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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier Von … · was der Bürger konsumiert, ist eine...

Date post: 18-Sep-2018
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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier Von Anfang bis Ende Zensur in Kuba Autor: Peter B. Schumann Redaktion und Regie: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Freitag, 02.09.2016, 19.15 Uhr Sprecher 1: Jochen Langner Sprecher 2: Josef Tratnik Sprecher 3: Bernt Hahn Sprecher 4: Franz Laake Sprecherin 1: Janina Sachau Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ©
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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Dossier Von Anfang bis Ende Zensur in Kuba Autor: Peter B. Schumann Redaktion und Regie: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Freitag, 02.09.2016, 19.15 Uhr Sprecher 1: Jochen Langner Sprecher 2: Josef Tratnik Sprecher 3: Bernt Hahn Sprecher 4: Franz Laake Sprecherin 1: Janina Sachau

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

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Sprecher 1: „Die Zensur ist wie eine Hydra mit tausend Köpfen. Sie beeinträchtigt unsere

Sprache und die Intention unserer Beiträge. Inhalte werden durch fortgesetzte

Eingriffe ins Gegenteil verkehrt, Kommentare ganz verboten. Wer für seine

abweichende Meinung bekannt ist, wird bereits am Arbeitsplatz einer Art He-

xenjagd ausgesetzt.“

Autor: Aus einem Protestbrief junger Journalisten an ihre Berufsvertretung vom Juli

2016.

Sprecherin 1: „Die Zensur in Kuba ist erdrückend und lässt einem keine Wahl. Sie hat dazu

geführt, dass mehr als ein Künstler das Land verließ, dass mehr als ein Künst-

ler die Kunst aufgab, dass wir keinen Zugang zu Literatur, Kunst und Film ha-

ben, die die Zensoren für subversiv halten. Sich an dieser Form von Kunst zu

beteiligen oder sie zu praktizieren, gleicht einem illegalen Akt.“

Autor: Die Künstlerin Tania Bruguera in dem Essay Wie die Zensur Alltag wird vom

Juni 2016.

Sprecher 2: „Wir verbieten überhaupt nichts, denn Verbote machen die verbotene Frucht

erst attraktiv. Wir arbeiten gegen die Welle von Banalitäten und Frivolitäten,

aber nicht um etwas zu verbieten, sondern damit die Leute unterscheiden ler-

nen. Die Vorstellung, dass wir in einem Regime leben, das alles kontrolliert,

was der Bürger konsumiert, ist eine Lüge.“

Autor: Abel Prieto, Schriftsteller und Kulturminister, in einem Interview vom Juni

2015.

Musik Instrumental: Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra

Sprecher 4: Von Anfang bis Ende –

Zensur in Kuba.

Ein Dossier von Peter B. Schumann

Sprecher 1: Was ist ein guter Revolutionär?

Autor: So fragte sich der Theater- und Filmregisseur Juan Carlos Cremata am 57. Jah-

restag der Kubanischen Revolution 2016. Und verschickte seine ironische

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Antwort in einer seitenlangen Email an zahllose Empfänger. Darin schrieb er

unter anderem:

Sprecher 1: Das ist jemand, der sich zum Schlafen in die Nationalfahne wickelt und auf der

Brust das Nationalwappen eintätowieren lässt, am besten auf dem Rücken

auch noch die Jungfrau von Cobre, den heldenhaften Guerrillero und nicht zu

vergessen den ‚Comandante en jefe‘, den Oberbefehlshaber.

Autor: Juan Carlos Cremata gehört zu den Künstlern, die 2015 am schlimmsten von

der Zensur heimgesucht wurden. Der 55-Jährige mit dem obligatorischen

Strohhut hat mehrfach mit unbequemen, provokativen Filmen auf sich auf-

merksam gemacht. Deshalb galt seiner Inszenierung von Eugène Ionescos al-

tem Hit Der König stirbt die besondere Aufmerksamkeit. Nach zwei Auffüh-

rungen wurde sie im Juli verboten.

Sprecher 2: „Aufgrund der Entwicklungsstrategien der kubanischen Theaterkunst, des

ständigen Dialogs zwischen der Institution und der täglichen künstlerischen

Praxis mit dem Ziel eines propositivsten Zustands zwischen den poetischen

Obsessionen unserer Schöpfer und der Kulturpolitik der Nation erklären wir

das Werk für abgesetzt.“

Autor: Diese kryptischen Worte waren die einzige Stellungnahme des ‚Nationalrats

der szenischen Künste‘. Sie überraschten Juan Carlos Cremata nicht.

Cremata: Que poco sentido de humor tiene esta gente.

Sprecher 1: Mich hat eher der geringe Sinn für Humor dieser Leute verwundert. Wie ver-

bittert müssen sie sein, wenn sie nicht lachen können, wenn sie einen Anders-

denkenden nicht tolerieren wollen. Doch wir werden seit mehr als 50 Jahren

von Zensur geplagt, von allen Seiten attackiert und aus der Bahn geworfen, bis

man endlich wieder seinen Weg gefunden hat.

Autor: Die eigentlichen Gründe für das Verdikt waren erst später einem Beitrag in

Cubarte, dem offiziellen Webportal der kubanischen Kultur, zu entnehmen.

Dort schrieb ein Spitzenfunktionär des Nationalrats:

Sprecher 2: „Der König stirbt“ ist ein theatrales Gehabe, das der Idee der Karnevalisie-

rung eines Herrschaftssystems folgt. So sollen die Hierarchien der Macht zer-

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stört und ins Gegenteil verkehrt werden, um den König zum Narren zu ma-

chen, den Führer dem Spott seiner Untertanen auszusetzen in einer Art komi-

scher Oper verkommener Personen, den Zeichen einer kranken Gesellschaft.

