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Number One Wenn wir alle schlafen,
wer weckt uns dann auf?
Das geheime Tagebuch des Charlie Conner
Kapitel 1
Das Erwachen
Hannibal X
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Copyright © 2014 Axel Stefan
Neumistergasse 15, 2500 Baden, Österreich
All rights reserved.
Cover by Island/www.selfpubbookcovers.com
Das ganze Buch ist bestellbar unter:
www.hannibalx.com im Buchhandel: ISBN: 978-3-200-03518-8
oder als ebook auf Amazon.com
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„Mein Name ist Charlie Conner. Ich bin der
berühmteste Fernsehsprecher der Welt.
... oder das ist zumindest,
was ich glaubte,
wer ich
bin."
Charlie Conner
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Das geheime Tagebuch des Charlie Conner
„Ich muss die Menschheit vor der größten Gefahr warnen, die jemals
das Überleben von uns allen in Frage gestellt hat. Ich werde auf diesen
zerfetzten, verschmierten Seiten die wahre Geschichte eines
blutrünstigen Wahnsinns erzählen. Die Menschheit muss davor gewarnt
werden, was die Politiker, das Militär und die Geheimdienste für einen
morbiden, kranken Alptraum erschaffen haben, und was sie mit uns
allen vorhaben. Sie werden uns alle töten. Der Tod zieht bereits leise aus
der Dunkelheit über unseren Planeten. Und wir haben nur noch wenige
Wochen oder Monate, bis du, ich und alle anderen, die nicht wichtig
sind für die Mächtigen dieser Welt, von ihnen abgeholt und
verschwinden werden.
Ich weiß nicht, ob noch genug Zeit ist, den Abgrund, vor dem wir alle
stehen, abzuwenden. Aber ich werde versuchen, alles
niederzuschreiben, damit wir endlich aus diesem Alptraum erwachen.
Bitte veröffentliche es! Es müssen alle wissen! Ich hoffe, es ist nicht zu
spät. Dein Freund Charlie Conner"
Diesen Brief erhielt ich vor zwei Wochen von meinem alten Freund
Charlie Conner in einem Paket. Nachdem ich diese überraschenden und
sehr weltfremd klingenden Zeilen meines Freundes, mit dem mich eine
lange Freundschaft über fast zehn Jahre verband, gelesen hatte, nahm
ich das verschmutzte und anscheinend längere Zeit unter schwierigsten
Bedingungen gelagerte und dadurch zerrissene und von Flecken und
Sand gefärbte Tagebuch, das Charlie mitgeschickt hatte, aus dem Paket.
Ja, ich begann es zu lesen und las es bis zum Schluss. Und ja: Es war
erschütternd was ich in diesem, von meinem Freund Charlie Conner
teilweise mit rasch hingefetzten Sätzen geschriebenen Tagebuch las. Ich
werde nicht verharmlosen, was unser aller Untergang sein wird, den
Charlie entdeckt und als Warnung in seinem Tagebuch
niedergeschrieben hat. Im Moment schlafen wir alle. Und wenn wir
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nichts dagegen tun, werden wir alle sterben; und zwar in wenigen
Monaten.
Als ich die Seiten von Charles Conner bis zum Ende gelesen hatte, war
mir bewusst, dass nicht nur er in größter Lebensgefahr ist – wir alle sind
es. Ich habe seit dem Brief an jenem Tag kein Lebenszeichen mehr von
Charlie bekommen. Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Ich gehe auch davon
aus, dass man hinter mir her ist. Ich werde daher vorsichtig agieren. Ich
habe in diesem Buch das Tagebuch von Charles Conner heimlich
veröffentlicht. Damit es nicht auffällt, habe ich es in eine Erzählung
umgeschrieben. Dies ist erst der erste Teil. Zu riskant wäre es, alle
Geheimnisse auf einmal Preis zu geben. Ich werde jedes Kapitel von
Charlies Tagebuch in einem einzelnen Buch veröffentlichen. Dies ist
also Kapitel eins. Ich musste sehr, sehr vorsichtig bei der
Veröffentlichung dieses Buches agieren, um nicht von „denen“ bemerkt
zu werden. Ich konnte niemandem davon erzählen, denn ich wollte
nicht, dass „die“ auf mich aufmerksam werden. Sie sind zu mächtig, um
sich vor ihnen zu verstecken. Sie hätten mich in der Dunkelheit der
Nacht abgeholt und dort hingebracht, wo niemand jemals wieder etwas
von mir gehört hätte. Wahrscheinlich hätten sie mich in eine dieser, mit
unsagbarem Gestank von hunderten, von Fäulnis zerfressen Leichen
getränkten Einrichtungen gebracht, die sie überall im ganzen Land
betreiben. Und nachdem sie ihren morbiden Spaß mit mir gehabt hätten,
wären meine sterblichen Überreste genauso in dunklen, feuchten
Gängen ohne Laut verschwunden wie die Überreste von allen anderen,
die sie mitgenommen haben und, aus unser aller Gedächtnis gelöscht,
zum ewigen Schweigen brachten. Gleichzeitig musste ich aber so rasch
wie möglich Charlies Tagebuch veröffentlichen, damit es möglichst
viele Leute lesen können. Damit die kleine Chance, die wir noch haben,
nicht auch noch verloren geht. Diese Einleitung, die Sie hier lesen, habe
ich gut zwischen zwei Seiten des ursprünglichen Manuskripts versteckt
und erst kurz vor der Veröffentlichung, als die Gefahr entdeckt zu
werden zumindest annähernd überschaubar war, wieder hier eingefügt.
Die Gefahr wird größer werden, je mehr ich veröffentlichen werde und
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je mehr Zeit „die“ haben es zu bemerken. Seien Sie auf der Hut. Die
Chroniken von Charles Conner sind die einzige Chance, die die
Menschheit hat um zu überleben. Ansonsten finden wir alle nur den
Tod.
Sei wachsam,
Hannibal X
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Abschnitt 1
Düstere Alpträume
Dunkelheit. Es war nichts zu sehen außer grauen Wolkenstreifen, die am
tiefschwarzen Himmel langsam über das Firmament zogen. Entfernte
Kriegsgeräusche und das Donnern von Explosionen, die viele Kilometer
weit weg schienen, schallten als hohles, kaltes Echo hinter weit
entfernten Hügeln hervor. Das metallische, groteske Rattern von
Maschinengewehren strich wie die grauen Wolken am Himmel
schleierhaft über den dunkelblauen, nächtlichen Horizont. Wie ein
drohender Schatten aus einer alten, unheilvollen Zeit, als kaltblütige
Meuchelmorde und blutige Messerstechereien in dunklen Gassen an der
Tagesordnung waren, erschien aus der Finsternis ein gespenstisches
Gesicht, dessen Mund – wenn man den grotesken, dunklen Schlitz aus
verfallener Haut und tiefen Falten, in dem wenige, abgebrochene,
faulige Zähne leuchten, als solches bezeichnen mochte – geöffnet war
und hinter dem nichts als eine pechschwarze, grauenhafte Tiefe war. Ein
markerschütternd-lauter, schriller Schrei stieg aus den finsteren Tiefen
der Kehle der ghoulartigen, morbiden Fratze und zerriss den
nächtlichen, blauschwarzen Himmel.
Charlie Conner schreckte aus dem Schlaf auf. Hyperventilierend saß er
schweißgebadet auf seinem Bett. Er hatte einen Alptraum gehabt.
Charlie atmete tief durch, ließ seinen Kopf sinken und wischte sich mit
dem Ärmel seines Pyjamas den Schweiß von Stirn und Gesicht. In den
letzten Tagen hatte Charlie viele Alpträume gehabt. Wenn er so richtig
darüber nachdachte, gab es eigentlich keine Nacht mehr, in der er
keinen Alptraum hatte. Es war beunruhigend und sehr beängstigend.
