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Ein Jahrhundert Wirbelsäulenchirurgie

Date post: 20-Aug-2016
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S230 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 Wirbelsäulenchirurgie vor dem 19. Jahrhundert Die Wirbelsäulenchirurgie begann nicht erst vor 100 Jahren, wie der Titel vermu- ten lassen könnte. Ihr ältestes Zeugnis ist im Papyrus Smith (um 1150 v. Chr.) (Abb. 1) zu lesen. Anschauliche Bilddar- stellungen hinterließ bereits Apollonius von Kitium (1. Jh. v. Chr.) (Abb. 2). Paulus von Aeginata (7. Jh.) hat die Exstirpati- on des auf das Rückenmark drückenden Bruchstücks empfohlen. Ambroise Paré (1510–1590) und Scultetus (1595–1645) haben die Extension geübt. Wirbelsäulenchirurgie vom 19. bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts Noch bis zum Ende des 19 Jh. versperrte die Wundinfektion der operativen Chi- rurgie den Weg zur Wirbelsäule,bis 1891 B. E. Hadra (1842–1903) erstmals eine C6/7-Luxation mit einer Zuggurtung stabilisierte [3]. Immer stand die Wirbelsäulenver- letzung unter dem Odium, zugleich eine Rückenmarkverletzung zu sein. Als Wendepunkt ist die 1896 erschienene Veröffentlichung von Theodor Kocher (1841–1917) (Abb. 3) „Die Verletzungen der Wirbelsäule zugleich als Beitrag zur Physiologie des menschlichen Rücken- marks“ [7] zu sehen (Abb. 4).Von insge- samt 245 Seiten entfallen indessen nur 65 auf die Verletzungen ohne, 180 auf solche mit Rückenmarkbeteiligung. Ers- tere wurden als „relativ seltene Läsio- nen“ beschrieben. Immerhin erkannte Kocher schon die „Zerquetschung der Zwischenwirbelscheiben“, die Bandver- letzungen sowie als Begleitverletzung die Sternumfraktur. Als Behandlung standen nur die einfache Lagerung, die Rauchfuß-Schwebe (Karl R. Rauchfuß 1835–1915) und die Glisson-Schlinge (Francis G. Glisson 1597–1677: „artificia- lis corporis suspensio“ 1650) zur Verfü- gung. 2 Jahre später (1898) veröffentlich- ten W.Wagner (Königshütte) und P. Stol- per (Breslau) ihr Buch „Die Verletzungen der Wirbelsäule und des Rückenmarks[17], fußend auf den Behandlungsergeb- nissen bei über 70.000 Verletzten des Oberschlesischen Knappschaftsvereins. Diesem Buch wird wegen der erstmali- gen Abbildung von Röntgenaufnahmen stets eine besondere Bedeutung zuge- messen; hierzu äußerten sich die Auto- ren aber nur auf 3 Druckseiten unter An- erkennung der 1895 gemachten „bedeut- samen Entdeckung“ und ihres „auf die Diagnostik der Erkrankungen der Kno- chen überaus fördernden Einfluss“ noch sehr zurückhaltend. Das ist bei einer Ex- positionszeit an der Brust- und Lenden- wirbelsäule von 12 min verständlich. 1910 waren in Heinrich Helferichs (1851–1945) (Abb. 5) Atlas [5] schon sehr gut brauchbare Röntgenbilder zu sehen. Noch aber beherrschten die am autopti- schen Präparat gewonnenen Zustands- Trauma Berufskrankh 2000 · 2 [Suppl 2]: S230–S235 © Springer-Verlag 2000 Wirbelsäulenverletzungen Jürgen Probst Murnau/Staffelsee Ein Jahrhundert Wirbelsäulenchirurgie Prof. Dr. J. Probst Alter Mühlhabinger Weg 3, 82418 Murnau/Staffelsee, Deutschland (Tel.: 08841-49888, Fax: 08841-99414) Zusammenfassung In diesem Artikel wird ein kurzer Überblick über die Geschichte der Wirbelsäulenchirur- gie vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in un- sere Zeit gegeben. Schlüsselwörter Wirbelsäulenverletzungen · Wirbelsäulen- chirurgie · Geschichte
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Page 1: Ein Jahrhundert Wirbelsäulenchirurgie

S230 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

Wirbelsäulenchirurgie vor dem 19. Jahrhundert

Die Wirbelsäulenchirurgie begann nichterst vor 100 Jahren, wie der Titel vermu-ten lassen könnte. Ihr ältestes Zeugnis istim Papyrus Smith (um 1150 v. Chr.)(Abb. 1) zu lesen.Anschauliche Bilddar-stellungen hinterließ bereits Apolloniusvon Kitium (1. Jh.v.Chr.) (Abb.2).Paulusvon Aeginata (7. Jh.) hat die Exstirpati-on des auf das Rückenmark drückendenBruchstücks empfohlen. Ambroise Paré(1510–1590) und Scultetus (1595–1645)haben die Extension geübt.

