Egoismus, der beste Nährboden für Selbstliebe Veit Lindau
Auszug aus „Heirate dich selbst. Wie radikale Selbstliebe dein Leben
revolutioniert“, Veit Lindau. Zum Buch.
Wenn ich in unseren Seminaren über Selbstliebe spreche, bekomme ich immer
wieder ein altes Vorurteil zu hören: „Ist das nicht zu egoistisch?“
Wir benutzen diesen Vorwurf auch gern in unseren Beziehungen, um unserem Partner
Schuldgefühle zu bereiten: „Du kaltherziger Egoist, du denkst ja nur an dich!“
Aus spirituellen Kreisen kommen immer mal wieder arme, gestresste Klienten zu mir, die völlig
verzweifelt versuchen, ihr Ego hinter sich zu lassen oder sogar zu töten. Der Haken ist: Sie
wissen weder so richtig, was das Ego ist, noch wo sie es finden können.
Also dachte ich mir, es ist höchste Zeit, einmal ein Loblied auf den gesunden Egoismus
anzustimmen. Die Entwicklungspsychologie hat in den letzten Jahrzehnten enorm viele Daten
aus sehr verschiedenen Kulturen über die Entwicklungsstadien eines menschlichen Lebens
gesammelt und ausgewertet. Daher wissen wir, dass Egozentrik eine universelle und sehr wichtige
Phase in der Reifung des menschlichen Bewusstseins ist. Ein Kind im Alter von ...bis .... kann gar
nicht anders, als seine Umgebung aus einer puren egozentrischen Perspektive zu betrachten. Das
bedeutet, es sieht und fühlt wirklich nur sich selbst. Es ist unfähig1, den Blickwinkel eines
anderen Menschen anzunehmen. Alles was zählt, bin Ich: Meine Bedürfnisse, meine Gedanken,
meine Impulse. Kids in diesem Alter sind und bleiben kleine, liebenswerte und gleichzeitig sehr
selbstsüchtige Monster. Liebe Eltern, da gibt es nichts schönzureden – und das ist auch gut so.
Es gilt die Maxime: Möglichst viel Freiraum für Ausprobieren schaffen und gleichzeitig für eine
intelligente Schadensbegrenzung sorgen.
Verläuft die Entwicklung eines Menschen normal, d.h. ungestört, lernt er in dieser Phase seine
elementaren Bedürfnisse kennen und auch dafür einstehen. Er reift im Alter von .... ganz
natürlich von der Egozentrik in die Ethnozentrik. Vereinfacht gesagt: Sein Verständnis davon, 1 Die Betonung liegt auf unfähig, liebe Eltern. D.h., auch deine dreitausendste Belehrungstirade
darüber, wie traurig Mutti ist und dass dein Kleiner doch darauf Rücksicht nehmen soll, wird
immer noch reine Verständnislosigkeit in deinem Kind auslösen.
wer er ist und was ihn angeht, erweitert sich auf seinen ganzen Stamm (die Familie, die Gang, der
Verein, das Team,...). Die meisten Menschen schlafen leider auf dieser Entwicklungsstufe leider
ein, so bald ihr Stamm alles hat, was er zum bequemen Leben braucht (Kinder, Job, Haus,
Gartenlaube). Wir ziehen einen Zaun um unser Glück und versuchen, das, was da draußen
abgeht, zu ignorieren. Der gesamte Planet sehnt sich schmerzhaft nach mehr Menschen, die den
Sprung zur nächsten Entwicklungsstufe schaffen: der Weltzentrik und später sogar der
Kosmozentrik. Hier öffnen wir unser Herz und unser Selbstverständnis für die Belange der
ganzen Welt. Doch davon wird eines meiner nächsten Bücher handeln.
Für das Verständnis der radikalen Selbstliebe ist es wesentlich zu verstehen, dass eine klare, starke
Liebe für ein Anderes ganz natürlich aus den Wurzeln eines gesunden Egoismus hervorgeht.
