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Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

Date post: 29-Jun-2015
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Werkzeuge des Friedens und der Gerechtigkeit Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden Koordination „Gerechtigkeit und Frieden“ der mitteleuropäischen Franziskanerprovinzen (Hrsg.)
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Page 1: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

Werkzeuge des Friedens und der Gerechtigkeit

Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

Koordination „Gerechtigkeit und Frieden“ der mitteleuropäischen Franziskanerprovinzen (Hrsg.)

Page 2: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

Impressum

Herausgeber

Koordination „Gerechtigkeit und Frieden“

der Mitteleuropäischen Franziskanerprovinzen

Gestaltung: kippconcept, Bonn

Druck: Leppelt, Bonn

Bestelladresse

Bruder Jürgen Neitzert ofm

Gemeinschaft der Franziskaner

Burgstraße 61

D-51103 Köln

email: [email protected]

Inhalt gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier.

Page 3: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

Ein Wort zu Beginn … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Die Entstehung des Handbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Die franziskanische Sicht der Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der SchöpfungFranziskanische Präsenz in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17Mindersein, Option für die Armen und unsere Arbeit für den Frieden . . . . . . . . . . . . . . . 25GFBS in Evangelisierung und Ordensausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29Kontemplation, unsere Arbeit für GFBS und die Vereinigung mit Gott . . . . . . . . . . . . . . 35Gerechtigkeit und Frieden in der Ratio Formationis Franciscanae . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Themen von besonderem InteresseOption für die Armen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55Frieden stiften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69Bewahrung der Schöpfung / Gerechtigkeit für die Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Individuelle und kollektive Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107Frauen und die Charismen von Franziskus und Klara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121Ökumenischer, interreligiöser und interkultureller Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Anregungen für die PraxisDie Bewegung für Gerechtigkeit und Frieden im Kontext der nachkonziliaren Entwicklung des Ordens: Kapitel und Ordensräte . . . . . . . . . . . . . . 147Strukturen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung im Orden . . . . . . 153Interfranziskanische Zusammenarbeit für GFBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161Soziale Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung im Kontext einzelner Apostolate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

AnhangOption für die Armen – Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfungin den Generalkapiteln und Ordensräten zwischen 1971–1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197Biblische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213Franziskanische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215Kirchliche Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217Option für die Armen – Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in den Generalkonstitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221Eine Textauswahl zu GFBS in der Ratio Formationis Franciscanae . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225Charakteristika der franziskanischen Arbeit für GFBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233Gebete aus verschiedenen Glaubenstraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Koordination „Gerechtigkeit und Frieden“ (MEFRA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

■ Inhalt

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Page 4: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

Wir möchten den folgenden Brüdern, Ordensleuten und Laien danken, die bei der Vorbereitung dieses Handbuches mitgeholfen haben. Besonders möchten wir John Quigley OFMund Vicente Felipe OFM danken, die dieses Projekt begonnen und fertiggestellt haben.

Louis B. Antl (U.S.A.), Jose Arregui (Spanien), Yusuf Bagh (Pakistan), Claudio Baratto (Jerusalem), Pierre Beguin (Frankreich), Gilles Bourdeau (Kanada), Louis Brennan (Irland), Margaret Carney (U.S.A.),Rodrigo de Castro Amédée Péret (Brasilien), Roberto Cranchi (Italien), Vicente Felipe (Spanien), Rose Fernando (Sri Lanka), Fernando Figueredo (Kolumbien), Charles Finnegan (U.S.A.), Carmelo Galdos(Bolivien), Javier Garrido (Spanien), Oswald Gill (Irland), Philippa Hitchen (England), Ken Himes (U.S.A.),Pat Hudson (Irland), Thaddeus Jones (Italien), Eloi Leclerc (Frankreich), Bernardino Leers (Brasilien), Julie Lonneman (U.S.A.), Pat McCloskey (U.S.A.), Hugh McKenna (Irland), Francis Mathews (U.S.A.), David Moczulski (U.S.A.), Joe Nangle (U.S.A.), Dan Neylon (Australien), Gearóid Francisco O’Conaire (Mittelamerika), François Pacquette (Kanada), Daniela Persia (Italien), John Quigley (Kanada), Prasad Reddy(Indien), Alain Richard (Frankreich), Joseph G. Rozansky (U.S.A.), Hermann Schalück (Deutschland), Ruben Tierrablanca (Mexiko), Job Toda (Japan), Fernando Uribe (Kolumbien), Angel Valdez (Mexiko), Theo van den Broek (Indonesien), Ambrose Van Si (Vietnam), Robert Vitillo (U.S.A.), Boze Vuleta (Kroatien),Justus Wirth (U.S.A.), und Philippe Yates (Grossbritannien).

Die Koordination „Gerechtigkeit und Frieden“ der mitteleuropäischen Franziskanerprovinzen dankt für ihren Einsatz ganz herzlich folgenden Freunden unserer Arbeit, ohne deren Mithilfe diese Veröffentlichungnicht möglich gewesen wäre.Georg Scheuermann und Schwester Catharine Lüthi

für die deutsche ÜbersetzungLuise Schatz, kippconcept GmbH Bonn,

für die graphische Gestaltung und Umsetzung dieses BuchesUwe Esperester, Hötzel RFS und Partner, Stadtlohn

für die Gestaltung des Umschlages und der Kapiteldeckblätter

Die Grafiken erstellte Julie Lonneman, Cincinatti (USA)

Page 5: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

Ein Wort zu Beginn …

„ ... Die Brüder aber, die hinausziehen, können in zweifacher Weise unter ihnen geistlich wandeln. Eine Art besteht darin, dass sie weder Zank noch Streit beginnen, sondern ‚um Gottes Willen jeder menschlichen Kreatur‘ (1 Petr 2,13) untertan sind und bekennen, dass sie Christen sind. Die andere Art ist die, dass sie, wenn sie sehen, dass es dem Herrn gefällt, das Wort Gottes verkünden ...“

(NbReg 16,5-7)

Es ist grundlegend für unser Leben als Mindere Brüder „im Geist des Gebetes und der Hingabeund in brüderlicher Gemeinschaft ein von der Wurzel her evangelisches Leben zu führen, Buße und Mindersein zu bezeugen, in der Liebe zu allen Menschen die Botschaft des Evangeliumsin die ganze Welt zu tragen und durch ihr Tun von Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit zu künden“ (Generalkonstitutionen 1, 2).

Die Grundlage unseres Lebens in brüderlicher Gemeinschaft gründet in der Verkündigung unseresHerrn Jesus Christus. Wir haben die Sendung, Christus durch unser Leben einer Welt bekannt zu machen, die weiterhin durch Gewalt, Krieg, Ausgrenzung und Zerstörung der Umwelt gekenn-zeichnet ist. Unser Gründer, der hl. Franziskus, der „Heilige der Inkarnation“ gab seinen Brüdernund seinen Zeitgenossen ein Beispiel ohnegleichen, wie ein Bote des Evangeliums in Wort und Tatsein sollte, durch seinen Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Harmonie mit der Schöpfung.Wir können keine Boten des Evangeliums sein, wenn wir nicht für Bekehrung offen sind und versöhnt mit uns selbst, mit unseren Brüdern und mit der ganzen Schöpfung, die unserer Sorgeanvertraut ist (vgl. Gen 2,15), leben. Ebenso müssen wir mit Gott durch Christus, unseren Bruder und Herrn, versöhnt sein.

„Geistlich unter ihnen wandeln“, „Zank oder Streit vermeiden“, „jeder menschlichen Kreaturuntertan sein“ und bekennen, dass Jesus der Christus ist, bedeutet, mit anderen Worten ausge-drückt, Boten und Förderer des Lebens zu sein, das wir alle als Geschenk empfangen haben, dasjedoch vielfachen Bedrohungen ausgesetzt ist. Die modernen Massenmedien wie Presse, Radiound Fernsehen machen uns jeden Tag anschaulich, wie Menschen und die gesamte Schöpfung

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Page 6: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

„im Schatten des Todes“ (Lk 1,79) leben, und wie wir es deshalb nötig haben, dass uns „das aufstrahlende Licht aus der Höhe“ (Lk 1,78) besucht. Zwischen der Zerstörung der Umwelt undder wachsenden Verarmung vieler Menschen auf der Welt besteht ein enger Zusammenhang. Der Strom der Flüchtlinge, die zum einen um ihr Leben fürchten oder zum anderen auf der Suchenach einer ausreichenden Existenzsicherung sind, versiegt nicht, sondern wächst im Gegenteilbeständig. Die Suche nach sofortiger Befriedigung subjektiver Bedürfnisse achtet nicht auf dieSehnsucht vieler, zukünftigen Generationen eine bessere Welt zu hinterlassen. Es ist schwierig, dieZügel und globalen Vernetzungen eines bedrohten Lebens durch ein Handeln zu kontrollieren,dessen leitendes Prinzip die ständig voranschreitende Entwicklung um jeden Preis ist.Daher sind wir Minderbrüder umso mehr aufgerufen, durch unsere Verwurzelung im Evangeli-um, unsere brüderliche Gemeinschaft und unser einfaches Leben in versöhnter VerschiedenheitZeugnis zu geben für eine befreite Existenz in Christus und für Christus.

Dieses Ziel möchte das vorliegende Buch unterstützen. Dieses Buch ist in der Tat kein „Hand-buch“ im strengen Sinn des Wortes. Es will eine Quelle, eine Hilfe für die Brüder darstellen:mit seinen Artikeln über unsere franziskanische Spiritualität, durch unsere Option für dieArmen, die Ermutigung für unser Gebet und unsere Meditation, den gemeinsamen Dialogüber Werte und Fundamente unserer franziskanischen Berufung, menschgewordenes Handelnin konkreten Situationen im Licht von „Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung“. Es ist die Antwort auf die Aufforderung des Internationalen Rates für GFBS, vorgetragen auf seiner Versammlung 1995 in Seoul, den Brüdern zu helfen, sich der Tatsache bewusst zuwerden, dass unser franziskanischer Einsatz in diesem Bereich ein integraler Teil unserer Spiritualität ist.

Das Generaldefinitorium hat nach dem Studium des Handbuches für GFBS zugestimmt, dieses allen Brüdern, vor allem den Provinz- wie Konferenzkoordinatoren für GFBS, zur Ver-fügung zu stellen. Das Buch mit seinen Artikeln und Beispielen wird denen nicht genügen, die einen tieferen Gedankengang und eine verhaltenere Sprache erwarten. Ein positiver Neben-effekt wäre es, wenn es sie anspornen könnte, die Themen selbst zu vertiefen. Wir haben in wiederholten Arbeitsgängen versucht, Fehler zu korrigieren. Trotzdem wird es vorkommen,dass die Leser Ungenauigkeiten und Fehler entdecken werden. Wir bitten um Nachsicht. Wir behaupten nicht, vollkommen zu sein. Das Buch beabsichtigt, konkretes Handeln fürGFBS zu begleiten.Die Grundlage unseres Seins in der Welt ist Kontemplation, das innere Zuhören, die stille Auf-merksamkeit für die Zeichen der Zeit, die Erfahrung der Gegenwart und des Handelns Gottes.In-der-Welt-zu-sein bedeutet unterwegs zu sein, mit tiefer Verehrung und Ehrfurcht Leben,Schöpfung und Menschen, willkommen zu heißen, weil die Gegenwart Gottes alles umgibtund durchdringt. Wir hoffen, dass dieses Buch eine Ermutigung für alle Brüder werden möge,dies zu leben.

Ich schließe mit dem Dank an all die, die in der Planung und Erarbeitung dieses Handbuchesmitgearbeitet haben. Alle haben beispielhaft gearbeitet. Stellvertretend für alle nenne ich John Quigley OFM, Vicente Felipe OFM und Francisco O’Conaire OFM, meinen Mitarbeiterim Büro GFBS. Allen, die mitgearbeitet haben, möge Gott reichlich vergelten und sie segnen!

Rom, 25. März 1999Peter Schorr OFM

Generaldefinitor und Direktor für GFBS

■ Ein Wort zu Beginn …

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Page 7: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

Die Entstehung des Handbuches

Das Büro für Gerechtigkeit, Frieden und Bewah-rung der Schöpfung an der Generalkurie und derinternationale Rat für Gerechtigkeit, Frieden undBewahrung der Schöpfung, bestehend aus den 15 Koordinatoren der Ordenskonferenzen und denProvinzdelegierten für GFBS, haben die wichtigeAufgabe, die Brüder zu motivieren und anzuregen,sich diese evangelischen und franziskanischen Wertezu eigen zu machen. Sie sollen Teil eines brüderli-chen und friedfertigen Lebensstils werden, der sichkonkreten und befreienden Engagements verpflich-tet weiß.

Auf seiner Sitzung in Seoul im August 1995 hat sich der internationale Rat für GFBS des Ordensmit der Frage beschäftigte, wie ein echter Dienst der Animation in diesem Bereich angeboten werdenkönnte. Es wurde beschlossen, dem Generaldefini-torium die Erstellung eines Handbuches zu GFBSvorzuschlagen. Auf seiner Sitzung vom Dezember1995 genehmigte das Generaldefinitorium diesenVorschlag und betraute das Büro für GFBS an derGeneralkurie mit der Koordination dieses Projektes.

Ziel

Das Handbuch ist kein Kommentar zu den Kapiteln IV und V der Generalkonstitutionen,obwohl es sich davon inspirieren ließ und sogar eine Hilfe sein kann, sie tiefer zu verstehen und bes-ser zu beobachten. Vielmehr ist es bemüht, Materia-

lien und Quellen bereit zu stellen, die Provinz-delegierten und Kommissionen helfen können, inder Arbeit für GFBS voranzuschreiten. Darüberhinaus möchte es denen von Nutzen sein, die mitder Ordensausbildung betraut sind. Es will auchden Gemeinschaften vor Ort Anregungen für ihreTreffen der ständigen Fortbildung geben und denBrüdern in ihrem pastoralen Dienst Hilfestellunganbieten.

Da es sich hier um ein Arbeitsinstrument handelt,dachten wir zu keiner Zeit an eine vollständigeBehandlung dieser Themen. Wir sind uns der Grenzen dieses Handbuches voll bewusst. Zumeinen ist es in den Themen von Teil II fast unmög-lich, einen Standpunkt einzubringen, der für alleTeile der Welt Gültigkeit hat. Die Fragen am Endeeines jeden Themas können vielleicht als Hilfe die-nen, eine Diskussion über die örtlichen Gegeben-heiten in Gang zu bringen. Die Tatsache, dass zahl-reiche Brüder aus verschiedenen Teilen der Welt am Handbuch mitgearbeitet haben, könnte ande-rerseits bewirken, dass es einen Mangel an Einheitaufweist und Wiederholungen beinhaltet. Wenn die Themen im zweiten Teil ausführlicher entfaltetworden wären, wäre das Buch noch viel umfang-reicher geworden. Doch im Großen und Ganzenglauben wir, dass das zusammengetragene Materialhilfreich ist und dem angestrebten Ziel dient.

Form und Inhalt

Das Handbuch hat vier Teile. Im ersten Teil stellenwir die franziskanische Sicht der Arbeit für Gerech-tigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung vor, als theoretische Grundlage für das ganze Buch.Dabei beziehen wir uns auf unsere Spiritualität, wie sie in den franziskanischen Quellen, in dengegenwärtigen Generalkonstitutionen und in den Dokumenten der Kirche dargelegt ist. FürFranziskaner ist das Engagement für Gerechtigkeit,Frieden und Bewahrung der Schöpfung ein Erbe,das uns vom heiligen Franziskus überliefert ist; es ist Teil unserer Identität als Mindere Brüder undgehört zu unserer Sendung, das Evangelium zu verkünden. Daher sollte es zum Inhalt der Ordens-ausbildung und der ständigen Fortbildung gehören.

■ Die Entstehung des Handbuches

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Page 8: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

Der zweite Teil besteht aus sieben spezifischen The-men, die uns am passendsten und von besondererBedeutung für unser Charisma erscheinen. DieseThemen haben nur eine kurze theoretische Ein-führung, weil wir keine erschöpfende Darlegung zujedem Thema geben wollten; vielmehr würden wirwünschen, dass diese Themen Fragen aufwerfenund Nachdenken wie Handeln anregen sollten.Diese kurze Einführung wird ergänzt durch Erfah-rungsberichte und Zeugnisse von Brüdern aus aller Welt. Sie helfen uns sehen, dass die Ideale, dieunsere Generalkonstitutionen uns vorlegen, keineundurchführbaren Utopien sind. Diese Zeugnisseverweisen uns auf vielfältige Möglichkeiten zumHandeln, entsprechend den lokalen Gegebenheiten.Jedes Thema endet mit Fragen, die zum Überlegenanregen sollen, sei dies persönlich oder in Gruppen.

Wir möchten auch Folgendes in Erinnerung rufen:Als dieses Handbuch geplant wurde, gab es denVorschlag, dass jede Konferenz eine Bibliographiezu den einzelnen Themen zusammenstellen könnte.Diese sollte ein vertieftes Studium der einzelnenThemen erleichtern und wäre zudem den kulturel-len Gegebenheiten und den Bedürfnissen jeder ein-zelnen Konferenz besser angepasst.

Der dritte Teil mit dem Titel „ANREGUNGEN FÜR

DIE PRAXIS“ hat mehrere Kapitel, die die Geschichteder Bewegung für GFBS innerhalb des Ordens inden letzten 25 Jahren nachzeichnen: vom Interna-tionalen Rat für GFBS; wie die Provinzen und Kon-ferenzen auf dem Gebiet von Gerechtigkeit undFrieden organisiert sind; von der interfranziskani-schen Zusammenarbeit im Bereich GFBS; von derArbeit für GFBS im alltäglichen Leben und in denverschiedenen Diensten: Pfarrpastoral, neue Medi-en, Bildung und Erziehung, missionarischer Dienst,Ordensausbildung und ständige Fortbildung.Der vierte Teil gibt einige Ergänzungen und einenAnhang mit den Texten von den Generalkapitelnoder den Ordensräten des Ordens, Texten aus denGeneralkonstitutionen, der Heiligen Schrift, denfranziskanischen Quellen, der kirchlichen Sozialleh-re und der RATIO FORMATIONIS. Dazu gibt es imAnhang Gebete und Adressen von internationalenOrganisationen, mit denen wir Kontakt aufnehmenkönnen.

Büro für GFBS, Rom

■ Die Entstehung des Handbuches

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Page 9: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

Abkürzungen

1. Die biblischen Bücher

Amos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . AmApostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apg

Baruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bar

1 Chronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Chr2 Chronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Chr

Daniel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DanDeuteronomium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dtn

Epheser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EphEsra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EsraEsther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EstExodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ExEzechiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ez

Galater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . GalGenesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gen

Habakuk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . HabHaggai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . HagHebräer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . HebrHohelied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . HldHosea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hos

Ijob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ijob

Jakobus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . JakJeremia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jer

Jesaja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . JesJesus Sirach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . SirJoël . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . JoëlJohannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh1 Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Joh2 Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Joh3 Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 JohJona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . JonaJosua . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . JosJudas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jud

Klagelieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . KlglKohelet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . KohKolosser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kol1 Könige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Kön2 Könige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kön1 Korinther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Kor2 Korinther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kor

Levitikus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LevLukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lk

1 Makkabäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Makk2 Makkabäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 MakkMaleachi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . MalMarkus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . MkMatthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . MtMicha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mi

Nahum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . NahNehemia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . NehNumeri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Num

Obadja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ObdOffenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offb

1 Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Petr2 Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 PetrPhilemon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . PhlmPhilipper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . PhilPsalmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ps

Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . RiRömer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . RömRuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rut

Sacharja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sach1 Samuel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Sam2 Samuel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 SamSprichwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spr

■ Abkürzungen

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Page 10: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

1 Thessalonicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Thess2 Thessalonicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Thess1 Timotheus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Tim2 Timotheus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 TimTitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . TitTobit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tob

Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish

Zefanja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zef

2. Kirchliche Dokumente

CA Enzyklika Centesiumus annusCP Apostolisches Schreiben

Communio et progressioDH Erklärung Dignitatis humanaeDM Enzyklika Dives in misericordiaEN Apostolisches Schreiben

Evangelii nuntiandiES Enzyklika Ecclesiam suamGS Pastoralkonstitution

Gaudium et spesLC Erklärung Libertatis conscientia

(Christliche Gewissensfreiheit)LE Enzyklika Laborem exercensMM Enzyklika Mater et MagistraOA Apostolisches Schreiben

Octogesima adveniensTMA Apostolisches Schreiben Tertio

Millennio AdvenientePP Enzyklika Populorum ProgressioPT Enzyklika Pacem in terrisQA Enzyklika Quadragesimo annoRH Enzyklika Redemptor hominisRM Enzyklika Redemptoris missioRN Enzyklika Rerum novarumSRS Enzyklika Sollicitudo rei socialisVS Enzyklika Veritatis splendor

■ Abkürzungen

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Page 11: Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden

3. Schriften des Hl. Franz

Auff Aufforderung zum Lobe Gottes

BrAnt Brief an den heiligen AntoniusBrKler Brief an die KlerikerBrKust I Brief an die Kustoden IBrKust II Brief an die Kustoden IIBrGl I Brief an die Gläubigen IBrGl II Brief an die Gläubigen IIBrLenk Brief an die Lenker der VölkerBrLeo Brief an Bruder LeoBrMin Brief an einen MinisterBrOrd Brief an den gesamten Orden

ErklVat Erklärung zum VaterunserErm Ermahnungen

GebKr Gebet vor dem Kreuzbild vonSan Damiano

GrMar Gruss an die selige Jungfrau MariaGrTug Gruss an die Tugenden

LebKlara Lebensform für die heilige Klara

MahnKlara Mahnung für die Schwestern der heiligen Klara

Off Offizium vom Leiden des Herrn

PreisHor Preisgebet zu allen Horen

BReg Bullierte RegelNbReg Nicht bullierte RegelRegEins Regel für Einsiedeleien

SegLeo Segen für Bruder LeoSegBern Segen für Bruder BernhardSonn Sonnengesang

Test TestamentTestSien Testament von Siena

VermKlara Vermächtnis für die heilige KlaraVollFreud Die wahre und vollkommene Freude

4. Frühe franziskanische Quellen

1 Cel Thomas von Celano: Erste Lebensbeschreibung

des hl. Franziskus 2 Cel Thomas von Celano:

Zweite Lebensbeschreibung des hl. Franziskus

3 Cel Thomas von Celano: Leben und Wunder des

heiligen Franziskus von AssisiAnonPer Anonymus PerusinusCSD Betrachtungen über die WundmaleFior FiorettiLegMai Grosse Lebensbeschreibung

des heiligen Franziskus von BonaventuraLegmin Kleine Lebensbeschreibung

des heiligen Franziskus von BonaventuraLegPer Legenda PerusinaDreiGef DreigefährtenlegendeSC Sacrum CommerciumSP Spiegel der Vollkommenheit

■ Abkürzungen

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5. Andere häufige Abkürzungen

GG.CC. GeneralkonstitutionenCFF Konferenz der franziskanischen FamilieFI Franciscans InternationalICJPIC Internationaler Rat

für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung

GFBS Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung

OFM Orden der Minderen BrüderNGO Nicht-Regierungs-OrganisationRFF Ratio Formationis FranciscanaeMedellin E Medellin: ErziehungsdokumentCFI-TOR Internationale

franziskanische Konferenz des Regulierten Dritten Ordens

TOR Regulierter Dritter Orden

■ Abkürzungen

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KONKRETES ENGAGEMENT

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Die franziskanische Sicht der Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung

Dieser erste Teil will eine Grundlage für die franziskanische Sicht der Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung legen. Er bildet den theoretischen Rahmen für das ganze Buch auf der Basis unserer Spiritualität. Er gründet auf den franziskanischen Quellen und schließt ebenso die gegenwärtige Realität mit ein, wie sie in den Generalkonstitutionen, der RFF und dem Lehramt der Kirche zum Ausdruck kommt.