Wirbelsäulenchirurgie vom 19. bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts

Noch bis zum Ende des 19 Jh. versperrtedie Wundinfektion der operativen Chi-rurgie den Weg zur Wirbelsäule, bis 1891B. E. Hadra (1842–1903) erstmals eineC6/7-Luxation mit einer Zuggurtungstabilisierte [3].

Immer stand die Wirbelsäulenver-letzung unter dem Odium, zugleich eineRückenmarkverletzung zu sein. AlsWendepunkt ist die 1896 erschieneneVeröffentlichung von Theodor Kocher(1841–1917) (Abb. 3) „Die Verletzungender Wirbelsäule zugleich als Beitrag zurPhysiologie des menschlichen Rücken-marks“ [7] zu sehen (Abb. 4).Von insge-samt 245 Seiten entfallen indessen nur65 auf die Verletzungen ohne, 180 aufsolche mit Rückenmarkbeteiligung. Ers-tere wurden als „relativ seltene Läsio-nen“ beschrieben. Immerhin erkannte

Kocher schon die „Zerquetschung derZwischenwirbelscheiben“, die Bandver-letzungen sowie als Begleitverletzungdie Sternumfraktur. Als Behandlungstanden nur die einfache Lagerung, dieRauchfuß-Schwebe (Karl R. Rauchfuß1835–1915) und die Glisson-Schlinge(Francis G. Glisson 1597–1677:„artificia-lis corporis suspensio“ 1650) zur Verfü-gung.

2 Jahre später (1898) veröffentlich-ten W.Wagner (Königshütte) und P.Stol-per (Breslau) ihr Buch „Die Verletzungender Wirbelsäule und des Rückenmarks“[17], fußend auf den Behandlungsergeb-nissen bei über 70.000 Verletzten desOberschlesischen Knappschaftsvereins.Diesem Buch wird wegen der erstmali-gen Abbildung von Röntgenaufnahmenstets eine besondere Bedeutung zuge-messen; hierzu äußerten sich die Auto-ren aber nur auf 3 Druckseiten unter An-erkennung der 1895 gemachten „bedeut-samen Entdeckung“ und ihres „auf dieDiagnostik der Erkrankungen der Kno-chen überaus fördernden Einfluss“ nochsehr zurückhaltend. Das ist bei einer Ex-positionszeit an der Brust- und Lenden-wirbelsäule von 12 min verständlich.

1910 waren in Heinrich Helferichs(1851–1945) (Abb. 5) Atlas [5] schon sehrgut brauchbare Röntgenbilder zu sehen.Noch aber beherrschten die am autopti-schen Präparat gewonnenen Zustands-

Trauma Berufskrankh2000 · 2 [Suppl 2]: S230–S235 © Springer-Verlag 2000 Wirbelsäulenverletzungen

Jürgen ProbstMurnau/Staffelsee

Ein Jahrhundert Wirbelsäulenchirurgie

Prof. Dr. J. ProbstAlter Mühlhabinger Weg 3,82418 Murnau/Staffelsee, Deutschland(Tel.: 08841-49888, Fax: 08841-99414)

Zusammenfassung

In diesem Artikel wird ein kurzer Überblicküber die Geschichte der Wirbelsäulenchirur-gie vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in un-sere Zeit gegeben.

Schlüsselwörter

Wirbelsäulenverletzungen · Wirbelsäulen-chirurgie · Geschichte

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bilder die Illustration (Abb. 6). In derTherapie hatten Einrichtung und Exten-sion sowie einfache Lagerung ihren fest-en Platz gefunden; es gab aber noch kei-ne Krankengymnastik.

Ebenfalls 1910 erschien der II. Band(2. Aufl.) vom „Handbuch der Unfaller-krankungen“ [16] von Carl Thiem(1850–1917), der neben einer exaktenKlinik und einigen, wie bei Helferich [5]

J. Probst

A hundred years of spinal surgery

Abstract

This article gives a brief review of the historyof spinal surgery from the end of the nine-teenth century up to our own time.