Vor allem die Tatsache, dass alle seine Alpträume einen ähnlichen
Inhalt hatten. Charlie versuchte sich zu entspannen. Aus der völlig
verkrampften, aufrechten Position, in der er auf dem Bett saß, ließ er
seine Schultern und seinen Kopf nach vorne gleiten und sein Gesicht
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nahm einen entspannteren, wenn auch müden Gesichtsausdruck an. Er
atmete aus und schaute sich um. Alles war wie gehabt. Sein weiches,
großes Bett mit den weißen Laken war zwar unordentlich, aber stand
genauso wie immer in dem fahl beleuchteten Schlafzimmer. Charlies
Schlafzimmer war schön eingerichtet. Charlie mochte es gerne
gemütlich, aber gleichzeitig auch elegant. Deswegen hatte er seine
ganze Wohnung mit teuren, beigefarbenen Möbeln eingerichtet. Der
Boden war in der ganzen Wohnung ebenfalls mit einem beigefarbenen
Spannteppich ausgelegt, der bei dem fahlen Mondlicht eigentlich grau
ausschaute, dachte Charlie. Die wenigen Möbel in dem eher spärlich
eingerichteten, aber durchaus eleganten Schlafzimmer, glänzten ein
wenig in dem kargen Mondlicht, das durch das mit weißen Jalousien
verschlossene Fenster zu Charlies Rechten drang. Vor ihm, auf der
seinem Bett gegenüberliegenden sehr niedrigen, dafür fast drei Meter
breiten Kommode lagen Charlies Sachen. Jeden Abend, bevor er
schlafen ging, legte er dort alle seine Sachen hin. Diese waren nie
besonders geordnet und damit war dies eigentlich eine nicht ideale
Angewohnheit, die Charlie hatte. Aber da Charlie allein wohnte, spielte
es keine Rolle, dachte er. Er hatte es bereits als Kind so gemacht. Zwar
hatte er in den letzten zehn Jahren seines Erwachsenseins gelernt,
Ordnung in seiner Wohnung zu halten und darauf zu achten, dass alles
sauber war, aber die Angewohnheit, alle seine tagsüber verwendeten
Sachen wie Handy, Geld und Autoschlüssel zusammen mit seiner
Kleidung auf die beigefarbene, niedrige, fast die ganze Länge der Wand
einnehmende Kommode zu legen, hatte er beibehalten. Die wichtigen
Dinge wie Hose und Hemden, die sonst zerknittern würden, hängte er in
den Kasten, der zur Linken seines Bettes stand. Für sein Sakko gab es
noch einen freistehenden Ständer, der zwischen Tür und Kommode
stand. Über der Kommode gegenüber von Charlies Bett war ein großer
quadratischer Spiegel, in dem sich das Bild, wie Charlie in seinem
gestreiften Pyjama auf dem weißen, zerzausten Bett saß, spiegelte. Alles
war wie jeden Tag.
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Es hatte alles vor etwa zwei Monaten begonnen. Damals hatte Charlie
die ersten Alpträume gehabt. Jede Nacht drehten sich seine Träume um
die gleiche Geschichte: Jedes Mal war er involviert in einen riesigen
Krieg – einen Weltkrieg, wie es die Charaktere der Geschichten, Charlie
in seinen Träumen erzählten. „Es ist eigenartig, dass die Träume wie
eine fortlaufende Geschichte erzählen“, dachte Charlie. Jede Nacht
begann der nächste Alptraum dort, wo der Traum die Nacht davor
aufgehört hatte. Und die Träume wirkten real. Viel realer als es Charlie
lieb war: Er konnte seine Träume untertags nicht mehr vergessen. Er
wachte in der Früh, oder oft auch mitten in der Nacht, schweißgebadet
auf und die Erinnerungen an seine Träume verließen ihn den ganzen
Tag nicht mehr. Aber es war nicht nur so, als ob sich Charlie hin und
wieder an einzelne Szenen seiner unheimlichen, finsteren Träume
erinnern könnte. Nein, er konnte sich an jedes Detail erinnern und sie
schienen ihn den ganzen Tag in seiner Erinnerung zu begleiten. Dies
war nicht besonders förderlich für sein tägliches Leben. Manchmal hatte
er Probleme, sich untertags auf Dinge zu konzentrieren, wenn dieses
drückende, schwere Gefühl, das die Alpträume mit sich brachten, düster
und zäh wie Nebelschwaden über Charlies Gedanken zog. Er konnte
arbeiten, aber es fiel ihm schwerer als sonst. Vor ein paar Monaten hatte
Charlie seine Arbeit als Fernsehsprecher in einem der größten
Nachrichtensender der Welt als leicht empfunden. Herausfordernd
empfand Charlie damals gar nichts. Er war immer Herr der Lage
gewesen und konnte jede Situation ohne die geringsten Probleme
meistern. Und auch in seinem Privatleben war er sehr gesellig gewesen
und konnte mit jedem Menschen ein lockeres, geistreiches oder
amüsantes Gespräch führen. Und Charlie fühlte sich damals immer
leicht. Leicht wie ein Adler, der durch die pulsierende, moderne
Metropole New York glitt, in der Charlie lebte und arbeitete. Er hatte
seit dem Beginn der Alpträume vor ein paar Monaten seine Leichtigkeit
im Leben nicht verloren, aber die Erinnerungen an seine nächtlichen
Alpträume lagen oft düster über Charlies Gedanken und trübten seine
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Laune und damit auch seine Leichtigkeit im Alltag und gegenüber
seiner Umbegung.
Wie gesagt, begannen die Alpträume ganz plötzlich vor zwei Monaten.
Der erste Alptraum kam überraschend und war ungewöhnlich und
makaber. Charlie war an diesem Abend vor zwei Monaten mit einem
Arbeitskollegen, seinem Volontär Jeff, nach der Arbeit in ein
altmodisches, aber wundervoll stilvoll eingerichtetes Lokal etwas
trinken gegangen. Charlie genoß den Abend wie selten einen zuvor.
Sein Arbeitskollege Jeff war ein sehr aufgeweckter, junger Mann
Anfang zwanzig, der hochintelligent war und, trotz seines scharfen
Blickes für die Realität, einen ausgesprochen stark ausgeprägten Sinn
für Humor hatte. Jeff konnte man eigentlich durch nichts aus der Ruhe
bringen. Er war immer gelassen, gut gelaunt und konnte nach ein paar
Drinks in gemütlicher Runde – und diese alte, mit vergilbtem Holz
verkleidete Bar mit Schriftzügen und Details aus dem frühen
zwanzigsten Jahrhundert war wirklich sehr gemütlich – stundenlang
über dutzende, faszinierende Dinge reden. Und so saßen Charlie und
Jeff von direkt nach der Arbeit am frühen Abend für viele, viele
Stunden in dieser Bar, die so ausschaute, als hätte bereits Al Capone
dort seine Polizeispitzel zum Abendessen geladen, und sprachen
ausgelassen über viele Dinge. Es war der erste Abend gewesen, wo
Charlie und Jeff so offen über vieles geredet hatten. Alles hatte
begonnen mit einem ungewollten Versprecher von Charlie, der von Jeff
mitgehört wurde. Wie gesagt, war Charlie Nachrichtensprecher bei
einem Fernsehsender. Kurz nach der Sendung, die Charlie an diesem
Abend moderiert hatte, kam der Chef des Nachrichtensenders zu
Charlies Arbeitsplatz inmitten des Großraumbüros, das rund um das
Aufnahmestudio angelegt war. Das Büro beherbergte sicher um die
hundert Schreibtische, die, teilweise zusammenhängend, teilweise
freistehend, wie einen Ring das von Glaswänden abgetrennte Studio
umgaben. Charlie hatte sich nach der Sendung durch die Glastür des
Studios zu seinem etwa dreißig Meter entfernten Arbeitsplatz bewegt,
knallte sein Sakko auf eines der halbhohen Regale, die die einzelnen
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Arbeitsplätze von einander trennten und ließ sich laut, aber entspannt
mit hinter dem Kopf verschränkten Armen und aufgekrempelten Ärmeln
auf den Sessel fallen. Keine fünf Sekunden waren vergangen, als er
beim Hochschauen seinen Chef Bob auf sich zukommen sah. Bob war
ein typischer Chef, würden viele Leute sagen. Und es sagten auch die,
deren Chef er tatsächlich war. Er wirkte sehr sicher in dem, was er tat,
aber er hatte auch die Angewohnheit, Menschen immer Feedback zu
geben – oder man könnte auch sagen „Verbesserungsvorschläge“ zu
machen – wenn eigentlich alles perfekt gewesen war. Und Charlie war
sehr, sehr gut in dem, was er tat. Somit mochte es Charlie nicht sehr,
wenn Bob direkt nach der Sendung zu ihm kam, um darüber zu reden.
