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DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 3⁄02 …00000000-394d-2b21-0000-000043... · 2...

Date post: 18-Sep-2018
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Aus der Arbeitswelt. Perspektiven und Analysen DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 3/02 unimagazin
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Aus der Arbeitswelt.Perspektiven und Analysen

D I E Z E I T S C H R I F T D E R U N I V E R S I T Ä T Z Ü R I C H 3 ⁄ 0 2

unimagazin

2

UNIMAGAZIN 3/02

ED I TOR IAL

Moderne Zeiten – für die Arbeitswelt in Char-lie Chaplins gleichnamigem Film von 1936

meinte das seelenlose Fliessbandarbeit. Ein Rä-derwerk, in das die Arbeitstätigen eingespanntsind, wie eine der wohl berühmtesten Einstellun-gen der Filmgeschichte zeigt. Entgegen diesemklaustrophobischen Bild automatisierter Arbeitversprechen die zahlreichen Schlagworte des In-formationszeitalters Befreiung: von Jobnomadenspricht etwa die deutsche Publizistin und Zu-kunftsforscherin Gudrun Englisch, oder von derIch-AG.

Vorbei sind demnach die Zeiten der Festan-stellung und des kontinuierlichen Hochdienens in

Richtung Chefsessel – die gut aus-gebildeten Berufsleute von heutesind flexibel und mobil. Ihr Büroist das Laptop, das Wissen ihrKapital. Als Lebensunterneh-mer, oder eben Ich-AGs, han-geln sie sich von Projekt zu Pro-jekt. Ihre Biographien und Kar-rieren verlaufen nicht mehrgeradlinig, sondern setzen sich

aus einem Patchwork von Kompe-tenzen und Erfahrungen zusammen, die sie überdie Jahre hinweg gesammelt haben. Mit Chaplinsdüsteren Visionen haben Lobeshymnen auf denmodernen Lifestyle, wie sie Gudrun Englisch vor-trägt, nicht mehr viel gemeinsam. Inwieweit diesertatsächlich den Arbeitsalltag bestimmen wird,bleibt allerdings fraglich.

Unbestritten ist, dass sich die Arbeitswelt in denletzten Jahrzehnten stark gewandelt hat. Die rapi-de sich entwickelnden Informations- und Kom-munikationstechnologien haben vielen Arbeits-tätigkeiten und Arbeitsumgebungen eine neue Ge-stalt verliehen. Mit ihnen verändert haben sich dieAnforderungen, aber auch die Chancen und Per-spektiven für Arbeitnehmer und Unternehmen.Aus dem Blickwinkel der Wissenschaft wirft dasvorliegende «unimagazin» Schlaglichter auf aktu-elle Themen und Trends aus der Arbeitswelt – vonder Telearbeit bis zur Sicherheit am Arbeitsplatz,von Fragen der Arbeitspsychologie bis zur Gleich-stellungsproblematik. Genauso werden aber auchvergangene und künftige Entwicklungen durch-leuchtet. Einen Einblick in die Arbeitssituation vonFlüchtlingen in der Schweiz gibt zudem derliterarische Text des kurdischen SchriftstellersYusuf Yesilöz.

Computertechnik und Internet machen es zu-nehmend möglich, Arbeitsprozesse von Raum und

Zeit zu lösen. Sie erlauben es theoretisch, eine stei-gende Anzahl von Arbeitstätigkeiten von unter-wegs oder von zuhause aus zu erledigen. Bereits inden 70er-Jahren sagte man voraus, die so genannteHeimtelearbeit würde einen unweigerlichen Sie-geszug in der Arbeitswelt antreten. Weshalb sichdiese Prognosen als falsch erwiesen haben, zeigtein Beitrag aus der Soziologie. Aus wissenschafts-geschichtlicher Perspektive wiederum wird die Ent-wicklung des Arbeitsplatzes Labor nachgezeichnet– von den Laboratorien der Alchemisten bis zurheutigen Vision vom «Lab on a chip».