1. Franziskanische Präsenz in der Welt

2. Mindersein, Option für die Armen und unsere Arbeit für den Frieden

3. GFBS in Evangelisierung und Ordensausbildung

4. Kontemplation, unsere Arbeit für GFBS und die Vereinigung mit Gott

5. Gerechtigkeit und Frieden in der RATIO FORMATIONIS FRANCISCANAE

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Franziskanische Präsenz in der Welt

Ein neuer Mensch

Unter den vielen Heiligen, welche die Geschichtedes Christentums schmücken, ist Franziskus vonAssisi einer von jenen, die noch heute größte Anzie-hungskraft ausüben und denen größte Zustimmungbegegnet. Sein Einfluss geht über das Christentumhinaus. Er gehört allen. Er erscheint wie „eine früherblühte Blumenknospe“, die eine Menschlichkeitahnen lässt, die in jedem von uns aufblühen möchte. „Er schien wirklich ein neuer Mensch zusein und aus einer anderen Welt zu stammen“,schrieb sein erster Biograph, Thomas von Celano (1 Cel 82).

So ist es nicht verwunderlich, dass sich in unserergegenwärtigen Orientierungslosigkeit viele an ihnwenden, um das Geheimnis jener Weisheit zu erfra-gen, die er neu zum Aufblühen bringen könnte. Siewar durch eine neue Qualität der Präsenz in derWelt gekennzeichnet. Denn die kostbarste Gabe,die Franziskus der Welt schenkte, ist diese neue Artder Präsenz. Eine Präsenz, die zutiefst menschlichund zugleich evangelisch und kosmisch ist. EinePräsenz, welche die Gabe besitzt „alle Feindseligkeitinnerhalb der Schöpfung in eine geschwisterlicheSpannung umzuwandeln“ (Paul Ricoeur). „Zweifel-los gab es nie zuvor einen Menschen, der auf voll-kommenere Weise jedem (Geschöpf ) jene totalePräsenz und jene vollständige Selbsthingabe ange-boten hätte, die nichts anderes sind als Ausdruckder Präsenz und des Geschenkes, die Gott als Gabeseiner selbst jeden Augenblick allen Wesen zukom-

men lässt“ (L. Lavelle, Quattre Saints, Paris 1951,88).Was war also das Geheimnis des Franziskus vonAssisi? Wie öffnete er sich für jene Präsenz in derWelt, in der alle menschlichen Konflikte ihren Wegzum Frieden zu finden scheinen?

Eine grundlegende Botschaft

Die Frage ist für uns lebenswichtig. Unsere industri-elle Zivilisation befindet sich in einer Sackgasse.Wir sind zu Recht stolz auf unseren wissenschaftli-chen und technologischen Fortschritt. Er hat uns zu„Herren und Besitzern der Natur“ gemacht, wieDescartes sich das wünschte. Aber heute merkenwir, dass der Preis, der dafür zu bezahlen ist, hochist, sehr hoch. Einerseits ist unsere Umwelt unddamit unsere Lebensqualität durch die wachsendeHerrschaft des Menschen und der menschlichenTechnologie über die Natur bedroht. Andererseitsschafft eine immer ausgeprägtere technologischeAusbeutung der natürlichen Lebensgrundlagenunter dem alleinigen Gesetz des Profits großemenschliche Probleme auf dem Gebiet der Arbeits-losigkeit und sozialer Gerechtigkeit. Situationen der Ausgrenzung mehren sich in der menschlichenGesellschaft und bedrohen zutiefst den Frieden.Bisher haben die Männer und Frauen, die unsereindustrialisierte Gesellschaft hervorgebracht hat,nur an das Besitzen gedacht. Nun müssen sie imBemühen um Gerechtigkeit und Frieden lernen,geschwisterlich mit der Natur, d.h. ihnen gleich-wertig, umzugehen. In diesem Punkt hat Franzis-kus, der universale Bruder, uns allen etwas Grundlegendes zu sagen.

Um seine Botschaft richtig zu hören, müssen wirein bestimmtes Bild des Armen von Assisi hinteruns lassen. Wir haben ihn zu einer Art Märchen-prinzen der Schöpfung gemacht. Märchenhaft vielleicht, aber unerhört oberflächlich. Der wirk-liche Franziskus ist von ganz anderer Statur undInspiration. Er war einer der kühnsten Erneuerer inder gesamten Geschichte der Christenheit. In seinerTreue zum Evangelium brach er mit dem politisch-religiösen System seiner Zeit – einem System, indem die Kirche oft ein feudaler Oberherr war,einem System heiliger Kriege und Kreuzzüge. Er

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weigerte sich auch, einen Pakt zu schließen mit demneuen Götzen der bürgerlichen Gesellschaft, demGeld. Seine brüderliche Haltung gegenüber dengeringeren Geschöpfen war von Sentimentalitätweit entfernt; sie war inspiriert von einem klarenund tiefen Verständnis für die Schöpfung.

Der Ausgangspunkt: Seine Begegnung mit Christus

Am Beginn der neuen Präsenz in der Welt, die derArme von Assisi eingeleitet hat, liegt eine geistlicheErfahrung, die mit der Bekehrung des jungen Bernardone beginnt. Wenn wir seine Inspirationverstehen wollen, müssen wir ihn zur Mitte dieserErfahrung begleiten.

Franziskus wurde nicht als „universaler Bruder“geboren. Er entwickelte sich dazu. Um den Preiseiner tiefen Bekehrung. Als Heranwachsender undals junger Mann war er nicht der Mann des Frie-dens, den wir bewundern. Gewiss stellen ihn seineersten Biographen als liebenswürdigen, höflichen

Menschen dar, der andern gegenüber offen war.Doch unter diesem verführerischen Äußeren lagenverborgene Abgründe von Gewalt und Ehrgeiz,zusammen mit einem Wunsch nach Erobern undBeherrschen.

Als Sohn eines reichen Kaufmanns gehörte Franzis-kus einer aufstrebenden Klasse an, die gewinnsüch-tig und machthungrig war. In den mittelalterlichenGemeinden, die sich vom Joch der Feudalherr-schaft befreit hatten, beabsichtigte die reiche Mittel-klasse, angeführt von den Kaufleuten, ihre eigenenInteressen zu verfolgen und Macht auszuüben.Unter dem Zwang dieser sozialen Kräfte hegte derjunge Franziskus ebenfalls große Ambitionen. Erliebte es, zu prahlen, wie die Sonne zu scheinen,sich über andere zu erheben und sich von der jun-gen sozialen Elite Assisis zu ihrem König ausrufenzu lassen.

Seine Ambitionen wuchsen mit ihm. Er wolltenicht im Geschäft seines Vaters bleiben und eingewöhnlicher Textilkaufmann sein. Er hatte großeTräume. Er wollte hoch hinaus. Er wollte ein Ritteroder gar ein Prinz werden! Als er schlief und vomLaden seines Vaters träumte, sah er diesen in einenPalast verwandelt, dessen Räume vom Glanz ver-schiedenster Waffen strahlten. Und alle diese Waffen glänzten für ihn. Für ihn und seine Ritter.In seinen jugendlichen Träumen sah er sich selberals Eroberer der Welt.

Der junge Franziskus war fasziniert vom Ruhm.Und Ruhm wurde zu jener Zeit im Krieg erworben.Genau zu dieser Zeit ergab sich für ihn eine solcheMöglichkeit: gerade eben war ein Krieg zwischenAssisi und Perugia ausgebrochen, den beiden rivali-sierenden Nachbarstädten. Franziskus schloss sichder Bürgermiliz von Assisi an.Er nahm an der Schlacht von Ponte San Giovanniteil. Doch der Kampf entschied sich zugunsten von Perugia. Franziskus kam in Gefangenschaft. Erverbrachte ein Jahr im feindlichen Gefängnis. Undals er nach Assisi zurückkehrte, war seine Gesund-heit angeschlagen. Er wurde krank.

Diese Krankheit, die lange dauerte und ihn zuUntätigkeit und Einsamkeit verurteilte, wurde zueinem Wendepunkt in seinem Leben. Franziskusüberdachte sein Leben genau. Er spürte die Leere

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seiner Jugendjahre. Er wurde sich ihrer Leicht-fertigkeit bewusst.Als er wieder gesund geworden war, ließ er sichjedoch von seinen kriegerischen Ambitionen wiedereinholen und zusammen mit einem jungen Adligenvon Assisi beschloss er, mit den päpstlichen Truppengegen die kaiserliche Armee in Süditalien zu kämp-fen. Doch der Plan währte nicht lange. Kaum war erin Spoleto angekommen, vernahm er eine innereStimme, die ihn aufforderte, nach Assisi zurückzu-kehren. Franziskus gehorchte. Von jetzt an würdeseine einzige Sorge darin bestehen, zu entdecken,was Gott von ihm wollte.

Er zog sich freiwillig in die Einsamkeit der kleinen,verlassenen Kirchen in der Umgebung Assisiszurück. Vor allem nach San Damiano. Dort beteteer stundenlang in der Betrachtung des byzantini-schen Kreuzes. Dieser gekreuzigte Christus, der sol-chen Frieden ausstrahlte, brachte ihm die lebendigeund überwältigende Offenbarung der Liebe Gottesfür die Menschen. Und Franziskus ließ sich voll-ständig von der Tiefe und dem Glanz dieser Liebeergreifen. Durch die Menschlichkeit Christi undseine völlige Lebenshingabe entdeckte Franziskusdie mitfühlende Art, mit der Gott die Menschensieht. Und so sah auch er sie verändert. Seine Welthatte sich dem menschlichen Elend geöffnet.

In seinem TESTAMENT erzählt Franziskus selbst vonder grundlegenden Umwandlung, die er erfuhr: „Sohat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben,das Leben der Buße zu beginnen: denn als ich inSünden war, kam es mir sehr bitter vor, Aussätzigezu sehen. Und der Herr selbst hat mich unter siegeführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwie-sen. Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das,was mir bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele unddes Leibes verwandelt“ (Test 1-3).

Eine neue Qualität der Beziehung

Verweilen wir einen Augenblick bei dieser Wand-lung. Alles wuchs aus ihr heraus. Franziskus zögertenicht, seine Bekehrung als eine neue Offenheitgegenüber den Menschen und der Welt zu bezeich-nen. Sein Universum war aufgebrochen. Er wagte esnun, Männer und Frauen aufzusuchen, die er früher

gemieden hätte, Menschen, die er nicht hatte sehenwollen und die er aus seiner Welt ausgeschlossenhatte.

Es war nicht einfach ein Fall eines erweitertenBekanntenkreises. Auch die Art, wie er seine Bezie-hungen pflegte, hatte sich verändert. Von nun ansollten diese nicht mehr von Ehrgeiz, vom Wunschnach Prestige und Eroberung veranlasst sein. Siekamen aus einer anderen Quelle. Franziskus hattedie Barmherzigkeit entdeckt, mit der Gott auf dieMenschen schaute. Und dieser barmherzige Blickstellte seine Welt auf den Kopf; seinen Wunsch nachEroberung und Beherrschung veränderte Franziskusin eine Haltung des Mitfühlens und des Mitseins(der Communio). Seine Welt öffnete sich für dieÄrmsten. Früher hatte er gelegentlich den ArmenAlmosen gegeben. Aber das geschah aus der Höheseiner Position als reiches, junges Mitglied der sozia-len Mittelklasse. Die Armen waren nicht Teil seinervergoldeten Welt gewesen.

Jetzt war eine Mauer gefallen. Franziskus sah dieWelt anders. Er entdeckte sie im Licht der über-großen Liebe, die sich ihm gezeigt hatte: der SohnGottes hatte sich seiner Herrlichkeit entäußert, um einer von uns zu werden, der Bruder aller, auchder Ausgegrenzten. Der Himmel hatte seinen Stolzverloren. Eine überwältigende Sicht, die in Franzis-kus eine neue Anwesenheit in der Welt wachrief. Er wollte sich nicht mehr über andere erheben, übersie herrschen, sondern er wollte mit ihnen sein,geschwisterlich sein. Er wollte nicht mehr die Welterobern, sondern alle Wesen willkommen heißenund mit ihnen in Kontakt treten. So wollte er in derNachfolge Christi der Bruder aller werden, beson-ders der Geringsten und Ärmsten.Diese neue Präsenz in der Welt sollte dem ganzenLeben des Franziskus Inspiration und Orientierungsein. Im Augenblick aber machte sie ihn aufmerk-sam und bereit, das willkommen zu heißen, wasGott von ihm wollte.

Eines Tages, als er in der Kapelle Unserer LiebenFrau von den Engeln in Portiunkula der Messe beiwohnte, hörte er den Text aus dem Evangelium,in dem der Meister seine Jünger zu ihrer Missionaussendet: „Nehmt weder Gold noch Silber mit …Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt: ‚Friede die-sem Haus‘ …“ Das war der Moment der Erleuch-

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tung im Herzen des Franziskus. Er hatte seine Beru-fung, seine Sendung erkannt (1 Cel 22). Wie dieJünger sah er sich selbst als gesandt, den messiani-schen Frieden zu verkünden. Er würde zu den Menschen gehen „ohne Gold oder Silber oderGeld“, ohne irgendein Zeichen von Macht oderReichtum, einzig mit der Sendung, den Frieden zuverkünden. „Der Herr hat mir geoffenbart“, schrieber in seinem Testament, „dass wir als Gruß sagensollten: ‚Der Herr gebe dir den Frieden‘“. Er tratnicht als Eroberer auf, sondern als Freund, als Manndes Friedens. Und wo immer er hinging, bewirkte er „eine Umwandlung aller Feindschaft innerhalbder Einheit der Schöpfung in eine geschwisterlicheSpannung “. Er wollte ein Erbauer des Friedenssein, einer, der Gemeinschaft (Communio) zwi-schen den Wesen schafft, indem er mit allen „ingroßer Demut“ verkehrt.

Botschafter des Friedens

Nachdem er sich von heiligen Kriegen und der Feu-dalherrschaft der Kirche abgewandt hatte, begannFranziskus umherzureisen und alle mit seinemGruß zu grüßen „Friede und Heil“ (Pace e Bene). Erlud Männer und Frauen ein, sich zu versöhnen undals Geschwister zu leben. Vor der ganzen Stadt, diesich auf dem Hauptplatz in Bologna versammelthatte, stellte Franziskus in den Mittelpunkt seinerRede die Pflicht, den Hass auszulöschen und einenneuen Friedensvertrag zu schließen. In Arezzo verjagte er die Dämonen der Zwietracht. Und als in seiner eigenen Stadt Assisi ein Konflikt zwischendem Bischof und dem Bürgermeister ausbrach, ruh-te er nicht, bis er die beiden Männer miteinanderversöhnt hatte.

„Jenen, die das Leben des Franziskus von Assisi,auch nur oberflächlich, charakterisieren wollen“,schrieb P. Lippert, „scheint es schon von Anfang anrichtig, es als ein Leben der Liebe im heiligsten undstärksten Sinn zu sehen.“ Tatsächlich war es abernicht einfach die Liebe eines Menschen für seines-gleichen, sondern die Liebe Gottes für die Men-schen, die von Franziskus Besitz ergriffen hatte unddie sich durch ihn in der ganzen Welt, wie die Son-ne im Frühling, als eine Gemeinschaft und Friedenschaffende Kraft ausbreitete.

Und diese Kraft war ansteckend. Bald war Franzis-kus nicht mehr allein. Zehn, dann Hunderte jungerund weniger junger Menschen schlossen sich ihman und wollten seinem Beispiel folgen. Wie zueinem Fest eilten sie zu ihm und seinem Ideal derArmut. Denn am Ende dieses Weges stand diebeglückende Erfahrung der Geschwisterlichkeit.

Urheber von Geschwisterlichkeit

Geschwisterlichkeit! Das war es, wonach sie Aus-schau hielten. Sie war das Gesicht des Friedens, denFranziskus verkündete. Eine große geschwisterlicheBewegung wuchs in seinem Gefolge. Diese Bewe-gung war die Antwort auf einen Wunsch und einetiefe Sehnsucht jener Zeit. Die Idee des Zusammen-schlusses und der Geschwisterlichkeit lag in der Luft.

War es nicht diese Idee, zusammen mit demWunsch nach Freiheit, die den Aufstand des Bür-gertums inspiriert hatte? Indem sie die Macht derFeudalherren verwarfen und ihre Städte als freieKommunen errichteten, strebten die Menschen inden Städten neue soziale Beziehungen an. Das Feu-dalregime kannte nur Beziehungen der Unterwer-fung: Männer und Frauen waren immer Untergebe-ne anderer Männer und Frauen. Die Kommune,wie der Name besagt, versprach soziale Beziehun-gen, die demokratischer, freier, geschwisterlichersein würden. Jedenfalls war es das, was sich gewöhn-liche Leute erhofften. Aber diese Hoffnung wurdebald enttäuscht.

In den freien Kommunen ersetzte die Geldherr-schaft der reichen Kaufleute die Herrschaft der Feu-dalherren. So entzündete die ursprüngliche franzis-kanische Bewegung in den Herzen der Armen vonneuem die Hoffnung auf echte Geschwisterlichkeit.Was die Kommunen nicht zu verwirklichen ver-mochten, lebten Franziskus und seine Brüder imLicht des Evangeliums.

Kleine Gemeinschaften, sowohl von Schwestern alsauch von Brüdern, vermehrten sich rasch, zuerst inItalien und dann quer durch Westeuropa. Sieerschienen wie viele Zentren des Friedens und derVersöhnung. Tatsächlich lebten die Brüder einezweifache Geschwisterlichkeit: jene untereinander

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natürlich, aber auch jene mit anderen Männern undFrauen, denen sie begegneten – und ganz besondersmit den Ärmsten, den Geringsten. Keiner vonihnen durfte ein Herrscheramt ausüben (NbReg5,9). „Niemals dürfen wir uns danach sehnen, überanderen zu stehen“, sagte Franziskus, „sondernmüssen vielmehr die Knechte und Untergebenensein …“ (BrGl II, 47). Aus verschiedenen sozialenSchichten stammend, lernten die Brüder, mitgegenseitigem Respekt vor ihren Verschiedenheitenmiteinander zu leben. Eine solche Gemeinschafthatte nichts mit Zwang zu tun. Für Franziskus warjeder Bruder ein individuelles Wesen, eine einzigar-tige Persönlichkeit. Geschwisterlichkeit konnte nurauf der Ehrfurcht vor Personen errichtet werden. Eswar immer das Willkommen eines „Du“ in eineAtmosphäre des „Wir“.