Und das war keine Überheblichkeit von Charlie: Charlie war einer der
Besten in seinem Beruf. Und das sagten nicht nur andere Leute, die sich
mit der Branche auskannten. Auch beim Publikum kam Charlie sehr,
sehr gut an. Er machte diesen Job als Nachrichensprecher bereits seit
ein paar Jahren und war in dieser Zeit zum bekanntesten
Fernsehmoderator überhaupt geworden. Die Sendung, die er moderierte,
wurde jeden Tag live in die ganze Welt übertragen und rund achtzig
Prozent aller Menschen sahen sie täglich. Also war Charlie wohl
ziemlich gut. Trotzdem war Charlie aber immer mit beiden Beinen fest
am Boden geblieben und bekam gerne Feedback. Gerade jetzt hatte er
aber die Sendung zu Ende moderiert und wollte sich eigentlich
entspannen. Sein Chef Bob kam also in den Augen von Charlie nicht
gerade zum besten Zeitpunkt, und als Bob wieder ging, sagte Charlie
leise etwas in der Art, dass es doch eh egal sei, da die Sendung ohnehin
schon vorbei war. „Da hast du recht“, kam es da von der Seite und als
Charlie sich umdrehte, sah er Jeff in ein paar Metern Entfernung mit
weißem, aufgekrempeltem Hemd, Jeans und verschränkten Armen
zwischen den Regalen stehen und ihn mit einem schelmischen Lächeln
anschauen. „Ja“, sagte Charlie lächelnd zu Jeff, den er bis zu diesem
Zeitpunkt eigentlich nicht besonders gut gekannt hatte und vom dem er
nicht geahnt hatte, dass er sehr viel Humor und Witz hatte. Charlie
mochte die Aussage von Jeff und lud ihn auf einen Drink in die vorher
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erwähnte Bar ein. Und Jeff nahm mit dem gleichen schelmischen
Lächeln dankend an und aus dem Abend wurde ein langes,
unterhaltsames Gespräch zwischen Charlie und Jeff, wo sie, nachdem
sie lange über die Arbeit geredet hatten, auch viele andere Dinge, die
auch teilweise persönlich waren oder Gedanken über grundlegende
Fragen betrafen, sprachen. Charlie und Jeff verstanden sich an diesem
Abend sehr gut: Ihr Gespräch zeigte, dass sie sehr ähnlich gestrickt
waren und viele Dinge sehr ähnlich sahen. Zwar war Charlie der etwas
ernstere und männliche und Jeff eher der sorglose, jugendlich-
überdrehte Typ, aber sie verstanden sich blendend und zwischen den
beiden entstand so etwas wie Vertrauen und Freundschaft an diesem
Abend. Als es spät wurde – es war cirka halb eins in der Nacht –
verabschiedeten sich beide voneinander und Charlie ging nach Hause,
legte sich ins Bett und schlief ein. Und in diesem Moment – als Charlie
die Augen schloß und die dunkle Schwere des Schlafes seine Gedanken
betäubte – begannen die furchtbaren, dunklen Alpträume, die seitdem
jede Nacht Charlie heimsuchten. Es waren nur wenige Sekunden
nachdem er eingeschlafen war, als der Traum mit einer so unglaublichen
Intensität begann, als ob man mit hundert Stundenkilometer gegen eine
überdimensionale Mauer rennen würde. Hände packten Charlie an
Armen und Beinen und er spürte jeden einzelnen Knochen der Finger
durch seinen Pyjama auf seine Haut drücken, als sie seinen Oberkörper
aus dem Liegen nach oben rissen und er mit vor Schlaf wirr aufgerissen
Augen den zwei Männern in schwarzen Mänteln auf jeder seiner Seite
benommen zusah, wie sie ihn von einer zur anderen Seite reißend aus
dem Bett zerrten. Charlie konnte nur stammeln und es kam nicht viel
mehr als „Wer seid ihr“ und ein gestöhntes „Was wollt ihr?“ heraus,
während er die anderen drei Männer wahrnahm, die verteilt an den
Wänden im Raum standen und den Abtransport von Charlie ruhig
beobachten oder überwachten. Zu schnell ging alles für Charlie um viel
in Erinnerung zu behalten, doch er nahm wahr, dass die Männer an den
Wänden in ihren etwas staubig und schäbig wirkenden Mänteln kantiger
und dünner wirkten als die zwei, die ihn an den Armen fast am Boden
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aus dem Bett durch das Zimmer zerrten, die Türe aufstießen und den
stolpernden Charlie in seinem Pyjama in den pechschwarzen Gang und
in eine pechschwarze Nacht hinauszerrten. Als Charlie und die zwei
Männer durch das finstere Stiegenhaus stolperten, drehte Charlie seinen
Kopf zu dem Mann, der ihn am rechten Arm gepackt hielt. Er war
muskulös und hatte ein kantiges, maskulines Gesicht, das zwischen dem
dunklen Mantel und dem ebenso dunklen Hut sichtbar war. „Was wollt
ihr von mir?“, fragte Charlie. Der Mann blickte ihn kurz an und Charlie
blickte in seine Augen. Die Augen des Mannes wirkten hart wie die
eines Soldaten, aber Charlie bildete sich ein, auch ein gewisses
Mitgefühl in ihnen zu sehen. Der Mann zerrte Charlie weiter und drehte
seinen Kopf wieder nach vorne in die Richtung, in die sie gingen. Ein
paar Momente vergingen, dann sagte er ruhig: „Mister Conner, haben
Sie sich schon einmal die Frage gestellt was wäre, wenn wir alle
gleichzeitig schlafen und eine Gefahr auf uns zukommt?“ „Nein“,
antwortete Charlie leise. Der Mann blickte ihn noch einmal an und
Charlie glaubte, eine gewisse Traurigkeit in seinen Augen zu erkennen.
„Die Frage ist: Wenn wir alle schlafen, wer weckt uns dann auf?“, sagte
der Mann und es klang unheilvoll und wie eine düstere Prophezeiung, so
wie er es sagte. Der Klang seiner Stimme und die geheimnisvollen
Worte hallten durch Charlies Kopf in der Dunkelheit des Stiegenhauses,
als sie die unterste Stufe der Treppe erreichten.
Damit endete der Alptraum abrupt. Wie, als würde ein schwarzer
Vorhang in einem düsteren, dunklen Theater aufgehen und dem
überraschten Publikum den Blick auf eine strahlend-erhellte Bühne
freigeben, öffnete sich an diesem Tag der Blick von Charlie auf die von
ersten Morgenstrahlen dezent erleuchteten Wände seines
Schlafzimmers. An diesem Tag war es das erste Mal, dass er aus einem
dieser Alpträume in der Halbfinsternis aufschreckte und das Gefühl,
verfolgt zu werden, aus seinem Traum noch so stark war, dass er sich
zweifelnd umschaute, um sich selber sicher zu fühlen, dass er allein war.
