Stefan Strasser
Yo maté a Kennedy von Manuel Vázquez Montalbán
Inhalt
Einleitung
I Manuel Vázquez Montalbán
1.1 Leben
1.2 Serie Carvalho
1.2.1 Der Wandel vom modernen zum Kriminalroman
1.2.2 Die Gesellschaftskritik
1.2.3 Die Figur Pepe Carvalho
II Yo maté a Kennedy
2.1 Inhalt
2.2 Der erste Roman der Serie Carvalho?
2.2.1 Die Wende zur kritischen novela realista
2.2.2 Die Form der Parodie als Kritik an der Politik
2.2.3 Die Entwicklung Carvalhos seit Yo maté a Kennedy
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Der 1972 erschienene Roman Yo maté a Kennedy von Manuel Vázquez Montalbán ist der
erste Band der Serie Carvalho. Er entstand, als der Autor noch nicht zu seiner in
späteren Werken typischen realistischen Schreibweise gefunden hatte. Aber er leitet
auch das Ende einer Phase ein, in der der Autor mit surrealistischer Prosa
experimentiert, und die er selbst als "pesadilla estética (‚ästhetischer Alptraum‘)"
(Juárez, 2) bezeichnet. In diesem Zusammenhang entsteht also der erste Carvalho-
Roman, der "in Entstehung und Gehalt jedoch noch ganz zu einer Phase
experimenteller Auflösung und Verformung tradierter Gattungsschemata gehört."
(Stenzel 1993, 175)
Doch die Frage, inwieweit er wirklich als Geburt des Privatdetektivs Pepe Carvalho
bezeichnet werden kann, ist Inhalt dieser Arbeit.
I Manuel Vázquez Montalbán
1.1 Leben
Es gibt Parallelen zwischen der Figur des Privatdetektivs Pepe Carvalho und Manuel
Vázquez Montalbán. Deshalb soll im Folgenden kurz das Leben und Werk des Autors
aufgezeigt werden.
Manuel Vázquez Montalbán wurde am 14.07.1939 in El Rabal, dem volkstümlichen
Viertel von Barcelona, als Sohn einer galizisch-andalusischen Familie geboren. Er wuchs
bei seinen Großeltern im ärmlichen Altstadtmilieu des Barrio Chino auf.
Nach dem Abitur beginnt er 1958 mit dem Studium der Literatur und Philosophie sowie
der Journalistik an der Universität Barcelona. Bald findet er zum politischen
Engagement in der Frente de Liberación Popular, einer Organisation der KP Spaniens.
Einige Verhaftungen halten ihn aber nicht davon ab, 1961 Mitglied der Partit Socialista
Unificat de Catalunya, der katalanischen kommunistischen Partei zu werden. 1962 macht
er mit den Kerkern des Regimes Bekanntschaft und beginnt, Gedichte zu schreiben.
Nach 18 Monaten wird er aufgrund des Todes von Papst Johannes XXIII. mit anderen
politischen Gefangenen begnadigt. Nach seiner Entlassung beginnt er seine
journalistische Tätigkeit bei der Zeitschrift Triunfo, die bis 1978 das Forum der
spanischen Linken ist. Außerdem verlegt er sich mehr auf erzählende Prosa, mit der er
ein größeres Publikum zu erreichen glaubt. (vgl. Cottam 1992, 123)
Seine zahlreichen Interessen lassen Manuel Vázquez Montalbán journalistisch in
verschiedenste Richtungen arbeiten. So veröffentlichte er politische und soziologische
Artikel, Features und gastronomische Beiträge, sowie unter dem Pseudonym Luis Dávila
Sportreportagen. Darüber hinaus arbeitet er für verschiedene andere Zeitungen und
Zeitschriften, sowie als Autor und Moderator von Radio- und Fernsehsendungen. Er
lebt heute in Barcelona.