Wir können uns heute nicht vorstellen, wie revolu-tionär ein solches Projekt zu jener Zeit war. Wirmüssen uns in Erinnerung rufen, dass die Kirche alsganze eine „Herrenkirche“ war: Der Bischof an derSpitze einer Diözese und der Abt als Haupt einesKlosters waren wirkliche Feudalherren mit weltli-cher Macht, die sich gelegentlich über ganze Regionen erstreckte. In diesem Kontext waren diezahlreichen franziskanischen Gemeinschaften, dieüberall in ganz Europa entstanden, wie ein frischerWind. Sie waren eine neue Präsenz der Kirche inder Welt; eine Präsenz, die eine geschwisterlicheGemeinschaft schuf, in der die Unbedeutendstender Gesellschaft ihre Würde und ihren Platz wiederentdeckten.

Die universale Dimension der Menschheit

Aber der Blick des Franziskus blieb nicht bei derChristenheit stehen. Er sah viel weiter. Er wollte dieganze Menschheit zu einer weltweiten Gemein-schaft vereinigen. Zu jener Zeit war die Welt in zweiBlöcke geteilt: die westliche Christenheit auf dereinen Seite und der Islam auf der andern. Zwischendiesen beiden Blöcken herrschte Krieg, heiligerKrieg; es gab Kreuzzüge. Franziskus konnte dieseSpaltung nicht zulassen. Er plante, zwischen denbeiden Blöcken eine Brücke zu bauen. Die Zeit warnicht günstig für ein solches Unternehmen. Der

fünfte Kreuzzug erreichte gerade seinen Höhe-punkt. War das alles? Franziskus beschloss, zum Sultan von Ägypten zu reisen. Ein verrückterTraum. Und unglaublicherweise wurde Franziskusinmitten eines Kreuzzuges vom Sultan Al-Malik al-Kamil, dem Oberhaupt der Muslime, mit großerHöflichkeit empfangen. Die zwei Männer zeigtensich gegenseitig Respekt und Wertschätzung. Hätteman mehr erwarten können? Es war schon sehr viel.Sehr viel, aber zugleich nicht genug. Die Friedens-mission des Armen von Assisi war an ihre Grenzengestoßen.

Die Erfahrung von Grenzen und von Abgründen

Noch eine weitere Grenze sollte er zu spürenbekommen. Und diesmal innerhalb seines eigenenOrdens. Diese Grenze wird Franziskus schmerzlichund tief verwunden. Wir müssen ihm durch diesePrüfung hindurch folgen, durch die seine Gegen-wart vor Gott und den Menschen zu einer neuenTiefe gereinigt werden sollte. Daraus sollte ein neu-er Mensch geboren werden, einer der stärksten undwahrhaftigsten der menschlichen Geschichte.

Tatsächlich war es nicht genug, Geschwisterlichkeitunter allen Wesen anzustreben, um die „Einheit derSchöpfung“ zu finden. Franziskus musste lernen,diese Geschwisterlichkeit mit einem befriedetenHerzen zu ersehnen, einem Herzen, das sich durchnichts beunruhigen lässt. Kurz, mit dem Herzeneines Armen. Es war nicht genug zu lieben; er musste lernen arm zu sein, sogar in der Liebe. Das war die schwerste, aber auch die wichtigste Lernerfahrung. Der Wunsch, um jeden Preis Erfolgzu haben, ist selten mehr als Egoismus und Selbst-liebe, auch wenn dies dem Zweck dient, Menschenzusammenzubringen. Dieser Wunsch erzeugt oftnur neue Ausgrenzung. Darum schwächt er dasLeben eher als ihm zu dienen. Andererseits kannLeben hervorsprudeln, sich ausbreiten und in allerFreiheit schöpferisch sein, wo es frei ist von Selbstliebe.

In den SCHRIFTEN des Franziskus sehen wir dieBeharrlichkeit, mit der er gegen Erregung, Verärge-rung und Zorn als den Haupthindernissen der Lie-

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be in sich selbst und in anderen angeht. Er sieht sieals untrügliche Zeichen einer besitzergreifendenHaltung, einer heimlichen und oft unbewusstenAneignung (Erm 4,2; 11,2.3; 13,2; 14,3; 27,2).Man mag sich rein, großzügig, selbstlos vorkom-men. Bis zu dem Tag, an dem ein Widerspruch oderDisput aufkommt. Dann wird man aufgewühlt,verärgert und aggressiv. Die Maske fällt. Mit allenWaffen verteidigt man sein Gut, sein Territorium.Tatsächlich hat man sich dann das Gute angeeignet,das der Herr durch einen tun konnte: man hat es zuetwas Persönlichem gemacht.Wenn Franziskus sich so klar über Aufgewühltseinund Zorn äußerte, wenn er seinen Brüdern emp-fahl, den Frieden in ihren Herzen zu bewahren(Erm 15,13; 27,4; NbReg 11,4; 17,15; BReg 3,11;Sonn 10), so ist das ein sicheres Zeichen dafür, dasser selbst durch Aufgewühltsein und Zorn versuchtwar. Und das auf die heimtückischste Weise: durchseine eigene Arbeit für Frieden und Geschwister-lichkeit. Durch seine eigene Anstrengung, unter denMenschen eine wahrhaft geschwisterliche Gemein-schaft „innerhalb der Einheit der Schöpfung“ zuschaffen.Erfolg schien ihm zuzulächeln. Die Zahl der Brüdernahm ständig zu. Päpste, einer nach dem anderen,zeigten gegenüber dem entstehenden Orden beson-deres Wohlwollen. Franziskus hatte allen Grund,dem Herrn zu danken für das Gute, das er überallbewirkte durch die heiligen Brüder seines Ordens.

Aber dann verdunkelte sich der Himmel plötzlich.Es entstanden ernste Auseinandersetzungen inner-halb der Bruderschaft. Wegen der wachsenden Zahlder Brüder wurde eine straffere Organisation notwendig. Ein gewisses Vagabundenleben musstebeendet werden. Häuser und Zeiten für Ordens-ausbildung wurden notwendig. Nicht alle warenmit der neuen Richtung einverstanden. Franziskuserkannte wohl, dass fünftausend Brüder das Evange-lium nicht in gleicher Weise leben konnten wie dieersten Zwölf. Aber er sah unter einigen einfluss-reichen Brüdern auch Anzeichen des Wunsches, dieBruderschaft den etablierteren monastischen Ordenanzupassen. In den Augen des Franziskus war esjedoch vor allem notwendig, das Ideal der Einfach-heit und der evangelischen Freiheit zu erhalten, wie auch die neue Präsenz in der Welt unter demBanner der geschwisterlichen Gemeinschaft mit denGeringsten.

Dann ergriff eine tiefe Angst Franziskus. Waren siein dem Wunsch, die Bruderschaft anzupassen, nicht dabei, sie von ihrer ursprünglichen Berufungabzubringen? Er sah sein Werk gefährdet und vonLeuten übernommen, die seinen Geist nicht wirklich teilten.

Ein friedfertiger Mann

Diese moralische Krise, die noch durch Krankheitverstärkt wurde, war für Franziskus der notwendigeWeg zu einer radikalen Selbstentäußerung. „Er warinnerlich und äußerlich bedrückt, in seiner Seeleund in seinem Leib“ (LegPer 21; 1 Cel 104). Er zogsich in die Einsamkeit einer Einsiedelei zurück, umseinen Schmerz und sein Aufgewühltsein zu verber-gen. Es bestand die Gefahr, dass er sich selbst in Iso-lation und Bitterkeit verschließen würde. Dort war-tete Gott auf ihn. Franziskus war zu einer äußerstenLäuterung aufgefordert. Er musste sein Werk aufge-ben, um selbst zum Werk Gottes zu werden. Er soll-te den Orden nicht länger als seine Sache betrach-ten, sondern als die Sache Gottes. „Lass dich nichterschüttern... Ich bin der Herr.“ Franziskus hörteden Ruf. Er warf seine Sorge auf den Herrn. GottIST– das ist genug. Da wurde das Herz des Franzis-kus leicht.

Von da an konnte er sich mit einem befriedetenHerzen seiner Friedensmission hingeben. Mit strahlender Seele. Nicht die Gründung einer vor-bildlichen Gemeinschaft war jetzt wichtig, sonderndass er selbst ein geschwisterlicher Mensch war, der die Güte Gottes ausstrahlte. Jetzt konnte Fran-ziskus wirklich schreiben: „… Jene sind in Wahrheitfriedfertig, die bei allem, was sie in dieser Welt erleiden, um der Liebe unseres Herrn Jesus Christuswillen in Geist und Leib den Frieden bewahren“(Erm 15).

Einem Bruder, der für eine Gemeinschaft Verant-wortung hatte und der Franziskus unter dem Vor-wand, dass seine Mitbrüder ihm alle möglichenUnannehmlichkeiten verursachten und ihn so vonder Liebe des Herrn abhielten, um Erlaubnis bat,sich in die Einsamkeit einer Einsiedelei zurück-zuziehen, konnte Franziskus mit der Autorität ant-worten, die nur persönliche Erfahrung vermitteln

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kann: „… Alles, was dich hindert, Gott den Herrnzu lieben, und wer immer dir Schwierigkeitenmachen mag, entweder Brüder oder andere, auchwenn sie dich schlagen sollten, alles musst du fürGnade halten … Und liebe jene, die dir solchesantun. … Und darin liebe sie … Und dies soll dirmehr sein als eine Einsiedelei …“ (BrMin 2.7-8).

Die Einheit der Schöpfung

Von da an konnte nichts den friedvollen Blick desFranziskus begrenzen. Nichts konnte dem Wirkendes Geistes in ihm entgegentreten. Er war frei wieder Wind. Er schrieb einen Brief „allen, die in derganzen Welt wohnen“ und wünschte ihnen „denwahren Frieden vom Himmel“ (BrGl II, 1). Nichtszeigt das Maß seines Horizonts besser. Aber er woll-te nicht nur die Menschen im Frieden vereinen. Erwollte diesen Frieden auf die gesamte Schöpfungausdehnen und die Menschen mit der Natur ver-söhnen. Dieser Wunsch nach einer geschwisterli-chen Präsenz in der Welt findet seinen Ausdruck imSONNENGESANG oder, wie dieser auch genannt wird,im GESANG DER GESCHÖPFE.Dieser GESANG, den Franziskus im Abendlicht seines Lebens schuf, ist ein wahres geistliches Testa-ment. Er ist Ausdruck einer großen Aufwallung desLobes. Der kleine Arme lobt Gott für alle seineGeschöpfe. Dieses Lob hat die Strahlkraft der Son-ne, die milde Klarheit der Sterne, die Flügel desWindes, die Demut des Wassers, die Kraft des Feu-ers und die Geduld der Erde. Es feiert die Schönheitder Welt. Dreimal wird das Adjektiv „schön“ in die-sem Gesang wiederholt. Das kosmische Lob folgtder wahren Tradition der biblischen Gesänge undPsalmen. Es beinhaltet jedoch auch etwas Neues:den Wunsch nach geschwisterlicher Gemeinschaft.Franziskus steht mit den Geschöpfen in einemgeschwisterlichen Dialog. Er verwirft jeglichenGeist der Herrschaft und heißt alle Geschöpfe alsBrüder und Schwestern willkommen. Er sieht sie in ihrer höchsten Bestimmung. Mit ihnen erhebt er sich im Lobpreis zu Gott.

Diese geschwisterliche Gemeinschaft mit denGeschöpfen ist weder Sentimentalität noch Träume-rei. Sie widersetzt sich nicht dem Gebrauch dernatürlichen Ressourcen und ihrer sinnvollen Ver-

wendung durch Menschen. Man könnte sogarsagen, dass – gemäß dem Franziskus – materielleElemente umso geschwisterlicher sind, je mehr siefür Menschen nützlich sind. Franziskus feiert dieNützlichkeit der Geschöpfe ebenso wie ihre Schön-heit. Er begrüßt Schwester Wasser als „sehr nütz-lich“. Ähnlich Bruder Wind, dessen Atem Leben ist,oder unsere Schwester, Mutter Erde, die unsernährt, indem sie viele Arten von Früchten hervor-bringt.

Aus dieser geschwisterlichen Gemeinschaft mit denGeschöpfen spricht eine große Liebe zum Leben,die mit der des Schöpfers zu seinem Werk verwandtist und in sie einmündet. Von daher kam auch diereligiöse Ehrfurcht des Franziskus vor allem, waslebt und existiert. Seinen Brüdern, die zum Holz-hacken in den Wald gingen, empfahl er, keineWüste zu hinterlassen, sondern dem Leben dieMöglichkeit zu geben, von neuem in neuem Blät-terwerk auszuschlagen. Er verurteilte alle menschli-che Gier, welche die Erde plündert und Lebenquält. Wie oft schenkte er Tieren, die unnötiggefangen worden waren, ihre Freiheit zurück!

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Über jeden Konflikt erhaben

Jene, die mit den Geschöpfen geschwisterlich umge-hen, öffnen sich zugleich all dem, was dieseGeschöpfe darstellen. Sie akzeptieren geschwister-lich jenen dunklen Teil in sich selbst, der in derErde verwurzelt ist: mit ihrem Körper und mit allihren Lebenskräften. Franziskus verwarf nichts, sondern bezog alles in seine Hinwendung zu Gottein. Sein geistliches Leben spielte sich nicht ineinem separaten Universum ab. Er ging zu Gott mitseinen kosmischen Wurzeln, mit seiner „Schwester,Mutter Erde, die uns ernährt und lenkt.“ Alle Dualität war überwunden. Die dunklen Kräfte des Lebens waren hier verwandelt. Sie wurden zuKräften des Lichts. Sie hatten das Furchterregendeverloren. Der Wolf war gezähmt. Nicht nur derWolf, der in den Wäldern umherstreifte, sondernauch und vor allem jener, der in jedem von uns ver-borgen ist. Die Aggressivität des Lebens war umge-wandelt in die Kraft zu lieben. Diese Kraft ist es, diein „Bruder Feuer“ singt, das die Nacht erleuchtet:„es ist schön und liebenswürdig und kraftvoll undstark“ (Sonn 8).

Wer mit sich selbst im Frieden ist, kann sich mit all seinen Artgenossen verschwistern. Franziskuswollte seinem Schöpfungsloblied auch das Lob derMänner und Frauen der Versöhnung und des Friedens anfügen. Diese preist er als die krönendeHerrlichkeit des Schöpfungswerkes:

„Gepriesen seist du, mein Herr, durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen und Schwachheit ertragen und Drangsal. Selig jene, die solches ertragen in Frieden, denn von dir, Erhabenster, werden sie gekrönt.“

Der SONNENGESANG ist die Sprache eines Men-schen, der offen ist gegenüber seinem ganzen Sein,neu geboren als eine vollendete Persönlichkeit, inder die Kräfte des Lebens und des Begehrens inte-griert sind. Sie sind zu Kräften der Liebe und desLichtes geworden. Das gab dem geistlichen Lebendes Franziskus zusätzlich zu seiner Fülle eine son-nengleiche Strahlkraft.Franziskus entdeckte den leuchtenden Sinn derSchöpfung durch die innere Erfahrung eines neuenWerdens. „Er schien,“ schrieb Celano „wirklich einneuer Mensch zu sein und aus einer anderen Weltzu stammen“ (1 Cel 82). Sein SONNENGESANG

ist nicht nur eine volltönende Ehrbezeugunggegenüber dem Schöpfer, er ist auch die Feier desWerdens. Er besingt die neue Schöpfung im Herzendes geschwisterlichen Menschen. Das Geheimnisdieser göttlichen Morgendämmerung ist die Armut,die Franziskus lebte, nicht nur hinsichtlich derGüter dieser Welt, sondern noch tiefer im Herzenseiner Beziehung zu Gott. Indem er Gott Gott seinließ und sich selbst ihm ganz übergab, identifizierteer sich mit der totalen und liebenden Präsenz des Schöpfers in seinem Werk.

Eloi Leclerc OFM

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Mindersein, Option für die Armen und unsere Arbeit für den Frieden

1. Bewusstwerdung

Armut war immer schon Teil des franziskanischenCharisma. Franziskus selbst ruft häufig diese unsereBerufung mit den Worten in Erinnerung: „dass wirdie Armut und Demut und das heilige Evangeliumunseres Herrn Jesus Christus beobachten, wie wirfest versprochen haben“ (BReg 12,4). Das Verständ-nis und die Praxis des franziskanischen Lebens nach dem Evangelium haben sich jedoch mit derZeit verändert. Angefangen von der päpstlichenErklärung über die Beobachtung der Regel (QUO ELONGATI, 1230, von Gregor IX.) bis zuunseren vorkonziliaren Generalkonstitutionen, lagder Hauptakzent auf der buchstabengetreuen Erfül-lung der Regel nach einer juristisch-moralischenInterpretation. Grundsätzlich bestand Armut darin,kein Eigentum zu besitzen und nur begrenzt vonDingen Gebrauch zu machen, d.h. immer mitErlaubnis des Provinzials oder des Guardians. Esgab eine Unterscheidung zwischen Gelübde undTugend, aber beide Aspekte hatten dieselbe Sicht-weise: das Ordensleben als ein Weg der christlichenVollkommenheit innerhalb eines objektiven, institutionellen Rahmens.

Was geschah sogleich nach dem Zweiten Vatikani-schen Konzil? Anfänglich glaubten wir, es sei nichtsweiter zu tun, als einige Punkte der Regelbeobach-tung neu anzupassen. Jetzt sind wir uns bewusst,dass der Orden einen schwierigen Prozess, eine radi-kale Neugeburt oder Neuschöpfung seiner eigenenIdentität durchläuft.

So wollen wir über MINDERSEIN reden:Es genügt nicht, die Vorschriften und Anregungender Regel zu beobachten. Vielmehr geht es um dieFrage der Option für die Armen.Strenge genügt nicht. Wir müssen einen Lebensstilentwickeln, der uns in der modernen Gesellschaftzu „Minderen“ macht.Der Gebrauch von Dingen im Gehorsam gegenüberden Vorgesetzten genügt nicht. Vielmehr sind wir berufen, Gerechtigkeit zu fördern und Botendes Friedens zu sein.Es genügt nicht, nach der Vollkommenheit desArmutsgelübdes Ausschau zu halten. Wir müsseneinen Weg entdecken, die Seligpreisungen des Gottesreiches heute in einer Welt der Konflikte, derUngerechtigkeit und der Säkularisierung zu leben.

Zweifellos ist Mindersein eine geistliche Haltung,aber es ist auch eine Art, das Evangelium zu leben.Geschieht das wirklich?

2. Analyse

Es scheint, dass zwei Faktoren diese Veränderungder Sichtweise beeinflussen:

A. Neues kirchliches BewusstseinWir können von einer neuen „Verschiebung“ derevangelischen Akzente sprechen. Jede Epoche liestdas Evangelium neu; heute setzt man folgendebedeutsamen Schwerpunkte:1. Die Heilsgeschichte ist Handeln Gottes zu-

gunsten der Armen. Das Reich Gottes, die Gute Nachricht für die Verachteten. Messianische Bevorzugung und Optionen vonseiten Jesu.

2. Wenn dies Gottes Art des Handelns ist und deshalb auch die Sendung der Kirche in derNachfolge Jesu, was ist dann die Bedeutung des Ordenslebens heute? Besteht NachfolgeChristi, das Herzstück unserer Berufung – ineiner persönlichen Beziehung; in der Übernah-me der Haltungen Jesu und seiner Tugendennach Art asketischer Übungen ohne Bezug zurGeschichte? – oder sind wir berufen, den Fuß-spuren Jesu, der Dynamik des Gottesreiches in den aktuellen Situationen unserer Welt zufolgen?

■ Mindersein, Option für die Armen und unsere Arbeit für den Frieden

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3. Es gibt Anzeichen, die diese Verschiebungbestätigen:■ die Theologie des Gottesreiches als

integrale, nicht ausschließlich spirituelleBefreiung;

■ die Suche nach einem Kirchenmodell, dasmehr auf Mitbestimmung und Gleichheitberuht;

■ die Schaffung und Festigung von Basis-gemeinschaften;

■ das ständige Bemühen von Seiten derOrdensgemeinschaften um eine Präsenzunter den ärmeren Schichten und in Randgebieten („Fraternitäten“);

■ die Ausbreitung dieser sogenannten „Fraternitäten“;

■ die Teilnahme am Kampf um die Wahrungder Menschenrechte;

■ die Annahme des Prinzips der Gewaltlosig-keit als Methode für sozio-politische Veränderung.

B. Sozio-kultureller KontextSeit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nimmt dieKirche eine positive Haltung ein in Bezug auf dieWelt und ihre Hoffnungen. Seit einiger Zeit hat diemenschliche Geschichte einen Prozess der Selbst-befreiung eingeleitet, der gewisse bezeichnendeMerkmale angenommen hat:1. Jeder Mensch hat eine unveräußerliche Würde

und Rechte, die von jeder zivilen oder religiösenAutorität respektiert werden müssen. Das ersteRecht ist jenes auf Freiheit, seine eigeneGeschichte zu gestalten.

2. Gleichheit und Solidarität sind unwiderruflicheWerte menschlichen Fortschritts. Es besteht einVerdacht, dass in jeder Ungleichheit eine Unge-rechtigkeit wohnt. Eine Haltung der Teilnahmean sozialen und politischen Veränderungen.

3. Ein Gespür für Menschengruppen, welche die Freiheit nicht erlangen können: das „Prole-tariat”, Menschen aus ehemaligen Kolonien,Frauen, die Dritte Welt und andere Gruppen.