Er strich sich mit seiner Hand über die Haare an seiner Schläfe. Sie
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fühlten sich kühl und nass an. Und irgendwie hatte er das Gefühl, sie
würden sich auch ohne klar nachvollziehbaren Grund ein wenig dreckig,
staubig und verschwitzt anfühlen, als ob er mehrere Tage unter
schwersten Bedingungen in einem Wald allein unterwegs gewesen wäre
und auf dem Boden zwischen trockenem Moos und Wurzeln
übernachtet hätte. Charlie betrachtete seine Hand und rieb seine Finger
aneinander. Irgendetwas war anders. Und was Charlie nicht wusste:
Tatsächlich änderte sich von diesem Tag an alles.
Es war ein wunderschöner, heller und sonniger Sommertag im Zentrum
von New York. Charlie fuhr in einem grauen Anzug und Sonnenbrille in
seinem Cabrio durch die Stadt zu seinem Arbeitsplatz im Fernsehsender.
Er telefonierte während der Fahrt mit Jeff, seinem Volontär: „Nein, wir
werden die Akten-Story nicht noch einmal aufwärmen. Das Ganze ist
Schnee von gestern. Melde dich, wenn du was gehört hast von Richard.“
Charlie legte auf und seinen Kopf schief. Er fühlte sich müde von der
Nacht und fuhr sich mit seiner Hand über die Stirn. Sein Kopf dröhnte
und es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. In seinen Gedanken
wiederholte er die Frage des Mannes aus seinem Alptraum: „Wenn wir
alle schlafen.....wer weckt uns dann auf?“
Charlie steckte sich seine Sonnenbrille in seine Haare und blickte mit
zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne, als er in eine Kreuzung
fuhr. Plötzlich quietschten Reifen, alles drehte sich, ein Auto raste auf
Charlie zu, er verriss das Steuer und sprang mit aller Kraft auf die
Bremse. Ein anderes, weißes Cabrio und er hatten in letzter Sekunde
durch eine Notbremsung einen Zusammenstoß verhindern können. Der
Lenker des anderen Autos, bäumte sich in seinem Fahrersitz auf und
schrie: „Hey du Affe! Schau doch verdammt noch mal wo du hinfährst,
du Idiot!“
„Jaja, schau doch selber wo du hinfährst“, antwortete Charlie mürrisch
aus seinem Sitz.
Die Passanten beobachteten, teilweise aus den Schatten der finsteren
Wolkenkratzer, teilweise von den sonnendurchfluteten Stellen davor,
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die ganze Szenerie der zwei mitten auf der Kreuzung stehenden Autos.
Charlie legte einen Gang ein. „Arschloch“, murmelte er in sich hinein
und fuhr davon.
Charlie parkte sich in einer Parklücke auf dem riesigen Platz vor dem
Hochhaus des Fernsehsenders ein. Der Sender war in den oberen
Stockwerken eines riesigen, aus grauen Ziegeln erbauten Hochhauses
gelegen, das mit seinem stählernen, alten Sendemast, der wie die
Miniatur des Eifelturms aussah, steil in den Himmel ragte und von dem
man auf den riesigen, schönen Platz vor ihm schaute, der in der Mitte
eine gigantische Wiese und ein paar wenige Bäume und Bänke
beherbergte. Der Fernsehsender war an dem östlichsten, schmäleren Teil
des länglichen, viereckigen Platzes, der an den Längsseiten von einer
langen Reihe von dunkelgrauen und braunen Hochhäusern, die etwas
niedriger waren als der Fernsehsender, gesäumt wurde. Charlie stieg
aus, ging die Treppen zum Haupteingang des Fernsehsenders hoch, ging
durch die gläserne Drehtüre mit Messingrahmen und über die große,
hallenartige und karge Empfangshalle aus hellem Marmor zum Lift, der
auf der gegenüberliegenden Seite lag. Er drückte die runde, silberne
Taste 52 des erst cirka zehn Jahre alten Lifts und fuhr nach oben. Die
Türen des Lifts öffneten sich und Charlie ging mit ein paar anderen
Leuten aus dem Lift hinaus. Er betrat das Großraumbüro in dem er
arbeitete, das ausgefüllt war von freistehenden Bürotischen, einem
jeweils dazugehörigen Drehsessel und vielen halbhohen Kästen, die die
einzelnen Arbeitsplätze theoretisch, aber weder optisch noch sonst
irgendwie voneinander abtrennten. Charlie setzte sich an seinen
Schreibtisch und schaute auf den Monitor seines Computers. Jeff, sein
Volontär, setzte sich in T-shirt, Jeans und Turnschuhen auf seine
Tischkante und begrüßte Charlie: „Hallo Charlie! Wie gehts? Ich habe
Richard erreicht. Er schickt uns die Unterlagen in einer Stunde sobald er
sie hat.“
Charlie: „Hi Jeff! Danke, geht mir ganz gut. Fein. Kennst du das, wenn
du Alpträume hast, wo du einfach danach komplett geschlaucht bist?“
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Jeff: „Hattest du schon wieder Alpträume? Ach Charlie, vergiss die
Alpträume. Das sind nur Auswüchse deiner Phantasie, wenn du
schläfst.“
Charlie: „...Ja. Ja klar. .... du hast recht. Ich weiß. ....aber manchmal sind
sie so real.“
Jeff stand auf: „Vergiss es! Glaub mir. Nimm dir einen Kaffee und
schau dir die letzte Story von mir an. Die könntest du vielleicht bringen
heute, wenn du magst.“
„Ja, werde ich machen.“, sagte Charlie, blickte Jeff in die Augen und
nickte.
Jeff drehte sich um und ging durch die halbhohen Korridore des
Großraumbüros davon. Charlie schaute noch einmal auf seinen
Computermonitor, beugte sich vor und las.
„Hey Charlie! Wie gehts? Alles fit?“ Die Worte seines Chefs Bob ließen
Charlie vom Monitor wegschrecken. Bob stand in einem braunen Anzug
mit in die Hüften gestützten Armen vor Charlies Schreibtisch und
schaute ihn an.
Charlie drehte sich zu ihm und erwiderte: „Ja danke Bob! Alles okay.“
„Fein! Dann bring dich mal in Form! In Kürze bist du wieder vor den
Kameras auf Sendung“, sagte Bob und ging.
Bob war gerade ein paar Schritte entfernt, als er innehielt, sich zu
Charlie umdrehte und mit einem ein wenig schiefen Lächeln ergänzte:
„Muss toll sein, wenn man so berühmt ist. Wer kennt nicht Charlie
Conner, den berühmtesten Fernsehsprecher der Welt.“ Bob lachte. Es
war ein tiefes, ein wenig rauchendes Lachen. Es klang kräftig, aber es
war unklar, ob es so unnatürlich klang, weil es gekünstelt war, zynisch
oder unbeholfen. Charlie zwang sich widerwillig zu einem Lächeln. Er
mochte Bob, aber seine Art war nicht immer in jeder Situation, wie
Charlie es bei Menschen als angenehm empfand. Oft ließ er Bob einfach
reden und tun und dachte sich seinen Teil. Aber er wusste, wie er dies
konnte und gleichzeitig so mit Bob umging, dass der Umgang für beide
Seiten respektvoll und professionell war. Charlie ließ sich in seinen
großen Bürosessel fallen und schnaufte durch. „Das ist heute nicht mein
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Tag“, dachte Charlie und seufzte. „Am liebsten würde ich wieder nach
Hause gehen und mich ausruhen“, dachte er. Bobs Worte über Charlies
Berühmtheit fielen bei Charlie auf keinen fruchtbaren Boden.