Keywords

Spinal cord injuries · Spinal surgery · History

Abb. 1 b Papyrus Edwin Smith um 1150v. Chr.

Abb. 2 b Appolloniusvon Kitium, 1. Jh. n. Chr.„Einrichtung der Wir-bel, die geschieht durchdie Ferse des Arztesund durch die Winden.“Bibliotheca Laurentia-na Florenz. Zit. n. [12a]

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aber nur im a.-p.-Strahlengang gefertig-ten,qualitativ nun schon sehr guten Rönt-genbildern bereits eine ausgefeilte Begut-achtung sowohl von Zusammenhängenals auch in Bewertungsfragen enthielt.

1930 veröffentlichte Walter Hau-mann „Die Wirbelbrüche und ihre En-dergebnisse“ [4]. Dieser Publikation lie-gen 789 Patienten mit 893 Wirbelverlet-zungen zugrunde. Es handelt sich umdie Analyse der später „funktionelle Be-handlung“ genannten Therapie, die am

Klinikum Bergmannsheil von Carl Löb-ker (1854–1912) begonnen und von Ge-org Magnus (1883–1942) (Abb. 7) ausge-arbeitet worden war; sie ist später nach-drücklich auch von Heinrich Bürkle dela Camp (1895–1974) (Abb. 8) vertretenworden [2, 9–12]. Diese Behandlung ver-zichtete auf die Reposition; ihr Prinzipwaren die Flachlagerung mit Kissenun-terstützung der Bruchstelle sowie diekrankengymnastische Behandlung abdem Unfalltag. Das bis zu dieser Zeitstark propagierte und weit verbreiteteStützkorsett wurde als schädlich erkanntund konsequent abgelehnt. Bemerkens-wert ist, dass eine Systematik der Wir-belbruchformen aufgrund der Röntgen-befunde noch fehlte und auch keine de-finierten Kenntnisse der Ausheilungs-vorgänge vorlagen.

Gegenspieler dieses Verfahrens miteiner scheinbar stärkeren chirurgischenAktivität war Lorenz Böhler (1885–1973)(Abb. 9) in Wien, der die Aufrichtung imventralen oder dorsalen Durchhang,verbunden mit Längszug, zur Lösungvon Verhakungen und Verrenkungenübte und das Behandlungsergebnis imGipsmieder zu sichern suchte, zugleichaber eine unmittelbar einsetzende Be-wegungsbehandlung des sofort aufste-henden Patienten verordnete [1]. Dielückenlose Dokumentation der Ergeb-nisse hat viel zur Fortentwicklung derTherapie beigetragen, insbesondere

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Wirbelsäulenverletzungen

Abb. 3 m Theodor Kocher 1841–1917Abb. 5 m Heinrich Helferich 1851–1945

Abb. 4 b Einleitung zu Kochers Arbeitüber die Verletzungen der Wirbelsäule(1896), unmittelbar vor dem Beginn derRöntgenära veröffentlicht [7]

Abb. 6 m Kolorierte Lithographie aus Helferichs„Atlas und Grundriß der traumatischen Fraktu-ren und Luxationen“, Tabelle 19 [5]. Beschrei-bung der Wirbelsäulenverletzung eines 30-jährigen Dachdeckers, „welcher am 28. Mai1894 von einem etwa 60 Fuss hohen Dach her-abstürzte... Motorische Lähmung fehlte, aberAnästhesie an den Oberschenkeln hinten, anDamm, Genitalien und Gesäß. Vom 2. Tage anIncontinentia urinae et alvi“. Dekubitus, Erysi-pel. Tod am 14.11.1894. „Die Abbildung zeigtden doppelten Kompressionsbruch naturge-treu; der 5. Brustwirbelkörper ist mit seiner vor-deren Kante in den 6. hineingepresst; Wirbelka-nal hier intakt. Der 1. Lendenwirbelkörper istnach allen Richtungen förmlich auseinanderge-quetscht; hierdurch ist auch der Wirbelkanalsehr verengert (in sagittaler Richtung hat derKanal hier nur 4 mm Durchmesser) und hier istdie Cauda equina und ihre Umhüllung beteiligt.“

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aber auch das Interesse an dieser Verlet-zung sehr gefördert.