Autor: Außerdem soll der Regisseur politische Symbole der Revolution wie die Nati-

onalfahne, die Nationalhymne und andere „Objekte der nationalen Souveräni-

tät“ lächerlich gemacht haben. Entscheidend aber dürfte ein anderes Sakrileg

gewesen sein.

Cremata: Cuando nosotros estabamos montando la obra, ensenabamos en un local

chiquitido.

Sprecher 1: Wir haben zuerst in einem kleinen Raum geprobt. Als wir das Ganze dann auf

die große Bühne brachten, stellten wir fest, dass wir den Thron auf ein Podest

bauen mussten, damit der König und auch sein vorgesehener Sturz besser

sichtbar wurden. Erst bei der Aufführung wurde mir klar, dass das Publikum

darin den Sturz Fidels sah.

Autor: Da es in Kuba nur einen König gibt, der sterblich ist, begnügte sich das staatli-

che Theaterinstitut nicht mit der Absetzung des Stückes, sondern verordnete

die Auflösung des gesamten Ensembles und verhängte außerdem ein Berufs-

verbot gegen Juan Carlos Cremata.

Cremata: En todo el tiempo hablabamos de la resistiencia al cambio.

Sprecher 4: Wir wollten eigentlich nur den Widerstand gegen Veränderungen, das Haupt-

thema des Stückes, darstellen. Die Schauspieler haben Louis de Funès imitiert

und wollten keinerlei Anspielungen auf Fidel Castro machen. Aber heutzutage

werden hier sogar Märchen als konterrevolutionär betrachtet.

Autor: Juan Carlos Cremata setzt seine Phantasie seither ein, um sich zu wehren. Im

Internet veröffentlichte er den Text seines Einakters: Monolog der Präsidentin.

Darin beschreibt er den Fall eines Theatermannes, der kaltgestellt wird: eine

satirische Abrechnung mit Autoritarismus und Zensur. Außerdem hat er bei Fa-

cebook zum Crowdfunding aufgerufen, denn er plant einen Dokumentarfilm

über die Zensur in Kuba.

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Instrumental: Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra

Take Fidel Castro

Sprecher 2: Welches sind die Rechte der revolutionären und der nicht-revolutionären

Schriftsteller und Künstler? Innerhalb der Revolution alle, gegen die Revoluti-

on keinerlei Recht!

Autor: Mit diesen so genannten Worten an die Intellektuellen beendete Fidel Castro

vor 55 Jahren in der Nationalbibliothek von Havanna eine wochenlange Kont-

roverse über den ersten Fall von Filmzensur im revolutionären Kuba. Alfredo

Guevara, der Direktor des neu geschaffenen Filminstituts ICAIC, hatte den

Kurzfilm P.M. für den Kinoverleih verbieten lassen. Dabei war der Beitrag be-

reits im Fernsehen gelaufen und zwar im staatlichen Televisión Revolución.

Atmo

Autor: Die beiden Regisseure Sabá Cabrera Infante und Orlando Jiménez-Leal woll-

ten nichts weiter als die abendliche Freizeitgestaltung meist schwarzer Arbeiter

dokumentieren: wie sie ein wenig Abwechslung in Kneipen und Bars suchten,

sich unterhielten, tranken und tanzten: eine harmlose Momentaufnahme vom

Alltagsleben in Havanna. Aber das ICAIC verbot den Film mit der Begrün-

dung, er liefere –

Sprecher 2: - ein partielles Bild des Havanner Nachtlebens, das weit davon entfernt ist,

dem Zuschauer einen korrekten Eindruck vom Leben des kubanischen Volks in

dieser revolutionären Etappe zu geben. Der Film verarmt, entstellt und ent-

wertet es.

Autor: Die politische Situation war höchst gespannt. Fidel Castro hatte Mitte April

den sozialistischen Charakter der Revolution erklärt. Kurz darauf begann die

vom CIA geführte Söldnertruppe von Exilkubanern mit der Invasion in der

Schweinebucht. Das war der endgültige Bruch mit den USA. Tausende von

Kubanern wurden „präventiv“ verhaftet. Die Medien mobilisierten die Massen

für einen weiteren „Abwehrkampf“. In dieser aufgeheizten Situation gingen

die Hardliner gegen eine einflussreiche Gruppe undogmatischer Intellektueller

vor. Sie hatte sich um die Tageszeitung Revolución gebildet. Guillermo Cabre-

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ra Infante, einer der berühmtesten Schriftsteller der Insel, war damals für die

Kulturbeilage Lunes de Revolución verantwortlich.

Cabrera Infante: Todos teníamos un miedo enorme.

Sprecher 1: Wir hatten alle enorme Angst. Was damals in der Nationalbibliothek ablief,

war ein politischer Prozess. Es ging gar nicht um den Film und noch weniger

um die Kultur. Fidel Castro nutzte die Gelegenheit, um klar zu stellen: „Für

die Revolution alles, gegen die Revolution nichts.“ Und uns wurde bewusst,

dass er von nun an selbst bestimmen wollte, wer Revolutionär und wer Konter-

revolutionär war. Um das zu betonen, legte er die Pistole, die er immer bei

sich trug, auf den Tisch.

Autor: Dreimal tagten die Intellektuellen mit Fidel Castro in der Nationalbibliothek.

Cabrera Infante: Teníamos dos objetivos. Uno: eliminar Lunes de Revolución.

Sprecher 1: Sie hatten zwei Ziele: Die Kulturbeilage Lunes de Revolución zu zerstören,

das wichtigste Magazin der Intellektuellen, an dem sie sogar die Typografie

störte, und Carlos Franqui zu attackieren, den Herausgeber der Tageszeitung

Revolución. Die Diskussion eskalierte zeitweise derart, dass jemand aus der

sog. revolutionären Avantgarde die Erschießung der Filmemacher forderte.

Das wirkte manchmal so, als ob der Direktor des Filminstituts, Alfredo Gueva-

ra, als Robespierre und die Nationalversammlung die Guillotine für uns ver-

langten.