Berühmtheit bedeutete Charlie nichts. Für ihn hatte es keine Bedeutung,
ob Menschen ihn kannten oder nicht; oder was sie von ihm hielten. Er
sagte immer über seinen Job, dass es für den vor der Kamera keinen
Unterschied macht, ob er allein in einem Zimmer sitzt oder allein vor
einer Kamera. „Ein Nachrichtensprecher sieht seine Zuschauer nicht,
kennt sie nicht und kann auch nicht mit ihnen reden“, sagte Charlie
immer über seinen Beruf. Er bezeichnete sich gerne bei Gesprächen in
lustiger Runde ironisch als „den großen Unbekannten in einer gläsernen
Zelle“ und beschrieb damit die Situation, wie es war, als
Nachrichtensprecher in einem von Glas umgebenen Studio zu sitzen und
in das dunkle Loch einer Fernsehkamera zu sprechen. „Jeder andere
Mensch hat mehr Feedback von seinen Zuhörern als ich“, sagte Charlie
oft darüber mit einem Lächeln. Und diese Rolle passte auch zu ihm.
Zwar kannten viele Charlie aus dem Fernsehen - oder erkannten ihn bei
mehrmaligem Hinschauen in der Realität -, aber Charlie lebte eher
zurückgezogen und seine Freundschaften beschränkten sich auf wenige
Personen. Grund dafür war, was er in seinem Leben erlebt hatte. Charlie
war vor seinem jetzigen Leben Soldat für Spionage- und
Berfreiungseinsätze gewesen und hatte viele Dinge erlebt. Er hatte sich
mit zwanzig für diese Sondereinheit eingeschrieben, um die
Vergangenheit seiner Kindheit abzuschließen. Charlie war aus einer
glücklichen, liebenvollen Familie gewesen. Aber davon hatte er nur die
ersten Jahre seines Lebens erlebt. Als er noch keine zehn Jahre alt war,
verschwand sein Vater und wurde nie wieder gefunden, obwohl die
Polizei und Charlies Mutter seinen Vater über Jahre hinweg suchten. Es
war nie klar, was mit Charlies Vater passierte. Es gab keinen Grund,
warum er hätte von sich aus gehen sollen und er hatte auch keine
Feinde, von denen die Familie oder Freunde gewusst hätten. Charlies
Vater war ein stattlicher, in einem allseits als positiv wahrgenommenen
Leben stehender Mann und verschwand von einer Sekunde auf die
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andere an einem ganz normalen Tag, nachdem er in der Früh
aufgestanden war, sich einen Anzug anzog, sich von Charlies Mutter
und Charlie verabschiedete und sich auf den Weg in seine Arbeit in
einem Büro machte. Charlies Vater rief dann zu Mittag noch bei
Charlies Mutter an und verabschiedete sich damit, dass er sich auf den
Abend mit Charlies Mutter und ihm freue. Nach diesen Worten legte
Charlies Vater den Hörer auf und das Klicken des Auflegens war das
letzte jemals von Charlies Vater wahrgenommene Lebenszeichen.
In den darauffolgenden Tagen suchten dutzende Polizisten die gesamte
Stadt nach Charlies Vater ab. Charlies Familie wohnte damals in einer
Kleinstadt mit knapp 10.000 Einwohnern, die von weitreichenden, von
Wäldern überzogenen Hügeln umgeben waren. Charlies Vater war laut
den Zeugenaussagen einer Mitarbeiterin namens Judith Dale am
späteren Nachmittag aus dem altmodischen, in den 1950ern gebauten
Büro in der Innenstadt gegangen. Oder vielleicht auch verschwunden,
das konnte aus dem Bericht von Misses Dale nicht hundertprozentig
sicher abgeleitet werden. Sie begegnete Charlies Vater auf dem alten,
düsteren Gang vor seinem Büro um cirka halb fünf am Nachmittag und
fragte ihn, ob er in einer Stunde noch da wäre, da ihr gemeinsamer Chef
dringend etwas für den nächsten Tag erledigt haben müsse. Charlies
Vater antwortete ganz normal, dass er dann noch da sein würde. Nichts
an seiner Stimme oder seinem Verhalten schien Misses Dale
ungewöhnlich oder anders als sonst. Sie meinte, dass sie später noch
einmal im Büro von Charlies Vater vorbeikommen würde, um ihm die
Unterlagen zu bringen. Sein Vater antwortete daraufhin, dass er hier
sein würde und verabschiedete sich bis dahin. Misses Dale ging laut
ihrer Zeugenaussage danach in das Büro ihres Chefs und begann mit
diesem die Unterlagen zusammen zu sammeln, was auch von diesem bei
seiner späteren Zeugenaussage bestätigt wurde. Ab diesem Zeitpunkt
gab es nur noch wenige Anhaltspunkte für die weiteren Untersuchungen
der Polizei. Misses Dale verließ das Büro ihres Chefs nach cirka 25
Minuten und ging mit den gesammelten Unterlagen zurück in Richtung
des Büros von Charlies Vater. Als sie dort ankam, fand sie das Büro leer
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und ohne eine Spur über das Verbleiben von Charlies Vater. Er hatte
weder eine Notiz hinterlassen, warum er das Büro frühzeitig verlassen
hatte, noch jemandem etwas darüber gesagt. Charlies Vater hatte ein
Büro für sich allein und der Gang vor seinem Büro und der Weg zum
Ausgang wurde von wenigen Mitarbeitern genutzt, wodurch auch
niemand angab, Charlies Vater beim Verlassen des Bürohauses gesehen
zu haben. Die Polizei fand bei ihren wochenlangen Untersuchungen auf
seinem Schreibtisch unter allerlei Dokumenten und Akten einen kleinen
Notizzettel, auf dem ein Kreis, der von einem Kreuz durchtrennt war,
aufgezeichnet war. Was dieses Symbol bedeuten könnte, konnte aber
weder von der Polizei selbst, noch von den Experten, die man aus dem
weit entfernten Boston, geholt hatte, beantwortet werden oder auch nur
eine vage Vermutung abgegeben werden. Als die Zeichnung von der
Polizei in der lokalen Tageszeitung der Stadt abgedruckt wurde und
dabei um Hinweise aus der Bevölkerung gebeten wurde, gab es
allerhand düstere Vermutungen aus den Reihen der Einheimischen. Von
Hexensymbolen und einem Teufelskult wurde geredet und manche
munkelten, dass Charlies Vater mit etwas überaus düsterem in
Verbindung gewesen sein muss und in alte, diabolische Handlungen von
böser, lang vor unserer jetzigen Zivilisation gängigen Praktiken
verstrickt gewesen wäre. Darauf hin wandte sich die Polizei an mehrere
Spezialisten in Chicago, die sich mit derartigen Phänomenen und Riten
intensiv beschäftigen. Die Polizei sandte die Zeichnung nach Chicago
und erhielt nach zwei Wochen die Antwort, dass die Experten keine
Verbindung zu einem möglichen Hexenkult oder Teufelsanbetern finden
konnten. Zwar gab es in der Gegend, wo Charlies Familie damals
wohnte, seit vielen Jahrhunderten eine starke Tradition von düsteren,
okkulten Anbetungen, geheimen Treffen und sogar Opferungen - wobei
meist von Tieropfern die Rede war, aber manchmal auch hinter
vorgehaltener Hand gewispert wurde, dass auch der eine oder andere
herumstreunende Obdachlose ein Opfer von brutalen Teufelsmessen
geworden sei – aber selbst nach langen und ausführlichen
Untersuchungen und zahllosen Vergleichen mit in alten, per Zufall oder
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Schicksal in die Hände der Menschheit gefallenen, staubigen Büchern
mit vergilbtem, braunen Ledereinband oder an den mit Blut getränkten
Mauern irgendwelcher finsterer Opferstätten gefundenen Symbolen,
konnten die Experten aus Chicago keine neue Spur finden und nicht
einmal einen Anhaltspunkt für den Zusammenhang mit Okkultismus
liefern. Allerdings gab es eine andere Möglichkeit das Zeichen eines
Kreuzes in einem Kreis zu interpretieren, die mindestens genauso
furchteinflössend und abstoßend war wie die Idee von