1930 waren die Wirbelsäulenverlet-zungen erstmals Gegenstand eines vonVictor Schmieden (1874–1945) (Abb. 10)gehaltenen Hauptreferats auf dem Deut-schen Chirurgenkongress [14].Eine Um-frage hatte ergeben, dass unter operati-ver Behandlung v. a. die Laminektomiezu verstehen war, die bei den Frakturen10%, bei den Luxationen 14% ausmach-te. Sie zeigte bei Nukleusvorfällen gegendas Rückenmark Erfolge. Eine verhält-nismäßig viel größere Rolle spielten dieEingriffe bei Schuss- und Stichverlet-zungen (35%), Spondylitis tuberculosa

(11%), Osteomyelitis (88%) und Tumo-ren (64%). Angesichts der hohen Sterb-lichkeit der traumatisch Querschnitt-gelähmten forderte Schmieden [14] dieEntlastung des Rückenmarks; den diag-nostischen Weg dorthin sah er in derMyelographie. Bei Frakturen ohne Läh-mungen empfahl er die 1911 von AdolfHenle (1864–1936) und Fred HoudlettAlbee (1876–1945) inaugurierte Verstei-fungsoperation mittels paraspinöserSpanarthrodese an Dornfortsätzen undWirbelbögen. Haumann [4] und anderelehnten diese zur selben Zeit jedochschon als wirkungslos ab.

Die Pathologie der Wirbelsäule warbis zu dieser Zeit nicht systematisch er-

arbeitet worden. Seit 1925 hatte sich Ge-org Schmorl (1861–1932) (Abb. 11) in sei-nen letzten Lebensjahren diesem Themagewidmet; er untersuchte eigenhändigrund 10.000 Wirbelsäulen und erkannte,dass nicht einmal die normale Anatomieder Wirbelsäule sichere Feststellungenvorzuweisen hatte. Aus den vielen Er-gebnissen seiner Arbeit seien nur dieEntdeckung des Schmorl-Knötchens,die

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Abb. 7 m Georg Magnus 1883–1942

Abb. 8 m Heinrich Bürkle de la Camp1895–1974

Abb. 9 m Lorenz Böhler 1885–1973

Abb. 10 m Victor Schmieden 1874–1945

Abb. 11 m Georg Schmorl 1861–1932. Gemäldeim Besitz des Instituts für Pathologie des Städ-tischen Klinikums Dresden-Friedrichstadt, des-sen Chefarzt, Herr Prof. Dr. J. Justus, die Aufnah-me freundlicherweise zur Verfügung stellte

Abb. 12 m Herbert Junghanns 1902–1986

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Aufklärung der Pathologie der Band-scheibe und der von ihm geprägte Be-griff des „Bewegungssegments“ heraus-gehoben. Schmorls Werk wurde vonHerbert Junghanns (1902–1986) (Abb.12) fortgeführt; dieser hat später in sei-nem Institut für Wirbelsäulenforschungeine Vielzahl von Fragen, auch zur ope-rativen Behandlung, der Beantwortungnäher gebracht [15].

1941 veröffentlichte Alfons Lob(1900–1977) (Abb. 13) aufgrund eigenerpathologisch-anatomischer, experimen-teller, röntgenologischer und klinischerUntersuchungen in 1. Auflage, 1954 in 2.Auflage, sein Buch „Die Wirbelsäulen-verletzungen und ihre Ausheilung“ [8].Er erarbeitete erstmals eine klinisch undpathologisch-anatomisch begründeteKlassifikation, die auch prognostischanwendbar war; freilich war sie auf diefunktionelle Therapie ausgerichtet:

1. Kontusionen und Distorsionen2. isolierte Bandscheibenverletzungen3. isolierte Wirbelkörperbrüche4. Wirbelbrüche mit Bandscheibenverlet-

zung5. voll ausgebildete Wirbelsäulenverlet-

zung- Wirbelkörperbruch mit Bandscheiben-,

Bogen-, Querfortsatz-, Bänderverlet-zung

- Verrenkungsbruch (Luxationsfraktur)6. Wirbelverrenkung (Luxation)7. isolierter Bogen- oder Fortsatzbruch

Lob [8] hat aber auch selbst operativ ein-gegriffen, z. B. führte er die extraspon-dyläre Okzipitalspondylodese bei Atlas-und Densluxationen durch (Abb. 14); ichhabe ihm noch bei solchen Operationenassistiert. Dass er die Ausheilungsvor-gänge an den Gelenkfortsätzen und den

Längs- und kleinen Bändern erkannte,hat wesentlich zur Vermehrung unsererKenntnisse beigetragen. Mit seinen pa-thologisch-anatomischen Untersuchun-gen hat er die Darstellung der Frakturenin der Transversalebene, welche uns erstin den 80er Jahren durch das Compu-

