeit erfordern wird, bis diePolitik die notwendigen Entscheidungen getroffen hatund diese mit Geschick in die Praxis umgesetztwerden. Erst dann wird Japan wieder auf einen mittel-fristig stabilen Wachstumspfad mit jährlichen Ratenvon mehr als 2% zurückkehren.


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