Autor: Der Kurzfilm P.M. verschwand im Giftschrank. Lunes de Revolución wurde

eingestellt, Revolución wenig später mit dem Blatt der Kommunistischen Par-

tei zum Parteiorgan Granma zusammengelegt. Mit diesem ersten kulturpoliti-

schen Sündenfall 1961 war der Weg der Kubanischen Revolution zunächst be-

gradigt.

Musik: Instrumental: Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra

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Sprecher 1: Poetik

Die Wahrheit sagen,

wenigstens deine Wahrheit,

und dann

auf alles gefasst sein:

dass man dir die geliebte Seite ausreißt,

dass man mit Steinwürfen deine Tür zertrümmert,

dass die Leute sich versammeln vor deinem Körper

wie vor einem Wunder,

wie vor einer Leiche.

Autor: Außerhalb des Spiels hat Heberto Padilla 1968 einen Band mit Gedichten ge-

nannt. Dafür erhielt er den Lyrik-Preis des kubanischen Schriftsteller- und

Künstlerverbands UNEAC. Die Verbandsspitze distanzierte sich allerdings von

der Entscheidung ihrer Jury. Sie warf seinen Texten „Ambiguität“, „Kritizis-

mus“ und „Individualismus“ vor.

Sprecher 2: „Solche Haltungen waren immer typisch für das Denken der Rechten und ha-

ben traditionellerweise der Konterrevolution gedient.“

Autor: Der Band durfte nur mit einer mehrseitigen Erklärung des Präsidiums der UN-

EAC erscheinen, denn damals galt noch:

Sprecher 2: „Der Respekt der Kubanischen Revolution vor der Ausdrucksfreiheit kann an-

gesichts der Tatsachen nicht in Zweifel gezogen werden.“

Autor: Heberto Padilla, einer der bedeutendsten kubanischen Poeten, war jedoch als

Außenseiter abgestempelt. Er hatte als Auslandskorrespondent der staatlichen

Nachrichtenagentur u.a. in Moskau gearbeitet. Doch der Aufenthalt in der Sow-

jetunion hatte sein kritisches Bewusstsein für die Fehler des kubanischen Sozi-

alismus geschärft. Nun mischte er sich mit einem Essay in eine heftige kultur-

politische Debatte über den sozialistischen Realismus ein.

Padilla: Hizo un estudio, un juicio total de la cuestión cubana.

Sprecher 1: Der Text war eine totale Abrechnung mit den kulturpolitischen Verhältnissen

in Kuba. Daraufhin wurde die gesamte Redaktion der Kulturzeitschrift entlas-

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sen, die meinen Beitrag gedruckt hatte. Und es wurde immer schwieriger für

mich, zu veröffentlichen, was ich dachte. Die Debatte über den sozialistischen

Realismus wurde abgebrochen. Die Dogmatiker wollten verhindern, dass Leu-

te wie ich Diskussionen vom Zaun brechen über Probleme, die bereits in Kuba

sichtbar waren.

Autor: Heberto Padilla, einer der Freigeister um Lunes de Revolución, stand von nun

an unter ständiger Aufsicht des Staatssicherheitsdienstes. Am 20. März 1971

wurden er und seine Frau, die Poetin Belkis Cuza Malé, „wegen subversiver

Aktivitäten“ verhaftet. 38 Tage mussten beide in Villa Marista, dem Knast der

Geheimpolizei, ausharren. Sie kamen erst frei, nachdem der Dichter eine sog.

„Selbstkritik“ auf sich genommen und sie im Schriftstellerverband verlesen

hatte. Ein Auszug:

Sprecher 1: Genossen, ihr wisst, dass ich als Konterrevolutionär inhaftiert wurde. Wie

schwerwiegend diese Beschuldigung auch sein mag: sie war begründet und

zwar durch mein Verhalten, meine Einstellung und Tätigkeit, meine Kritik;

nein, Kritik ist nicht der richtige Ausdruck. Es handelte sich um eine Reihe von

Beleidigungen und Diffamierungen der Revolution, derer ich mich schäme und

stets schämen werde.

Autor: Die Verhaftung Padillas und das entwürdigende Schauspiel der Selbstkritik

riefen weltweit helle Empörung unter den Intellektuellen hervor, die die Kuba-

nische Revolution bisher unterstützt hatten. Simone de Beauvoir, Jean-Paul

Sartre, Jorge Semprun, Hans-Magnus Enzensberger, Carlos Fuentes, Mario

Vargas Llosa, insgesamt 61 Schriftsteller und Künstler schrieben einen wüten-

den Brief an Fidel Castro. Darin heißt es unter anderem:

Sprecher 1: Der traurige Bekenntnistext, den Heberto Padilla unterzeichnet hat, kann nur

durch Methoden entstanden sein, die Recht und Gerechtigkeit der Revolution

verleugnen. Der Inhalt und die Form mit ihren absurden, geradezu delirieren-

den Anklagen sowie der Akt des Bekenntnisses selbst erinnern an die beklem-

menden Maskeraden der Selbstkritik in den schmutzigsten Momenten der stali-

nistischen Epoche.

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Autor: Der Brief war eine Absage an Fidel Castro und seine autoritäre Herrschaft und

zugleich ein Bruch zwischen zahllosen Intellektuellen und der Kubanischen

Revolution. Er sollte nie wieder gekittet werden.

Padilla: Estos anos fueron difíciles, difíciles.

Sprecher 1: Diese Jahre waren äußerst schwer. Ich habe zu Hause als Übersetzer gearbei-

tet, habe die schlechtesten bulgarischen Autoren übersetzen müssen, hin und

wieder auch romantische englische Poesie. Man wollte mir damit einen Gefal-

len tun. Aber ich wollte nichts wie weg, ich konnte nicht mehr. Ich habe mich

ständig beobachtet und verfolgt gefühlt. Nach acht Jahren ließen sie mich

dann raus: über Kanada bin ich in die USA gereist. Ich ging weg, weil ich

wusste, dass es nach dem Gefängnis keine wirkliche Eingliederung in einem

kommunistischen Land gibt.