Doch was geschieht, wenn wir in der egozentrischen Phase unseres Lebens empfindlich gestört
werden, z.B. in dem uns massiv Schuldgefühle vermittelt werden, wenn wir uns für unsere
Bedürfnisse stark machen? Dann bleibt ein Teil unserer Persönlichkeit auf dieser
Entwicklungsstufe stehen und wartet darauf, erlöst zu werden. Dies ist eine einfache Erklärung
dafür, warum erwachsene Männer und Frauen, die in ihrem Job überaus erfolgreich und
selbstbewusst agieren, sich urplötzlich in kleine infantile Wesen verwandeln können, wenn ihnen
jemand privat richtig nahe kommt.
Um uns der Frage: „Was ist eigentlich Liebe?“ nüchtern und wach zu nähern, ist ein gesund
entwickeltes Ego überaus hilfreich. Wer es in seiner Kindheit nicht aufbauen konnte, neigt zu
einem der beiden Extreme:
a. Er steht auf Kriegsfuß mit seinen eigenen Bedürfnissen, bzw. kennt sie gar nicht. Dann
wird er unbewusst versuchen, sie über andere Menschen auszuleben, z.B. durch ein
Helfersyndrom, kaschiert unter dem Deckmantel der Nächstenliebe.
b. Er ist auf der egozentrischen Stufe stehen geblieben und hat sich in sein eigenes
Spiegelbild verliebt. Narzissten lieben nicht wirklich sich selbst. Sie starren verzückt auf
das Bild, was sie von sich erschaffen haben und benutzen die Welt um sich herum, um
dieses Image aufrechtzuhalten.
Beides hat nichts mit wacher, reifer Selbstliebe zu tun, sondern sind Symptome eines ungesunden
Egoismus.
Was kannst du tun, wenn es dich betrifft?
1. Nimm dir Zeit, ein eigenes Verständnis zu entwickeln, was das Ego ist2. Hier meine
Kurzdefinition, als Anregung für dich, darüber nachzudenken: Mein Ego ist eine
Ansammlung von Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern, entwickelt von meinem Bewusstsein, mit einem
einzigen Ziel: Das optimale Überleben meines Fleischklöpschen zu sichern.
2. Schließ als Frieden mit der Tatsache, dass du ein Ego hast und das sehr wahrscheinlich
solange deine Seele an ein Fleischklöpschen gebunden ist.
3. Achte das Ego, aber bewerte es nicht über. Du zollst ja auch dem Parkwächter, der auf
dein Auto aufpasst, Dankbarkeit und versuchst nicht, ihn zu transzendieren3. Auf der
anderen Seite überlässt du ihm sicher nicht die wichtigsten Entscheidungen über dein
Leben und die Zukunft der Menschheit.
4. Der Aufbau eines gesunden Egos wurde in deiner Kindheit gestört? Du hast dir ein paar
Neurosen eingefangen, die deinem Glück eher hinderlich sind? Das ist doof, aber nicht
schlimm. Hol es nach, ohne ein großes Drama draus zu machen. Dafür sind die
wichtigsten Beziehungen deines Lebens da. Sie ermöglichen dir, ehrlich zu deinen
Macken zu stehen und sie nebenbei zu heilen, während du weiter funktionstüchtig
bleibst.
Um diese Form der Heilung und Egoentspannung zu erfahren, musst du Nähe zu einem anderen
Wesen zulassen. Das ist weder sicher noch bequem. Du musst nämlich dafür die Masken deiner
äußeren, scheinbar perfekt funktionierenden Persönlichkeit loslassen und das macht dich auch
angreifbarer. Solche Beziehungen besitzen die Macht, dich völlig überraschend an deinen wunden
Punkten zu berühren und dabei einen unglaublich tiefen Schmerz in dir auszulösen. Wenn er
kommt, täusche dich nicht über seine Ursache. Es ist nicht der Mensch, der gerade vor dir steht.
