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Gefährden Magnetfelder die Gesundheit? || Das Spektrum möglicher Gefährdungen

Date post: 10-Dec-2016
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30 H. Schaefer delt, kann ein Effekt - selbst wenn er sicher vorhanden ware - unter die Grenze der epidemiologischen ErfaBbarkeit fallen. Die sogenannten ,Konfidenzbereiche' der Wahrscheinlichkeit, denen zufolge ein OR-Wert auch durch zufallige Streuung der FaIle oder Kontrollen hatten entstehen konnen, werden groB und schlieBen meist die sogenannte ,Null-Hypothese', das heiBt: den OR-Wert von 1, mit ein (zur Methode vgl. MIETTINEN 1976). Ffir die Grundfrage, an deren LOsung die so zahlreichen und kostspieligen For- schungen in aller Welt - mit vermutlich fiber 100 Millionen Dollar Ausgaben - arbeiten, sind die soeben beschriebenen Schwierigkeiten fast gleiehbedeutend mit der Feststellung ihrer grundsatzlichen Unerklarbarkeit. Da Experimente klassi- scher Art (willkfirliche Exposition von Menschen in genau bekannten Feldern wahrend genau bestimmter Zeiten) sowohl technisch als auch ethisch nieht durch- flihrbar und die sieher zahlreiehen Kofaktoren der Karzinogenese ebensowenig ausschaltbar sind, sind Vergleiche zwischen definierten Populationen und defi- nierten Gefahrenklassen - wenn fiberhaupt - nur mit riesigen Mitteln moglieh. Das Urteil fiber die in der Literatur gezogenen SchluBfolgerungen wird also vor- erst das der Unbestimmtheit sein, das eine "schwache" Wirkung weder ausschlieBt noch bestatigt. 5 Das Spektrum moglicher Gefahrdungen 5.1 Kinder und Erwachsene als Risikogruppen Ein Blick auf Tabelle 1 zeigt, daB positive Resultate, also OR-Werte, die deutlich fiber 1 liegen, nur beim Krebs der Kinder gefunden wurden, wobei - wie die an- deren Tabellen zeigen - die Haufigkeit der Leukamien immer erheblich fiber der Haufigkeit der Krebsfalle in ihrer Gesamtheit liegt. DaB die erste Studie fiber Magnetfelder von WERTHEIMER und LEEPER (1979) die Leukamie der Kinder als Testobjekt einer moglichen Gefahrdung durch Ma- gnetfelder benutzte, ist aus mehreren Grfinden verstandlich: Erstens ist die Leuk- amie ein besonders empfindlicher Sensor flir Umwelt-Einflfisse, vielleicht bedingt durch ein diese Empfindlichkeit determinierendes Gen (vgl. KOHN u. a. 1989, S. 515). Sicher sind die Mechanismen, welche normalerweise die konstante Zahl der Leukozyten trotz eines enormen taglichen Umsatzes garantieren, in empfindli- chen Rfickkopplungen eingestellt (FUEDNER 1976). Zweitens kommt den Wachs- tumsgrenzen im kindlichen Organismus eine besonders hohe Empfindlichkeit zu, die hormonal determiniert ist. Es bleibt dennoch bemerkswert, daB sich beim Erwachsenen ein EinfluB der Magnetfelder nicht zeigt. Letztlich sind die Mechanismen der Zellteilung und der genetischen Determinierung ffir alle Lebensalter im Prinzip gleichartig, und es ist - 242 - H. Schaefer, Gefährden Magnetfelder die Gesundheit? © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1991
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Page 1: Gefährden Magnetfelder die Gesundheit? || Das Spektrum möglicher Gefährdungen

30 H. Schaefer

delt, kann ein Effekt - selbst wenn er sicher vorhanden ware - unter die Grenze der epidemiologischen ErfaBbarkeit fallen. Die sogenannten ,Konfidenzbereiche' der Wahrscheinlichkeit, denen zufolge ein OR-Wert auch durch zufallige Streuung der FaIle oder Kontrollen hatten entstehen konnen, werden groB und schlieBen meist die sogenannte ,Null-Hypothese', das heiBt: den OR-Wert von 1, mit ein (zur Methode vgl. MIETTINEN 1976).