Künftig wird die Wissensarbeit an Bedeutungzunehmen und sich der Fokus von den einzelnenMitarbeitenden auf das Team verlagern. Bereitsseit geraumer Zeit versuchen Unternehmen des-halb unter dem Schlagwort «Wissensmanage-ment» das Know-how ihrer Mitarbeiter besser zunutzen und zu vernetzen. SozialpsychologischeMethoden und Modelle leisten dabei Hilfe: Siekönnen aufzeigen, welche Rahmenbedingungendem Teilen und Tauschen von Wissen förderlichsind, wie ein weiterer Beitrag zeigt. Dass Mitspra-che und Partizipation im Betrieb auch für die Mo-tivation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternzentral sind, macht zudem ein Artikel aus der Öko-nomie deutlich. Die in der Wirtschaft verbreiteteAuffassung, die Motivation könne nur mit Lohn-anreizen beflügelt werden, greift demnach zu kurz.

In der Schweiz sind immer mehr Frauen er-werbstätig. Trotz diesem Trend sind sie aber nachwie vor weitaus schwächer ins Berufsleben inte-griert als Männer. Nicht erwerbstätig zu sein, be-deutet neben dem Ausschluss aus einem zentralenLebensbereich auch finanzielle Abhängigkeit undein tiefes gesellschaftliches Prestige. Soziologin-nen und Soziologen der Universität und der ETHZürich haben in einer umfassenden aktuellenStudie die Bedingungen für eine kontinuierlicheErwerbstätigkeit von Frauen untersucht. Nebenindividuellen Faktoren hat sich dabei vor allemauch die Qualität des Arbeitsmarktes als wichtigerwiesen.

Als Forschungs- und Bildungsinstitution ist dieUniversität eines der wichtigen Fundamente der ge-genwärtigen und künftigen Arbeitswelt. Eine derStärken des Hochschulstudiums dürfte auch wei-terhin darin bestehen, nicht fixfertige Berufsleuteauszubilden, sondern das Forschen und Lernen zulehren. Denn die so oft propagierte Flexibilität be-ginnt schliesslich im Kopf – so gesehen ist die Uni-versität bereits bestens für den Weg in die Zukunftgerüstet. Roger Nickl

Jobnomaden und Ich-AGs

58 Das Buch Afghanistan am Scheideweg

59 Porträt Weiterbildungschef Klaus Burri

60 Bau und Kunst Arbeitsort Museum

63 Glosse Im Reich der Alphatiere

3DOSS IER ARBE I T

R U B R I K E N

I M P R E S S U M

4ZettelwirtschaftIn seinen zeichnerischenInstallationen zeigt derKünstler Michael Günzburgereinen subjektiven Blick aufArbeitsumgebungen.ROGER NICKL

6Abenteuerliche ArbeitssucheZwei Kurden machen sich aufArbeitssuche ins ThurgauerHinterland. Ein literarischerText um kulturelle Differen-zen.YUSUF YESILÖZ

9Arbeit im GesprächWie sieht das Arbeiten inZukunft aus? Gerät dieWork-Life-Balance aus demGleichgewicht, oder ent-wickeln wir uns alle zu hochmotivierten Lebensunterneh-mern? Eine Diskussion.BRIGITTE BLÖCHLINGER

14TelearbeitMit Hilfe neuer Informations-technologien könnten vieleArbeiten zu Hause erledigtwerden. Prognosen über dieAusbreitung der Heimtelear-beit haben sich aber nicht be-stätigt. Eine Zwischenbilanz. HANS GESER

43Produktives AlterDer Trend zur immer frühe-ren Ausgliederung kompeten-ter Menschen aus demArbeitsleben erweist sichzunehmend als Sackgasse.FRANÇOIS HÖPFLINGER

47Hohe WerteInwiefern beeinflussen sozialeNormen wie die Arbeitsmoraldie Arbeitslosigkeit in derSchweiz? Resultate einer öko-nomischen Untersuchung.RAFAEL LALIVE D’EPINAY,