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Wirbelsäulenverletzungen

Abb. 13 m Alfons Lob 1900–1977

Abb. 14 m Legende des Autors [8]: „18 Jahre, Sturz beim Eislauf. Transdentale Luxation des Atlas nachKienböck mit Abbruch des Dens epistrophei (Pfeil), der sich fast vollständig resorbiert hat, jedenfallsauf den Spezialaufnahmen nicht mehr nachweisbar war. Trotz langdauernder Ruhigstellung in einemGipsverband und in einer Lederkrawatte immer wieder Schmerzen. – Derselbe Fall. 7 Monate p.o. DerKnochenspan, der in einer Rille am Os occipitale eingepflanzt und in den gespaltenen Dornfortsatzdes Epistropheus eingezwängt wurde, ist eingeheilt (Pfeile). Die Patientin ist 4 Jahre nach dem Ein-griff vollständig schmerzfrei. Die Beweglichkeit des Halses ist gut.“

Abb. 15 m 21 Monate alte, voll ausgebildete Wirbelsäulenverletzung. Aus: Lob [8], Abb. 45 e, d, ausder Legende: Bruch des 1. LWK mit türflügelartigem Einbruch der Deckplatte. Der Sägeschnitt desPräparats (links) zeigt „den tiefen Vorfall der oberen Bandscheibe, insbesondere des Gallertkernes,in den stark verschmälerten 1. LWK und die dadurch bedingte scheinbare Verbreiterung der Band-scheibe. Weiter erkennt man den Vorfall von Bandscheibengewebe aus der unteren Bandscheibedurch die Grundplatten im 1. LWK (Pfeil)... Die Sprengwirkung des Gallertkernes ist deutlich ables-bar. - Die Röntgenaufnahmen der horizontalen Schnitte des Präparates (rechts) zeigen den Rand-wulst als schalenförmige Knochenanlagerung (Pfeile). Zwischen Randwulst und Wirbelkörper deut-lich sichtbarer Aufhellungsspalt... Auf Schnitt III Einbruch der Deckplatte an Aufhellung zu erkennen(gestrichelter Pfeil).“

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tertomogramm erschlossen wurde, dieaber eine notwendige Voraussetzung deschirurgischen Eingriffs ist, vorweg ge-nommen (Abb. 15). Wir verdanken ihmdie Aufklärung der Mitwirkung der „Ex-plosion der Bandscheibe“ an der Wirbel-körperverletzung sowie der Bedeutungder Stabilität der Wirbelkörperhinter-wand und der Gelenkfortsätze für dieWiederherstellung der Tragfähigkeit. Erhat auch den Beweis geführt, dass dieAufrichtung nach Böhler [1] auf Dauerinsuffizient werden musste.

Wirbelsäulenchirurgie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts

Erst im letzten Drittel dieses Jahrhun-derts wurde an der Wirbelsäule nach-vollzogen, was an den Gliedmaßen imZug der Entwicklung der Osteosynthe-sen schon erreicht war, die Form alsGrundlage der Funktion wiederherzu-stellen und die langdauernde äußere Ru-higstellung als Heilungsvoraussetzungdurch geliehene innere Stabilität zu er-setzen. Auch dieser Weg war mühsam,oft umwegig und mitunter falsch. Vonder Doppelplattenosteosynthese überdie Weis-Federn und Harrington-Stäbe,Fixateurs externes und internes zur ven-tralen Plattenfixation mit Spanimplan-tation, die Korporektomie, die Daniaux-Plastik bis zur anfangs des 10. Dezenni-ums erreichten mikrochirurgischentransthorakalen Spondyloosteosynthe-se war es ein folgerichtiger, durch neuebildgebende Verfahren frei gemachter

Weg. Die von mir 1994 angeregte Bil-dung der „Arbeitsgemeinschaft Wirbel-säule“ der Deutschen Gesellschaft fürUnfallchirurgie ist heute das kommuni-kative Forum, das den zeitnahen Ver-gleich der von einzelnen eingebrachtenBehandlungsergebnisse gestattet. 1997haben Kinzl et al. [6] den gegenwärtigenStand in der Jubiläumsschrift der Deut-schen Gesellschaft für Unfallchirurgie(1997) beschrieben.