1.2 Serie Carvalho
In der Sekundärliteratur wird Tatuaje (1974) als erster Roman der Serie Carvalho und
Ausgangspunkt der Kriminalromanproduktion von Manuel Vázquez Montalbán
gesehen, der nahezu zeitgleich mit dem Ende der Diktatur erscheint. (vgl. Puhvogel
1987, 261; Stenzel 1993, 175; Colmeiro 1989, 12) In dieser Reihe sind bis 1994 bisher
neunzehn Romane um den Privatdetektiv Pepe Carvalho erschienen. Tatuaje leitet eine
Wende im Schaffen Vázquez Montalbáns ein. Er greift auf die Tradition der
konventionellen Gattung des Kriminalromans zurück, nachdem sich eine Phase der
Experimente mit einer traditionskritischen surrealen Schreibweise erschöpft hatte. Im
Speziellen steht die Serie Carvalho in der Tradition einer sozialkritischen Art des
Kriminalromans, die sich aus der hard boiled novel, der novela negra americana entwickelt hat.
1.2.1 Der Wandel vom modernen zum Kriminalroman
Der an der Oberfläche so reibungslos verlaufende Übergang von der Diktatur zur
Demokratie stellte den spanischen Avantgardeautoren neue Aufgaben, die Vázquez
Montalbán mit der Konzipierung und der Weiterentwicklung der Carvalho-Romane
literarisch zu lösen suchte.
Es schien schon sehr verwunderlich, als einer der Avantgardeautoren, zu denen Manuel
Vázquez Montalbán mit seinen escritos subnormales gezählt wurde, sich dem
Kriminalroman zuwandte, daß ein linker Intellektueller und Kritiker des
kapitalistischen Imperialismus, und hier vor allem auch der USA, sich auf eine sehr
amerikanische Gattung stürzte. Doch er verstand es, mit den Carvalho Romanen die
Kriminalliteratur anspruchsvoll zu gestalten.
Zur Rolle der Carvalho–Romanen in seinem Schaffen meint der Autor selbst:
"Die Carvalho–Romane interessieren mich nur insofern, als sie es mir
ermöglichen, eine Gattung zu vergewaltigen. [...] In einer Situation der Krise
des realistischen Erzählerdiskurses erscheint eine konventionelle Gattung mit
einem Mal als etwas Belebendes." (Stenzel 1993, 176)
Der Rückgriff auf das traditionelle Gattungsschema des Realismus, und bei Vázquez
Montalbán speziell des Kriminalromans, scheint aus einer ironischen und distanzierten
Sicht wie die Zusammenführung zweier unvereinbarer Gattungen: "la novela objetiva y
realista tradicional (decimonónica, social, crítica) y la novela experimental moderna
(vanguardista, subjetiva o discursiva)." (Colmeiro 1989, 12)
Ein Charakteristikum der Avantgarde ist es, kein definiertes Ende zu haben. Die noch
dazu oftmals fehlende Linearität läßt den Leser mit der Aufgabe zurück, die
Zusammenhänge selbst zu erkennen. Der Leser muß sozusagen als literarischer Detektiv
arbeiten. Die Beziehung des Autors zum Leser ist dieselbe wie die des Verbrechers zum
Detektiv.
Autor : Leser = Verbrecher : Detektiv (Costa 1987, 301)
Die modernen Romane verlieren sich oftmals in einem Labyrinth aus Beziehungen und
vagen Andeutungen, und der Leser hat den Bezug zum Werk als Mimesis einer externen
Realität verloren.
Vázquez Montalbán verfolgt die klare Intention, diese in modernen Romanen oftmals
verlorengegangene Beziehung zwischen Roman und sozialer Realität der Leser
wiederherzustellen. Natürlich wird hier ein intelligenter Leser vorausgesetzt, der in der
Lage ist, die kritischen und zynischen Andeutungen Montalbáns und vor allem seine
eigene Realität richtig zu deuten. Dies ist nur möglich, da der Leser zum Teil des
Romans wird, und wenn er die Spuren richtig deuten kann, führen sie ihn zur Kritik an
der spanischen Gesellschaft, und dies ist ja auch die Grundintention der Carvalho–
Romane. Der Leser wird über die eigentliche Lösung des Falles bis zum Schluß im
unklaren gelassen.
In Tatuaje beschränkt sich Carvalho zum Beispiel darauf, seinen Klienten über den
Abschluß seiner Untersuchung zu informieren. Er sieht keine Notwendigkeit, die Polizei
zu informieren bzw. den Verbrecher auf eine andere Art für den Mord bezahlen zu
lassen. Allein das Wissen um den Täter muß dem Gerechtigkeitssinn des Lesers Genüge
tun. Lediglich als die Frau ihren eigenen Mann ermordet und dies in den Zeitungen
steht, muß man abwarten, was die Polizei mit ihr machen wird. Doch ob sie in der
Zukunft auch für den ersten Mord bezahlen müssen wird, bleibt offen.