ALOIS STUTZER

50 Gesunde ArbeitsplätzeDie Arbeitsmediziner der Uni-versität Zürich beschäftigensich mit gesundheitlichen Ri-siken am Arbeitsplatz undmit Faktoren für das Wohlbe-finden von Mitarbeitern.BRIGITTE MERZ

54Schlagworte diskutieren«Flexibilität», «Effizienz»und «lebenslanges Lernen»sind Schlagworte der Arbeits-welt. In der Pädagogik gebensie Anlass, Perspektiven derBildung neu zu diskutieren.DANIEL TRÖHLER

18Rechner und RetortenIm Laufe der Zeit hat sich derArbeitsort Labor stark verän-dert. Ein Blick auf die histori-sche Entwicklung.ERNST PETER FISCHER

22Erfolgreich Wissen teilenSozialpsychologische Modelleund Methoden zeigen, wieder Wissensaustausch unterMitarbeitern gefördert wer-den kann.KARIN S. MOSER

25Geld ist nicht allesLohnanreize allein reichennicht aus, die Motivation vonMitarbeitern zu beflügeln.BRUNO S. FREY,

MATTHIAS BENZ

29Arbeitsfrust, Freizeitglück?Spricht man von der emotio-nalen Seite der Arbeit, domi-nieren meist negative Sach-verhalte. Freizeit gilt dagegenals alleiniger Hort desGlücks. Eine Differenzierung.URS SCHALLBERGER

UNIMAGAZIN 3/02

unimagazinDie Zeitschrift der Universität ZürichNr. 3, November 2002

Herausgegeben von der Universitätsleitung der Universität Zürich durch unicommunication, Schönberggasse 15a, CH-8001 Zürich, Telefon

01/634 44 30, Fax 01/634 23 46, Internet: http://www.unicom.unizh.ch/magazin/ Leitung: Dr. Heini Ringger (E-Mail heini.ringger@uni-

com.unizh.ch). Redaktion: Roger Nickl (E-Mail [email protected] ). Gestaltung und DTP-Produktion: Atelier Peter Schuppisser, Zürich.

Sekretariat: Claudia Heger. Druck: NZZ Fretz AG. Auflage: 20000 Exemplare. Erscheint viermal jährlich. Bildthema/Titelbild: Michael Günzburger.

Die Redaktion behält sich die sinnwahrende Kürzung von Artikeln, das Einsetzen von Titeln und Hervorhebungen vor. Beiträge von Dritten müs-

sen nicht unbedingt der Meinung der Universitätsleitung der Universität Zürich entsprechen. Alle nicht entsprechend gekennzeichneten Artikel

wurden exklusiv für dieses Magazin geschrieben. Artikel und Fakten können auch ohne ausdrückliche Genehmigung der Redaktion abgedruckt

werden, sind aber mit dem Hinweis «unimagazin. Die Zeitschrift der Universität, Nr. 3/02» zu kennzeichnen. Davon ausgenommen sind Beiträge

und Illustrationen, die mit einem Hinweis auf ein bestehendes Copyright versehen sind. Belegexemplare sind erwünscht. Die nächste Ausgabe

des unimagazins erscheint im Februar 2003. Thema: «Life Science».

Das Magazin der Universität Zürich ist auf dem WWW:http://www.unicom.unizh.ch/magazin/

32Emotionale TankstellenKantinen als Gegenmodellezur Fabrikarbeit, Kaffee-Ecken als Informationszent-ren in Büros: Die Gestaltungdes Pausenverhaltens hat inder Arbeitswelt Tradition –mit wechselnden Funktionen.GABRIELA MURI

36Kontinuität und UnterbruchWovon hängt es ab, ob Frau-en in der Schweiz kontinuier-lich erwerbstätig bleiben?Ergebnisse einer soziologi-schen Studie.IRENE KRIESI, STEFAN SACCHI,

MARLIS BUCHMANN

40Unbezahlte ArbeitDer Beitrag der meist vonFrauen geleisteten, unbezahl-ten Arbeit ist volkswirtschaft-lich von enormer Bedeutung.Immer noch fehlen abergenaue Methoden, um ihrenWert zu messen. ELISABETH BÜHLER