Autor: Heberto Padilla starb im Jahr 2000 im US-amerikanischen Exil.

Der Fall Padilla wird erst vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung

verständlich. Castro hatte dem Land 1970 eine Zuckerernte von zehn Millio-

nen Tonnen verordnet: er wollte mit einem Schlag die Unterentwicklung

überwinden. Alle Fachleute hielten dies technisch für unmöglich. Doch der

‚Comandante en jefe‘ schickte einen Großteil der Bevölkerung aufs Land, um

Zuckerrohr zu schlagen. Andere Produktionsbereiche lagen deshalb völlig

brach. Er verfehlte dennoch das Ziel: am Schluss wurden lediglich 8,5 Millio-

nen Tonnen geerntet. Es war eine der größten Niederlagen Fidel Castros.

Die Sowjetunion, die Kuba durch ihre Hilfslieferungen die Existenz sicherte,

intervenierte. Sie verlangte den Aufbau eines Wirtschaftssystems und einer

Staatsverwaltung nach sowjetischem Modell. Die Revolution wurde institutio-

nalisiert und mit ihr die Zensur. Das Quinqueño gris begann, das ‚graue Jahr-

fünft‘ – wie diese finsterste Zeit des Stalinismus euphemistisch hieß. Kuba

schottete sich ab. Ideologische ‚Abweichler‘ und auch Homosexuelle erhielten

Publikationsverbot oder wurden hinter Schloss und Riegel gesperrt.

Musik Instrumental Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra

Atmo

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Sprecher 2: In den letzten zwölf Stunden kamen 32 Boote mit rund 800 Kubanern in Key

West/ Florida an. US-amerikanische Marines kümmern sich um sie. Es ist heu-

te nur eine geringe Zahl, doch seit letztem Monat wurden hier 25.000 kubani-

sche Flüchtlinge versorgt. Viele der Ankommenden erzählten Horrorgeschich-

ten über die Ausreise. Jetzt hat die kubanische Regierung für zwölf Stunden

diese Flucht-Operation im kubanischen Hafen von Mariel ausgesetzt.

Autor: Mariel – der Name steht für einen Massen-Exodus 1980. Innerhalb von sieben

Monaten flohen 125.000 Kubaner nach Miami. Kurz zuvor hatten Exilkubaner

erstmals ihre Verwandten auf der Insel besuchen dürfen. Sie brachten zahllose

Konsumgüter mit, an denen es in Kuba seit langem mangelte, und demonstrier-

ten so, dass es für die Insulaner im Land des Erzfeindes eine bessere Zukunft

gab. Der Mythos der Revolution ging endgültig zu Bruch.

Die Fluchtwelle begann am 1. April. Eine Gruppe Kubaner durchbrach mit ei-

nem Lastwagen den Zaun der peruanischen Botschaft und bat um politisches

Asyl. Als die Regierung ihre Auslieferung verlangte und die Peruaner dies ab-

lehnten, zog sie das kubanische Sicherheitspersonal von der Botschaft ab. Da-

raufhin besetzten innerhalb kurzer Zeit Tausende Kubaner das Gelände. Fidel

Castro sah sich gezwungen, den Hafen von Mariel zu öffnen. Mit Hunderten

Schiffen holten die Exilkubaner die Ausreisewilligen ab.

Take Castro

Sprecher 2: Wer keine revolutionären Gene hat, kein revolutionäres Blut, wer keinen Sinn

für die Idee einer Revolution und kein Herz für den Heroismus einer Revoluti-

on besitzt, den brauchen wir hier nicht.

Autor: Castro nutzte die Gelegenheit, um Kritiker loszuwerden. Der heute 52-jährige

Schriftsteller Antonio José Ponte erlebte den Exodus als Jugendlicher.

Ponte: Antes de salir de Cuba, tenía un rito de pasaje que era…

Sprecher 1: Bevor sie ausreisen konnten, erfuhren sie ein Ritual mit Schlägen, Beleidigun-

gen, Drohungen, Terror vor ihrer Wohnung und anderes mehr. Ich fragte

mich, was ist das für ein revolutionäres Regime? Denn dies war keine Polizei-

gewalt. Es war ein inszenierter Volkszorn, der sich gegen die Emigranten ent-

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lud. Später hießen diese zivilen Kommandos ‚Brigaden der schnellen Antwort‘.

So lernte ich die Gewalt des revolutionären Regimes kennen.

Autor: Nach den traumatischen Ereignissen von Mariel igelte Kuba sich außenpoli-

tisch erneut ein. Kulturpolitisch folgte eine Art Tauwetter, das sich für Antonio

José Ponte vor allem auf die bildende Kunst auswirkte.

Take Ponte: Fue un movimiento que se dedica revisar el lenguaje público.

Sprecher 1: Sie unterzog u.a. den öffentlichen Diskurs, die Sprache der politischen Symbo-

le einer kritischen Revision. Und begab sich dazu auf die Straße, wo dieser öf-

fentliche Diskurs geführt wurde. Sie ironisierte mit Plakaten und Graffiti die

politischen Parolen und die revolutionäre Ikonografie. Sie machte natürlich

nicht vor dem sozialistischen Realismus halt, sondern steigerte seinen Kitsch.

Alle Symbole, derer sich ein solches System bediente, selbst die Nationalflag-

ge, wurden infrage gestellt.