Ffir die Grundfrage, an deren LOsung die so zahlreichen und kostspieligen For­schungen in aller Welt - mit vermutlich fiber 100 Millionen Dollar Ausgaben -arbeiten, sind die soeben beschriebenen Schwierigkeiten fast gleiehbedeutend mit der Feststellung ihrer grundsatzlichen Unerklarbarkeit. Da Experimente klassi­scher Art (willkfirliche Exposition von Menschen in genau bekannten Feldern wahrend genau bestimmter Zeiten) sowohl technisch als auch ethisch nieht durch­flihrbar und die sieher zahlreiehen Kofaktoren der Karzinogenese ebensowenig ausschaltbar sind, sind Vergleiche zwischen definierten Populationen und defi­nierten Gefahrenklassen - wenn fiberhaupt - nur mit riesigen Mitteln moglieh. Das Urteil fiber die in der Literatur gezogenen SchluBfolgerungen wird also vor­erst das der Unbestimmtheit sein, das eine "schwache" Wirkung weder ausschlieBt noch bestatigt.

5 Das Spektrum moglicher Gefahrdungen

5.1 Kinder und Erwachsene als Risikogruppen

Ein Blick auf Tabelle 1 zeigt, daB positive Resultate, also OR-Werte, die deutlich fiber 1 liegen, nur beim Krebs der Kinder gefunden wurden, wobei - wie die an­deren Tabellen zeigen - die Haufigkeit der Leukamien immer erheblich fiber der Haufigkeit der Krebsfalle in ihrer Gesamtheit liegt.

DaB die erste Studie fiber Magnetfelder von WERTHEIMER und LEEPER (1979) die Leukamie der Kinder als Testobjekt einer moglichen Gefahrdung durch Ma­gnetfelder benutzte, ist aus mehreren Grfinden verstandlich: Erstens ist die Leuk­amie ein besonders empfindlicher Sensor flir Umwelt-Einflfisse, vielleicht bedingt durch ein diese Empfindlichkeit determinierendes Gen (vgl. KOHN u. a. 1989, S. 515). Sicher sind die Mechanismen, welche normalerweise die konstante Zahl der Leukozyten trotz eines enormen taglichen Umsatzes garantieren, in empfindli­chen Rfickkopplungen eingestellt (FUEDNER 1976). Zweitens kommt den Wachs­tumsgrenzen im kindlichen Organismus eine besonders hohe Empfindlichkeit zu, die hormonal determiniert ist.

Es bleibt dennoch bemerkswert, daB sich beim Erwachsenen ein EinfluB der Magnetfelder nicht zeigt. Letztlich sind die Mechanismen der Zellteilung und der genetischen Determinierung ffir alle Lebensalter im Prinzip gleichartig, und es ist

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H. Schaefer, Gefährden Magnetfelder die Gesundheit?© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1991

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schwer versUindlieh, daB bei Erwachsenen ein Effekt anscheinend ganz oder weit­gehend fehlt.

Beim Erwachsenen sind Feld-Kontroll-Studien mit einer Messung der FeldsUir­ken erst spat durchgefUhrt worden (SEVERSON u. a. 1988). Aber weder die Wiring codes noch die gemessenen Felder scheinen einen EinfluB auf die Entwicklung des Krebses der Erwachsenen zu haben. Wir errechnen freilich aus den Originaldaten fUr die beiden hochsten Wiring codes zusammengenommen eine OR = 1,48 fOr eine niehtlymphatische Leukamie, wenn diejenige Wohnung berOcksiehtigt wird, die zum nachstliegenden Zeitpunkt relativ zur Erhebungszeit bewohnt wurde. Bei den gemessenen Feldern ist ein EinfluB sieher nicht (oder vielleicht sogar in umge­kehrtem Sinn) vorhanden; das heiBt: die hochsten Felder haben das kleinste relati­ve Risiko. Diese Sonderrolle der Wiring codes wird uns spater beschaftigen (Kapi­tel 7.1).

Auch die Autoren der anderen Studien geben an, keine statistisch gesicherten Ergebnisse gefunden zu haben - mit Ausnahme der ersten dieser Studien, von WERTHEIMER u. a. (1982), we1che eine OR von 1,39 fUr Krebs angibt. Doch muB zugestanden werden, daB COLEMAN u. a. (1985) doch einen Zusammenhang zwi­schen der Leukamie der Erwachsenen und dem Abstand ihrer Wohnungen von ei­ner Freileitung dokumentierten. Die Werte zeigen freilich keinerlei Dosis-Wir­kungs-Relation, doch ist die OR der Patienten, we1che in einer Entfernung unter 50 m von der Freileitung wohnen, 1,87.