dahingeschlachteten Menschenopfern für die Anbetungsrituale von
irgendwelchen Teufelsanhängern. Das Zeichen eines aufrecht stehenden
Kreuzes, wie das einer bei einer Kreuzigung im alten Rom verwendete
Tötungswerkzeug, inmitten eines Kreises wurde schon einmal durch
düstere, grausliche Nachrichten in den Zeitungen der damaligen Zeit
bekannt und berüchtigt. Am 20. Dezember 1968 wurden nördlich von
San Francisco die damals 16-jährige Betty Lou Jensen und ihr 17-
jähriger Freund David Farady in ihrem Auto von einem Unbekannten
ohne nachvollziehbares Motiv und ohne Vorwarnung erschossen. Beide
überlebten die Tat nicht und konnten daher keine Angaben über den
unheimlichen Täter machen. Nach einem weiteren Doppelmord – der
Täter griff meist Paare an - ein halbes Jahr später attackierte der gleiche
unbekannte Täter ein junges Paar in einem Park an dem Stausee Lake
Berryessa in Napa County, ebenfalls nicht weit entfernt von San
Francisco im Norden Kaliforniens. Zwar wurde die damals 22-jährige
Cecilia Shepard Opfer ihrer tödlichen Stichverletzungen durch das
Messer des Mörders, aber ihr Freund Bryan Hartnell überlebte die
Attacke und konnte eine Täterbeschreibung abgeben. Er gab an, dass ein
schwarz maskierter Mann mit Mantel und schwarzer Henkersmaske sie
attackiert hatte, sie fesselte und dann unzählige Male mit einem Messer
auf beide einstach. In Bezug auf Charlies Vater war aber das Detail auf
dem Mantel des schwarz maskierten Mörders von entscheidender
Bedeutung: Das gleiche Zeichen eines stehenden Kreuzes in einem
Kreis hatte auch der Mörder, der sich in einem späteren, in zahlreichen
Runen und altertümlichen Symbolen verschlüsselten Brief an mehrere
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Tageszeitungen des Landes als Zodiac-Mörder bezeichnete, trug dieser
auch auf seinem Mantel. Als er von den blutüberströmten Shepard und
Hartnell abließ, schrieb dieser an die Autotüre des überlebenden
Hartnell eine Nachricht an die Polizei. Darin erwähnte er die Zeit der
ersten beiden Morde und das Wort „Messer“ für die Art des letzten
Mordes sowie auch wieder das Zeichen des Kreuzes in einem Kreis als
sein unheilvolles, düsteres Markenzeichen. Die Experten aus Chicago,
die die Polizei in Zusammenhang mit dem Verschwinden von Charlies
Vater um Hilfe gebeten hatte, schickten den zuständigen
Untersuchungsbeamten eine detaillierte Aufstellung der Serienmorde
des Zodiac-Mörders und wiesen die Polizei in einem Brief darauf hin,
dass sie es für möglich halten, dass es einen Zusammenhang zwischen
den Morden in den Sechziger-Jahren und dem Verschwinden von
Charlies Vater gab. Die mit dem Fall beauftragten Beamten reisten
darauf hin umgehend nach San Francisco und lasen sich in alle Akten
rund um die Zodiac-Morde ein und unterhielten sich tagelang bis in die
Nacht mit den Untersuchungsbeamten, die den Zodiac-Mörder damals
verfolgt hatten, ihn aber trotz jahrelanger Arbeit bis zum heutigen Tage
nie festmachen konnten. Die Beamten erzählten davon, dass sie
tausende Zeugen und Verdächtige über Jahrzehnte befragt und wieder
befragt hatten, jedoch es nie klar festgestellt werden konnte, wer der
Mann hinter der schwarzen Henkersmaske und dem Symbol auf dem
Mantel war. Sie zeigten den Polizisten aus Charlies Heimatstadt bis an
die Decke vollgestapelte Räume mit endlosen Akten über die Zodiac-
Fälle und rieten ihnen davon ab, alle zu kopieren und mitzunehmen. Der
Aufwand sei zu groß und in all den Akten gebe es zu wenig greifbare
Information, um bei einem Verschwinden – wenn auch das Zeichen des
Zodiac-Mörders dabei vorkomme – zu helfen. Sie erklärten sich bereit,
den Ermittlern die für das Verschwinden von Charlies Vater relevanten
Eckdaten in einem Gespräch heraus zu filtern und in einem Dokument,
das sie mitnehmen konnten, niederzuschreiben. In ihrer
Zusammenfassung beschrieben die Beamten der ursprünglichen Zodiac-
Morde den Täter als eine Person, die gezielt unschuldige Menschen und
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dabei meist Paare tötete. Der Mörder hatte im Laufe seiner Morde
mehrere Briefe an Tageszeitungen geschickt, mit denen er mit
verschiedenen Runen und altertümlichen Zeichen verschlüsselte
Nachrichten übermittelte und die Zeitungen aufforderte, diese
abzudrucken. Der erste der abgedruckten Briefe konnte bereits nach
wenigen Tagen von einem Ehepaar namens Bettye und Donald Harden
entschlüsselt werden und gab eine unheimliche, gewalterfüllte Botschaft
preis. Die Beamten gaben den Ermittlern im Verschwinden von Charlies
Vater die komplette, entschlüsselte erste Nachricht des Zodiac-Mörders
in voller Länge mit, damit diese sie bei den weiteren Untersuchungen
verwenden konnten. Der Brief lautete: „Ich liebe es, Menschen zu töten,
es macht mir Spaß. Es macht mehr Spaß, als wilde Tiere zu töten, weil
der Mensch ist das wildeste Tier von allen.“ Der Brief endete mit den
Worten: „Das beste an der ganzen Sache ist, dass ich nach meinem Tod
im Paradies wiedergeboren werde und dort alle meine Opfer meine
Sklaven sein werden.“ Den Beamten schauderte, als sie diese Nachricht
des Zodiac-Mörders lasen und sie fuhren noch am gleichen Tag zurück
in ihre Heimatstadt.
Aber die Zeichnung war nicht das Einzige, was Charlies Vater auf den
Zettel auf seinem alten Schreibtisch geschrieben hatte. Unter dem
Symbol stand auch ein Satz geschrieben: „Alle Auswege zwischen Sieg
und Tod sind versperrt.“ Die Quelle dieser Zeile wurde von den
Beamten schnell gefunden: Es war ein Zitat von Hannibal, dem
berühmten antiken Feldherren aus Karthago, der zwischen 218 und 201
vor Christus mit 50.000 Soldaten, 9.000 Reitern und 37 Kriegselefanten
über die Alpen zog, um seinen übermächtigen Gegner, das römische
Reich, anzugreifen. Was dieser Satz in Zusammenhang mit dem Symbol
des Zodiac-Mörders und Charlies Vater auf sich hatte, konnte die
Polizei in den Wochen nach dem Verschwinden aber nicht aufdecken.
Erst Jahre später konnte Charlie herausfinden, was sein Vater mit dem
Zitat gemeint hatte.
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Die Polizei suchte nach dem Verschwinden von Charlies Vater intensiv
in der ganzen Kleinstadt und den umliegenden Wäldern und Dörfern
nach ihm, aber musste sich schließlich erfolglos geschlagen geben und
teilte Charlies Mutter nach ein paar Wochen mit, dass sie nichts mehr
bei der Suche nach ihrem Mann tun konnte. Charlies Mutter stand im
Flur vor der geöffneten Eingangstür ihrer damaligen Wohnung, als zwei
Polizisten an diesem Tag zu ihnen kamen, um ihr mitzuteilen, dass die
Suche von der Polizei aufgegeben wurde. Das Sonnenlicht drang trüb in
das über die Wochen staubig gewordene Zimmer ein, als Charlies
Mutter den Worten der Polizisten zuhörte und ihr Kopf sich mit jedem
Wort der Polizisten weiter senkte. Charlie war cirka neun Jahre und
schaute mit starren Augen seine Mutter in ein paar Meter Entfernung
vom Boden sitzend aus an und ihm wurde bewusst, dass seine Familie
nie wieder die gleiche sein würde. Dass seine Mutter nie wieder die
gleiche sein würde. Dass sein Leben nie wieder das gleiche sein würde.