Diese weitverbreitete Bewegung, die zur westlichenModerne gehört, war anfänglich charakterisiertdurch einen überschwenglichen Optimismus, wur-de aber bald zu einer Quelle von Widersprüchen,die Konflikte auslösten. (Zum Beispiel die Konfron-tation zwischen dem liberalen Kapitalismus und

dem Sozialismus). Später hat sie eine tiefe Ernüch-terung hinsichtlich jeden Versuchs einer sozialenUtopie (Postmoderne) hervorgerufen.

Innerhalb des Ordenslebens heute stellen wir eineandere Bewertung des sozialen Engagements fest.Aber es ist sicher, dass unser Orden in den gegen-wärtigen GG.CC. viele Aspekte des modernenHumanismus integriert hat. Die Kapitel IV und Vzeigen das sehr klar. Das bedeutet, dass wir Franzis-kaner eine Abklärung des sozio-kulturellen Kontex-tes, in dem wir heute leben, vorgenommen und daraus gewisse Optionen abgeleitet haben, weil wirüberzeugt sind, dass sie dem ursprünglichen „Evan-geliums-Projekt“ der franziskanischen Bewegungentsprechen.

Tatsächlich glauben wir, dass Mindersein, insoweites einen neuen Weg nach vorn aufzeigt, wie ihn viele Brüder spüren und wie ihn die GG.CC. um-schreiben, Franziskus und seinem Projekt treu entspricht, obwohl es vielleicht „Regel und Leben“nicht buchstäblich wiedergibt.

3. Im Licht von Leben und Regel

Die Regula Bullata 3,10-14 zeigt eine Synthese der Charakteristika der franziskanischen Sendung:„Ich rate aber meinen Brüdern, warne und ermahnesie im Herrn Jesus Christus, sie sollen, wenn siedurch die Welt gehen, nicht streiten, noch sich inWortgezänk einlassen (vgl. 2 Tim 2,14), noch andere richten. Vielmehr sollen sie milde, friedfertigund bescheiden, sanftmütig und demütig sein undanständig reden mit allen, wie es sich gehört. Undsie dürfen nicht reiten, falls sie nicht durch offen-bare Not oder Schwäche gezwungen werden. Kommen sie in ein Haus, sollen sie zuerst sagen:‚Friede diesem Hause‘ (vgl. Lk 10,5). Und nachdem heiligen Evangelium soll es erlaubt sein, vonallen Speisen zu essen, die ihnen vorgesetzt werden(vgl. Lk 10,8).“

Zusammengefasst heißt das also, dass die franziska-nische Sendung in unserem Mindersein besteht,und der Text unterstreicht die großen Themen, die sich aus dieser Sendung des Minderseins ablei-ten.

■ Mindersein, Option für die Armen und unsere Arbeit für den Frieden

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3.1. Sendung und Unterwegssein. Franziskanisches Leben ist keine „Mischung“, d.h.eine Art Gleichgewicht zwischen Kontemplationund Aktion im Stil der regulierten Kleriker jenerZeit oder der späteren halb-monastischen Lebens-formen. Unser Kloster ist die ganze weite Welt derKinder Gottes, unserer Geschwister (SC 63); unserHaus ist die Brüdergemeinschaft. Folglich hat unse-re Sendung keine konkrete Funktion zu erfüllen,wie z.B. Predigt, Fürsorge, Erziehung, Werke derBarmherzigkeit im Rahmen einer gut organisiertenInstitution. Wir sollen in einem ständigen Zustanddes Gesandtseins leben. Dazu ist eine Lebensweiseohne festgelegtes Eigentum eine Hilfe.

3.2. Sendung und Eingliederung. Wir brauchen Beweglichkeit, wie Jesus, der nichtshatte, „wo er sein Haupt hinlegen“ konnte (Lk 9,58). Mindersein macht uns mit den Gering-sten der Gesellschaft solidarisch (vgl. NbReg 9). So geschah unsere Erlösung, „von innen her“, diemenschliche Situation annehmend und das Ver-lorene suchend (BrGl II, 45; Erm 6; 9; 11).

3.3. Sendung und Seligpreisungen. Die Wechselbeziehung zwischen den Evangelien-texten, die sich auf Mission beziehen, und der Berg-predigt ist nicht willkürlich. Warum hat Franziskusdas franziskanische Apostolat als ein Leben bezeich-net, das sich auf die Selig-preisungen Jesu gründet?Die Antwort ist klar: Die Brüder sind zu den Menschen gesandt, um „Mindere“ zu sein. Das istder Grund, warum das Beispiel Priorität vor demkirchlichen Amt hat – nicht als Ausschluss, sondernals bewusster Vorzug. Das Dringlichste für dasReich Gottes ist, dass es unter den Völkern Wirk-lichkeit wird, dass die Brüder Jünger Jesu werdenund ihn durch das Zeugnis ihres Lebens verkünden(BrOrd 9;Test 19; LegPer 58; 103).

3.4. Sendung des Friedens. Der ganze christliche Dienst kann im Begriff der Versöhnung zusammengefasst werden (2 Kor 5; Eph 2); aber die Option des Franziskusliegt darin, dass er diese durch gewaltloses Verhaltenverständlich machen will, das lieber Ungerechtig-keit erleidet als Spaltungen schafft und sich auf jene Liebe verlässt, die uneingeschränkt wartet und erträgt; mit andern Worten, die den FußspurenJesu folgt, der unsere Sünden trug (Erm 5; 15;

VollFreud; NbReg 16; 22,1-4; BReg 10,7-12; Test 23).

In Wirklichkeit ist dieser Prozess in der Berufungdes Franziskus untrennbar mit der Welt der Armutund des Leidens verbunden. Die Lebensbeschrei-bung seiner Gefährten stellt fest, dass sein Mitge-fühl für die Notleidenden seiner Bekehrung voraus-ging. Die entscheidenden Schritte in jener Bekeh-rung waren geprägt von einem fortschreitendenSicheinfügen in den Zustand der Unglücklichsten:der Aussätzigen und Bettler. Trotz der betont spirituellen Interpretation, welche die Biographender Vision vor dem Kruzifix von San Damianogaben, müssen wir diese ohne Zweifel in Zusam-menhang sehen mit dem Bewusstsein, das Franziskus gewonnen hatte, dem Bewusstsein derIdentifikation in der Nachfolge des armen unddemütigen Jesus, der den Lebensstil der „Minderen“geteilt hatte (DreiGef 3; 11-14; 2 Cel 8-12; Test 1-5).

Die franziskanische Bewegung war im Kontextsozialer Ausgrenzung und im Dienst an den Niedri-gen geboren worden. Das ursprüngliche Projektund Leben, nämlich die nichtbestätigte Regel, setztdas als wesensgemäße und entschiedene Option voraus (2,7; 7,1; 7,13-14; 8,8-11; 9,2; 11). TrotzNeuinterpretation einiger Anekdoten hinsichtlichder Armut, die uns Celano hinterlassen hat, ist dies offensichtlich doch die ursprüngliche Inspira-tion: die Minderen Brüder helfen den Armen nicht karitativ, sie identifizieren sich mit ihnen (2 Cel 84-85; 87; 92). Es ist klar, dass es Franziskusangesichts der Verantwortung, seinen Brüdern unddem zahlenmäßigen und kirchlichen Aufblühen der Bruderschaft zu dienen, kaum möglich war, sichseiner bevorzugten Sendung zu widmen. Aber erbeharrt doch mit Nachdruck auf dem Prinzip desMinderseins: dass die Brüder ohne die Erlaubnis desBischofs nicht predigen dürfen oder wenn es ihnenirgendein Priester verbot; dass sie niedrige Tätigkei-ten im pastoralen Dienst oder körperliche Arbeitwählen sollen. Ihre Rolle ist es nicht, irgend etwaszu besitzen, sondern „Buße zu tun“ und Mindere zu sein (BReg 9; Test 7-8; LegPer 20; 58; 2 Cel 146-147; Test 24-26).

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4. Im Licht der Generalkonstitutionen

Obwohl es fremd anmuten mag, passt die Bedeu-tung, die das Thema Mindersein in unserer gegen-wärtigen Lebensregel, den Generalkonstitutionenangenommen hat, direkter zur ursprünglichen franziskanischen Bewegung als zu einer Regel-beobachtung, bei der Mindersein auf eine Askeseder Armut reduziert ist.

Da das Thema weitläufig ist und es später unter seinen spezifischen Aspekten behandelt werdenwird, wollen wir uns hier darauf beschränken, skiz-zenhaft die Dynamik zu umschreiben, welche dieGG.CC. zur gegenwärtigen Erneuerung der franzis-kanischen Berufung zum Mindersein beitragen.1. Die Definition unseres Charismas (Art. 1,2)

behandelt Mindersein als ein gestaltendes Ele-ment in der Nachfolge Christi, das eng verbun-den ist mit Evangelisierung durch Engagementfür Frieden und Gerechtigkeit.

2. Das Gelübde der Armut wird nicht nur im juri-stisch-moralischen oder asketischen Sinn, son-dern als Teilhabe am Los der Armen verstanden(Art. 8).

3. Der Geist der Buße/Umkehr wurzelt nicht nurim inneren Sein, sondern auch im Dienst anden Geringsten der Menschen (Art. 32).

4. Unsere Nachfolge Jesu ist eine Nachfolge desMinderseins, als Jünger, welche die Selig-preisungen des Gottesreiches in der Welt leben:als Diener aller, sich unterordnend, friedlichund demütig (Art. 64). Wir wollen die Aussagein BReg 3 („sie sollen durch die Welt gehen“)beachten, die ein Leben voraussetzt, das nichtauf Klostergebäude festgelegt ist.

5. Art. 65 gibt die theologische Basis unseres Minderseins, ohne die jeder Lebensentwurf undjedes Engagement für die Armen grundsätzlichbeeinträchtigt ist.

6. Die Berufung zum Mindersein wird praktischausgestaltet, indem das Leben und die Bedin-gungen der Geringen in der Gesellschaft ange-nommen werden.

7. Diese Dynamik der „Inkarnation“ darf nichtverwechselt werden mit unkritischer Annahmevon weltlichen Werten (Art. 67).

8. Die Option für Lebensformen, die als „Präsenz“bezeichnet werden (und die nicht eigensgerechtfertigt werden müssen durch spezifischeAufgaben: vgl. Art. 83-84), gehört zur Sendungfür Frieden und Gerechtigkeit. Das erste Zei-chen franziskanischer Treue ist das Prinzip derGewaltlosigkeit (Art. 68-69). Dies setzt einHerz voraus, das auf das Evangelium ausgerich-tet ist und versöhnt mit allen Menschen undmit der Schöpfung (Art. 70-71).

So ist dies eine Dynamik des Zeugnisses und desHandelns, getragen von der gleichen Evangeliums-Erfahrung des Minderseins. Es gibt noch viele ande-re Beispiele in den Kapiteln IV und V der GG.CC.,welche die Dynamik des Minderseins ergänzen undbestätigen. Die aufgezählten mögen jedoch genü-gen, um uns die Herausforderungen bewusst zumachen, welche die gegenwärtigen Generalkonsti-tutionen für das franziskanische Leben im 21. Jahr-hundert darstellen.

Javier Garrido OFM

■ Mindersein, Option für die Armen und unsere Arbeit für den Frieden

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Gerechtigkeit, Friedenund Bewahrung der Schöpfung inEvangelisierung undOrdensausbildung

Evangelisierung und GFBS

Das Wort „Evangelisierung“ war in katholischenKreisen bis zur Publikation von EVANGELII NUNTI-ANDI nicht gebräuchlich. Dieses Schreiben hattePapst Paul VI. aus Anlass des 10. Jahrestages desAbschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils imJahr 1975 veröffentlicht. Im Jahrzehnt vor demZweiten Vatikanischen Konzil und angesichts derEntchristlichung des Westens hatten einige europä-ische Theologen, darunter Karl Barth, eine keryg-matische Theologie gefordert: eine überzeugte Ver-kündigung der Grundbotschaft der Erlösung durchden Glauben an Jesus Christus. Die Predigten vonPetrus und Paulus, wie sie in der Apostelgeschichteniedergeschrieben sind, wurden für diese Basis-Evangelisierung als Musterbeispiele verwendet.

Das Zweite Vatikanische Konzil, ein vorwiegend„pastorales“ Konzil, baute auf dieser Erfahrungeuropäischer, katholischer und protestantischerPastoraltheologen auf und betonte eine am Evange-lium orientierte Ausdrucksweise. Ein Vergleich mitdem Ersten Vatikanischen Konzil ist aufschluss-reich; dieses verwendete das Wort „Evangelium“ nurein einziges Mal und die Wörter „evangelisieren“oder „Evangelisierung“ überhaupt nicht. Demgegenüber verwendete das Zweite VatikanischeKonzil das Wort „Evangelium“ 157 mal, „evangeli-sieren“ 18 mal und „Evangelisierung“ 31 mal.

Das Konzept Paul VI. zu „Evangelisierung“ ist breiter als das der kerygmatischen Theologen, die

darunter die „erste Verkündigung“ verstanden, derdann Katechese folgte. Für Paul VI. ist Evangelisie-rung die „Gnade und … tiefste Identität der Kirche;sie IST DA, UM ZU EVANGELISIEREN, d.h. um zu predigen und zu unterweisen, Mittlerin desGeschenkes der Gnade zu sein, die Sünder mit Gottzu versöhnen, das Opfer Christi in der heiligenMesse immer gegenwärtig zu setzen“ (EN 14).

Evangelisierung verkündet „Heil“, das – und das ist sehr wichtig für unser Thema – verstanden wird als „dieses große Gottesgeschenk, das in derBEFREIUNG VON ALLEM, WAS MENSCHEN UNTER-DRÜCKT (im offiziellen lateinischen Text LIBERATIO

AB IIS OMNIBUS QUIBUS HOMO OPPRIMITUR) undbesonders in der Befreiung von der Sünde und vomBösen, in der Freude, Gott zu erkennen und vonihm erkannt zu werden, ihn zu schauen und ihmanzugehören“ (EN 9). Während alle die letzten Sät-ze dieser Beschreibung von Heil akzeptieren, sindnicht alle davon begeistert, dass Heil als „Befreiungvon allem, was Menschen unterdrückt“ gesehenwird. Trotzdem steht diese Auslegung in Einklangmit der biblischen und christlichen Tradition.

Der Exodus war, zum Beispiel, kein „rein geist-liches“ Ereignis – er war auch, und das sehr stark,ökonomische, soziale, politische und kulturelleBefreiung. Auch wenn Heil nicht damit identischist, beinhaltet es dennoch die Befreiung von ent-menschlichender Armut, die Hunderte von Millio-nen Menschen in unserer heutigen Welt bedrückt.Sehr früh in der Geschichte Israels erklärt Gott sei-nen liebenden Plan: „Denn der Herr wird dich reichsegnen in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir alsErbbesitz gibt ... Du sollst deinem notleidendenund armen Bruder, der in deinem Land lebt, deineHand öffnen“ (Dtn 15,4.11), – etwas, das nur danngeschehen kann, wenn der Reichtum, den Gottgeschaffen hat, gleichmäßig unter alle Söhne undTöchter Gottes verteilt ist.

Ähnlich schreibt Paulus an die Korinther: wasReichtum anbelangt, sollte ein gewisser Ausgleichunter euch geschehen (vgl. 2 Kor 8,13f ). Trotzdemwächst die Kluft zwischen reich und arm, und wirmüssen das als dem Plan Gottes entgegengesetztansehen. Tatsächlich bedroht diese wachsende Kluft„die Zukunft der Menschheit“ (OCTOGESIMA

ADVENIENS, 7). Da die Anzahl der hoffnungslos

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armen Menschen dramatisch ansteigt (denken wirzum Beispiel an die Millionen von Flüchtlingen),müssen wir uns daran erinnern, dass Evangelisie-rung „eine Botschaft über die Befreiung“ beinhaltet,„die in unseren Tagen besonders eindringlich ist“(EN 29). Für das Gottesreich zu arbeiten „bedeutetarbeiten zur Befreiung vom Übel in allen seinenFormen“ (Redemptoris Missio, 15). Von grundle-gender Wichtigkeit für den Dienst an GFBS ist dienachdrückliche Lehre der Bischofssynode von 1971:Tätigkeit für den Frieden und Teilnahme an derNeugestaltung der Welt erscheinen uns als unver-zichtbare Dimension der Verkündigung des Evange-liums oder, mit andern Worten, der Sendung derKirche zum Heil des Menschengeschlechtes und zuseiner Befreiung von jeder unterdrückenden Situati-on.

GerechtigkeitNeugestaltung der Welt und Befreiung von Unter-drückung – all das gehört zur Sendung der Kirche.Eine Spiritualität, die so „überweltlich“ ist, dass sie sich nicht um Gerechtigkeit, Befreiung undUmgestaltung der Welt kümmert, ist absolutungenügend und unbiblisch. In einer überraschendoffenen Aussage stellte die Bischofssynode von 1987fest: „Der Heilige Geist hilft uns, immer klarer zuverstehen, dass Heiligkeit heute nicht erreicht werden kann, ohne Engagement für Gerechtigkeit.“Sich nicht für Gerechtigkeit engagieren heisst, nichtin der Heiligkeit zu wachsen! Aus genau diesemGrund gehört die christliche Soziallehre „wesentlichzum Sendungsauftrag der Glaubensverkündigung …und (ist) ein unverzichtbarer Bestandteil der Neu-Evangelisierung“ (CENTESIMUS ANNUS, 5).

Der Kern der kirchlichen Soziallehre ist die „vor-rangige Option für die Armen“, eine Option „für welche die ganze kirchliche Tradition Zeugnisablegt“ (SOLLICITUDO REI SOCIALIS, 42). Der hl. Franziskus fiel durch sein Eintreten für dieseOption in seiner Predigt und in seinem Leben auf.In seinem TESTAMENT erklärt er, dass der Herr ihnzu den Ärmsten der Armen geführt habe – zu denAussätzigen, die er so eifrig gemieden hatte. Damalserhielt Franziskus die Gnade, das, was bitter odersüß ist, neu zu definieren – eine wunderbareBeschreibung für Bekehrung. Der gegenwärtigenpäpstlichen Lehre ähnlich, betrachtete Franziskusdie den Armen geleistete Hilfe als ein Anliegen

der Gerechtigkeit: „Das Almosen ist das Erbe und der gerechte Anteil, der den Armen zusteht,den unser Herr Jesus Christus uns erworben hat“(NbReg 9,8).

FriedenNachdem der junge Franziskus zunächst danachgestrebt hatte, ein Ritter für den Krieg zu werden,wurde er nach seiner Bekehrung der eifrigste Förde-rer des Friedens, und das zu einer Zeit, da nicht nurdie „Welt“, sondern auch die Kirche sich in dieGewalt flüchtete – z.B. in den Kreuzzügen. Diefrüheste franziskanische Bewegung war bekannt als„eine Delegation des Friedens“ (1 Cel 29). Franzis-kus behauptete, dass Gewalt die Herzen der Dämo-nen erfreute, und liess daher über der zerstrittenenStadt Arezzo den Exorzismus beten, denn er sahGewalt als ein Zeichen teuflischer Besessenheit an(vgl. 2 Cel 108). Franziskus war überzeugt, dass der Herr ihm den Friedensgruß geoffenbart hatte;in seinen Schriften sind die Laster, vor denen er ammeisten warnt, jene, die den Frieden im eigenenHerzen und in anderen zerstören: Arroganz, Hab-sucht, Überheblichkeit, Eitelkeit, Eifersucht, übleNachrede, Weigerung zu verzeihen. Auf seinemSterbebett versöhnte Franziskus zwei bittere Feinde,den Bischof und den Bürgermeister der Stadt Assisi.Er war ein Friedensstifter bis zum Ende; sterbendstiftete er noch Frieden. Der „Geist von Assisi“ istein Geist des Friedens; darum lud Papst JohannesPaul II. die religiösen Führer der Welt zum gemein-samen Gebet für den Frieden nach Assisi ein.

Der hl. Franziskus spricht zu uns heute gerade so,wie er seine ersten Gefährten eindringlich mahnte:„Wie ihr mit dem Mund den Frieden verkündet, so,und noch mehr, sollt ihr ihn in eurem Herzen fest-halten. Niemand soll durch euch zu Zorn oderZank gereizt, vielmehr sollen alle durch eure Sanft-mut zu Friede, Güte und Eintracht aufgefordertwerden. Denn dazu seid ihr berufen, Verwundete zuheilen, Gebrochene zu verbinden und Verirrtezurückzurufen“ (DreiGef 58).

Bewahrung der SchöpfungDas Zweite Vatikanische Konzil erinnert uns daran,dass wir die „Zeichen der Zeit“ lesen müssen, umunsere Sendung zu erfüllen. „Zeichen der Zeit“kann also „Zeichen des Geistes“ heißen, weil dieseauf die vielen Weisen hindeuten, in denen Gottes

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Geist in Kirche und Welt gegenwärtig und tätig ist,und weil sie uns neue Ebenen der Wahrnehmungerschließen. Die ökologische Bewegung ist eines derZeichen unserer Zeit. Immer mehr Menschen sehendie Sorge für die Umwelt als eine Sache der grundle-genden Gerechtigkeit kommenden Generationengegenüber und können dem Urteil von Papst Johan-nes Paul II. leicht zustimmen: „Die ökologische Krise ist ein moralisches Problem“ (Botschaft vom8. Dezember 1989).