4 B I LDTHEMA

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Zeichnerische ZettelwirtschaftVON ROGER NICKL

Am Anfang der Kreativität steht der Zufall.Darauf muss man zumindest schliessen, wenn

man folgender Anekdote glauben will: SpencerSilver, ein amerikanischer Chemiker, bekam1970 von seiner Firma den Auftrag, einen Super-kleber herzustellen. Das Experiment misslangzünftig. Anstatt die Dinge auf alle Ewigkeit mit-einander zu verschweissen, liess sie der Leim le-diglich leicht zusammenhaften. Als ihm jedochein Freund, Mitglied in einem Kirchenchor, vonseinen Mühen berichtete, die Lesezeichen in sei-nem Gesangsbuch zu fixieren, hatte Silver einezündende Idee. Das Post-it war erfunden. Heutesind die bunten Haftzettel aus dem Büroalltagnicht mehr wegzudenken. Sie dokumentieren dieSpuren vergangener Telefongespräche und ver-weisen auf künftige Termine. Als Erinnerungs-stützen kleben die kleinen Ordnungshüter anComputerterminals und Schreibmatten, in Agen-den und an Pinnwänden.

Post-its bilden auch die Grundlage für diezeichnerischen Installationen, die der aus Bernstammende Künstler Michael Günzburger fürdieses «unimagazin» geschaffen hat. Reduzierte,zuweilen witzig bis skurille Auslegeordnungenaus dem gegenständlichen Nahbereich von Ar-beitsplätzen. Wichtig sind Günzburger dabei oftnicht die realen Gegenstände und Werkzeuge –«die sind ja bereits da» –, sondern ihre subjektivwahrgenommene Form. «Mir geht es darum, denBetrachtern die Stimmung eines Objekts zu ver-mitteln», erklärt der 28-jährige Zeichner. DieGegenstände sollen nicht immer klar erkennbarsein. Im Gegenteil, durch ihre Deutungsoffenheitund Ambivalenz sollen sie subjektive Assozia-tionen ermöglichen. Auf das Individuelle diesesBlickes verweist auch der Collagecharakter derPost-it-Arrangements: die Sujets entstehen ausmehrteiligen Wahrnehmungsfragmenten.

Unberechenbarer Strich

Ihre Faszination und Kraft beziehen die ArbeitenMichael Günzburgers aus dem Weglassen und derAndeutung. Aus der Spannung auch zwischen denwenigen, klar gesetzten Linien und dem sie um-gebenden weissen Blatt – dem unbeschränktenMöglichkeitsraum, aus dessen Tiefe sich diezeichnerische Form kristallisiert. Die Reduktionist das Resultat einer allmählichen künstlerischenAnnäherung an den Gegenstand. «Ich arbeitemich an ein Thema heran, indem ich in schnel-

lem Tempo sehr viele Zeichnungen mache», er-zählt der Künstler.

Besondere Aufmerksamkeit schenkt MichaelGünzburger dabei der Qualität seines Strichs.«Die drohende Routine in der Strichführung istgefährlich», sagt er, «Striche werden langweilig,sobald die Zeichenbewegungen zu regelmässigund zu sicher sind.» Deshalb pflegt er die Unsi-cherheit. Diese erreicht Günzburger, indem er sichungewohnte Situationen schafft. So arbeitet eretwa bei grossen Blättern zuerst an Skizzen in ei-nem kleinen Format. Er macht sich klar, wo waswie gesetzt wird. Erst dann wagt er sich an dieendgültige Ausführung in Originalgrösse. Diekreative Unberechenbarkeit kommt unter diesenneuen Bedingungen wieder mit ins Spiel.