Auch McDoWALL hat 1986 an 8000 Personen, die in der Nahe von Freileitun­gen wohnten, die allgemeine Mortalitat und die Krebshaufigkeit nach den Sterbe­daten in einer sogenannten "Schreibtisch-Epidemiologie" bestimmt, fand aber keinerlei Korrelation zwischen dem Abstand der Wohnung von der Freileitung und Krebs oder Sterblichkeit. Die allgemeine Mortalitat war sogar niedriger als die der Allgemeinbevolkerung. Nur bei Frauen schien die Leukamie-Haufigkeit etwas erbaht. Die Studie arbeitet zwar mit einer groBen Zahl von Fallen; da sie aber vom Gesamtkollektiv der Bewohner ausgeht und nicht von den Krankheits­fallen, ist ihre Aussagekraft nicht so hoch, wie es scheinen konnte.

S.2 Krebs soli nicht die einzige Gefahr sein

Die bisherigen epidemiologischen Studien konzentrieren sich auf Krebs als die we­sentliche Gefahr, die von Magnetfeldern ausgehen konnte. Nun fanden aber WElUHEIMER und LEEPER (1986), daB Frauen, we1che in der Schwangerschaft eine elektrische Heizdecke benutzten, ein erhohtes Risiko aufwiesen, eine Fehlge­burt zu haben oder MiBbildungen zur Welt zu bringen. So1che Heizdecken haben Felder von durchschnittlich rund 21lT, haben aber Maxima von 30 IlT (FLORIO u. a. 1990). OR-Daten werden nieht angegeben, doch ist die 1tagezeit im Winter haufiger als im Sommer verUingert, Aborte sind von September bis Januar er­baht.

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Wie seltsam soIche Resultate aussehen konnen, zeigt eine Studie uber die er­hohte Abortgefahr bei Frauen, weIche unter einer elektrischen Deckenheizung (al­so nicht einer Heizdecke!) leben. Die OR fUr den Abort betrug im Sommer 0,8, im Winter 1,24, auf das ganze Jahr bezogen aber 1,0 (!) (WERTHEIMER u. a. 1989). Die im Winter erfolgenden Aborte werden im Sommer sozusagen ,einge­spart'. Der Einspar-Effekt kann mit Magnetfeldern (die hier nicht existieren!) nichts zu tun haben. Er ist nicht erklarlich, laBt aber den anscheinend positiven Winter-Effekt ebenfalls auBerst fragwurdig erscheinen.

Wie schwierig soIche Untersuchungen sind, zeigt eine Studie von WILCOX u. a. (1988). Die Autoren diagnostizierten den sehr fruhen Eintritt einer Schwanger­schaft mit enzymatischen Methoden. Dadurch wird die Erfassung erst leidlich vollstandig. Sie stell ten fest, daB 31070 der fruhen Implantationen (das heiBt: Schwangerschaften) durch spontanen Abort verlorengehen, obgleich 95% dieser Frauen spater normale Schwangerschaften haben. Der Nachweis des Aborts ist so schwierig, sofern man nicht enzymatisch testet, daB die Befunde von WERTHEI­MER u. a. allein dadurch bedingt sein konnen, daB durch thermische Effekte spontane Aborte mit verschiedener Latenz auftreten.

Der Beruf der Frau ist ferner ein starker Confounder bei der Auslosung von Aborten (LEMASTERS u. a. 1989) - eine ubrigens altbekannte Tatsache, die auch in diesen Studien nicht berucksichtigt ist.

Die Leukamie ist durch den Heizdecken-Gebrauch der Erwachsenen sicher ebensowenig erhoht (PRESTON-MARTIN u. a. 1988) wie der Hodenkrebs, der durch Heizdecken auBerst wenig - nur bei Nicht-Seminomen - ansteigt (VER­REAULT u. a. 1990).