Ein bedeutender Wissenschaftler, Mitglied derPäpstlichen Akademie der Wissenschaften, vertrittdie Ansicht, dass „wir das Genesis-Vertrauen verge-waltigt haben. Wir haben uns durch das Konzeptder Beherrschung und Unterwerfung fortreißen lassen und das Konzept des Sorgetragens verloren.Die Art und Weise, wie wir die Welt behandeln, istnicht haltbar. Unsere klare Verpflichtung weiterhindurch ein Verhalten zu umgehen, das oft nichtsanderes zu sein scheint als das unermüdliche Stre-ben nach materiellem Wohlstand, muss allmählichfür jeden moralisch empfindenden Menschen alsunhaltbar erkannt werden“. Übertriebener Konsumund Verschwendung, besonders in den reichen Ländern, sind die Hauptursachen der Umweltzer-störung. Das ist ein Aufruf zu ernsthafter Umkehr.

Als Franziskaner haben wir nicht die wissenschaft-liche Sachkompetenz, um die ökologische Krise zulösen, aber wir haben die franziskanische Sicht derEhrfurcht vor allem Geschaffenen, und diese Hal-tung ist der Schlüssel zur Lösung der Umweltkrise.Aus diesem Grund schlagen heute viele Wissen-schaftler eine Partnerschaft zwischen Religion undWissenschaft vor, damit die ökologische Bewegungeine „Seele“ haben kann.

Der heilige Bonaventura drückt die mystischeSchöpfungssicht des Franziskus sehr schön aus:Durch alle Dinge zur Liebe Gottes hingelenkt, freu-te er sich an allem, was der Herr geschaffen hatte,und von diesen Freude bringenden Zeichen erhober sich zu ihrem lebensspendenden Urgrund undUrsprung. In schönen Dingen sah er die Schönheitselbst, und durch seine Spuren in der Schöpfungfolgte er seinem Geliebten überallhin und machteso alle Dinge zu einer Leiter, auf der er hinaufstei-gen und Ihn umfangen konnte, der unendlichbegehrenswert ist. (LegMai IX,1). In einem ein-

fachen Satz drückt Bonaventura die Sicht des Franziskus wie seine eigene aus: „Jedes Geschöpf ist ein Wort Gottes, denn es spricht von Gott“(KOMMENTAR ZUM PREDIGER). Aus offensichtlichenGründen erklärte Papst Johannes Paul II. in seinemSchreiben INTER SANCTOS PRAECLAROSQUE VIROS

(29. November 1979) den hl. Franziskus zumPatron jener, die sich der Sorge um die Umweltwidmen. Die aufrüttelnde Herausforderung vonPapst Johannes Paul II. kann diesen Abschnitt passend abschließen: „Wir rufen nochmals aus:Habt Ehrfurcht vor dem Menschen, der ein AbbildGottes ist! Evangelisiert, damit dies Wirklichkeitwird, damit der Herr die Herzen verwandeln undpolitische und ökonomische Systeme menschlichmachen möge“ (Puebla 1979).

Franziskanische Ausbildung für Gerechtigkeit, Frieden, und Ökologie

Unsere Generalkonstitutionen (Art.126f ) erinnernuns daran, dass ALLE Brüder in Ausbildung sind.Der Unterschied besteht nicht zwischen Brüdern„in Ausbildung“ und Brüdern „außerhalb der Ausbildung“, sondern zwischen solchen in ein-führender Ausbildung (vom Tag an, da ein Mann als Kandidat aufgenommen wird, bis zum Tag derfeierlichen Profess) und solchen, die in ständigerFortbildung sind (vom Tag der feierlichen Professbis zum Tod). Ständige Fortbildung wird gesehenals „Weggeleit der Brüder für ihr ganzes Leben“ (ITINERARIUM TOTIUS VITAE) (Art. 135). So verstan-den ist unsere ständige Fortbildung eng verwandtmit der ständigen Bekehrung unseres Lebens als„Männer der Buße“ (DreiGef 37). Wir werdenermuntert, wie Franziskus zu sein, wie ihn Thomasvon Celano und der hl. Bonaventura, als „immerneu“, „immer am Neuanfang“, SEMPER NOVUS, SEMPER INCHOANS beschreiben (vgl. ANALECTA

FRANCISCANA X, S. 80, 222, 366, 577, 621). Fran-ziskus ermuntert uns weiterhin, wie er im Angesichtseines nahen Todes seine ersten Gefährten ermun-terte: „Brüder, nun wollen wir anfangen, Gott demHerrn zu dienen; denn bis jetzt haben wir kaum,sogar wenig – nein, gar keinen Fortschritt gemacht“(1 Cel 103). Unsere franziskanische Vision kannimmer mehr verblassen, gerade so, wie ein Feuerlangsam erlöschen kann, wenn es nicht ständig neu

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entzündet wird. So erinnerte der hl. Paulus seinenSchüler Timotheus: ENTFACHE die Gnade Gotteswieder“, die in dir ist (2 Tim 1,6). Wenn die Gabe –in unserem Fall die franziskanische Sicht radikalenLebens nach dem Evangelium – nicht geschätzt undgenährt wird, kann sie verlorengehen. Wir habenzwei Optionen: Wachstum oder Rückgang; Fortschritt oder Stagnation. Ständige Fortbildung/Bekehrung ist der Pfad zu Fortschritt und Wachs-tum.

Dieses Verständnis von ständiger Fortbildung alslebenslangem Prozess wird durch Johannes Paul II.bekräftigt: „Jedes Leben ist ein unablässiger Weg aufweitere Reifung hin, und diese vollzieht sich durchbeständige Ausbildung. ... Es gibt heutzutage kei-nen Beruf, kein Engagement, keine Arbeit, die nichteine beständige Bemühung um ein Leben im Heuteerforderte, wenn man aktuell und wirkungsvoll sein möchte.“ Aus diesem Grund ist ständige Fort-bildung „heute besonders dringlich, nicht nur auf-grund der rasanten gesellschaftlichen und kulturel-len Veränderung der Menschen und der Völker, …,sondern auch wegen der ,Neu-Evangelisierung’, dieden wesentlichen und unaufschiebbaren Auftrag derKirche am Ende des zweiten Jahrtausends darstellt“(PASTORES DABO VOBIS, 70).

„Neu-Evangelisierung braucht neue Verkünder“(Ebd. 82). Wie oben gesagt, diese Neu-Evangelisie-rung – die auch wir als unseren „wesentlichen undunaufschiebbaren Auftrag“ ansehen müssen -–„muss zu ihren wesentliches Bestandteilen die Verkündigung der Soziallehre der Kirche zählen“(CENTESIMUS ANNUS, 5). Wir können diese Lehrenicht verkündigen, wenn wir sie nicht gut kennen;Studium und Vertiefung der kirchlichen Soziallehreist eine grundlegende Forderung für unsere ständigeFortbildung (Vgl. GG.CC. Art. 96). Diese Lehre,ein wirklicher Aufruf zur Umkehr, wurde vomZweiten Vatikanischen Konzil für die ganze Kircheformuliert, besonders in der PastoralkonstitutionGAUDIUM ET SPES und in zahlreichen päpstlichenEnzykliken. Bischofskonferenzen haben einenäußerst wertvollen Dienst geleistet, indem sie dieuniversale Soziallehre in die Situationen ihrer jeeigenen Kontinente und Länder übersetzt haben.Besonders bemerkenswert unter diesen Anstren-gungen waren die Vollversammlungen der Latein-amerikanischen Bischofskonferenz (CELAM), vor

allem die zweite, die in Medellin 1973 stattgefun-den hat.

Medellin brachte neue Lebenskraft in einen großenTeil der lateinamerikanischen Kirche und gab ihreine neue Richtung: die „vorrangige Option für dieArmen“. Ein fünf Jahrhunderte alter Weg in Lat-einamerika „Kirche zu sein“ (in Verbindung mitden Oligarchien und herrschenden Klassen,während man Wohltätigkeit, „Caritas“ für dieArmen predigte) fand in Medellin ein Ende und einneuer, mehr dem Evangelium gemäßer Weg wurdegeboren. Medellin ist ein glänzendes Beispiel vonständiger Fortbildung und Umkehr, für die Kircheeines ganzen Kontinents und stellt so eine Gnadenicht nur für Lateinamerika, sondern auch für dieGesamtkirche dar. (Interessanterweise prägteMedellin in seiner Botschaft an die Völker Latein-amerikas den Ausdruck „Neu-Evangelisierung“, der seither unzählige Male gebraucht wurde, vorallem von Johannes Paul II.). Eine wichtige Lek-tion, die wir von Medellin lernen können, vor allemfür den Bereich der Fortbildung in Sachen Gerech-tigkeit, Frieden und Ökologie, ist die Bedeutungder Erfahrung. Auf jener Konferenz wendeten die lateinamerikanischen Bischöfe die induktiveMethode an, d.h. sie begannen nicht mit dem Studium abstrakter Grundsätze, sondern mit einerAnalyse der gelebten Erfahrung von Millionen vonArmen in Lateinamerika. Sie machten sich die Worte des Zweiten Vatikanischen Konzils zu eigen:„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen undBedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“(GS 1).

Auch der heilige Franziskus wurde nicht durch dasLesen von Büchern über den Aussatz bekehrt, son-dern durch seine Erfahrung, als er unter die Aussät-zigen ging und ihnen diente (vgl. Test. 2). Es warjene gelebte Erfahrung, die ihn dazu führte, das,was für ihn bitter oder süß war, neu zu definieren.Er wollte, dass seine Brüder eine ähnliche Erfahrungund eine ähnlich Bekehrung erlebten. Die Brüder„müssen sich freuen, wenn sie mit gewöhnlichenund verachteten Leuten verkehren, mit Armen undSchwachen und Aussätzigen und Bettlern amWege“ (NbReg 9,2). Bücher und Artikel zu lesenund Vorlesungen über Armut, Hunger, Heimat-

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losigkeit, über die Übel von Gewalt und Umwelt-zerstörung anzuhören, mag hilfreich und sogarnötig sein. Wir müssen gut informiert sein, um die-se Themen kompetent anzugehen. Aber die Erfah-rung des Lebens mit den Armen und der Arbeit mitanderen, die sich der Suche nach einer christlichenLösung der entwürdigenden Armut, der Problemeder Gewalt und der Umweltzerstörung widmen, istnoch wichtiger für unsere ständige Bekehrung undWeiterbildung. „Der Mensch unserer Zeit glaubtmehr den Zeugen als den Lehrern, mehr der Erfah-rung als der Lehre, mehr dem Leben und den Tatenals den Theorien“ (REDEMPTORIS MISSIO, 42).

Alle Brüder sollten, zumindest gelegentlich, dieErfahrung direkter Betroffenheit in Dienstenmachen, die sich mit Gerechtigkeit, Frieden undBewahrung der Schöpfung befassen. Ein glücklichesErgebnis einer solchen Erfahrung könnte sehr wohlsein, dass wir anfangen, diesen Aspekten in unsererArbeit, worin immer diese bestehen mag, mehrGewicht zu geben. So können wir diese Erfahrungauch ins Bewusstsein der Menschen bringen, denenwir dienen, und so auch ihre ständige Umkehr för-dern, damit wir zusammen mit ihnen wirksamer das Kommen des Reiches Gottes auf Erden fördern.Das ist besonders wichtig in unserer Jugendarbeit,denn mit ihrer Energie und ihrer Begeisterungs-fähigkeit sind junge Menschen berufen, ihren eige-nen, einzigartigen und notwendigen Beitrag zu leisten zur Förderung der Werte des Gottesreiches.Junge Menschen, die in sozio-kultureller Analysegeschult sind, werden die Grundübel der sozialenProbleme, die unsere Welt plagen, besser verstehenund ihre Energien zu deren Überwindung einset-zen. Obwohl Belehrung über friedliche Lösung vonKonflikten für alle gut ist, so ist diese doch beson-ders wichtig für junge Menschen, die so oft Opferder Gewalt werden und leicht versucht sind, eben-falls auf Gewalt zurückzugreifen. Zusammenfassendschlagen wir drei Schritte vor:

ZusammenfassungGebetObwohl die Themen von Gerechtigkeit, Friedenund Ökologie oft als „weltliche Belange“ angesehenwerden (und viele ehrliche „weltliche“ Humanisteninteressieren), nehmen wir sie als Männer des

Glaubens wahr. Betende Vertiefung in Schrifttexte,die von diesen Themen sprechen, ist von grund-legender Bedeutung, denn wir suchen vor allem,darin Gottes Plan für seine Schöpfung zu entdeckenund auszuführen. Das Gebet zum Heiligen Geist istbesonders notwendig, denn der Geist ist immer der„Haupt-Handelnde“ im gesamten Werk der Evan-gelisierung. In der Liturgiekonstitution (35,4) emp-fiehlt das Zweite Vatikanische Konzil Wortgottes-dienste, die auch Bibel-Vigilien genannt werden.Unsere Generalkonstitutionen (22,2) empfehlen das gleiche, sowohl in unseren Gemeinschaften alsauch mit andern Menschen. Solche Gottesdienstezu den Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewah-rung der Schöpfung könnten leicht zusammen-gestellt werden mit Hilfe der biblischen Texte imLektionar für die Messe um Gerechtigkeit und Frieden. Zusätzlich zu den Bibeltexten behandelnauch viele franziskanische Quellen, sowohl frühe als auch moderne, diese Themen. Obwohl keineentsprechenden Votivmesstexte für Ökologie existieren, können doch leicht viele biblische Textegefunden werden, die sich mit „Bewahrung derSchöpfung“ befassen, z.B. Gen 1; 2,4-7.15; 9,8-17;Lev 25,23-24; Psalmen 8; 65; 104; 147; 148; Joh1,1-5; Röm 8,18-25; Kol 1,15-23; Offb 21,1-5.Unter den vielen franziskanischen Quellen ist derSonnengesang des hl. Franziskus besonders erwähnenswert.

Studium und ReflexionIn seinem Schreiben TERTIO MILLENNIO ADVENI-ENTE (36) stellte der Papst eine herausforderndeFrage: „Wie viele Christen kennen die Weisungender kirchlichen Soziallehre gründlich und praktizie-ren sie konsequent?“ Diese Worte laden uns, beson-ders die Brüder, die mit dem Predigt- und Lehr-dienst betraut sind, zu einer ernsten Gewissenser-forschung ein. Wie gut kennen wir selber die katho-lische Tradition über die bedrängenden Fragen hin-sichtlich Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung derSchöpfung? Ist unser Denken wirklich katholisch:„denken wir global und handeln lokal“? Wie wich-tig sind uns diese bedrängenden Fragen in unseremDienst? Wenn die Menschen, denen wir dienen,großenteils die katholische Sozialehre nicht kennen,liegt der Fehler oft bei uns. Wir müssen uns daranerinnern, dass die „Neu-Evangelisierung“, die so dringend und wiederholt von Papst JohannesPaul II. für das neue Jahrtausend gefordert wurde,

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„zu ihren wesentliches Bestandteilen die VERKÜNDI-GUNG DER SOZIALLEHRE DER KIRCHE zählen“ muss(CENTESIMUS ANNUS, 5). Diese Lehre, deren Prinzipien weltweite Gültigkeit haben, muss in denkonkreten Gegebenheiten jedes einzelnen Konti-nents und Landes, und jedes einzelnen Ortes„Fleisch annehmen“. Solche konkrete Anwendun-gen setzen aber auch Fachwissen als Frucht von Stu-dium, Reflexion und sozio-kultureller Analyse vor-aus. In diesem Zusammenhang müssen wir dieWichtigkeit der Rolle der Laien unterstreichen, weildie praktische Lösung der Probleme auf den Gebie-ten von Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie bei-nahe ausschließlich in der Kompetenz und demguten Willen der Laien liegen. Für uns stellt sich dieFrage: Bilden wir ein christliches soziales Gewissenin den Laien, denen wir dienen? Der Weg der Laienzur Heiligkeit liegt nicht in einer monastischen FUGA MUNDI, sondern bedeutet Leben in der Welt,das der Erneuerung der diesseitigen Ordnunggewidmet ist, damit diese dem Plan Gottes ent-spricht. Papst Johannes XXIII. sagte: „Niemand sollsich deshalb dem eitlen Wahn hingeben, die eigenegeistliche Vervollkommnung und die irdische All-tagsarbeit widersprächen einander. Und es soll nie-mand meinen, man müsse sich den Werken des zeit-lichen Lebens notwendigerweise entziehen, umnach christlicher Vollkommenheit zu streben; … Es entspricht durchaus dem Plan der göttlichenVorsehung, dass sich die Menschen bilden und vervollkommnen (sic !) im Vollzug ihrer täglichenArbeit. Fast alle müssen diese Arbeit zeitlichen Din-gen widmen“ (MM 255-256). So ist also auch derLaienstand ein „Stand der Vollkommenheit“, der inder Welt gelebt wird im Streben nach Erneuerungder zeitlichen Ordnung. Hören Laien diese Bot-schaft aus unserem Munde?

AktionEinige Vorschläge wurden bereits gemacht, wie zum Beispiel das entsprechende Studium und dasswir den Anliegen von Gerechtigkeit, Frieden undBewahrung der Schöpfung in unseren Tätigkeitenmehr Gewicht geben. Andere Tätigkeiten hängenzum großen Teil von örtlichen Gegebenheiten abund werden am besten den Konferenzen, sowie den Provinz- und Hauskapiteln überlassen. Kapitelhaben eine wichtige Rolle, denn unsere ständigeFortbildung ist sowohl persönlich als auch gemein-schaftlich (GG.CC. 135). So sind wir sowohl als

Einzelne wie als Brüdergemeinschaft berufen, aufdie dringenden Nöte unserer Zeit im Licht desEvangeliums zu antworten. Wir stellen einfach fest,dass Studium und Reflexion ohne Tätigkeitunfruchtbar bleiben.

AusblickDa wir uns auf das vorbereiten, was Papst JohannesPaul II. „Das Große Jubiläum des Jahres 2000“nennt (TERTIO MILLENNIO ADVENIENTE, 17), erinnern wir Minderen Brüder uns dankbar daran,dass das Beispiel des heiligen Franziskus uns so viel zu geben hat, um den dringendsten sozialenHerausforderungen unserer Zeit zu begegnen; Franziskus war wirklich der „Vater der Armen“ (1 Cel 76), dessen erste Bruderschaft als „Delega-tion des Friedens“ (1 Cel 29) bekannt war, und dersich selbst als Bruder der ganzen Schöpfung ver-stand (SONNENGESANG). Als liebende Söhne desFranziskus und der Kirche müssen wir auf den dringenden Appell des Papstes antworten: wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass Jesus kam um„den Armen das Evangelium zu verkünden“ (vgl. Mt 11,5; Lk 7,22). Wie können wir es versäu-men, größeres Gewicht auf die vorrangige Optionder Kirche für die Armen und Ausgestoßenen zulegen? In der Tat muss gesagt sein, dass in einer Welt wie der unseren, die von so vielen Konfliktenund unerträglichen sozialen und ökonomischenUngleichheiten gekennzeichnet ist, das Engagementfür Gerechtigkeit und Frieden eine notwendigeBedingung für die Vorbereitung und die Feier des Jubiläumsjahres 2000 ist. So werden, im Geistdes Buches Levitikus (25,8-12), Christen ihre Stimme erheben müssen für die Armen der Welt(TMA, 51).

Charles Finnegan OFM

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Kontemplation, unsere Arbeit fürGerechtigkeit, Friedenund Bewahrung der Schöpfung und die Vereinigung mit Gott

Wenn wir über Kontemplation und die Arbeit fürGerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöp-fung sprechen, sind wir oft verunsichert, weil diesewichtigen Aspekte unseres Lebens nach dem Evan-gelium auf unfaire Weise mit Vorurteilen gesehenwerden. Gewisse Leute unterstellen, dass zwischenKontemplation und der Arbeit für Gerechtigkeit einWiderspruch besteht. Kontemplation, so denkensie, bedeute Rückzug von den Tätigkeiten undGeschäften der Gesellschaft in eine ruhige, fried-liche und abgehobene Existenz, die den Schmerz,die Verwirrung und die Fragen vermeidet, die dasLeiden in unserer persönlichen Lebensgeschichtemit sich bringt. Die Arbeit für Gerechtigkeit undFrieden scheint mehr nach außen gerichtete Tätig-keit zu sein, in der die Menschen in der sozialenOrdnung mit ihren Problemen und Herausforde-rungen gefangen sind. Wenn wir diese Vorurteilenoch ausweiten, könnten wir sagen, dass kontem-platives Gebet ein Rückzug ist auf eine private, isolierte Innerlichkeit, und dass das aktive Engage-ment für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrungder Schöpfung Sache von wenigen Brüdern ist, dieoft durch einen engagierten Ärger motiviert sind,der die politische Ordnung herausfordern undändern will. Es ist eine Tätigkeit, die in drängendesoziale Probleme verwickelt ist und die für Inner-lichkeit und Zeit für stilles Nachdenken nicht viel übrig hat.