Und eine innere Kälte erfüllte Charlie und seine Augen füllten sich mit
Tränen, als die Worte der Polizisten, die er wegen der Entfernung und
der Türe nicht genau verstehen konnte, sondern die nur wie eine
monotone, dumpfe Melodie durch die zwielichtigen Sonnenstrahlen der
Tür ihrer Wohnung kamen, und die Art, wie der Kopf seiner Mutter die
Kraft verlor und langsam nach unten sank, im bewusst machten, dass
sein Vater wohl nie wieder ihm durch diese Tür kommend in die Augen
sehen und ihm ein Lächeln zuwerfen würde. Es wurde ihm klar, dass
sein Vater nicht mehr war und von jetzt an ein riesiges, nie wieder
auffüllbares Loch im Leben seiner Mutter und ihm hinterlassen würde.
Die Tage darauf weinte Charlie oft viele Stunden. Aber er biss sich oft
auf die Lippen, um es vor seiner Mutter zu verheimlichen. Er war,
obwohl er noch ein Kind war, sehr mitfühlend und fürsorglich zu seiner
Mutter und wollte ihr nicht zeigen, wie unglaublich stark der Verlust
seines Vaters ihn schmerzte. Auch wenn der Schmerz so stark war, dass
Charlie oft das Gefühl hatte, dass das starke Pochen seines Herzes ihn
ersticken könnte, wollte er stark sein für seine Mutter und sie nicht mit
seinem Schmerz belasten. Seine Mutter war genauso fürsorglich
25
gegenüber Charlie und tat in dieser schweren Zeit das Beste, was sie
konnte. Aber auch sie litt sehr unter dem Verlust ihres Mannes und war
wie gelähmt von dem Schmerz seines Verschwindens. Noch schlimmer
als der alltägliche Verlust war dabei die Ungewissheit über das
Verbleiben von Charlies Vater. „Wenn ein Mensch einfach
verschwindet, bleibt jeden Moment und ein Leben lang die quälende
Frage, warum er verschwand“, dachte Charlie. Viele Stunden lag
Charlie am Abend in den Armen seiner Mutter auf der Couch und
stillschweigend drehten sich langsam die Gedanken der beiden um den
Verbleib von Mann und Vater. Was mit ihm passiert ist, ob er tot war
oder wo sein lebloser Körper wohl irgendwo in der Gosse in einem
nassen, dreckigen Eck lag. Gedanken, die schwer und erdrückend
waren.
Wochen später fand die Polizei zufällig bei einer Razzia einer illegalen
Spelunke im Keller, der als düsteres, staubig-feuchtes Lager für riesige
an den Wänden bis zur Decke gestapelten Fässern diente, entsetzende,
schauerliche Spuren. In der Mitte des Kellers stand ein alter Sessel aus
teilweise vergilbtem Holz. Doch nicht dieser Sessel war das
fürchterliche, was eine grausige Vermutung über den Verbleib von
Charlies Vater aufstellte. Es waren die Flecken und Spuren, die auf der
Sitzfläche des Sessels und am Boden um ihn herum gefunden wurden.
Als die Polizei bei der Razzia den Keller untersuchte, hielt sie die
unterschiedlich dunklen Flecken zuerst für Reste von verschütteten
Getränken wie Wein oder Whiskey. Aber als die Polizisten den Sessel
und den staubigen, verdreckten Ziegelbogen um ihn herum betrachteten,
erkannten sie, dass die Farbe der Flecken und der unglaubliche Gestank,
der von ihnen ausging, nicht von verschütteten Getränken stammen
konnte. Der junge Polizist Greg Stark war ein intelligenter und gut
aussehender Durchstarter, von dem man sagte, dass er der beste
Nachwuchspolizist der Stadt war und auf Grund seiner unzerreissbaren
Nerven eine große Karriere vor sich habe. Aber als Stark die vielen
ausgeschlagenen, blutverschmierten Zähne und Hautstücke, die über
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den ganzen Sessel und dessen Nähe am Boden verteilt waren sah, zog
sich dessen Magen im ersten Moment mit dem Reflex sich übergeben zu
wollen zusammen. Greg Stark kniete sich mit starren Augen neben dem
Sessel nieder, als er aus nächster Nähe die Konstistenz der getrockneten
Flecken sah und erkannte, dass die Flecken aus Blut bestanden, in denen
Reste von menschlichen Fingernägeln, Haaren und Kot waren. Die
Polizisten rangen mit dem Übergeben, als sie den Sessel in dem
dunklen, finsteren Keller untersuchten. Die Untersuchung war grauslich:
Die an dem Sessel gefundenen menschlichen Körperteile malten das
Bild eines absolut furchtbaren, grauslichen Gemetzels. Nicht viel wurde
bekannt über die Untersuchungen der Polizei oder was genau die
Polizisten in dem Keller noch alles fanden. Man sagt, die Polizisten
verließen den Keller erst nach Stunden und trugen dabei eine Kiste, in
der sich die Überreste und Beweismittel befunden haben sollen, die sie
in dem schrecklichen, düsteren Keller gefunden hatten. Aber eines
wurde bekannt: Unter anderem hatten die Polizisten etwas gefunden,
was den vermuteten Mord mit Charlies Vater in Verbindung brachte.
Charlies Vater hatte ein ungewöhnliches rechtes Auge. Bei der Geburt
steckte Charlies Vater am Weg hinaus fest und musste mit einer Zange
herausgezogen werden. Dabei verletzte die Zange leicht das Auge von
Charlies Vater. Katzenauge nannten es die Ärzte, da der kleine Riss in
der Iris den schwarzen Teil der Pupille zu einem länglichen Schlitz
verformte und das eine Auge dadurch den typischen Augen von Katzen
ähnlich sah. Man konnte die Verformung nur aus nächster Nähe
erkennen. Wenn man Charlies Vater auf kurzer Distanz gegenüberstand,
konnte man den Unterschied wahrnehmen. Charlie und seine Mutter
hatten dieses Merkmal beim Verschwinden von Charlies Vater als
mögliches Mittel für die Identifikation seines Vaters der Polizei erzählt
und diese hatten dieses kleine Detail in den Unterlagen notiert. Als nun
der Fall mit dem blutverschmiertem Keller aufkam, wurde genau dieses
Detail zu einem wichtigen Punkt.