Atmo Happening in der UNEAC

Autor: Happening in der UNEAC, dem erlauchten Schriftsteller- und Künstlerver-

band. Die Gruppe Straßenkunst-Experiment unterbricht lautstark eine Diskus-

sion über neue Formen und Inhalte. Unheimlich sehen die acht Kunststudenten

aus: über ihre Köpfe hatten sie Gasmasken gezogen. „Wir wollen uns nicht

vergiften lassen“ – verkünden sie auf Transparenten – „nicht vergiften von

dem alten Scheiß!“

Sprecher 2: „Es lebe die Revolution!“

Autor: - fetzten sie auf Mauern. Und direkt daneben:

Sprecher 1: „Kunst ist nur ein paar Schritte vom Friedhof entfernt.“

Autor: Und während die ältere Generation gewohnt war zu rufen:

Sprecher 2: „Vaterland oder Tod! Wir werden siegen!“

Autor: - pinselten die Jungen auf Wände:

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Sprecher 1: „Kunst oder Tod! Alles ist Lüge! Wir werden siegen!“

Atmo Gruppe Straßenkunst

Sprecher 1: Wir haben mit der früheren Generation, diesen Hundertjährigen, nichts am

Hut. Die haben sich selbst überlebt, die haben keine Zukunft mehr, wir schon.

Wir schauen nicht mit Bewunderung auf diese Vergangenheit und können auch

keinen Dank denen gegenüber empfinden, die die Revolution gemacht haben.

Denn die ist für uns selbstverständlich, die war schon da, als wir geboren

wurden.

Autor: Die Gruppe löste sich Anfang 1988 auf. Die Angriffe gegen diese Art von

Kunst hatten sich wieder verschärft. Nach einer kurzen Tauwetterperiode führ-

te die zunehmende Liberalisierung in der Sowjetunion wieder zu schärferen

Kontrollen und Sanktionen. Experimente waren nicht mehr gefragt, und schon

gar nicht das Experiment, das in den sozialistischen Ländern für tiefgreifende

Veränderungen sorgte: Perestroika und Glasnost. Fidel Castro begnügte sich

mit einer rectificación: einer erneuten Begradigung des revolutionären Weges,

der schon wieder in die falsche Richtung geführt hatte.

Castro: A medida que muchos países socialistas critican que han hecho durante muchos

anos…

Sprecher 2: Viele sozialistische Länder kritisieren das, was sie viele Jahre praktiziert ha-

ben. Sie negieren sogar Dinge, an denen sie jahrzehntelang festgehalten ha-

ben. Wir respektieren das Recht der Anderen auf Kritik. Auch wir haben Feh-

ler gemacht. Doch wir wollen sie auf der Grundlage unserer eigenen Erfah-

rungen korrigieren und nicht der Fehler anderer. Heute müssen wir mehr denn

je feste Bannerträger des Sozialismus und des Marxismus-Leninismus sein.

Instrumental Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra

Autor: 1989 brach das staatssozialistische System in der Sowjetunion zusammen. Prä-

sident Michail Gorbatschow sah sich gezwungen, die sowjetischen Hilfsliefe-

rungen zu kappen, von denen Kuba völlig abhängig war. Das Land stürzte in

eine existenzbedrohende Krise, denn es konnte seine Bevölkerung noch immer

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nicht aus eigenen Kräften ernähren. Fidel Castro verkündete die „Sonderperio-

de in Friedenszeiten“.

Castro: Estamos en un periodo especial difícil, uno de oas más difíciles de nuestro histo-

ria…

Sprecher 2: Wir befinden uns in einer der schwierigsten Phasen unserer Geschichte. Wa-

rum? Weil wir völlig allein gelassen wurden, allein gegenüber dem US-

Imperium. Und woran fehlt es nun? An Einheit, an Werten, an Patriotismus,

an revolutionärem Geist. Doch nur ein schwaches, willenloses, feiges Volk

ergibt sich und fällt zurück in die Sklaverei. Nicht jedoch dieses tapfere und

mutige Volk.

Autor: Die Regierung beschloss harte Sparmaßnahmen. Benzin wurde weiter ratio-

niert. Import und Export brachen ein. Rohstoffe konnten wegen Devisenman-

gels nicht mehr eingeführt werden, zahlreiche Fabriken mussten schließen. Ei-

ne Gruppe von Schriftstellern und Journalisten protestierte am 31. Mai 1991 in

einem offenen Brief gegen die Notlage. Zu ihnen gehörte der heute 80-jährige

Poet Manuel Díaz Martínez.

Martínez: Nosotros pedíamos un diálogo nacional para discutir soluciones de los prob-

lemas de Cuba...

Sprecher 2: Wir forderten einen nationalen Dialog über die Probleme Kubas. Und die

Freizügigkeit der Ein- und Ausreise für alle Kubaner. Und die Wiedereröff-

nung der freien Bauernmärkte, um die gravierende Versorgungslage etwas zu

verbessern. Wir forderten eine Petition an die Vereinten Nationen, um drin-

gend benötigte Medikamente zu erhalten. Eine Amnestie für Gefangene aus

Gewissensgründen. Und direkte Wahlen. Diese Forderungen schickten wir an

das Zentralkomitee der Partei, an den Staatsrat und an die Auslandskorres-

pondenten, denn wir waren sicher, dass die kubanische Presse sie nicht veröf-

fentlichen würde.

Autor: Zum ersten Mal protestierten Intellektuelle öffentlich gegen die Regierung. Bis

dahin hatte es nur vereinzeltes Aufbegehren gegeben. Alle Beteiligten waren

sich des Risikos bewusst. Auch hatten sie alle ihren Glauben an die Revolution

längst verloren, nicht aber die Hoffnung, dass ihr verzweifelter Schritt in die

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Öffentlichkeit, ihr sachlicher Appell an die Verantwortung wenigstens eine all-

gemeine Debatte auslösen würde. Doch sie mussten bald einsehen, dass sie zu

naiv gehandelt hatten. Manuel Díaz Martínez wurde – wie alle anderen – aus

dem Schriftsteller-Verband ausgestoßen und verlor seine Arbeit. Am

schlimmsten traf es die Dichterin María Elena Cruz Varela. Die Nationalpreis-

trägerin für Poesie hatte das Manifest entworfen. Der sog. Volkszorn zog vor

ihrem Haus auf – 72 Stunden lang.