Kontemplation wird oft mit Meditation verwech-selt. Meditation ist eine Tätigkeit, die unsere Aufmerksamkeit und unser Bewusstsein auf einen

bestimmten Punkt begrenzt, konzentriert oderbeschränkt. Als geistige Tätigkeit erfordert sie intel-lektuelle Disziplin und gefühlsmäßigen Rückzug,um Konzentration zu ermöglichen. Kontemplation(con-templo, an einem heiligen Ort sein) hat einigeähnliche Eigenschaften: zum Beispiel kennt sieeinen Brennpunkt für unsere Aufmerksamkeit. Aberdas Ziel der Kontemplation ist verschieden. Nichtzufrieden mit bloßer Beobachtung, beanspruchtKontemplation die ganze Person: intellektuell,affektiv und physisch, um aktiv die Einung mitGott zu suchen. Es handelt sich mehr um bewussteEinung als um Beobachtung. Es gibt verschiedeneSchulen und Methoden sowohl für Meditation alsauch für Kontemplation.

Jesus lädt seine Jünger ein, sich um die Disziplin desWachseins zu bemühen, hellhörig zu sein auf das,was um sie herum geschieht und bereit, zu handeln.„Auch ist es mit dem Himmelreich wie mit einemKaufmann, der schöne Perlen suchte“ und wenn ersie findet, so handelt er mit Entschlossenheit, umsie in Besitz zu nehmen; das Reich Gottes wird verg-lichen mit zehn Brautjungfern, die, während sie aufden Bräutigam warten, wachbleiben, um ihre Lam-pen am Brennen zu halten. So können sie den Bräu-tigam sehen, wenn er sich nähert. „Das Reich Gott-es ist gleich einem Knecht, der auf die Rückkehr seines Herrn wartet … (es) kommt wie ein Dieb inder Nacht, ihr kennt weder den Tag noch die Stun-de, darum seid wachsam und haltet euch bereit.“

Der Jünger bleibt wach und hellhörig, nicht umden Sinn des Lebens verstandesmäßig zu erfassen,sondern um als erleuchtete Person, zum Dienstbereit, zum Leben zurückzukehren. Jesus sagt seinenJüngern, dass er gekommen ist, damit wir „dasLeben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). In den Gleichnissen Jesu lesen wir, dass Menschenaufgeweckt werden um mit anderen, zum Beispielmit dem Bräutigam, zusammenzusein oder um zudienen, wie in der Geschichte vom Diener, der aufseinen Herrn wartet. Kontemplation folgt dem Pfaddes Mitfühlens: Erkennen, Handeln und Vereini-gung. Diese Stufen werden durch Nachdenken miteinander verbunden, das gemeinschaftlich oderindividuell-persönlich geschehen kann.

Der Mensch, der dem Evangelium unseres HerrnJesus Christus folgt, so beschreibt Franziskus das

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franziskanische Leben, zieht sich nicht aus derGesellschaft zurück, um sein Leben zu bewahren,sondern er/sie gibt es hin, damit wir eine neueSchöpfung werden können. Jesus weist uns aufEngagement, Handeln, Veränderung hin. DasReich Gottes wird verglichen mit dem Sauerteig,der sein eigenes Leben im Mehl verliert und zuetwas Neuem und Nützlichem für andere wird, zuBrot, das andere nährt.

Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter isteine der einfachsten und treffendsten Beschreibun-gen der Bewegungen innerhalb der christlichenKontemplation: Der Samariter ist eins mit GottesWillen, indem er hellhörig ist und aus Mitgefühlheraus handelt. In diesem Gleichnis ging der Priester am schwerverletzten Mann vorüber, inGedanken verloren oder in der Sorge, sich rituellrein zu halten und keine anscheinend tote Person zu berühren. Auch der Levit, der Gesetz und Propheten ebenfalls kannte, ging am Verwundetenvorüber. Der Priester und der Levit, beide waren –wahrscheinlich in guter Absicht – in ihre eigeneinnere Welt versunken, die durch äußere Regeln,Vorschriften und Beurteilungen geschützt war.Auch wenn sie den leidenden Mann sahen, hattensie praktische, religiöse und gesetzliche Gründe, anseinem Schmerz und seinem Elend vorbeizugehen.Der Mann, der wach und hellhörig war, der wahr-nahm und reagierte, war der Samariter. Er verstandseinen Platz in der Schöpfung und handelte im Einklang damit.

Als Brücke des Mitgefühls war die Sorge um dasleibliche Wohl des geschlagenen Mannes durch denSamariter eine tätige Antwort der Liebe. Seine Ant-wort verband drei Willen zu einer Einheit, jenen desSamariters, den des geschlagenen Mannes und denWillen Gottes. Oft ist eine Tat des Mitfühlens mitdem Vollzug des täglichen Auftrags oder einemNotfall verknüpft, und wir erkennen erst später,dass wir darin an Gottes Leben und seinem Wirkenteilnehmen.

Vergleichbar der Reaktion des Samariters, zeigt dasLeben des hl. Franziskus Parallelen einer ähnlichenBewegung von Wahrnehmung, Mitfühlen undHandeln. Seine persönliche Bekehrung ist einSchlüssel, der uns hilft, franziskanische Kontem-plation zu verstehen. Es war eine Bewegung der

affektiven Vereinigung mit Gott, die verschiedeneBewegungen und Ebenen beinhaltete: eine Erfah-rung; sein Nachdenken darüber und das Verstehendieser Erfahrung; das Identifizieren dieser Erfah-rung als von Gott kommend und mit Gott verei-nend. Die Gnade nahm ihren Anfang nicht in derverlassenen Kapelle von San Damiano oder in derStille des Berges Subasio. Franziskus erfuhr seinefreimachende Einung mit Gott eines Tages auf einerStraße außerhalb der Sicherheit von Assisi. Als ervon einem Aussätzigen überrascht wurde, umarmteund küsste Franziskus den Mann spontan. Spätererkannte er, dass er in seiner Umarmung des Aussät-zigen irgendwie von Gott umarmt worden war unddass sich sein ganzes Leben verändert hatte. Die„Süßigkeit und das Licht“, die nach der Beschrei-bung des Franziskus aus dieser Tat des Mitfühlensflossen, waren nicht die paternalistische BelohnungGottes an Franziskus für eine gute Tat an einemelenden Menschen. Sie waren das offensichtlicheErgebnis von zwei Willen zu lieben, die eins gewor-den waren. Das Ereignis auf der Straße, und nichtder Vorgang des Nachdenkens darüber, ist für Franziskus der Augenblick der Bekehrung, seineBegegnung mit Gott.

Beide, Jesus und Franziskus, hatten Momente despersönlichen, privaten Gebetes, wo sie „weg waren,an einem einsamen Ort.“ Wir wissen wenig von die-sen privaten Momenten. Die heilige Schrift und dieBiographien des hl. Franziskus enthalten vieleGeschichten von Jesus und Franziskus, dass sie imdirekten Kontakt mit Gott standen, während siesich mit Menschen und mit der Schöpfung ein-ließen. Jesus hatte seinen bedeutendsten und direk-testen Kontakt mit Gott nicht in einem Traum, sondern im Jordan, während er in einer Men-schenmenge vor Johannes dem Täufer stand. Erging in die Wüste, um diese Erfahrung im Jordanbesser zu verstehen. Er ging dorthin nicht, um seineVision zu finden. Jesus erfuhr regelmäßig direkteVereinigung mit Gott, wenn er mit einem andernMenschen zusammen war, der in Not war und Ver-trauen hatte. Er konnte die Kraft Gottes körperlichspüren, die ihn durchströmte, wenn Kranke geheiltwurden. Er konnte den Stürmen befehlen, still zu sein, und dem Feigenbaum zu verdorren. DieseAugenblicke bewusster Verbindung, Einung mitGott, des Seins an heiligem Ort, waren „Kontem-plation in der Aktion“. Es gibt viele Geschichten

■ Kontemplation, unsere Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung

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über Franziskus, die den Heiligen inmitten vonMenschen und Schöpfung in verzückter Freude in Gott beschreiben (Greccio, SONNENGESANG,Vogelpredigt). Jesus zog sich zurück in die Wüste,Franziskus in die Berge, wo beide zu einem tiefenVerständnis dessen kamen, der in ihrem Leben mitihnen zusammen wirkte.

situation sollen die Brüder daran arbeiten …“(GG.CC. Art. 97,1-2). Das wachsende Vertrauen in und das Verständnis für die Inkarnation und ihreBedeutung eröffnete neue Wege für die westlicheKirche und Zivilisation. Dagegen blieben die heiligen Mysterien für die östliche Christenheit, die keinen Franz von Assisi hatte, hauptsächlichhinter der Ikonostase, innerhalb ihrer Ikonen, der Musik und dem Weihrauch, und nicht in denSpitälern, Waisenhäusern, Schulen und der Sozial-lehre der Kirche.

Für unsere Vorfahren im Glauben, die Juden, warGerechtigkeit Rückerstattung, nicht Strafe. Ein Richter vollzog einen Akt der Gerechtigkeitdadurch, dass er das zurückerstatten ließ, wasgestohlen oder beschädigt worden war. Gelegentlichverhängte er eine Gefängnisstrafe für die schuldigePerson, bis alles zurückerstattet sei. Die biblischenBücher Genesis und Offenbarung (des Johannes)sehen Gottes ursprünglichen Plan für die Schöp-fung, die Menschheit und deren Erneuerung sym-bolisiert im Garten Eden und im neuen Jerusalem.Gerechtigkeit wirkt dahin, dass das Reich Gotteskommen möge „auf Erden wie im Himmel“, dassdie Menschheit in Frieden und vollem Bewusstseinin der Gegenwart Gottes leben möge.

In Treue zu Franziskus und unserer Tradition solltenwir aufhören, einen falschen Widerspruch zwischenKontemplation und der Arbeit für Gerechtigkeit zuschaffen, der zu einer dualistischen Lebensauf-fassung führt. Jeder von uns, der berufen ist eingeringerer Bruder, ein Minderer Bruder zu sein, hat die Verantwortung, hellhörig zu sein für das,was um uns herum geschieht, sich das aufmerksa-me Hinhören anzugewöhnen und jederzeit bereit zu sein, mit Gott zusammen sein liebendes Werkder Neuschöpfung zu wirken. „Da die MinderenBrüder mitten im Volk Gottes stehen, müssen sieauf neue Zeichen der Zeit achten, auf die Situatio-nen einer sich wandelnden Welt reagieren“(GG.CC. Art. 4,1). Nachdenken im Gebet sichert,klärt und bestärkt die Erfahrung von Gottes Heils-handeln. Es erinnert uns daran, dass Gott nichtaußerhalb unserer Geschichte lebt, sondern mittenin ihr. Wir brauchen Zeit, um Abstand von unsererTätigkeit zu nehmen, damit wir verstehen, was sichereignet hat und damit wir uns ganzheitlicher inGottes Wirken um uns herum einbringen können.

■ Kontemplation, unsere Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung

Die Liebe, die Franziskus für den menschgeworde-nen Gott im armen Jesus von Nazaret hatte, war derAngelpunkt der Entwicklung des sozialen Bewusst-seins innerhalb der westlichen Christenheit. DieUmarmung des Aussätzigen, des Ausgegrenzten derdamaligen Gesellschaft, durch Franziskus und seinZusammengehen mit den Aussätzigen außerhalbvon Assisi, öffnete einen neuen Weg der Kontem-plation. Seine frohe, leidenschaftliche Umarmungder menschgewordenen Liebe Gottes begeisterteauch andere, an Gott zu glauben und ihn zu lieben,der zutiefst in unsere Geschichte eingebunden ist.Das ist zum Teil auch der Grund, warum der Ordenuns aufruft: „Franziskus wurde vom Herrn unter dieAussätzigen geführt; wie er sollen die Brüder zusam-men und einzeln die Option für die an den RandGedrängten leben, für die Armen und Unterdrück-ten, Entwürdigten und Kranken. … In brüderlicherGemeinschaft mit allen kleinen Leuten der Erdeund mit Blick auf die heutigen Folgen der Armuts-

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Aufmerksam unterscheidendes Wahrnehmen hilftuns zu verstehen, wohin der Geist unsere Gemein-schaft führt. Unsere Projekte, unsere Strukturen, die Zusammenschlüsse und die Zusammenarbeit,die wir mit andern Menschen und Organisationenguten Willens haben, sollten uns dazu führen,immer wacher zu werden für das, was in unsererGesellschaft geschieht, um dann die Wirklichkeit zuumarmen – gerade auf den Feldern, die wir liebermeiden würden – und um Gott dort zu begegnen,wo er gerade lebt und wirkt. In unseren Strukturen,unseren Kapiteln, unserer Arbeit, unserem gemein-schaftlichen Leben müssen wir mit Gott vereintsein, damit sein „Reich komme auf Erden wie im Himmel."

John Quigley OFM

■ Kontemplation, unsere Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung

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Gerechtigkeit und Frieden in der Ratio FormationisFranciscanae

Ursprung, Ziel und Struktur der Ratio

Die RATIO FORMATIONIS, die 1991 approbiert wur-de, ist das wegweisende Dokument sowohl für dieeinführende Ordensausbildung als auch für dieständige Fortbildung des gesamten Ordens. Sie istder Überzeugung, dass „die Bildung der Mitgliederin Treue zu den Ursprüngen des eigenen Charismasund zu den Zeichen der Zeit die primäre Heraus-forderung ist, die sich den Provinzen“ und demgesamten Orden stellt (Vorwort). Um den Provin-zen und den Brüdern zu helfen, auf diese Heraus-forderung zu antworten, hat dieses Dokument sich bemüht, die Ergebnisse der Überlegungen zumThema Erneuerung auf dem Gebiet der Ausbil-dung, in dem Zeitraum seit dem Generalkapitel von 1967, zu sammeln und anzuwenden. JeneÜberlegungen nahmen vor allem in den General-konstitutionen von 1987 Gestalt und Form an,obwohl dieses Thema auch in den Kapiteln vonMedellin 1971, von Madrid 1973 und im Ordens-rat von 1981 behandelt wurde, auf denen dieOrdensausbildung das Hauptthema war.

In den Zusammenkünften der Novizenmeister1988 und der Ausbilder für der Brüder mit zeitli-cher Profess stellte sich die Notwendigkeit einesInstrumentes für die Ordensausbildung heraus, dasvereinbarte Grundsätze und gemeinsame Richtlini-en für den gesamten Orden anbieten sollte.

Die Frucht von all diesem ist die RATIO FORMATIO-NIS, die nicht so sehr ein juridisches Dokument ist,

sondern vielmehr eines, das Orientierung gibt undinspirieren will.

Es gliedert sich in drei Teile:I. DIE EVANGELISIERUNG DES MINDERBRUDERS:

Dieser erste Teil beginnt mit Art. 1 der GG.CC.und sammelt die grundlegenden Aspekte des franziskanischen Charismas, wie sie in denersten fünf Kapiteln der GG.CC. dargelegtsind.

II. FRANZISKANISCHE AUSBILDUNG: Dieser Teil entfaltet Kapitel VI der GG.CC. über Aus-bildung und folgt der gleichen Struktur wie dieThemen von Kapitel VI.

III. ALLGEMEINBILDUNG, AUSBILDUNG IN THEOLO-GIE, BERUF UND KIRCHLICHEM DIENST IN

FRANZISKANISCHEM GEIST: hier wird Kapitel VI,Titel VI der GG.CC. über „Andere Aspekte der Ausbildung“ behandelt.

Die RATIO entspricht genau den GG.CC. Sie ent-hält achtzig ausdrückliche Zitate daraus, jene imAnhang nicht mitgezählt. Ihr Einfluss ist klar sicht-bar in dem, was Gerechtigkeit und Frieden betrifft.Sie enthält auch viele Hinweise auf das Dokumentvon Medellin über Erziehung und Ausbildung(neun Hinweise, jene im Anhang nicht mitgezählt).

Gerechtigkeit und Frieden im DokumentIst das Thema von Gerechtigkeit und Frieden sooffensichtlich in der Ratio enthalten, dass es sichlohnt, es zu einem Studiengegenstand zu machen?Zweifellos wird jemand die Frage bejahen, der die-ses Dokument vom Standpunkt von GFBS ausbetrachtet. Die grundlegenden Schlüsselelementevon Gerechtigkeit und Frieden sind dort nicht nurvorhanden, sondern sie stellen auch die zugrundeliegende Perspektive aller Hauptaspekte der Aus-bildung dar.

Offensichtlich ist es keine Frage eines Dokumentesüber Ausbildung, dass es sich in den Begriffen von Frieden und Gerechtigkeit ausdrückt. Nichtsdesto-weniger finden sich alle grundlegenden Koordina-ten von Frieden und Gerechtigkeit darin ausdrück-lich, oft als ausgesprochener Schwerpunkt, immeraber als realer Hintergrund.Einige Einschränkungen sind anzumerken:■ Es besteht ein bemerkenswertes Schweigen hin-

sichtlich des strukturellen Charakters der Unge-

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rechtigkeit und ihrer Auswirkungen auf dieAusbildung (es gibt nur einen Hinweis in diesem Sinn).

■ Die kulturelle Dimension von Gerechtigkeitund Frieden scheint mehr vertreten als ihrsozio-politischer Ursprung.

■ Es gibt keine Hinweise auf das Problem derAusgrenzung von Frauen.

■ Und das Bemerkenswerteste: es finden sich keine konkreten und spezifisch pädagogischenRichtlinien zur Darlegung des Themas Gerech-tigkeit und Frieden in den verschiedenen Phasen der Aus- und Fortbildung.

Auf dieser Grundlage muss aber auch anerkanntwerden, dass es nicht realistisch wäre, viel mehr voneinem Dokument wie diesem zu erwarten, das sichzum Ziel gesetzt hat, allgemeine Richtlinien für dengesamten Orden in seiner ganzen Komplexität undPluralität anzubieten. Mit andern Worten, es istnicht die Aufgabe eines solchen Dokumentes, kon-krete pädagogische Anweisungen zu erteilen, son-dern vielmehr inspirierende Prinzipien, erreichbareHorizonte und Kriterien zur Urteilsfindung anzu-bieten.

Mein ZielIch werde die Ratio nicht vorlesen oder sie Zeile fürZeile behandeln. Ich werde auch nicht auf ihrepädagogischen Aspekte eingehen. Ich werde einfachversuchen, die Aussagen zu sammeln, die mir vongrundlegender Wichtigkeit erscheinen, werde einigeBemerkungen anfügen und einige tiefere Über-legungen andeuten.Ich werde diese Aussagen in drei Abschnitte auf-teilen: einige Grundsätze der Spiritualität, einigeZiele für die Ausbildung und einige prägende Orte,Beispiele oder Mittel.Ich bin mir bewusst, dass ich mich so auf eine Ebene begebe, die zu abstrakt und zu vage ist, bei-nahe ein Klischee, und dafür möchte ich mich vorab entschuldigen.

I. Einige Grundsätze der Spiritualität in „Gerechtigkeit und Frieden“

Jede Ausbildung ist getragen von einer besonderenSpiritualität. Ausbildung für Gerechtigkeit und

Frieden setzt beispielsweise eine Spiritualität voraus,d.h. eine Weise, sich die Begegnung zwischen demMenschen und Gott vorzustellen, ein Wissen umden Weg der menschlichen Person Gott entgegen in der Gesellschaft und der Welt, in der diese Personlebt. In Teil I, 1 werde ich drei Elemente hervorhe-ben, die in der Ratio deutlich sichtbar sind und dieauf die eine oder andere Weise die Gestalt „einerSpiritualität von Gerechtigkeit und Frieden“ prä-gen: eine Spiritualität der Nachfolge Jesu, desGerechten und Friedfertigen; eine Spiritualität, dieGott in den Opfern betrachtet; eine Spiritualität der Menschwerdung und der Praxis.

1. Eine Spiritualität der Nachfolge JesuDie Nachfolge Jesu ist eine der Dimensionen, aufdie in der RATIO, vor allem im ersten Teil, am häu-figsten hingewiesen wird. Der Ausdruck „NachfolgeJesu Christi“ wird mehr als 20 mal verwendet (Nr. 1; 3; 5; 6; 8; 9; 10; 11; 12; 16; 17; 20; 30; 35;36; 41; 56,3a; 132; 141). Der Bruder in Ausbildungist vor allem ein „Jünger“ (1; 5; 26), berufen „den Fußspuren Christi zu folgen“ (1; 17), genauergesagt, „der Welt den armen und demütigen Christus zu bezeugen“ (24), den „armen undgekreuzigten Christus“ (1; 15; 29; 36; 57), den„armen, demütigen und gekreuzigten Christus“(17). Dies ist die Identität des Bruders in Aus-bildung. Dies ist die Perspektive und der Horizontfür die Ausbildung.

Ich glaube, dass wir hiermit den Schlüssel für eineAusbildung in Gerechtigkeit und Frieden erhalten.Die Nachfolge Jesu gibt dem Anliegen von Gerech-tigkeit und Frieden Grundlage und Bedeutung, denMinderbruder miteinschließend. Deshalb ist es daserste Anliegen der Ausbildung, Nachfolger, JüngerJesu heranzubilden. Aus der franziskanischen Perspektive ist Ausbildung in Gerechtigkeit undFrieden das Gleiche wie das Fördern der Ausbildungin und für die Nachfolge Jesu.