Als zweites Beispiel für einen offenen Schluß eines Carvalho–Romans findet sich in La
soledad del manager. Carvalhos Untersuchung ergibt, daß die Petnay, ein mächtiges
internationales Unternehmen, den Manager Antonio Jaumá von einem professionellen
Killer ermorden ließ. Carvalho aber begnügt sich damit, ein teures Glas Wein über den
Perserteppich des Firmenmagnaten zu gießen, der die Ermordung angeordnet hat.
Ebenso unkonventionell wie die Lösungen sind seine Ermittlungsmethoden, da er mehr
seiner Intuition folgt als einer Logik. In La soledad del manager bringt Carvalho ein Foto
des Managers, das ihn mit vier Freunden zeigt, auf den Gedanken, daß sich der Mörder
unter ihnen finden läßt. Dies entbehrt jedweder Logik, führt aber letztendlich zum Ziel.
Einen Abschluß oder eine Wiederherstellung der alten Ordnung, die man in einer novela
negra erwartet, wird man in den Romanen Montalbáns vergeblich suchen, doch dafür
eine ironische und zynische Darstellung der katalanischen Gesellschaft finden.
1.2.2 Die Gesellschaftskritik
Vázquez Montalbán sucht mit den Carvalho-Romanen die gesellschaftliche Situation im
Spanien der Übergangszeit kritisch zu beleuchten.
Meiner Meinung nach ist es eine der möglichen Funktionen von Literatur, zu
versuchen, ‘nein’ zu sagen, zu sagen, daß diese Situation nicht für immer ist,
daß sie ungerecht ist und verändert werden muß. (FAZ–magazin 9.9.1988,
66)
Zwar beruft sich der Autor selbst lieber auf literarisch anerkanntere Vorbilder als
Hammet oder Chandler, wie Graham Greene oder Leonardo Sciascia. Doch sowohl
intertextuelle Anspielungen in den Romanen, als auch Elemente der Handlungslogik
weisen auf einen zwar kritischen Umgang mit der Gattung des Detektivromans, doch
eindeutig auf ihr Vorbild hin.
Die Intention eines Kriminalromans in der Tradition der novela negra ist es, die
Diskussion über eine Neubeurteilung sozialer Werte, die allzu schnell akzeptiert werden,
anzuregen. Vázquez Montalbán legt den Prozeß der Frage nach der Wahrheit in die
Arbeit eines Privatdetektivs. Dieser Prozeß stellt die philosophische und die politische
Wahrheit gleich und kann so als katalytisches Element in einer sich entwickelnden
Demokratie wirken.
Die Romane beginnen ganz in der Tradition der amerikanischen Detektivromane mit
einem bereits begangenen Verbrechen, das der Detektiv mit Nachforschungen und der
ihm eigenen Art seiner speziellen Logik löst. Doch Carvalhos Aufgabe geht weit über das
übliche ‚Wer tat es?‘ hinaus, denn er hat, wie Vázquez Montalbán selbst, mit den
Nachwirkungen des spanischen Bürgerkriegs, also mit der Franco–Diktatur, zu
kämpfen.
Um die Schwierigkeiten der Spanier mit diesem Teil ihrer Geschichte zu zeigen, zeichnet
Vázquez Montalbán ein breites soziales Spektrum der spanischen Gesellschaft. Dies
reicht von der reichen katalanischen Oberschicht bis zur mittellosen Unterschicht. Auch
zeigt er die Bürokratie und den Staatsapparat, seine eigene kommunistische Partei
eingeschlossen, kritisch und zynisch.
Der Autor bietet dem Leser, wie schon erwähnt, keinen direkten Zugang zum
Geschehen an. Er formt den Kriminalroman um in eine historische Darstellung der
Gesellschaft. Wo in der hard boiled novel Politik und Wirtschaft nur klischeehaft als
korrupt und skrupellos dargestellt werden, tritt in den Carvalho Romanen die
historische Dimension des ideologischen und gesellschaftlichen Wandels im Spanien der
‚transición‘. Die Ablehnung von Traditionen, Hoffnungen und Illusionen werden zum
eigentlichen Inhalt der Ermittlungen Carvalhos. Der Detektiv bringt die Verharmlosung
der alltäglichen gesellschaftlichen Probleme ans Licht. Mit der Entwicklung der Gestalt
Carvalho geht auch die Entwicklung des Landes einher und mit jedem Roman wächst
auch seine Verständnislosigkeit und seine Abwendung von der Politik, da er erkennen
muß, daß sie weder für ihn noch für das Land Sinn zu haben scheint.