Cruz Varela: Tres personas conocidas me hicieron abrir la puerta de mi casa…

Sprecherin 1: Drei mir bekannte Personen veranlassten mich dann, die Wohnungstür zu öff-

nen. Als ich jedoch aufmachte, stürzte eine Meute herein und schlug auf die

Leute ein, die bei mir waren. Sie zerrten mich an den Haaren die Treppe run-

ter, stopften mir vor dem Haus ein paar von den Flugblättern in den Mund, auf

denen wir die Kubaner aufgerufen haben, sich uns anzuschließen. Gerade das

hat sie besonders empört, dass es jemand wagte, so etwas öffentlich zu vertei-

len, auf der Straße, die den Revolutionären gehörte. Schließlich kam die Poli-

zei und ‘rettete’ mich. Auf dem Revier wurde ich zunächst von einem Arzt un-

tersucht, der die Blutergüsse dokumentierte. Dann kam ein Polizeioffizier und

drohte mir, nicht mehr für mein Leben garantieren zu können, wenn ich meine

Aktivitäten fortsetzte, Ich würde mit dem Feuer spielen, und das sei sehr ge-

fährlich.

Autor: María Elena Cruz Varela und einige andere Manifestanten wurden wenig spä-

ter „wegen unerlaubter Versammlung“, „konterrevolutionärer Propaganda“ und

„Widerstand gegen die Staatsgewalt“ in Schnellverfahren zu Gefängnisstrafen

zwischen einem und zwei Jahren verurteilt. Internationale Proteste verhallten

wirkungslos. Nach ihrer Freilassung blieben sie unter permanenter Beobach-

tung und erhielten keine Arbeit: sie waren praktisch mittellos und wurden von

Freunden und Verwandten unterstützt. María Elena Cruz Varela musste sich

monatelang regelmäßig beim Staatssicherheitsdienst melden und über jeden ih-

rer Schritte Rechenschaft ablegen. Sie lebt heute – wie alle anderen Unter-

zeichner der Petition – im Ausland.

Atmo Schrei

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Autor: Havanna, 21. Juni 1991: drei Wochen nach dem ‚Brief der Zehn‘. Wegen „konter-

revolutionärer Tendenzen“ haben die kubanischen Behörden den Film Alicia im

Ort der Wunder von Daniel Díaz Torres verboten. Während der Vorführungen

war es zu heftigen Protesten gegen einzelne Szenen und Dialogstellen und vor

dem Kino sogar zu Schlägereien zwischen Gegnern und Befürwortern gekommen.

Daraufhin wurde Alicia aus dem Verkehr gezogen. Kurz darauf brach in der bis

dahin schweigsamen Presse eine Verleumdungskampagne gegen Werk und Regis-

seur los, am schärfsten im Parteiorgan ‘Granma’:

Sprecher 2: „Der Film weckt Defätismus, Hoffnungslosigkeit und Verdruss durch seinen ex-

zessiven Pessimismus, seine Überfülle an missverständlichen Schlüsselbotschaf-

ten, die jeder Form von Spekulation Vorschub leisten. Er ist ein Werk, das unserer

schlimmsten Feinde würdig ist und das historische Projekt der Revolution auf ei-

ne verleumderische Karikatur reduziert.“

Musik

Autor: Die junge Alicia trifft in der tiefsten Provinz auf Leute, die sich längst daran ge-

wöhnt haben, die absonderlichsten Eingriffe in ihr Leben als natürlichste Sache

der Welt hinzunehmen. Alicia will sie aufrütteln und stößt dabei auf die hartnä-

ckige Gegenwehr all derer, die ihren Besitzstand gefährdet sehen. Daniel Díaz

Torres nutzt diesen äußeren Rahmen, um eine geballte Ladung an ironischen Sei-

tenhieben auf Spitzelei, Bürokratie, Korruption, Schwarzhandel und Parteiherr-

lichkeit auszuteilen. Er entfaltet mit Humor und - wie bei ‚Alice im Wunderland‘ -

mit den Mitteln des Phantastischen eine umfassende Systemkritik, wie es bis da-

hin noch kein anderer Künstler der Insel gewagt hat.

Díaz Torres: Esta necesidad de la participación…

Sprecher 1: Wir wollten die Notwendigkeit des aktiven Mitwirkens herausstellen: Jeder Ein-

zelne soll aktiv in die Gesellschaft eingreifen und sich nicht entmutigen lassen,

auch nicht durch Bedingungen, die manchmal zum Verzweifeln sind, so dass er in

eine pessimistische oder gar zynische oder nihilistische Position flüchtet. Für uns

war es wichtig, dass der Film keine Zugeständnisse machte, sondern dass er zu

den positiven Werten Stellung nahm, die wir verteidigen wollten.

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Autor: Alicia im Ort der Wunder verschwand im Panzerschrank. Der Präsident des Fil-

minstituts wurde seines Amtes enthoben. Das ICAIC, ein fast liberal zu nennen-

des Filminstitut, sollte aufgelöst und mit den Filmstudios der Armee und des

Fernsehens, also der Propagandaabteilung, zusammengelegt werden. Der An-

schlag auf seine Selbständigkeit scheiterte am Widerstand der Filmschaffenden.

Alicia im Ort der Wunder kam nie wieder in die kubanischen Kinos. Die phanta-

siereichen Kubaner kennen das Werk jedoch besser als jeden anderen einheimi-

schen Film: sie haben es auf illegalen Videokassetten gesehen.