Verdichtete Geschichten

Seit 1996 sind Michael Günzburgers Zeichnun-gen regelmässig an Ausstellungen zu sehen. Mitzunehmendem Erfolg: Aufgrund seiner bisherigenArbeiten wurde ihm dieses Jahr ein Kunststipen-dium des Kantons Aargau verliehen. Bei einemgrösseren Publikum hat sich Günzburger bereitszuvor einen Namen als Illustrator einer 2001 re-gelmässig in der WoZ erschienenen Kolumne desAutors Lukas Bärfuss sowie als Comicszeichnerbeim Berner Ausgehmagazin «Bewegungsmelder»gemacht. Vom Erzählen von Bildstories ist er mitt-lerweile aber abgekommen. «Ich bin immer mehrdazu übergegangen, Geschichten auf Einzelblät-tern maximal zu verdichten und das Erzählen demBetrachter selbst zu überlassen», sagt Günzbur-ger. Die Geschichten sollen im Kopf jedes Einzel-nen entstehen.

Neben dem Zeichnen beschäftigt sich MichaelGünzburger seit längerem auch mit der Gestaltungam Computer. Vor zwei Jahren hat er deshalb miteinem Partner die Designfirma «while you wait»(www.wyw.ch) gegründet, die unter anderem fürden Internetauftritt der diesjährigen 1.-August-Feier an der Expo verantwortlich zeichnete. Aufder einen Seite der Pinselstift, auf der anderen dieComputertechnik – schliessen sich diese beidenGestaltungsmittel nicht gegenseitig aus? «Nein»,sagt Michael Günzburger, «der Umgang mit demComputer ist für mich letztlich genauso affektivwie derjenige mit Pinsel und Papier.» Vorausge-setzt,man beherrsche dieTechnik,sei auch hier dasUnberechenbare möglich. Der Zufall, der offen-sichtlich so massgeblich ist für die Kreativität.

6 ARBE I TSGESCH ICHTE

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Zöpfe der Prinzessin

weder rauche noch Alkohol trinke. Ich gab ihmdas Geld und bot ihm sogar etwas mehr an.«Kauf dir doch lieber auch eine Tageskarte,statt mir mehr Geld zu geben, und begleite michauf meiner Reise», schlug er vor, stellte aller-dings gleichzeitig die Bedingung, ich müssewährend des Vorstellungsgesprächs meinenMund halten. Denn wenn der Chef mein bes-seres Deutsch höre, würde er sicher lieber michstatt ihn einstellen wollen. Ich versprach ihm,ihn zu begleiten, in der Metzgerei nicht zusprechen und ihm auch mein Wörterbuch, daswir im Durchgangszentrum unterdessen «denKoran» nannten, zu geben.

Wenn ich schon Geld übrig hätte, sagteMemet, könne ich ihm ja etwas fürs Telefonie-ren geben. Ich solle ihn zur Post begleiten, woer aus einer Kabine seiner Frau anrufen könne.Wir liefen zur Post und Memet, wie wir ihnkannten, begann mit einem Lied: «Reyhan, du,das Bergmädchen, ich opfere dir das ganzeVolk, mein Schmerz ist tief, ich denke oft andich…» Wir lachten beide, als er damit fertigwar. Es sei das einzige Lied, das er könne, sagteer. In der Telefonkabine schrie er so laut, dassdie Passanten auf der Strasse sich umdrehtenund uns anschauten. «Frau, kratze meine Wortein dein Gehirn! Hör zu, Frau, hör zu, was ichsage, ist honigsüss!» sagte er, «morgen gehe ichmich vorstellen, es ist sicher, dass der Mannmich anstellt. Er wäre blind, wenn er jemandKräftigen und Aufrichtigen wie mich nichtanstellen würde.» Memet musste schreien undseinen Satz mindestens viermal wiederholen,offenbar war die Verbindung nicht optimal.«Sag dem Krämer, diesem Nichtbeschnittenen,er soll euch weiterhin Lebensmittel auf Kreditgeben. Bald, von meinem ersten Lohn, sendeich ihm sein Geld. Ich schicke ihm sogar deneuropäischen Zylinder, von dem er immerträumt. Er soll auch zu den Gendarmen gehenund von sich aus diesen Gaunern Geld geben,damit sie euch in Ruhe lassen. Er muss denKommandanten hinhalten…» Wir liefen nachseinem Telefon nach Hause, Memet sang seinLied, er schien ganz glücklich zu sein, ihm fehltenur noch das Fliegen.