1.2.3 Die Figur Pepe Carvalho
Alle Romane haben ein- und denselben Protagonisten, den Privatdetektiv Pepe
Carvalho. Noch mehr als seine literarischen Vorbilder wie Hammetts Continental Op
und Sam Spade oder Chandlers Philip Marlowe entwickelt sich Carvalho mit jedem
Roman weiter. Auch erfährt der Leser wesentlich mehr über die Vergangenheit des
Detektivs als in den rein funktionalen Informationen über den Protagonisten in den hard
boiled novels. Es gibt in den Romanen zahlreiche Verweise auf Carvalhos Kindheit und
Jugend, seine früheren Arbeitsverhältnisse und politischen Aktivitäten.
Im Gegensatz zu den Helden mit der weißen Weste, die moralisch vollkommen integer
agieren, ist Carvalho ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der er lebt. Und so wird er vom
radikalen linken Idealisten zum ironischen Teilnehmer am Traum der ‚transición‘ und
schließlich zum sozio-politischen Satiriker, dessen politische Hoffnungen nicht in
Erfüllung gingen. Pepe Carvalho ist als fiktive Persönlichkeit Vázquez Montalbáns alter
ego. Beide sind Emigrantenkinder, kochen gerne, lieben gutes Essen und leben in
Vallvidrera.
So sieht auch der Autor selbst seinen Privatdetektiv:
Porque al acabar la novela me di cuenta de que había encontrado algo que
estaba buscando hacía tiempo. Era un personaje que me servía para
solucionar un problema que en la novela me atormentaba mucho, que era el
problema de a través de quién se ve el mundo. Entonces a través de la
aparición de Carvalho me di cuenta que a él le podía delegar la función de ver
la vida. Personalmente, estaba agotado de hacerlo. Entonces era ‘él’ que veía,
opinaba, juzgaba y sancionaba. (Hart 1987, 95)
Ein Charakteristikum Pepe Carvalhos ist sein Unwillen zu vertrauen, ob in eine Person
oder in eine Sache. Das letzte Mal tat er dies in der Untergrundbewegung der
kommunistischen Partei in den fünfziger Jahren. Um in der Zeit des Franco-Regimes in
einer verfolgten, illegalen Gruppe tätig zu sein, war tiefes Vertrauen vonnöten. Dies
beweist, daß er fähig war, an eine Sache zu glauben, auf andere zu vertrauen, um das
Wohlergehen anderer besorgt zu sein und für sein Land und die Freiheit zu kämpfen.
Doch seine Kindheit, seine Zeit als Kommunist in Spanien und schließlich seine
Agententätigkeit für die CIA haben ihn zu dem mißtrauischen verschlossenen
Einzelgänger gemacht, der er in den Romanen ist. (vgl. Puhvogel 1986,152-158)
Pepe Carvalho wuchs in der Zeit nach dem Bürgerkrieg, in der Zeit des Franco- -
Regimes auf. Doch seine Generation konnte die Nachwirkungen des Krieges noch an
den Eltern sehen. Die Einflüsse dieser Zeit, speziell seines desillusionierten Vaters,
machten ihn zu einem Mann, der die Menschen entweder als Besiegte oder Executoren
sieht. Während seiner Zeit in der Kommunistischen Partei konnte er den von seinem
Vater übernommenen Zweifel an der Menschheit etwas überwinden. Dies war
zweifelsohne seine idealistische Lebensphase. Doch die Realität holt ihn ein, als ihn seine
eigenen Kameraden verraten und ins Gefängnis bringen. In seinen zwei Jahren im
Gefängnis verschwindet sein Idealismus und wird durch einen Zynismus ersetzt, der
noch stärker als der seines Vaters ist. Er verläßt Spanien und geht in die USA, wo er
später CIA-Agent wird. Nach vier Jahren in der CIA kehrt er nach Spanien zurück und
wird Privatdetektiv. Mit dieser Rückkehr wird deutlich, daß er aufgehört hat, vor seiner
Vergangenheit zu fliehen. Wie schon erwähnt, spielt die Ausbildung zum CIA-Agenten
eine Rolle in der Entwicklung des Privatdetektivs Pepe Carvalho. Damit wurde er Teil
einer Organisation, die ihre eigenen Regeln hat und über die öffentliche Prüfung
erhaben ist: eine ideale Position für jemanden, der vorher immer eine Schachfigur war.