Schwierig ist die Frage zu beantworten, ob die Entwicklung des Foetus gestOrt wird, wenn die Schwangere in hohen Magnetfeldern lebt. Der Befund von WERT­HEIMER u. a. (1986) steht als einziger zur VerfUgung. Genaue Daten werden nicht angegeben, weil die Fallzahlen sehr klein sind. Wohl gibt es Modell-Versuche am Huhner-Embryo, deren Resultate aber widerspruchlich sind (Literatur bei BER­MAN 1990). Wir diskutieren diese Probleme in Kapitel 12. EntwicklungsstOrun­gen treten sehr leicht - wie oben gezeigt wurde - durch thermische Einflusse oder spontan auf. Bei Drosophila muBten wir das zu unserer Uberraschung in ei­ner ersten Versuchsserie seIber feststellen, doch eine zweite Serie von Experimen­ten zeigte keinerlei Resultate mehr (FRUCHT u. a. 1984). Ob das Modell, das MARX (1971) anbietet, zutrifft, ist unentschieden. Elektrische Strome beeinflus­sen nach MARX vielleicht die Entwicklung der Foeten. Tun sie das aber auch bei den hier vorliegenden extrem kleinen Stromdichten - und ist ihre Wirkung, die normalerweise die physi%gische Entwicklung fordert, auch die Ursache patho­/ogischer Verlaufe?

Eine hochst seltsam anmutende Wirkung wird den Magnetfeldern zugeschrie­ben: die Selbstmord-Haufigkeit solI bei Menschen, die schwachen Feldern expo­niert sind, steigen (REICHMANIS u. a. 1979; PERRY u. a. 1981). Die Zahlen sind klein und wenig verlaBlich. Die Studie wurde - wie die Autoren selbst sagen -

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unternommen, wei! die Diagnose so klar sei, was ubrigens keineswegs stimmt, weil Dunkelziffern des Selbstmords in Unfallziffern - insbesondere bei Verkehrsun­fallen - versteckt sein konnen (HAENDEL 1982; HUTCHERSON u. a. 1980). (DaB diese These nieht allzu sieher fundiert ist, muB freilich zugegeben werden: JEN­KINS u. a. 1980; SOUETREC 1988.) Dennoch mag es ein leidlich vernunftiges Mo­dell dieser Hypothese geben: wie spater gezeigt wird (Kapitel 11.3), konnten Mag­netfelder das Pinealorgan erregen, und uber dieses Organ konnten Depressionen erzeugt werden (WILSON 1988). Die Wirkungen auf das Pinealorgan sind zwar an der Ratte gepruft worden (WILSON u. a. 1981), aber in starken Feldern, die nieht als Modellfall fUr unser Problem dienen konnen. Auch hier ist also Skepsis angebracht.

6 Eine vorlaufige Liste der Confounder

Confounder konnen auf grundsatzlich zweierlei Weisen epidemiologische Resul­tate verzerren.

Der Confounder als ein krankheitsauslosender EinfluB muB zunachst hinsieht­lich seines Vorkommens mit dem Vorliegen einer Noxe so gekoppelt sein, daB der Confounder mit der Noxe zwar korreliert, aber eben nieht nur mit dieser Noxe zusammen vorkommt. Nennen wir die Zahl der Faile N, die Noxe X, den Con­founder Y, so ist zwar

N= a·f(X, Y) (1)

zugleieh aber ist

X= b·f(Y) . (2)

Diese beiden Gleiehungen geben die Grundbedingungen an, unter denen eine fremde Einwirkung fUr die zu messende Einwirkung ein Confounder ist. Diese konkurrierende Einwirkung kann zweierlei Charakteristika aufweisen: Der Con­founder kann die zu erklarende Krankheit unabhangig von der Noxe auslosen, das heiBt: die Gleiehung (2) druckt nieht eine gemeinsame Wirkung aus, sondern nur die Tatsache, daB der Confounder und die eigentliche Noxe, deren Wirkung wir feststellen wollen, aus unbekannten Grunden gemeinsam auftreten, aber Con­founder und Noxe - je fur sieh allein - durchaus kanzerogen sind. So konnte ein starkes Magnetfeld in den Wohnungen wohlhabender Menschen - durch ho­heren Stromverbrauch - starker sein. Zugleieh aber konnte (was der Fall ist) Ar­mut mit hoheren Krebshaufigkeiten einhergehen, Reiehtum also Krebs verhin­dern, und beide Effekte konnten sieh (was nicht der Fall zu sein scheint) kompen­sieren. In den obigen Gleichungen ist dann die Konstante b sehr viel kleiner als die Konstante a. Gilt aber X * f (Y), das heiBt: hiingen X und Yin keiner Weise

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