Was erfordert daher eine Ausbildung aus der Perspektive des Jüngers? Sie fordert mehr als nurGrundsätze, Ideen und Werte zu lernen, die mitGerechtigkeit und Frieden verbunden sind. Sie hatmit der aktiven und persönlichen Nachfolge desEinen zu tun, der gerecht und friedfertig ist. Nurdurch die Nachfolge wird der einzelne gebildet undgeformt, nicht durch eine rein ideologische Beleh-

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rung, auch nicht durch eine vom Willen erzwunge-ne Praxis oder durch oberflächliche Nachahmung.Ansonsten laufen Gerechtigkeit und FriedenGefahr, in Ideologie oder Voluntarismus abzuglei-ten. Gerechtigkeit und Frieden sind keine voneinem Bruder angestoßene Initiative, sondern viel-mehr die Fortsetzung der Sendung Jesu. Sie bestehtnicht nur in einem Programm von Aktivitäten.Stattdessen ist sie vor allem die persönliche Identi-fizierung mit dem gekreuzigten Auferstandenen inSolidarität mit allen, die mit ihren Hoffnungen undihren Verzweiflungen gekreuzigt worden sind.

2. Eine Spiritualität, Gott in den Opfern zu betrachten

Ich will einige Aussagen der RATIO herausgreifen.Die Person in Ausbildung soll „eine kontemplativeHaltung annehmen“, die in ihrem Alltag „auf Gotthören kann“ (60), einen „Sinn für die GegenwartGottes in der Welt“ entwickelt (56,2b) und „in der Welt das Gute entdeckt, das Gott darin verwirk-licht“ (32; vgl. Medellin E 52). Gültig für alle Aus-bildung bleibt, was die Ratio über die ständige Fortbildung sagt: sie ist „ein Weg des ganzenLebens, sowohl des persönlichen wie des gemein-schaftlichen, in der Entdeckung des armen, demüti-gen und gekreuzigten Christus in sich selbst, in denBrüdern, im Dienst, in der eigenen Kultur und inder ganzen zeitgenössischen Wirklichkeit“ (57). InNr. 33 sagt sie: „Um der eigenen Berufung treu zubleiben, inkarnieren sich die Minderbrüder in denkonkreten Situationen des Volkes, in dem sie leben,entdecken darin die verschiedenen Antlitze Christiund finden darin die entsprechende franziskanischeLebensform.“ Und wo werden die Minderbrüderjene verschiedenen Züge des armen und gekreuzig-ten Christus entdecken? Einfach in den armen undgekreuzigten Gliedern der Menschen, unter denensie leben, in all den entstellten Antlitzen von heute,in denen die Ehre, das Leiden und die Hartnäckig-keit eines Gottes zugleich verborgen und geoffen-bart wird, der ihnen nahe und für sie eingenommenist.

Der Bruder in Ausbildung muss sein Herz und sei-nen Blick mit dem Gesicht Christi, des Gekreuzig-ten, und seinen vielen Gesichtern vertraut machen.Das ist die evangelische und franziskanische Weise,die Gegenwart Gottes in der Welt zu erkennen.Dieser Blick ist ein tiefreichender Grundsatz der

Spiritualität wie gleichzeitig ein Ziel und Mittel der Ausbildung: Das Ziel der Ausbildung bestehtdarin, diesen Blick entwickeln zu helfen, und es istdieser Blick, der den Bruder gestaltet. Für den Minderbruder, der ein Jünger Jesu und ein Glau-bender ist, handelt es sich nicht einfach darum, die Welt aus der Perspektive der Armen zu sehen;sondern es geht auch darum, in der Welt und imArmen die Gegenwart Gottes zu erkennen. Das istdie Weise „authentisch zu sein“ (J. Sobrino), dieWeise, treu zu sein zur Welt als der WirklichkeitGottes, weil Gott beschrieben wird als einer, der dasElend sieht, die Klageschreie hört und das Leidender Opfer kennt (vgl. Ex 3,7).

Der Mensch unserer Zeit fragt nicht, wer Gott istoder ob er existiert, sondern: wo ist Gott? Wo istGott in Auschwitz, in El Salvador und in Ruanda?Nun ist Gott immer „außerhalb der Stadt“ mitdenen, die draußen sind, gekreuzigt mit denGekreuzigten. Der Gott, der die Opfer ansieht,schaut auf uns aus den Gesichtern der Opfer undwünscht, in ihnen gesehen zu werden. Die Unge-rechtigkeit, die Opfer verursacht, verhüllt Gott;aber in einer Welt, in der es Opfer gibt, will Gottnur in ihnen gesucht und gefunden werden. Es istnicht einfach eine Frage des Glaubens an Gott, sondern eines „Glaubens an Gott aus (der Wirklich-keit) der Opfer“ (J. Sobrino). Daraus folgt, dass die Nähe zu den Opfern und die Option zu ihrenGunsten, mit anderen Worten, die Option fürGerechtigkeit und Frieden, die „christliche Gele-genheit für die Erfahrung Gottes“ ist.

Christliche Spiritualität besteht nicht darin, Gewiss-heit über die Existenz Gottes oder Wissen überGottes Natur zu erwerben; vielmehr besteht sie inder aufrichtigen und existentiellen Erfahrung, dassGott eine Vorliebe für die Armen hat. Deshalbbesteht Ausbildung nicht darin, jemanden vorzu-bereiten, der Welt von heute zu beweisen, dass Gott existiert; vielmehr besteht sie in der mentalen, aufrichtigen und existentiellen Vorbereitung, sagen zu können, „dass Gott die Armen liebt“ (G. Gutierrez).

3. Eine inkarnierte und praktische Spiritualität

Die Ratio bekräftigt, dass „die Minderbrüder sich in den konkreten Situationen des Volkes, in dem sie

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leben, inkarnieren und darin die verschiedenen Antlitze Christi entdecken“ (33). Gemäß demberühmten Ausspruch von D. Bonhoeffer, „ergreiftChristus den Menschen mitten im Leben"; nicht anden Rändern, sondern im Herzen der Welt und desLebens, nicht in stillen, offenen Räumen, sondernim Kampf gegen Ungerechtigkeit und im Konfliktfür den Frieden. Ausbildung im Geist von Gerech-tigkeit und Frieden wird durch eine Spiritualitätangeregt und unterstützt, die im Leben mit all seinen Ungerechtigkeiten und Konflikten, Hoff-nungen und Projekten wurzelt.

Wir besitzen hier ein entscheidendes Kriterium fürmenschliche und geistliche Ausbildung. Wenn Gottsich selbst in die Mitte unseres Lebens inkarniert,dann können wir nur aus der Mitte des Lebens, derWelt und der Menschheit heraus die umwandelndeErfahrung fortsetzen, Gott zu begegnen. Darumgeht es in der Spiritualität. Eine inkarnierte Spiri-tualität, die aufmerksam ist für die Wirklichkeit,dort wo sie sich ereignet und Gott begegnet. Nichteine intime Spiritualität, sondern eine, die offen istfür andere; nicht eine nach innen blickende Spiritu-alität, sondern eine, die sich der anderen bewusstist. Nicht eine abgehobene Spiritualität, sonderneine des Engagements. Nicht eine beruhigende oderauf sich selbst bezogene Spiritualität, sondern eineengagierte und aktive; nicht spiritualistisch, sondernspirituell und von dem Geist genährt, der lebendigmacht und verwandelt; eine Spiritualität, die indem Grad persönlicher ist, als sie in die Gesellschafteinbezogen ist. Sie ist in dem Grad tiefer und inner-licher, als sie offener nach außen und von außen ist.

All dies erfordert eine Verbindung zwischen Spiri-tualität und lebendiger Alltagspraxis. Ziel ist nicht,den Inhalt von Spiritualität in Aktivismus zu verlie-ren, sondern sie zu öffnen und zu einer Quelle derVerwandlung zu machen. Was die RATIO allgemeinüber die Ausbildung sagt, ist in gleicher Weise fürSpiritualität gültig: sie ist „erfahrungsorientiert, dasheißt, sie achtet auf das Leben und die Gaben jedereinzelnen Person, fördert die konkrete Erfahrungdes eigenen Lebensstils und der franziskanischenWerte im Alltag“ (47); und sie ist „praxisbezogen,insofern sie darauf abzielt, das, was man lernt, auchin die Tat umzusetzen“ (48). Sie betont die Not-wendigkeit einer Ausbildung, die vom Leben undder konkreten Erfahrung herkommt, sowohl in

Bezug auf die Postulanten (128,3), wie auch inBezug auf die Novizen (142), die Brüder mit zeitli-cher Profess (153) und jenen, die sich auf jedwedenkirchlichen Dienst vorbereiten (175; 177). ReineLehren und eine bloße Identifizierung mit dem Ideal bilden nicht. Bildung entsteht aus dem Kon-takt mit der Wirklichkeit, die durch den Glaubenerleuchtet und im Glauben gelebt wird. Eine Spiritualität, die aus der Tiefe der Wirklichkeit entspringt, macht uns zu staunenden Dienern desLebens in all seinen Formen, vor allem der Lebens-formen, die am stärksten bedroht sind.

II. Einige Ziele der Ausbildung „für Gerechtigkeit und Frieden“

Es ist wichtig, auf diese spirituellen Grundsätze hinzuweisen, an denen sich Ausbildung orientiert.Doch ist es ebenso notwendig, genauer und konkre-ter zu sein. In diesem zweiten Teil schaue ich auf die Ziele, welche die RATIO der Ausbildungzuspricht und die mit Gerechtigkeit und Frieden inVerbindung stehen.In einer Welt, in der alle Revolutionen fehlgeschla-gen zu sein scheinen und alle Utopien verflogensind, in der Skeptizismus, das Gefühl von Verwir-rung, die Empfindung von Ohnmacht und die„Ideologie des Unvermeidbaren“ wachsen, mussfranziskanische Ausbildung bestrebt sein, Brüderheranzubilden, die das Evangelium in der Welt von heute wirksam inkarnieren. Und dieses Ziel istnicht nur ein weiteres unter den anderen Zielen der Ausbildung; stattdessen macht dieses Ziel dieanderen authentisch und verleiht ihnen Bedeutung.Konkreter gesagt, franziskanische Ausbildung musssich bemühen, unter den Brüdern eine dreifacheHaltung und Aktivität zu entfachen: eine Weltsichtaus franziskanischer Perspektive, ein tatsächlichesund wirksames Mitgefühl gegenüber den Ärmsten,und ein Handeln für Gerechtigkeit in Frieden undfür Frieden in Gerechtigkeit.

1. Die Sicht der Wirklichkeit aus der Perspektive des Armen

Die RATIO drückt das gut in einem kurzen Artikelaus, der sich auf das Noviziat bezieht, aber auf alle Phasen der Ausbildung übertragbar ist: „DerNovize entwickle die Fähigkeit, die Wirklichkeit

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kennenzulernen, sie kritisch zu beurteilen und ausfranziskanischer Perspektive an ihr teilzunehmen“(143). Was ist die franziskanische Perspektive?Zweifellos jene, die von Jesus und Franziskus bevor-zugt wurde, die jener, die in dieser Welt einesAnwalts oder eines Verbündeten beraubt sind. Wiealle Perspektiven ist sie parteiisch, doch es ist dieParteinahme Gottes, die Jesus als Gute Nachrichtverkündete und Franziskus in eine Lebensform goss.„Die Wirklichkeit kennenlernen, sie kritisch beur-teilen, an ihr teilnehmen“ aus jener Perspektive: dasist das Ziel franziskanischer Ausbildung.

Die Weise ist wichtig, in der wir die Wirklichkeitbetrachten, kennenlernen und beurteilen. Es istzutreffend, dass wir in einer Zeit radikaler Unsicher-heit und allgemeiner Orientierungslosigkeit leben,und instinktiv ziehen wir globale Urteile über dieWirklichkeit in Zweifel. Dies kann auch eine Versu-chung werden; die Versuchung, auf jede Art vonKriterium zu verzichten. Es ist zutreffend, wir leben in einer „Galaxie von Komplexität“ (J. GarciaRoca). Wir müssen Vereinfachungen meiden undwollen nicht zu dogmatischen Sicherheiten, ideolo-gischen Lehren oder alles verstehenden Systemenzurückkehren. Gleichzeitig ist es ein Gebot desMinderbruders an sich selbst, „eine kritische Sichtder Gesellschaft und der Welt zu haben“ (162) und,wie in der RATIO entwickelt wird, eine „Sensibilitätgegenüber der Wirklichkeit zu entwickeln, um dieProbleme zu sehen und deren Ursachen zu verste-hen“ (180) und: „Der Minderbruder macht sich diefranziskanische Vision der Welt und des Menschenzu eigen und entwickelt ein ausgewogenes kritischesUrteil bezüglich den Ereignissen“ (32). Ein „ausge-wogenes Urteil“ ist kein unparteiisches oder neutra-les Urteil, das bewusst oder unbewusst Situationenvon Ungerechtigkeit hinnimmt und unterstützt.Vielmehr ist es ein Urteil, das von der Klarheit undParteilichkeit des Evangeliums geprägt ist. DieRATIO sagt auch, dass die Ausbildung sich bemühenmuss, den Brüdern die Fähigkeit zu vermitteln, die„Zeichen der Zeit zu verstehen“ (56,1c). Das großeZeichen der Zeit ist die wachsende Kluft zwischendem Reichtum einer Minderheit und dem Elendder Mehrheit. Ausbildung versucht, dem Minder-bruder eine klare und kritische Sicht der Welt zuvermitteln und sie zu vertiefen; nicht eine neutrale,sondern eine parteiische Sicht aus der Perspektiveder Armen; eine Sicht, die in der Welt auf Gott

schaut und die mit den Augen Gottes auf die Weltschaut.

Wir müssen diese Ziele ähnlich verstehen wie das,was die RATIO zu den theologischen Studien desMinderbruders aussagt: „Seinen Glauben mit denProblemen der zeitgenössischen Welt zu konfrontie-ren“, „Licht in die persönliche und soziale ‚Praxis‘des Glaubens zu bringen und diese zu fördern“(165), „ein Verständnis der zeitgenössischen Weltund der menschlichen Person“ (151) zu ermög-lichen. Wir wollen die moderne Welt und diemenschliche Person in ihr nur in dem Grade ver-stehen, dass Elend und Hunger in dem Maße ungerechter sind, als sie vermeidbar wären. Ange-sichts der Ungerechtigkeit bleibt kein Raum füreine unparteiische Theologie.

In diesem Sinn ist es wert, einige Züge der Theolo-gie besonders zu erwähnen, die sie gemäß den Nr. 166 und 167 der RATIO besitzen sollte: „EineTheologie, die eng mit dem Gebet verbunden ist;eine Theologie, die lebensnah und auf das konkreteHandeln ausgerichtet ist“ (166); „eine Theologieder Schöpfung, die das Lob des Schöpfers bekräf-tigt, den Menschen die Achtung vor dem Geschaf-fenen lehrt, in die ökologischen Probleme unsererZeit ein Licht des Glaubens bringt; eine Theologieund eine Christologie, die Gottes Heil und Befrei-ung als Antwort auf den Hilfeschrei und die Nöteder Armen von heute aktualisieren; eine Theologie,die anleitet zur Achtung vor dem Menschen undseinen Rechten; eine Theologie, die abzielt auf dieErrichtung einer brüderlichen Welt (Gerechtigkeit,Frieden, Ökumenismus) (vgl. Med E 59); eineTheologie, die in einer eschatologischen Vision verankert ist und in ihr die Kraft für den täglichenEinsatz findet“ (167).

2. Ein tatsächliches Mitgefühl für die Ärmsten

L. Feuerbach urteilte zutreffend, dass „Leiden demDenken vorausgeht“. In der Tat ist nur das, waserlitten wurde, erkannt, oder exakter, das wasgemeinschaftlich erlitten wurde. Unsere Weltbenötigt mehr denn je einen „mitfühlenden Verstand“ (J. Sobrino). In diesem Sinn habe ich in einem vorausgehenden Punkt erklärt, dass wirdie heutige Welt nur dann kennenlernen, wenn wir den Schmerz des Armen auf uns nehmen.

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Aber wir müssen auch das Gegenteil feststellen:Kenntnis muss ebenso Mitgefühl mitbringen, dasLeiden jenes „Teils der Bevölkerung auf sich zu neh-men und zu tragen“ (I. Ellacuría), der jeden Tagwachsenden Mehrheit auf unseren Planeten.

Im franziskanischen Wortschatz wird dieses Mit-gefühl als MINDERSEIN bezeichnet. Die Ratio zitiertFranziskus und die Generalkonstitutionen und ruftuns in Erinnerung, dass die Brüder berufen sind,um „als Mindere unter den Armen und Schwachenzu leben“ (10; NbReg 9,2), „in Armut, Demut und Maßhalten, inmitten der Kleinsten, ohneMacht und Privileg“ zu leben, „als Pilger undFremdling … als Bruder und jeder Kreatur unter-tan“ (22); dass die Minderbrüder „dem Beispiel des hl. Franziskus folgen, … , indem sie das Lebenund die Situation der Armen wählen, sich mit ihnenidentifizieren, den Unterdrückten, den Bedrängtenund den Kranken dienen und sich von ihnen evan-gelisieren lassen“ und dass sie „ausdrücklich Optionfür die Armen“ ergreifen, „indem sie zur Stimmederer werden, die keine Stimme haben, als Werk-zeug der Gerechtigkeit und des Friedens“ (25). Insbesondere erinnert die Ratio daran, dass Aus-bildung sicherstellen muss, dass die Brüder „imGeist … des Minderseins, der Einfachheit und desTeilens, vor allem mit den Geringen und denArmen dieser Welt“ (159) ihre Arbeit wählen undauf sich nehmen. Und wie Liebe nur wirklich ist,wenn sie konkret ist, und konkret ist, wenn sie beidem wirklich Nächsten geübt wird, so muss dasMitgefühl für die Unbedeutenden und die Optionfür die Armen zuerst in der Bruderschaft selbstbeginnen und sich ausdrücken, in Bezug auf dieBrüder der Bruderschaft, die es am meisten benöti-gen. Unter diesem Blickwinkel erklärt die RATIO imAbschnitt über das Noviziat, dass „Achtung undSorge für die älteren, kranken und schwachen Brü-der“ (144) der Bruderschaft ein Unterscheidungs-kriterium darstellt für die Eignung des Novizen zurersten Profess.

Da dieses Mindersein-Mitgefühl ein wesentlichesElement der Identität des Minderbruders ist, stelltes auch ein grundlegendes Ziel franziskanischerAusbildung für Gerechtigkeit und Frieden dar. DieAusbildung muss in dem Bruder jene Identifizie-rung in Urteil und Gefühl, in Verstand und Herzmit den letzten von allen anregen: mit der Dritten

Welt, mit der Vierten Welt und mit jenem sozialenRand, der jeden Tag größer wird, und identifiziertwerden kann durch das, was J. Garcia Roca „Ver-wundbarkeit“ nennt, d.h. all jene, die weder völligaus der Gesellschaft ausgegrenzt, noch völlig integriert sind, die vielmehr eine unsichere Existenzhaben: unsichere Arbeit, unsichere emotionaleBeziehungen, ein Gefühl von Unsicherheit in ihrenLeben.

Die Option für die Armen muss, um evangeliums-gemäß und franziskanisch zu sein, ihren Impulsnicht von Motivationen moralischer Art noch vonideologischen Überzeugungen herleiten, sondernvon einem Mitgefühl, das aus dem Herzen kommtund die ganze Person erreicht und verwandelt.Dann wird diese Option eine Erfahrung von Gnadeund kann authentisch gelebt werden als Ausdruckeiner ungeschuldeten Liebe: „es wurde mir in Süßeder Seele und des Leibes verwandelt“. In der Tat„gibt es eine Form der Liebe zur Gerechtigkeit, dieunter der Gefahr leidet, die Menschen nicht zu lieben“.

Innerhalb des Minderseins-Mitgefühls, das eingrundlegendes Ziel der Ausbildung darstellt, kön-nen wir einen Kernaspekt des franziskanischen Charismas einschließen, die „Achtung vor derSchöpfung“. Dieser Ausdruck wird oft in der RATIO

wiederholt: 21; 56,3c; 156; 162. Was bedeutet„Achtung vor der Schöpfung“? Es bedeutet Staunenund Bewunderung für alles, was existiert, weil es einGeschöpf Gottes ist und die Würde eines Brudersbesitzt, und weil in ihm Christus gegenwärtig istund angetroffen werden kann (vgl. 12). Die RATIO

erklärt, dass „Achtung vor der Schöpfung“ ein Kri-terium für die Eignung eines Bruders zur feierlichenProfess darstellt (156). Ausbildung soll entdeckenhelfen, dass Ökologie weder eine Frage egoistischerSorge einer reichen Gesellschaft ist, noch die ober-flächliche Äußerung einer bürgerlichen Spiritua-lität, sondern vielmehr etwas, das in die Mitte franziskanischen Glaubens gehört: das Verständnisder Geschöpfe als Subjekte und nicht als bloßeObjekte der Manipulation und des menschlichenKonsums, und das Gefühl der Achtung vor demunverletzbaren Recht jeder Kreatur. Ausbildungsollte entdecken helfen, dass es bei dem ökologi-schen Problem genau um das Recht auf Existenzeiner jeden Kreatur und um das Recht auf Überle-

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ben jener Generationen geht, die nach uns auf Mutter Erde kommen.