Ein Geheimagent zu sein gab ihm die Möglichkeit, die Rollen zu tauschen, und er wurde
somit von einer Puppe, die keine Macht über sich selbst hat, zu einem der
Puppenspieler, die die Fäden halten. Außerdem wurde er ein Teil der Gruppe, deren
größter Feind die Kommunisten waren, also seine frühere ideologische Heimat. Es ergab
sich also für ihn eine perfekte Möglichkeit sich zu rächen. Und schließlich wurde er noch
zum Doppelagenten, also einem Mann ohne Gewissen und Zugehörigkeitsgefühl zu
irgend jemand oder etwas, der für Geld alles machen würde.
Er stand also an einem Punkt, an dem er vollkommen frei von persönlichen, politischen
oder patriotischen Beziehungen war. Dies ist er in seinem späteren Leben als
Privatdetektiv ebenso bzw. er will es so. Er kann sich auf keinerlei Bindungen mehr
einlassen. Ein Beispiel für die Bindungsangst Pepe Carvalhos ist die Beziehung, die er
mit der Prostituierten Charo führt. Einerseits sucht er die Liebe und Geborgenheit, die
sie ihm entgegenbringt, andererseits weist er sie immer wieder zurück, sobald er
bemerkt, daß er eine emotionale Bindung zu einem anderen Menschen aufbaut, und
damit seine Unabhängigkeit zu verlieren droht.
In Tatuaje, der erste Carvalho–Roman, in dem Carvalho Detektiv und wieder in
Barcelona ist, findet man einen Pepe Carvalho, der Arbeit, Heim und eine Freundin hat,
seinen Zynismus aber nicht verloren hat. Er zweifelt immer noch an der Menschheit
und mißtraut jeder Aussage. Die Arbeit als Privatdetektiv kommt ihm auch sehr
entgegen, da er so sein eigener Chef ist und niemandem vertrauen muß. Seine Arbeit
erlaubt es ihm, über dem Gesetz zu stehen, und er kann aus der Rolle des Besiegten, die
er vorher in Spanien hatte, fliehen.
II Yo maté a Kennedy
2.1 Inhalt
In Yo maté a Kennedy wird die Geschichte von Pepe Carvalho erzählt, der seine
kommunistische Vergangenheit in Spanien läßt und in die Vereinigten Staaten von
Amerika auswandert, um dort als Lektor der spanischen Sprache an der Universität des
Mittleren Westens zu arbeiten. Nach Übersetzungstätigkeiten für ein staatliches Büro
wird er Mitarbeiter des CIA und Leibwächter des Präsidenten John F. Kennedy. Er
wird von einem dubiosen Mister H und seinem Geheimdienstchef Morrison beauftragt,
Kennedy zu töten. Ob er es tat, bleibt, wie die Zukunft Carvalhos, unklar.
Pepe Carvalho taucht in Yo maté a Kennedy nie als realer Charakter auf, sondern ist in
seiner Rolle als surrealistischer Leibwächter in einer surrealen Welt lediglich eine
schattenhafte Erscheinung, eine Imagination in einer imaginären Welt der Mythen. (vgl.
Cottam 1992, 125)
Eindrücke, Beobachtungen und Erinnerungen eines Leibwächters, wie der Untertitel des
Romans lautet, erzählt in zum Teil rückblickenden Episoden das Leben Carvalhos am
Hofe der Kennedys, die mit ihrem Hofstaat (Kennedy, 27f.) im lächerlich imposanten
Palast der sieben Galaxien (Kennedy, 13f.) residierten, der unsichtbar für die
Bevölkerung über dem Weißen Haus schwebt. Der Palast ist ein Beispiel dafür, wie
Montalbán durch eine überzogene Darstellung parodiert.