Musik Instrumental Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra

Autor: Die Verhaftung der Unterzeichner des Briefes der Zehn und das Verbot von Alicia

waren der Auftakt für zwei Jahrzehnte ausgeprägter Intoleranz in Kuba. Ihre Ur-

sache lag – wie in den 70er Jahren – in der ökonomischen und sozialen Krise, die

sich nach dem Ende der sowjetischen Dauerversorgung extrem verschärfte.

Doch diesmal kamen neue Faktoren hinzu: die ideologische Verunsicherung durch

den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und die wachsende Unzufrieden-

heit der Bevölkerung. Da sie nach drei Jahrzehnten der Revolution noch immer

keinen Fortschritt sah, begann sie sich stärker als bisher zu wehren.

Take Maleconazo

Autor: 1994 eskalierte die Lage. Im August kam es zu spontanen Demonstrationen auf

der Uferstraße Malecón, dem sog. Maleconazo. Sie wurden brutal zusammenge-

knüppelt. Danach versuchten innerhalb eines Monats rund 32.000 Kubaner auf le-

bensgefährlichen Flößen der Not via Miami zu entfliehen.

Am 19. und 20. März 2003 – die Welt schaute gebannt auf die US-amerikanische

Invasion des Iraks – ließ Fidel Castro 75 Journalisten, Wissenschaftler und Men-

schenrechtsaktivisten verhaften, unter ihnen auch den mehrfach ausgezeichneten

Schriftsteller und bekannten Journalisten Raúl Rivero.

Rivero: Este fue a las cuatro y tanto, a las cinco...

Sprecher 1: Es war fünf Uhr nachmittags, da sah ich vom Balkon meiner Wohnung eine Reihe

von Autos in die Straße einbiegen. Und dann standen auch schon so an die 18

oder 20 Mann vor der Tür. Sie müssen mich für einen Gewaltverbrecher gehalten

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haben. Sie durchsuchten minutiös meine gesamte Wohnung und konfiszierten gan-

ze Pakete von Büchern, Manuskripten, Familienfotos, meine alte Olivetti-

Schreibmaschine und den Computer. Dann brachten sie mich zur Villa Marista,

ins Gefängnis der Staatssicherheit. Die ganze Operation dauert sechs oder sieben

Stunden.

Autor: Bereits zwei Wochen später verurteilten Schnellgerichte die 75 Verhafteten in

summarischen Verfahren zu drakonischen Strafen von bis zu 25 Jahren Gefängnis.

Für den 58-jährigen Raúl Rivero hätte die erhaltene Höchststrafe lebenslänglich

bedeutet. Doch damit gab sich das Regime nicht zufrieden, denn er hatte es zwei-

mal herausgefordert: als Unterzeichner des Briefs und als Gründer eines illegalen

Presse-Netzwerks. Deshalb hatte man für ihn eine Strafzelle vorgesehen.

Rivero: Una celda de castigo es más chico que el bano de tu casa

Sprecher 1: Sie ist kleiner als ein normales Badezimmer. Ich konnte sechs Schritte gehen, aber

meine Arme nicht völlig ausbreiten. Es gab eine Zinkplatte mit einer Matratze, ein

stinkendes Loch im Boden als Toilette, ein Zementbecken zum Waschen, ein Rohr,

aus dem Wasser floss, zweimal für 15 Minuten am Tag. Und das bei der unerträg-

lichen feuchten Hitze im kubanischen Sommer. Außerdem gab es unzählige Mü-

cken, jede Art von Ungeziefer, Frösche, Ratten, kleine Schlangen und Grillen, die

einen nicht schlafen ließen. Dort verbrachte ich ein ganzes Jahr.

Autor: Auf Druck der Europäischen Union wurde Raúl Rivero nach insgesamt zwei Jah-

ren schwerkrank als einer der ersten entlassen. Danach kamen auch alle übrigen

frei. Die meisten leben heute im Ausland. Als Schwarzer Frühling ging dieses

Kapitel in die kubanische Geschichte der Unterdrückung Andersdenkender ein.

Atmo Demo Damen in Weiß

Autor: Ihre Angehörigen hatten monatelang jeden Sonntag für die Freilassung der Gefan-

genen demonstriert. Als Damen in Weiß wurden sie weltbekannt. Auch heute noch

versuchen sie nach dem sonntäglichen Gottesdient an das Schicksal von politi-

schen Häftlingen zu erinnern. Bei diesen friedlichen Demonstrationen werden sie

regelmäßig von der Polizei festgenommen oder von zivilen Rollkommandos mal-

trätiert.

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Die Taktik der Repression hat sich während der Regierung von Raúl Castro nur in

einem Punkt geändert: die Dissidenten werden nicht mehr zu langen Strafen ver-

urteilt, sondern ihre Aktionen werden sofort unterdrückt und die Akteure nur kurz-

fristig weggesperrt – wie Antonio Rodiles. Vor sechs Jahren gründete der Men-

schenrechtsaktivist eines der ungewöhnlichsten Projekte der kubanischen Dissi-

denz.

Take Estado de Sats

Sprecher 1: „Estado de Sats – wo Kunst und Denken zusammenfließen.“

Autor: So heißt sein Forum kritischer Diskussionen über die Gegenwart und die Zu-

kunft Kubas. Die Debatten organisiert er in seinem Haus, lässt sie auf Video

aufzeichnen und dann im Internet verbreiten.

Von Anfang an wurde diese Aktion vom Sicherheitsapparat observiert und

Gäste bedroht oder mit Gewalt an der Teilnahme gehindert. Deshalb veranstal-

tet der 44-jährige solche Treffen nur noch selten. Heute gilt Antonio Rodiles

als einer der intellektuellen Wortführer der kubanischen Opposition.

Take Rodiles: Se ha hablado de que en Cuba se están ocurriendo transformaciones de índole

económica.