Du hast ihm erlaubt, dir nahe zu kommen und er hat dabei eine uralte Wunde in dir berührt. Die
Wunde des Vergessens. Du hast irgendwann auf deiner Reise vergessen, wer du wirklich bist. Die
Tiefe deines Schmerzes ist ein Ausdruck dafür, wie weit du dich verloren hast. Jedes Mal, wenn
du einem anderen Menschen nackt und ungeschützt begegnest, riskierst du, dass diese Wunde
wieder aufbricht. Das ist gut so! Es gibt keine Alternative. Denn du bist hier, um diese Wunde zu
erkennen und zu heilen. Deshalb hast du vor langer, langer Zeit einigen wenigen Menschen die 2 Ich habe manchmal Kontakt zu spirituellen Szenen, in denen auf eine Weise vom Ego
gesprochen wird, dass sich einem die Nackenhaare sträuben und unweigerlich der Eindruck
entsteht, dieses Ding muss ja ein ganz ruchloses, perfides Monster sein. Frage ich dann nach, was
das Ego denn eigentlich sei, bekomme ich oft nur leere, nachgeplapperte Plattitüden zu hören.
3 Oder muss ich mir Sorgen um dich machen?
Vollmacht gegeben, zum richtigen Zeitpunkt in dein Leben zu kommen und mit ihren kleinsten
Gesten deinen Schmerzkörper bis ins Mark zu erschüttern. Kämpfe nicht gegen diese Menschen.
Achte sie. Es sind deine Zen-Meister, deine Heiler, deine Befreier.
Als ich meiner jetzigen Ehefrau Andrea und ihrer damals dreijährigen Tochter Leona begegnete,
war von Beginn an klar, dass dieses herzhafte, wunderschöne Doppelpack die Befugnis der Liebe
hat, mich in den tiefsten Schichten meines Seins zu berühren. Nie zuvor habe ich mich in einer
Beziehung so geliebt und ungeliebt gefühlt. Zu Beginn bin ich diesem Heilungsprozess
unbewusst begegnet. Ich erinnere mich noch gut an eine Situation, ganz am Anfang. Wir saßen
zu dritt an einem wunderschönen karibischen Strand und ich stritt mich verbittert mit Leona um
einen letzten Marsriegel. Aus dem erwachsenen Mann war ein dreijähriger Junge hervor
gebrochen, der sich nicht genug gesehen und erkannt fühlte. Damals verstand ich nicht, was mit
mir passierte und lebte diese Regression sehr destruktiv aus. Es gab kein entspanntes
Zeugenbewusstsein, welches die Situation reflektieren und angemessen einordnen konnte. Ich
habe das Kino nicht mehr beobachtet. Ich war komplett vom Drama absorbiert und mit der
Rolle des enttäuschten Dreijährigen identifiziert. Wenn sich deine unerfüllten Anteile so
unbewusst austoben, löst sich leider gar nichts. Du wiederholst lediglich die alten Geschichten,
verstärkst die neurotischen Muster und erschaffst eine Menge Leid – für dich und für deine
Umgebung4.
Doch ist es möglich, eine angeknackste Egozentrik zu heilen, ohne deine Umgebung massiv
damit zu belasten? Ja. Es ist nicht leicht, aber einfach. Du brauchst dafür Bewusstheit,
Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation und Humor. Leben strebt nach Ausgleich
und Heilung. Solange du bestimmte Aspekte deiner Persönlichkeit ablehnst, werden sie diese
vertrauten Beziehungen nutzen, um sich zu zeigen. Die Kunst liegt darin, ihnen nicht das ganze
Spielfeld zu überlassen, sondern bewusst dabei zu bleiben. Stärke den Zeugen in dir, jene
reflektierende Instanz, die alles, was geschieht, einfach nur unbeteiligt beobachtet. Wie?