In Form der Collage führt die Parodie Montalbáns immer wieder zu regelrechten
Szenen. Von den Intellektuellen (z.B. Theodor W. Adorno), über die Mächtigen bis zu
angesehenen Künstlern (z.B. Herbert von Karajan) wird alles parodiert. Alles ist nur
intellektuelles und kulturelles Theater, das dazu dient, den Mächtigen eine Leibwache
abzugeben. Dieses Theater wiederum färbt auf die Mächtigen ab.
In Yo maté a Kennedy wird ein Weltbild entworfen, das von der Anschauung bestimmt
wird, daß die Welt aus nichts mehr besteht als den Klischees, die sie über sich selbst
entworfen hat und verbreitet. Alles ist ein Medienereignis, vor allem in den Vereinigten
Staaten, und beschreibt dabei noch nicht einmal die Realität. Es zählt nur das
Medienereignis und die Aufregung darüber.
Man kann irgendeine beliebige Person, sogar sich selbst, als Mörder von Kennedy oder
auch irgendeinem anderen wichtigen Staatsmann einsetzen. Die Ereignisse sind wie die
Personen beliebig austauschbar.
Große Bedeutung für Carvalho hatte die Ausbildung zum CIA-Agenten durch den
ehemaligen Schweizer Uhrmacher Phileas Wonderful (Kennedy, 17-19). Dieser lehrt
Carvalho mehr als nur das Töten:
Es cuestión de profesionalizar el amateurismo de la acción, comercializarla.
El socialismo podrá imponerse sin que usted o yo muramos en la guerilla y si
lo abandonamos a tiempo viviremos mucho mejor hasta que llegue esa, hoy
por hoy, lejana consecuencia. (Kennedy, 38f.)
Diese Philosophie des Lebens, daß man seine politischen Ideale nicht verraten muß, um
durch einen gesunden Egoismus sich sein Leben leicht zu machen, macht letztendlich
Carvalho zu dem Carvalho, der er in den späteren Romanen ist.
Ist nun der erste Roman der Serie Carvalho auch wirklich die Geburt des Detektivs
oder darf er lediglich als Vorgeschichte gesehen werden?
Über Carvalhos Genesis sagt der Autor selbst:
Carvalho era un personaje muy improbable, de una novela muy intelectualista,
que está muy escrita como consecuencia del clima creado por el mayo francés;
por el fracaso de la izquierda. Entonces escribí un ensayo que se llamaba
"Manifiesto subnormal". A partir de este ensayo escribí otros tres libros que
podían estar dentro de una llamada estética subnormal. Por ejemplo,
"Cuestiones marxistas", "Yo maté a Kennedy" están también dentro de esta
estilística. Trataba de rectificar un estado de ánimo muy deprimido, tanto por
la nación española – aquí parecía que el francismo se eternizaba para siempre
– como mundial por el fracaso de la izquierda en el mayo francés, el fracaso
del movimiento universitario en Estados Unidos, la guerra de Vietnam, y todo
esto conducía a un pesimismo histérico, extraordinario, y aun mucho más
desde la óptica española.(Hart 1987, 94)
Manuel Vázquez Montalbán kritisiert den Kennedy-Mythos mit der Erschaffung von
Pepe Carvalho. Doch es geht hier nicht nur um die Entmythifizierung der Person oder
Ära Kennedy. Der Roman kritisiert in Form einer absurden Parodie die weltweite
Einflußnahme, oder besser Einmischung der USA.
2.2 Der erste Roman der Serie Carvalho?
2.2.1 Die Wende zur kritischen novela realista
Yo maté a Kennedy ist noch eindeutig dem Avantgardeautor Vázquez Montalbán
zuzuordnen. Der Anfang und vor allem das Ende sind offen. Der Autor läßt den Leser
völlig im Unklaren, ob sein Protagonist der Mörder Kennedys ist oder nicht. Auch liegt
das weitere Schicksal Carvalhos in der Phantasie des Lesers. Es ist ein Killer engagiert,
um ihn zu töten, und zwar derselbe, den Morrison und Mister H noch zusätzlich zu
Carvalho für die Ermordung Kennedys engagiert hatten. Doch die Beziehung des
Autors zum Leser und auch zu einer externen Realität findet sich in einem Labyrinth
verschiedenster Szenen erst sehr spät (Kennedy, 152-162), um sich gleich wieder zu
verlieren. An dieser Stelle scheinen sich im Gespräch Carvalhos mit Morrison und
Mister H die Gründe für die Ermordung Kennedys zu klären. Dennoch bleibt offen, wer
denn nun den Präsidenten getötet hat, und auch das Warum wird nicht erklärt, und
scheint auch Carvalho nicht zu interessieren.