Hierin liegen die existentiellen Vorlieben von Verstand und Herz, welche die Ausbildung in denBrüdern anregen und stärken sollte. Dafür ist esunerläßlich, eine Pädagogik festzulegen, die kon-kret, anwendbar, kohärent und Teil eines Prozessesist, den die RATIO nicht leisten kann. Wie könnenwir sicherstellen, dass das Kriterium der Beurteilungund die praktischen Optionen der Brüder in Ausbil-dung geprägt von Mindersein-Mitgefühl sind? Wiekönnen wir es umsetzen, die mehr als oberfläch-lichen Idealisierungen vieler Kandidaten zu reinigenund authentisch werden zu lassen?

Wie können wir den Blick und die Gewohnheitender in unserer Welt Privilegierten ändern und siedurch die Prioritäten Jesu und des Franziskus erset-zen? Wie können diese Prioritäten vom Noviziat anmotiviert und spirituell gefestigt werden? Vermit-teln wir während des Zeitraums der zeitlichenGelübde Erfahrung und wirkliche Begegnung mitden Ärmsten, sodass diese Option im AlltagslebenWurzel schlagen kann? Das sind Lebensfragen fürdie Ausbilder und für die, die in Ausbildung stehen.Anderenfalls laufen Gerechtigkeit und FriedenGefahr, zu einer vagen Sehnsucht oder zu einer leeren Formel reduziert zu werden, wie es oftgeschieht.

3. Handeln zugunsten von Gerechtigkeit in Frieden und zugunsten von Frieden in Gerechtigkeit

Handeln für Gerechtigkeit und Handeln für Frie-den sind untrennbar. Sie sind ein und dasselbe. Sie bilden ein einziges Ziel und können in der Aus-bildung unmöglich getrennt werden. Der Minder-bruder, erklärt die RATIO, „arbeitet für Gerechtig-keit und Frieden und achtet die Schöpfung“ (21); ermuss sich zu einem „Werkzeug der Gerechtigkeitund des Friedens“ bekehren (25; 32), zu einem„Boten der Gerechtigkeit, des Friedens und der Versöhnung“ (180a). Darauf zielt franziskanischeAusbildung, daran wird sie gemessen. „Suche nachGerechtigkeit und Frieden“ (56,2b) findet sichunter den Aspekten christlichen Wachstums für denBruder in Ausbildung; der „Sinn für Gerechtigkeit,Frieden und Achtung des Geschaffenen“ (156) wirdals ein Kriterium für die Eignung zur feierlichen

Profess aufgeführt. Das „Bemühen, die Gesellschaftim Sinne der Gerechtigkeit, des Friedens und derAchtung vor der Schöpfung umzugestalten“ (162),ist unter den Zielen der Allgemeinbildung einge-schlossen. Kurz gesagt, Gerechtigkeit und Frieden,gemeinsam mit der Achtung vor der Schöpfung,stellen ein Prinzip, ein Kriterium und ein Ziel derAusbildung dar. Auf der Linie der RATIO möchteich das noch spezifischer ausführen.

Einerseits: Handeln zugunsten von Gerechtigkeit.In dem Maße, in dem die Ausgegrenzten und das„Verwundbare“ in unserer Welt und unserer Gesell-schaft Opfer von Ungerechtigkeit sind, muss sichdas Mitgefühl mit ihnen in Handeln gegen Unge-rechtigkeit und Handeln für Gerechtigkeit wan-deln. Die Ratio stellt klar, dass „der Minderbrudereinfühlsam ist und arbeitet, um jede Form vonUngerechtigkeit und die entmenschlichendenStrukturen in der Welt zu beseitigen“ (25); und dass„der Minderbruder bereit ist, kraftvoll alles anzukla-gen, was der Würde des Menschen widerspricht“(34). Dieses Element gehört auch zu den wesentli-chen Zielen der Ausbildung. Doch versäumt es dieRATIO nicht, auch eine Linie des Handelns fürGerechtigkeit aufzuzeigen, an die jederzeit zu erin-nern ist und die umgesetzt werden sollte; es ist näm-lich wichtig, „sich um die Empfänger der christli-chen Nächstenliebe zu kümmern, damit sie Prota-gonisten ihres menschlichen Vorankommens undihrer Befreiung werden“ (180a).

So ist die Arbeit für Gerechtigkeit nicht von derArbeit für Frieden zu trennen, genauso wie dieArbeit für Frieden untrennbar ist von der Arbeit für Gerechtigkeit. Wenn „Gerechtigkeit der Namefür Friede“ ist (Paul VI.), dann ist Friede der Name für eine voll verwirklichte Gerechtigkeit. DieRATIO betont in ihrem ersten Teil, dass der Minder-bruder berufen ist, „ein Mann des Friedens“ (28),ein „Bote der Versöhnung und des Friedens“ (3) zusein, „versöhnt und friedliebend“ (22) zu leben; er„trägt als Herold des Friedens diesen im Herzen undbietet ihn den anderen an (34; vgl. GG.CC. 68,2).„Einsatz für Versöhnung und Vergebung“ (56,3c)sollte das Wachstums eines Bruders in franziskani-scher Ausbildung kennzeichnen, und der „Geist der Barmherzigkeit und der Versöhnung“ (156) istein Kriterium für die Eignung zur feierlichen Profess.

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Natürlich ist ein „Geist der Barmherzigkeit und der Versöhnung“ nicht gleichbedeutend damit, inSituationen von Konflikt und Ungerechtigkeitkleinmütig zu sein. Ausbildung zum „Mann desFriedens“ oder zum „Boten des Friedens“ meintnicht, jemanden zu lehren, Konflikte zu vermeiden,sondern im Gegenteil ihn vorzubereiten, Konfliktenmutig zu begegnen. Die Ausbildung muss dafürSorge tragen, dass einer in Ausbildung weiterhin die „Fähigkeit zur Kommunikation und Konflikt-bewältigung“ (56,1b) erwirbt, angefangen mit dereigenen Bruderschaft. Die eigene Bruderschaft istder erste Ort, in dem die Brüder diese Fähigkeit zurKommunikation und zur „Konfliktlösung“ (64) fördern müssen.

Schließlich ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dassder Kampf für Gerechtigkeit in Frieden und fürFrieden in Gerechtigkeit eine Aufgabe voller Risi-ken ist und anfällig dafür, Fehler zu machen. Werimmer ein Werkzeug der Gerechtigkeit und desFriedens sein will, muss lernen, Komplexität undUnsicherheit, ebenso Zweideutigkeit und Fehler aufsich zu nehmen. Er muss lernen, in einen Konflikteinzusteigen, ohne ein Bündnis mit der Ungerech-tigkeit einzugehen und ohne einem Gefühl vonHass und Rache nachzugeben. Dies erfordert großeinnere Freiheit und Mut des Geistes. Aber dieseKraft ist nicht das Spezifikum von Helden, sondernvon jenen, die anerkennen, dass sie arm sind undVergebung benötigen, bedürftig und mit Gnadebeschenkt.

III. Einige Räume und Ausbildungs-instanzen, die „sich aus Gerechtigkeitund Frieden ergeben"

Nachdem ich, der RATIO folgend, aufgezeigt habe,dass Gerechtigkeit und Frieden eine spirituelleGrundlage und ein Ziel der Ausbildung darstellen,möchte ich im dritten Teil unterstreichen, dassGerechtigkeit und Frieden einen Ort und ein Mittelder Ausbildung bezeichnen. Wenn jede Spiritua-lität, wie jedes Wissen und Handeln, von dem Ortund dem Umfeld abhängt, muss das Gleiche auchvon der Ausbildung gesagt werden. Ausbildung istkeine Übermittlung von Ideen, sondern von Leben.Auch ist Ausbildung kein Informationsprogramm,

sondern ein Weg zur Verwandlung. Im Letzten istAusbildung wie Spiritualität eine Weise zu leben.Und Leben wird vor allem durch Aneignung undKontakt, durch Intuition und Zuneigung gelehrtund gelernt. Letztendlich wird sie von einemLebensstil her aufgebaut. In diesem dritten Teil will ich drei Züge von Gerechtigkeit und Frieden als einem Ort herausstellen, durch den der Brudergebildet wird: Treue zur Welt, Eingliederung-Inkulturation, Dialog.

1. Treue zur Welt von heuteIn der RATIO begegnen wir oft Ausdrücken wie„Welt von heute“, „Menschen unserer Zeit“ (3; 15;35; 66; 132; 137; 144; ...), und „Treue zu denErwartungen der Welt von heute“, „Treue zu denZeichen der Zeit“ (Vorwort), oder einfach „Treuezum Menschen und zu unserer Zeit“ (15).Was besagt diese Treue? An erster Stelle zeigt sie„Aufmerksamkeit“ an. In der Formulierung vonPOPULORUM PROGRESSIO, die von der RATIO

übernommen wird, fordert sie von den BrüdernAchtsamkeit gegenüber „dem Menschen, demganzen Menschen und allen Menschen“ (157); dieseAusbildung sollte „auf die erneuerten Appelle derWelt“ (50) achten, dass der Bruder in Ausbildung„aufmerksam auf die Zeichen der Zeit“ ist (26; 32);dass das Ausbildungshaus „auf die Welt und ihreGeschichte, auf die bestimmte soziale Wirklichkeit“achtet (79). Treue zur Welt und zu den Menschenvon heute ist selbstverständlich keine servile undunkritische Anhänglichkeit, sondern eine wachsameund aufnahmebereite Haltung. Sie bedeutet nichtKonformismus oder schnelle Anpassung, sondernein wachsames Hören auf die Stimmen, Schreie undForderungen der Menschen von heute.

Treue meint ebenso eine Antwort auf die aktuellenBedürfnisse der Welt. In der Beschreibung des Aus-bildungsprogramms der Brüder mit zeitlichenGelübden wird gesagt, dass wir auf „die Erwartun-gen und Bedürfnisse der zeitgenössischen Welt“ ant-worten müssen (150), und dies setzt ein „Verständ-nis der zeitgenössischen Welt“ voraus (151,3), einHinhören, eine verstehende Antwort. Und mehrnoch: Gemeinschaft. Die Ausbildung muss eine indie Tiefe gehende Gemeinschaft mit der Welt undden Menschen von heute anstoßen. Im Abschnittüber das Noviziat spricht die RATIO davon, dass einNovize sich vorbereitet, „theoretisch und praktisch

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eine tiefere Gemeinschaft mit den Menschen vonheute in ihrer geschichtlichen, sozialen, politischen,kulturellen und religiösen Wirklichkeit zu leben“(137; vgl. GG.CC. 127,3; 130). Ausbildung imGeist von Gerechtigkeit und Frieden fordert einaufmerksames Hinhören, eine positive Antwort,eine herzliche Gemeinschaft mit der Welt, in derwir leben, entgegen jenen häufigen Versuchungenzu tadeln und zu missbilligen. Wir müssen uns inder Ausbildung eher um Harmonie mit den Men-schen von heute bemühen als sie zu verurteilen,eher darum, mit ihnen zu gehen als uns aufzudrän-gen, ihnen eher Weggefährten zu sein als lehrhafteWarnungen zu erteilen.Treue zur wirklichen Welt erfordert schließlich vonden Ausbildern wie von den Auszubildenden einständiges kreatives Bemühen. Die RATIO unter-streicht, dass die Brüder sich kreativ mühen, neueWege zu entdecken, die Werte des Evangeliums zufördern und zu verbreiten (39). Dies ist, so dieRATIO, der Grund für die Notwendigkeit ständigerFortbildung. Ausbildung bedeutet, sich zu öffnen„für neue Formen des Lebens und des Dienstes“(50) und „sich ständig den Notwendigkeiten derKirche und des geschichtlichen Augenblicks anzu-passen“ (180a).

Das Evangelium ist immer neuartig, weil es immerunbekannte Neuigkeit ist und weil es Verkündigungund Hören auf eine menschliche Geschichte ist, diesich beständig ändert. Sie ist noch veränderlicher ineiner Zeit beschleunigter Wandlungen, wo dieSchemata und Lösungen von gestern heute schonversagt haben, wo jede neue Wandlung auch neueUngerechtigkeiten mit sich bringt und wo jedeUngerechtigkeit globale Dimensionen annimmt. Indieser Art von Welt muss Ausbildung helfen, unsereAugen offen zu halten und unsere ganze Existenzfrei und kreativ zu bewahren, im Dienst an denanderen.

2. Eingliederung in das Leben und die Kultur eines Volkes

Die RATIO betont, dass das Leben in der Bruder-schaft und in der Welt der geeignete Ort und dasbeste Mittel der Ausbildung ist. „Die franziskani-sche Ausbildung erfolgt in der Bruderschaft und inder realen Welt“ (43). Für eine evangeliumsgemäßeund franziskanische Sicht ist die unmittelbarsteWirklichkeit der Welt, in der wir leben, der Kon-

trast zwischen dem Reichtum der einen und derArmut der anderen. Franziskanische Ausbildungfordert daher ein Sichhineinbegeben – das sehr verschieden sein mag, das aber authentisch seinmuss – in die Wirklichkeit der Ärmsten in der Welt,in ihre Umgebung und in die Bruderschaft selbst.Der Bruder in Ausbildung muss „sich aktiv in dassoziale und gemeinschaftliche Leben“ einbringen(45).

Dieses Merkmal gilt in allen Phasen der Ausbil-dung, aber besonders in der Zeit der zeitlichen Pro-fess: „Der Bruder mit zeitlichen Gelübden gliederesich ein und sei solidarisch mit der Wirklichkeit derWelt und mit der Problematik des Landes, in wel-chem er seine Berufung zu leben gerufen ist“ (155).„Die praktische Ausbildung zu jedwedem kirchli-chen Dienst verwirklicht sich vor allem in der täg-lichen Erfahrung des Lebens in der Bruderschaft, in der kirchlichen Gemeinschaft, in der Gesellschaftund im besonderen unter den Armen“ (177). DieWorte „im besonderen unter den Armen“ bezeich-nen immer das, was kennzeichnend ist für Jesus undFranziskus, und das daher konsequenterweise aucheinen besonderen Aspekt für den Ort franziskani-scher Ausbildung darstellt. Franziskanische Ausbil-dung hat nicht nur ihren Ort im Geist des Minder-seins, sondern kommt auch aus der Erfahrung desMinderseins.

Natürlich mag die Weise des Sicheinfügens sehrunterschiedlich sein, aber eine wirksame Nähe zuund eine Erfahrung der Wirklichkeit der Welt, inder der Bruder in Ausbildung lebt, ist eine Bedin-gung und ein Mittel wie auch ein Ziel der Ausbil-dung, die für Gerechtigkeit und Frieden ist und vondiesen herkommt. Dies hat seine besondere Gültig-keit für die ständige Fortbildung: „Die ständigeFortbildung geschieht im Kontext des täglichenLebens des Minderbruders, im Gebet und bei derArbeit, in seinen Beziehungen sowohl innerhalb alsauch außerhalb der Bruderschaft, und in seinerBeziehung zur kulturellen, sozialen und politischenWelt, in der er sich bewegt“ (58). Die Erfahrungwirklichen Lebens in der realen Welt ist letztenEndes das, was bildet.

Wie können wir dieses Kriterium anwenden und inPraxis umsetzen? Die Ratio nennt verständlicher-weise keine Einzelheiten. Auf jeden Fall ist es inter-

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essant zu betonen, dass sie die Möglichkeit „kleinerAusbildungsbruderschaften unter den Armen“ (80)in Erwägung zieht.

Eine der fundamentalen Erfordernisse diesesSicheinfügens ist die Inkulturation. Die Ratio for-muliert den folgenden Grundsatz: „FranziskanischeAusbildung ist inkulturiert in die Lebensbedingun-gen, in die Bedingungen der Umgebung und derZeit, in denen sie sich vollzieht“ (49). Sie sagt wei-terhin, dass die Ausbildung eines Bruders mit zeitli-cher Profess eine „Einführung in das Verständnisder eigenen Kultur und der Religiosität des Volkes“(151,3) einschließen muss; und die Vorbereitungeines Minderbruders auf den Dienst der Evangeli-sierung erfordert eine „Bereitschaft zur Inkulturati-on und zur Wertschätzung der Volksfrömmigkeit,... Nähe zum Leben und zur Sprache des Volkes, die Kenntnis der anderen Religionen und Kulturenund den Dialog mit ihnen“ (179). All dies stellt eineoffensichtliche Forderung an die Ausbilder: „DieAusbilder sollen versuchen, ihre Arbeit in den kul-turellen Kontext, in welchem sie zu dienen berufensind, zu integrieren“ (100).

Kultur ist die Gesamtsumme aller Sinnbezüge, Verhaltenswerte und symbolischen Horizonte, diedas Leben von Individuen und Völkern gestalten

und motivieren; Kultur ist der Boden, den wir mitden uns Nächsten teilen, aber gleichzeitig auch das, was es uns erlaubt, uns den Entferntestenanzunähern und sie zu verstehen, das, was es unsgestattet, in einen Dialog einzutreten und in eineSuche von Gemeinsamkeiten. Es ist möglich undnotwendig, sich selbst von seiner eigenen Kultur herfür die der anderen zu öffnen. Schließlich ist es dieKultur eines anderen Volkes, die es uns ermöglicht,uns selbst tiefer zu verstehen. Kultur ist deshalbnicht eine bloße Aneignung, sondern ein Vordrin-gen zu den lebendigen Wurzeln von Individuen undVölkern, das uns fähig macht, nicht nur das Evan-gelium zu verkünden, sondern es auch von ihnen zuempfangen. Diese Begegnung ist der bevorzugteOrt für eine Ausbildung, die Gerechtigkeit undFrieden dienstbar sein möchte.

3. Dialog und Achtung der VerschiedenheitDie RATIO besteht auf dem Dialog, innerhalb wieaußerhalb der Bruderschaft: ein Bruder lebt „imHören und im Dialog“ (23), in der „Achtung derVerschiedenheit“ (75) innerhalb der Bruderschaftund „im Dialog mit den Menschen der eigenenZeit“ (33). Er „pflegt die Haltung des Wohlwollensund des Dialoges gegenüber den verschiedenen Kul-turen und Religionen“ (26). Im Ausbildungshaussollte „eine Atmosphäre des Vertrauens, des Dialogsund der Höflichkeit“ vorherrschen (76). Der Aus-bilder soll „die Fähigkeit besitzen, mit den anderenBrüdern zusammenzuarbeiten, Gespräche zu führenund ihnen zuzuhören“ (84). „Training zum aktivenHören“ (163) ist eines der wichtigen Ziele des Stu-diums der Humanwissenschaften. Eines der Zieleder theologischen Ausbildung besteht darin, „mitden anderen Christen, mit den anderen Religionenund mit den Agnostikern Gespräche zu führen“(165). „Kenntnis der anderen Religionen und Kulturen und der Dialog mit ihnen“ (179) ist einesder Erfordernisse für den kirchlichen Dienst.

Jeder Ort in der Welt, an dem wir leben, ist zu-nehmend mehr eine Straßenkreuzung, wo wir unsin der unersetzbaren und nicht reduzierbarenGegenwart von anderen vorfinden, anderer mitihrer Sprache und Logik, Religion und Moral, Ethik und Politik. Wir leben in einer Welt, die täglich mehr zu einem Dorf wird, aber trotzdemimmer pluralistischer ist. Die sogenannte Post-moderne ist wesentlich das Ergebnis des radikalen

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Pluralismus unserer Gesellschaften. Insbesonderewerden wir heute mit Religionen und Kulturenkonfrontiert, die über Jahrhunderte unbekanntwaren und die durch unseren christlichen Westenund durch unsere eurozentrische Kirche verbanntgewesen waren. Es sind Kulturen und Religionen,die keinesfalls auf das reduziert werden können, was wir bereits kannten oder annahmen, dass sie seien. Es sind Kulturen und Religionen, die unsereSicherheiten stören und unseren Ansprüchen widersprechen; so bekehren sie uns und spornenuns an, auf eine menschlichere Weise an einenmenschlicheren Gott zu glauben.

Pluralismus ist eine der größten Herausforderungenfür Ausbildung: zu helfen, diesen Pluralismus aufeine positive Weise anzunehmen; mehr noch, aufeine solche Weise zu helfen, dass dieser Pluralismusverwandelt wird zu einem Ansporn und einem Mit-tel der Ausbildung, zu einer Übung zum Wachstumund zur gemeinsamen Suche, ohne in Skeptizismus

oder Dogmatismus zu verfallen, ohne Relativismusoder Intoleranz zu dulden. Der enge Weg, dem wirfolgen müssen, besteht im Dialog, der uns gestattet,dass Kreuzungen zu Begegnungsstätten werden,dass Unterschied zum Dialog wird, dass Verschie-denheit zu einer gemeinsamen Straße wird, Gerech-tigkeit und Frieden entgegen.

Abschließend sei gesagt: Ausbildung trägt zu Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bei, indem siedie Brüder in eine Spiritualität einführt, die dieNachfolge Jesu und den Glauben an einen partei-nehmenden Gott inkarniert. Sie führt die Brüderdazu, die Welt mit den Augen Gottes zu sehen und sich mit ihm zu verbinden, d.h. mit dem Mitgefühldes Gekreuzigten. Sie lehrt die Brüder, als Menschenwie als Gläubige ausgehend vom Standpunkt desSicheinfügens in die Welt und durch den Dialog mitden Menschen zu reifen.

José Arregui OFM

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