Sprecher 1: Es heißt, dass in Kuba wirtschaftliche Veränderungen stattfinden. Aber das ist

völlig falsch. In Kuba kann es keinerlei Wandel geben, solange das System

fundamentale Rechte wie die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit ver-

letzt. Und was heißt wirtschaftlicher Fortschritt? Der einfache Kubaner darf

sich lediglich als Miniunternehmer betätigen, darf sich jedoch nicht weiter-

entwickeln, weil das Regime dies nicht duldet. Wir fordern eine Demokratie,

einen Rechtsstaat, ein blühendes Land, in dem jeder Kubaner nach seinen Fä-

higkeiten leben kann.

Autor: Wegen seiner öffentlich geäußerten Ablehnung der Castro-Regierung wurde

Antonio Rodiles immer wieder für Stunden oder Tage inhaftiert. 2015 schlugen

ihn Sicherheitskräfte auf offener Straße derart zusammen, dass seine Nase

brach. Später stellten er und seine Lebensgefährtin Ailer María González nach

einer Demonstration dunkle Flecken am Körper fest.

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Rodiles: Me dieron como un piquete acá, como una mordida…

Sprecher 1: Ich hatte zwei Einstiche an beiden Armen und Ailer einen in der linken Brust.

Aber wir konnten nicht in Erfahrung bringen, was für eine Substanz uns verab-

reicht worden war.

Autor: Andere Dissidenten klagten nach Demonstrationen über Gliederschmerzen und

Fieber. Anzeigen bei der Polizei blieben wirkungslos, nach Untersuchungen im

Krankenhaus erhielten sie keine Diagnose. Wer öffentlich an einem friedlichen

Protest gegen die Verletzung der Menschenrechte in Kuba teilnimmt, hat heute

mehr denn je mit harter Repression zu rechnen.

Atmo Straßenarbeiten

Autor: Straßenarbeiten in Alt-Havanna. Eine Brigade des Elektrizitätswerks führt

„dringend notwendige Reparaturen“ durch und zwar vor der Parterre-Wohnung

von Tania Bruguera.

Take Bruguera

Autor: Die berühmte Performance-Künstlerin hatte im Rahmen der Kunstbiennale

2015 in Havanna zu einer Lesung von Hannah Arendts Werk Elemente und

Ursprünge totaler Herrschaft eingeladen. Die rund 1000-seitige Studie sollte

in einem viertägigen pausenlosen Marathon von verschiedenen Teilnehmern

vorgelesen und per Lautsprecher auf die Straße übertragen werden.

Da ihr Telefon ständig abgehört werde, könne sie das auch gleich öffentlich

verbreiten – meinte die Künstlerin. Die ‚Performance‘ von Castros Bauarbei-

tern konnte ihre Aktion nicht wirklich torpedieren. Tania Bruguera hat vor

kurzem das Internationale Institut für Artivismus Hannah Arendt gegründet.

Bruguera: Tiene mucho que ver con arte política…

Sprecherin 1: Es soll die politische Kunst erforschen und zeigen, was Kunst zur sozialen Ver-

änderung beitragen kann, zum Artivismo – wie ich das nenne: zu Kunst und

Aktivismus. Hannah Arendts Buch kann gerade in der kubanischen Situation

viele Erkenntnisse beitragen. Denn wir wollen hier theoretisch und praktisch

studieren, wie wir mit der Kunst auf den gesellschaftlichen Wandel einwirken

können.

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Autor: Die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete 48-jährige Künstlerin wurde we-

gen ihrer provokanten Auftritte vom Verband der Schriftsteller und Künstler

mehrfach verwarnt. Sie gab schließlich demonstrativ den Nationalpreis zurück

und trat aus der UNEAC aus.

Im Dezember 2014 – kurz nach dem Ende der diplomatischen Eiszeit zwischen

Washington und Havanna – rief Tania Brugueras zu einer Performance auf der

symbolträchtigen Plaza de la Revolución auf, dem zentralen Ort revolutionärer

Begeisterung und endloser Castro-Reden. In ein Mikrofon sollte jeder Kubaner

eine Minute lang seine Meinung über Kuba sagen. Doch wer immer sich für

diese Aktion anmeldete, wurde verhaftet: insgesamt 80 Menschenrechtler, In-

tellektuelle und Journalisten. Und auch die Künstlerin.

Bruguera: En este momento el gobierno de Cuba tiene mucho miedo...

Sprecherin 1: Damals fürchtete die Regierung wohl, die politische Kontrolle zu verlieren,

denn mit dieser Aktion begann ein Kampf um Symbole. Auch wollte sie das

Volk daran hindern zu begreifen, dass es ein Recht hat, sich zu äußern... Über

mich als Rädelsführerin verhängte man eine 8-monatige Ausreisesperre und

inhaftierte mich dreimal.

Autor: Die Meinungsfreiheit ist ein Gradmesser für die demokratische Entwicklung

einer Gesellschaft. In Kuba können die Menschen bis heute nur von dem

Rechtsstaat träumen, von dem der Liedermacher Pedro Luis Ferrer singt.

Musik Pedro Luis Ferrer: Venga el estado de derecho

Sprecher 1: Der Staat des Rechts soll kommen,

und herrschen auf dieser Insel,

ein Staat für das ganze Volk,

nicht für eine Sekte, nicht für einen Führer,

mit verschiedenen Ideologien

und freier Wirtschaft.

Ein Staat mit einem Höchstmaß an Freiheit und Recht:

ein pluralistisches Projekt,

für das ganze Volk.

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Musik Pedro Luis Ferrer: Venga el estado de derecho

Absage: Von Anfang bis Ende

Zensur in Kuba

Ein Dossier von Petr B. Schumann

Es sprachen:

Bernt Hahn, Jochen Langner, Josef Tratnik, Janina Sachau und Franz Laake

Ton und Technik: Daniel Dietmann und Hanna Steger

Redaktion und Regie: Birgit Morgenrath

Eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.


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