In Yo maté a Kennedy kann der Leser nicht zum Teil des Romans werden, da die surreale
Parodie über die Handlungslogik gestellt wird.
Die dialektische Lösung in den späteren Carvalho-Romanen setzt einen Bruch mit dieser
surrealen Darstellung der Avantgarde voraus. Vázquez Montalbán vollzog diese Wende
in seinem literarischen Schaffen, um eine kritische Reflexion der klassischen Autoren
der novela realista machen, und sie in seiner kritischen Darstellung der Gesellschaft in
der schwierigen Phase des Übergangs gebrauchen zu können. Laut dem Autor selbst
geschah dies mit Tatuaje aber nur "aufgrund einer Wette, ob er in der Lage sei, in
vierzehn Tagen einen Kriminalroman zu verfassen." (Stenzel 1993, 176) Da die Person
Carvalho zu diesem Zeitpunkt schon mit einem kompletten Lebenslauf existierte, wurde
sie vielleicht nur der Einfachheit halber zum Protagonisten der Reihe erhoben.
Die dem Detektiv Carvalho so eigene Art, seine Fälle zu lösen, fehlt dem CIA-Agenten
noch, da er während des ganzen Romans mehr damit beschäftigt ist, seine Identität zu
verheimlichen. Die Gestalt Carvalho verliert sich in einem Rätsel um seine doppelte
Identität als Leibwächter und CIA-Agent einerseits und als kommunistischer Terrorist
andererseits (Kennedy, 43). Carvalho soll den Präsidenten beschützen und stellt
gleichzeitig dessen größte Gefahr dar.
2.2.2 Die Form der Parodie als Kritik an der Politik
Die Kritik an der spanischen Gesellschaft mußte 1972 noch anders ausfallen, um nicht
ein Opfer der Zensur zu werden. In Yo maté a Kennedy ist es aber nur Carvalho, der
versucht, mit seinen persönlichen Problemen mit der spanischen Gesellschaft fertig zu
werden.
Die Kritik in Form der Parodie trifft nicht gesellschaftliche, sondern weltpolitische
Problemstellungen. Oder noch weiter gefaßt: Allgemeine menschliche Probleme im
Umgang mit der Macht.
Eine weitere zentrale Rolle spielt die Entmythifizierung des Präsidenten John F.
Kennedy durch den "entre real mitificado" (Kennedy, 55) Pepe Carvalho. An die Stelle
eines Handlungsstranges treten Szenen, die überzogener wohl kaum sein könnten. Das
Gefühl, einen surrealen Traum wahr werden zu lassen, paßt zur Intention des Autors,
Mythen und Mythologien mit Hilfe der zweifelhaften Natur der Realität und des Lebens
selbst in Frage zu stellen. Fragmente absurder Erzählungen, komische Szenen und
surrealistische Poesie bilden ein Puzzle, in dem der Leser sich seine Teile selbst
zusammensetzen muß, um Rückschlüsse auf die Handlung ziehen zu können.
2.2.3 Die Entwicklung Carvalhos seit Yo maté a Kennedy
Die Entwicklung Carvalhos folgt derselben Dialektik wie die Manuel Vázquez
Montalbáns als Romanautor. Während man in Yo maté a Kennedy noch einen diffusen
Anti-Protagonisten in ständigem Wechsel antrifft, der seine Identität als Doppelagent
genauso zu verbergen sucht wie die als Erzähler, hat er sich in Tatuaje schon in seiner
Rolle als Protagonist herausgebildet, klar definiert und menschlich in seinen Vorlieben
und Widersprüchen. Er hat sich in einen normalen traditionellen Privatdetektiv
verwandelt, der auch gleichzeitig personaler Erzähler ist, was den Autor von jedweder
ethischen Verantwortung befreit und ihm ermöglicht, Parodie und Distanz zu vereinen.