Wie weit wir trotz alledem noch vonder Endgültigkeit entfernt sind, lehrt derBlick auf die von Benno Kummer(*1924) (pers.Mitteilung) erforschte Bio-mechanik, der wir neuerdings die Er-kenntnis verdanken, dass die 2 Jahr-zehnte lang geradezu geheiligte 3-Säu-len-Theorie doch nicht zutrifft.

Am Anfang meines eigenen Wegsdurch die Chirurgie stand eine entwick-lungsgeschichtliche Untersuchung überpränatale Deformationen an der Wir-belkörperendplatte, bedingt durch feh-lerhafte Rückbildung der Chorda dorsa-lis (Abb. 16) [13]. Ich erlebte die funktio-nelle Behandlung in ihrer höchsten Voll-endung und hatte noch teil an ihrer ope-rativen Fortsetzung. Am Ende erfülltsich doch der vor 200 Jahren (1799) vonJohn Bell (1763–1820) gesprochene Satz„The cutting into a fractured vertebra isa dream.“ (zitiert nach Magnus [9]).

Literatur1. Böhler L (1954) Die Technik der Knochen-

bruchbehandlung, 12. und 13. Aufl. Mau-drich,Wien München Bern

2. Bürkle de la Camp H (1961) Die Unfall-chirurgie der Wirbelsäule. Hefte Unfall-heilkd 66:112–121

3. Hadra BE (1891) Wiring of the spinousprocesses in Pott’s disease. Trans Am Or-thop Assoc 4:206–211, zitiert nach Wagner u.Stolper [17]

4. Haumann W (1930) Die Wirbelbrüche undihre Endergebnisse. Enke, Stuttgart

5. Helferich H (1910) Atlas und Grundriß dertraumatischen Frakturen und Luxationen,8. Aufl. Lehmann, München

6. Kinzl L, Arand M, Hartwig E (1997) Wirbel-säulenverletzungen. In: Oestern HJ, Probst J(Hrsg) Unfallchirurgie in Deutschland.Springer, Berlin Heidelberg New York, S 511–522

7. Kocher T (1896) Die Verletzungen derWirbelsäule zugleich als Beitrag zur Physi-ologie des menschlichen Rückenmarks.Mitteilungen aus den Grenzgebieten derMedizin und Chirurgie, Bd I. Fischer, Jena

8. Lob A (1941, 1954) Die Wirbelsäulenverlet-zungen und ihre Ausheilung, 1. Aufl.Thieme, Leipzig / 2. Aufl.Thieme, Stuttgart New York

9. Magnus G (1931) Die Behandlung und Begutachtung des Wirbelbruches. Arch Orthop Unfallchir 29:277

10. Magnus G (1931) Trauma und Wirbelsäule.Hefte Unfallheilkd 31

11. Magnus G (1934) In: König F, Magnus G (Hrsg)Handbuch der Unfallheilkunde, Bd 4. Enke,Stuttgart

12. Magnus G (1938) Zur Behandlung derWirbelbrüche. Arch Klin Chir 191:547

12a. Memmert M, Memmert G (1999) Die Wirbel-säule in der Anschauung. Springer, BerlinHeidelberg New York

13. Probst J (1952) Anatomisch-histologischeUntersuchungen über röntgenologischnachweisbare Defekte (Spaltbildungen)fetaler Wirbelkörper im Zusammenhangmit Entwicklungsstörungen der Chordadorsalis, unter besonderer Berücksichti-gung der Gewebskorrelationen. Morph Jb92:469–499

14. Schmieden V (1930) Die operative Chirurgieder Wirbelsäule. Arch Klin Chir 162:388–477

15. Schmorl G, Junghanns H (1968) Die gesundeund die kranke Wirbelsäule in Röntgen-bild und Klinik, 5. Aufl.Thieme, Stuttgart NewYork

16. Thiem C (1909) Handbuch der Unfall-erkrankungen, Bd 2, 2. Aufl. Enke, Stuttgart

17. Wagner W, Stolper P (1898) Die Verletzungender Wirbelsäule und des Rückenmarks.Deutsche Chirurgie 40. Enke, Stuttgart

18. Westendorf W (Hrsg) (1966) Papyrus EdwinSmith. Ein medizinisches Lehrbuch ausdem alten Aegypten. Huber, Bern Stuttgart

Abb. 16 b Aus: Probst [13], Frontal-schnitt des 2. LWK, Fetus 154 mm SSL.Der Chordastrang (Ch.-Str.) wird an derOssifikationsgrenze durch übermäßigeDifferenzierung von Knorpelzellen ab-gedrosselt, die Austrittsöffnung für dieChordazellen dadurch verlegt


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