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Charlie saß auf seinem Platz in dem großen, von riesigen Glaswänden
umringten Fernsehstudio. Die Scheinwerfer tauchten jeden Zentimeter
des Tisches in brilliante Klarheit und es wirkte strahlend und fast
unnatürlich, wenn man von draußen von dem Großraumbüro durch das
Glas hineinschaute. Charlie richtete seine vor ihm liegenden Notizen auf
dem aus hellem Holz gemachtem Tisch mit den Fingern zurecht und
räusperte sich leise um einen klaren Hals zu bekommen als
Vorbereitung auf die vor ihm liegende Sendung. Charlie hob den Kopf
und schaute vor sich. Die zwei vor ihm stehenden großen Kameras, die
auf schweren, metallenen Rollwägen montiert waren, standen wie
Totems auf der ihm gegenüberliegenden Seite des Tisches und starrten
ihn leblos an. Charlie blickte in das tiefe Loch, das die Kameras an ihrer
Vorderseite als Optik offenbarten. „Schon komisch. Man redet ganz
allein hier in diesem unrealistisch erhellten Raum in dieses schwarze
Loch der Kamera und hunderte Millionen Menschen auf der Welt sehen
mich und hören mir zu“, dachte Charlie wieder einmal über die in
seinen Augen liegende Ironie seines Jobs. Er kniff die Augen zu und
stellte sich Gesichter von Menschen vor, als er in die schwarze Öffnung
schaute. Er stellte sich nicht absichtlich spezielle Menschen vor,
sondern entspannte sich und ließ einfach kommen was komme. Es
erschien ihm das Gesicht eines Mannes, mit ungepflegten, krausen,
blond-braunen Haaren, die ihm ungeordnet um das etwas beleibte
Gesicht schwirrten. Das Gesicht einer Frau mit einem kantigen Gesicht
und einer gehetzten Mimik, die vor etwas davon zu laufen schien und
wie beiläufig in Richtung von Charlie schaute. Dann kam das Gesicht
einer älteren Frau, die zu sitzen schien und auf ihre gefalteten Hände
schaute. Sie hob den Kopf und schaute Charlie mit einem mitleidsvollen
Blick an. Sie wirkte ärmlich, aber weise. Ihre Ausstrahlung fesselte
Charlie irgendwie und er merkte, dass ihr Anblick ihn berührte. Sie war
eine schöne Frau trotz ihres Alters. Ihre Falten zeugten von einem
bewegten Leben und von Weisheit, die sie nicht in die Wiege gelegt
bekommen hatte. Sie schaute Charlie weiter ruhig an und hatte dabei
ihre Hände in ihrem Schoß ineinander gelegt, fast wie zu einem Gebet,
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aber es war keines. Charlie verfiel für einen Moment dem Bild dieser
Frau und war in Gedanken weit, weit weg von dem Fernsehstudio, in
dem sein Körper saß. Charlie betrachtete das Bild der Frau, wie sie ihn
anschaute und glaubte Umrisse um sie herum zu erkennen. Er bildete
sich ein, Sand und Staub um sie herum zu erkennen. Aber es schien
nicht der schöne Sand eines Strandes an einem wundervollen Meer zu
sein, oder der der auf den weitreichenden, schönen Dünen des
Wüstenlands liegt. Nein, es schien heller Sand, Staub und Steine zu
sein, die so entstehen, wenn Häuser durch die Gewalt von Kriegen zum
Brechen kommen und Städte durch den Druck von Sprengstoff in
Schutt und Asche gelegt werden. Charlie probierte, mehr zu erkennen
und strengte sich an, den Hintergrund neben der geheimnisvollen, aber
so berührenden Frau besser zu sehen. Er bildete sich ein, den
gespentischen, grauen Schatten eines entfernten, dürren Hochhauses zu
erkennen, dessen fast komplett zerstörtes Stahlgerüst aus dem
hellgrauen Staub in den düsteren, bewölkten Himmel ragte. Plötzlich
schreckte Charlies Blick zurück, als eine riesige Feuerwand nicht nur
das Bild des zerborstenen Wolkenkratzers, oder besser gesagt seiner
Überreste, davon fegte, sondern auch das Bild der Frau wie ein
gleißender Blitz mit sich riss. Charlie starrte mit weit geöffneten Augen
in das schwarze Loch der Kamera und spürte sein Herz klopfen. Alle
Kameras waren auf ihn gerichtet, die Mitarbeiter im Studio bereiteten
geschäftigt die Sendung vor. Charlie drehte seinen Kopf von einer Seite
auf die andere und er spürte das Knacken seiner Muskeln im Genick.
Sein schwarzer Anzug und sein weißes Hemd glänzten im Schein des
Studiolichts. Charlie atmete durch. „Was war dieses Bild der Frau?“,
dachte Charlie und bewegte weiter seinen Kopf hin und her, um die
Muskulatur in seinem Hals zu entspannen.
„Okay, noch eine Minute“, klang eine Stimme im Studio.
Charlie schaute auf seine Notizen, die vor ihm auf dem Tisch lagen und
rückte sich auf dem großen schwarzen Ledersessel, auf dem er saß,
zurecht.
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Wieder hallte die Stimme blechern durch den Raum: „Okay, noch 5, 4,
3,...“
Als die Stimme in Stille überging, begrüßte Charlie die Zuschauer, die
irgendwo weit weg in der Welt vor ihren Fernsehern saßen und Charlie
zuschauten: „Herzlich willkommen bei den News of the World, dem
größten Nachrichtenmagazin der Welt. Die Nachrichten: Heute hat in
Angola eine der größten Naturkatastrophen der letzten hundert Jahre
weite Teile des Landes zerstört und dabei.......“
Das im Halbdunkel liegende Wohnzimmer von Charlies Wohnung. Ein
entferntes Licht ging an, eine Tür öffnete sich. Charlies Wohnung lag in
dezentem, warmem Licht.
Die cremefarbenen Möbel im Wohnzimmer schimmerten leicht golden
in dem sanften Licht der Bodenlampe, die Charlie neben der Tür
einschaltete. Charlie ließ seinen dunklen Mantel auf einen niedrigen
Kasten fallen und ging zu dem einzigen dunklen Möbelstück, ein
schwarzbrauner Schreibtisch, in der Wohnung auf dem der Monitor
eines Computers und ein paar alte Bücher mit vergilbten
Ledereinbänden lagen und setzte sich hin während er die Ärmel seines
weißen Hemdes hinaufkrempelte und auf den Monitor schaute. Charlie
hatte in den vielen Jahren seit dem Verschwinden seines Vaters viele
Indizien über dessen Verschwinden gesammelt und viele Geschichten
aufgeschrieben, die Nachbarn und andere Leute darüber erzählt hatten.
Das meiste waren Vermutungen. Aber ein Artefakt war unbestreitbar
echt und dessen Existenz war ein erschreckendes Überbleibsel der
furchtbaren Geschichte. Charlie nahm langsam das alte Notizbuch mit
dem schönen, aber vergilbten grauen Ledereinband in die Hand, auf
dessen Cover Charlie in der Mitte mit Tinte in jungen Jahren „Dad“
geschrieben hatte. Er klappte den Einband auf und schaute auf das
schreckliche Foto, das dort auf der ersten Seite klebte. Das Foto war alt.
Es entstand an dem Tag als Charlies Vater verschwand oder an einem
der direkt folgenden Tage, sagte damals die Polizei. Es war schon
immer ausgeblichen und schwarz-weiß, oder eher braun-weiß, gewesen
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und zeigte nur in Großaufnahme ein Detail eines Menschen. Charlie
presste – obwohl er dieses Foto schon hunderte Male angesehen hatte –
seine Lippen zusammen und kniff seine Augen zusammen, als er es sah.
Das Foto zeigte unverkennbar das Auge seines Vaters. Aber es wurde so
groß fotografiert, dass man fast gar nichts von dem Drumherum sehen
konnte. Nase und Augenbrauen waren nur im Ansatz am Rand
erkennbar. An einer Ecke des Fotos fand sich ein blutiger Fingerabruck.
Diesen konnte die Polizei nie identifizieren. Es wurde nie geklärt, ob der
Fingerabdruck von Charlies Vater stammte. Es gab von Charlies Vater
keine Fingerabdrücke um sie mit dem blutigen Abdruck auf dem Foto
zu vergleichen. Das Foto zeigte somit nur in Großaufnahme eindeutig
das Auge seines Vaters. Die wenige Haut, die rund um den
weitaufgerissenen Augapfel zu sehen war, war dreckverschmiert und an
zwei Stellen waren die Augenlider leicht eingerissen und wiesen
Blutspuren auf. Die Polizei konnte nicht sagen, wozu das Foto gemacht
wurde. Auch nicht von wem. Genauso wenig konnte jemand jemals
sagen, ob das Foto von einem lebenden oder toten Menschen, Charlies
Vater, stammte.
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Hier geht es zum kompletten
Buch
Hier endet diese Leseprobe des ersten Teils.
Das vollständige Buch kannst du auf www.hannibalx.com oder als
ebook auf Amazon bestellen.
Die weiteren Kapitel werden sich ebenfalls dort finden.
Sei wachsam,
Hannibal X
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33
Hannibal X