1. In dem du ehrlich und genau kommunizierst, was gerade geschieht. „Oh Liebling, es ist
mal wieder so weit. Mein Chef hat mich gerade runtergeputzt und wenn ich ganz ehrlich
bin, fühle ich mich gerade klein und verunsichert. Kannst du mich einfach in den Arm
4 PS: Meine Tochter hat es mir später in Freude heimgezahlt. Ich hatte die Situation längst
vergessen, da schenkte sie mir zu meinem 40. Geburtstag 40 Marsriegel. Auf der beiliegenden
Glückwunschkarte stand: „Damit du nie wieder kämpfen musst.“
nehmen und halten?“ Oder: „Ich weiß, dass es eigentlich lächerlich ist, doch mir ist es
gerade wichtig, dieses letzte Stück Kuchen nicht mit dir zu teilen.“
2. Wenn du getriggert bist, erforsche aufmerksam, welches unerfüllte Bedürfnis sich gerade
zu Wort meldet. Anstatt es zu bekämpfen oder den anderen mit Vorwürfen zu
überhäufen, frage dich: Auf welche intelligente, konstruktive Weise könnte ich jetzt für
mich selbst sorgen und mir dieses Bedürfnis erfüllen?
3. Humor. Andrea und ich leben nun seit 18 Jahren fast ununterbrochen, 24h am Tag,
neben und miteinander. Wir teilen Leben, Arbeit, Sex – einfach alles. Zu Beginn wühlten
wir so oft in unseren alten Wunden, dass wir kaum handlungsfähig waren. Mittlerweile ist
vieles vollendet und geheilt. Doch noch immer kann es vorkommen, dass wir die
Triggerpunkte des anderen so perfekt erwischen, und er innerhalb von Sekunden in ein
kleines, bockiges, wütendes, ängstliches Kind mutiert. Was uns sehr, sehr geholfen hat,
die übertriebene Emotionalität aus diesen Momenten zu nehmen, sind Humor und Spiel.
Anstatt dem alten Drama die Macht zu geben, verwandeln wir es liebevoll in eine
Persiflage. Wir stülpen die Schmolllippen noch übertriebener nach außen. Wir stellen die
Liebe des anderen mit so einem dramatischen Gestus5 in Frage, dass wir schon wieder ins
Schmunzeln kommen müssen. Respektiere deine Wunde und nimm dich damit nicht zu
ernst. Mach die Augen auf: Jeder Mensch wurde verletzt, trägt unerfüllte Bedürfnisse in
sich und wünscht sich, erkannt zu werden.
Um es in einer Metapher zu sagen: Stell dir vor, wie sich das nicht geliebte Kind damals im
Garten deiner Seele hinter einem großen Baum versteckte. Heute bist du erwachsen und kannst
für dich selbst sorgen. Rufe dein inneres Kind herbei. Lass ihm alle Zeit der Welt dafür. Es wird
kommen. Unbeholfen, zaghaft, vorsichtig, in seinem Tempo. Nimm es an die Hand und höre
ihm zu. Kümmere dich um seine Bedürfnisse, ohne dabei die Menschen um dich herum aus den
Augen zu verlieren. Es ist sehr wohl möglich, ein funktionstüchtiger, reifer Erwachsener zu sein
und parallel die Phase der Egozentrik in dir bewusst zu erfüllen und zu vollenden.
Wenn du versuchst, reifer zu sein, als du bist, gleichst du jenem Gärtner, der ständig in den
Gärten anderer Menschen helfen wollte, während sein eigenes Paradies traurig verwilderte und
vertrocknete.
Du bist ein guter Mensch und möchtest gern die Welt retten?
5 Wir nennen es „Titanic“-Feeling, frei nach dem romantischsten und dramatischsten Film aller
Zeiten.
Das find ich wunderschön.
Tu der Welt einen Gefallen und fang mit dir an.
Rette dich.