Ob Carvalho nun Ausführender oder Opfer der Intrige am Hofe Kennedys ist, bleibt am
Ende offen.
Y le hubiera clarificado su papel de verdugo y víctima? (Kennedy, 162)
[...]de que he elegido ser un verdugo y no una víctima. Tan elementales
debieran ser los títulos en tarjetas de visita; Víctima, verdugo. Nada más.
(Kennedy, 147)
Carvalho führt ein Schattendasein, er ist ein fiktives Produkt der Vorstellungskraft in
einer fiktiven Welt der Mythologien.
Zusammenfassung
Yo maté a Kennedy unterscheidet sich sowohl inhaltlich als auch formal deutlich von den
übrigen Romanen der Serie Carvalho. Keinesfalls ist es ein Detektivroman, sondern ein
moderner Kriminalroman.
Formal stehen die Romane in der Weiterentwicklung der Tradition der hard boiled novel
und der amerikanischen Detektivromane. Dabei stehen die Kritik an der Gesellschaft
des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie in Spanien und die Suche nach der
Identität des Landes zu dieser Zeit im Mittelpunkt der Handlung. Dies alles trifft auf Yo
maté a Kennedy nicht zu.
Der Protagonist Pepe Carvalho bildet die Gemeinsamkeit in den Romanen. Doch auch
er unterscheidet sich in seinen Wesenszügen deutlich. Seine Entwicklung von Yo maté a
Kennedy zu Tatuaje ist immens. Eine solch große Differenz zwischen einem alten und
dem weiterentwickelten Carvalho findet sich bei keinen anderen Carvalho-Romanen.
Da sich also der Roman in so vielen Dingen deutlich von den restlichen 18 bisher
erschienenen unterscheidet, darf man Yo maté a Kennedy nicht in die Serie Carvalho
einreihen, sondern diese mit Tatuaje beginnen lassen.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
Vázquez Montalbán, Manuel: Yo maté a Kennedy: Impresiones, observaciones y
memorias de un guardaespaldas Barcelona (Editorial Planeta) 91993.
Vázquez Montalbán, Manuel: El escriba sentado. (O reflexiones de un escritor
intervencionista en una sociedad literaria fanáticamente abstencionista). In: Revista
de Occidente, 98-99. Jg. 1989, S. 13-28.
Sekundärliteratur
Colmeiro, José F.: La narrativa policíca posmodernista de Manuel Vázquez
Montalbán. In: Anales de la Literatura Española Contemporánea, 14. Jg. (1989), H.
1-3, S. 11-32.
Compitello, Malcolm A.: De la metanovela a la novela: Manuel Vázquez Montalbán
y los límites de la vanguardia espanola contemporánea. Aus: Burgos, Fernando
(Hrsg.): Prosa hispánica de vanguardia: Tratados de crítica literaria. Madrid
(Técnicas Gráficas) 1986. S. 191-200.
Costa, Luis F.: La nueva novela negra espanola: Pepe Cavalho In: Monographic
Review Revista Monográfica, 3. Jg. (1987), H. 1-2, S. 298-305.
Cottam, John: Understanding the Creation of Pepe Carvalho Aus: Rix, Rob
(Hrsg.): Leeds Papers on Thrillers in the Transition "Novela Negra" and Political
Change in Spain Leeds (Juma Printing and Publishing) 1992. (=Leeds Iberian
Papers) S. 123-136.
Juárez, Antonio: Manuel Vázquez Montalbán In: Kritisches Lexikon zur
fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. 30.Nlg.
Puvogel, Sandra J.: The Detective Fiction of Manuel Vázquez Montalbán. Michigan
(UMI) 1986.
Puvogel, Sandra J.: Pepe Carvalho and Spain In: Monographic Review / Revista
Monográfica, 3. Jg. (1987), H. 1-2, S. 261-267.
Schuh, Franz: Der Leibwächter als Attentäter. In: Profil, Jg. 1989, H. 31, S. 71-72.
Stenzel, Hartmut: Manuel Vázquez Montalbán: Die Kriminalromane - Pepe
Carvalho auf der Suche nach der Identität des postfranquistischen Spanien. Aus:
Ingenschay, Dieter (Hrsg.): Aufbrüche: die Literatur Spaniens seit 1975. Berlin (Ed.
Tranvía) 1993, S. 175-184.