Am nächsten Morgen weckte ich ihn. Me-met rasierte sich, wusch sich und zog Meleksneue Jacke an. Er sah aus wie einer, der aufBrautschau geht. Mulla, der Zimmerälteste, der

VON YUSUF YESILÖZ

D er Heimleiter hatte am Montag im Zimmermit acht Kajütenbetten das Taschengeld

für die Asylbewerber so sorgfältig verteilt, wiewenn er die Zöpfe einer Prinzessin ausgebenwürde: Er setzte sich auf eine Bettkante, dieMappe auf den Schenkeln. Er legte eine Fünf-zigernote auf die Mappe, darauf eine Zehner-note, dann einen Zweifränkler und am Schlusseinen Franken. Nach jedem fertigen Geldstapelmurmelte er seine berühmten Worte «soodeliund voilà». Nachdem jeder Asylbewerber mitseiner Unterschrift bestätigt hatte, das Taschen-geld für zwei Wochen entgegengenommenzu haben, händigte der Heimleiter das Geld aus.

Memet, der Jüngere, beteiligte sich danachfür einmal nicht am Kartenspiel und kaufte sichvon seinem Taschengeld drei Tage hinterein-ander eine Thurgauer Tageskarte für die Bahn.Er besuchte zahlreiche kurdische Flüchtlinge,die in diesem Kanton lebten und arbeiteten, undbat sie um Hilfe bei der Arbeitssuche, damitauch er aus dem Durchgangszentrum austretenkönne. Der Heimleiter hatte Anfang Jahr allen,die sich schon drei Monate oder länger imDurchgangsheim aufhielten, einen Zettel aus-gehändigt, damit sie in bestimmten Branchenwie in der Gastronomie, im Gartenbau oder imPflegebereich eine Arbeit suchen konnten. Ichsollte auch so einen Zettel bekommen, aber erstwenn ich in meinem Fluchtland sechs Monategeschlafen habe.

Memet hatte Glück; am dritten Tag seinerArbeitsuche hatte ein Kurde, der acht Monatezuvor in die Schweiz gekommen war, ihm mit-geteilt, dass beim Metzger im Dorf, wo er ar-beitet, eine Stelle frei wäre. Er solle sich mel-den. Den Namen des Dorfes konnten wir beide nicht aussprechen, Memet hatte ihn aufeinem Zettel. Wir nannten es das Dorf desKurden.

Am Abend vor seinem Vorstellungsge-spräch fragte mich Memet, ob ich ihm siebzehnFranken für eine neue Tageskarte leihen könn-te, er wisse, dass ich noch Geld hätte, da ich

Der kurdische Schriftsteller Yusuf Yesilöz lebt in Winterthur. Seine Texte schreibt er aufDeutsch. Zuletzt erschien von ihm der Roman«Der Gast aus dem Ofenrohr» im Rotpunktverlag,Zürich 2002.

8 ARBE I TSGESCH ICHTE

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solle übersetzen, ich sei krank, könne keinDeutsch und sei bloss hier, weil mir sonst imDurchgangszentrum langweilig wäre. Der an-dere Kurde meinte, dass er das alles nicht über-setzen könne, und wandte sich der Frau zu, dieunterdessen Gläser mit Cola für uns füllte.«Kollege, Kollege!» «Ja, ja, schön», sagte dieFrau und stellte zum Glück keine weiteren Fra-gen mehr, aber Memet wurde von beiden,Mann und Frau, von unten bis oben gemustert.Ich merkte, wie er zitterte.

Der andere Kurde schilderte Memet, was zutun sei, Memet würde genau die gleiche Arbeitverrichten wie er. Sie würden mit dem Chef zumSchlachthof fahren, das Fleisch putzen, denSchlachthof putzen, das Fleisch transportierenund am Abend die Metzgerei putzen. Es sei eineanstrengende Arbeit, aber die Frau des Chefssei sehr nett und der Chef eigentlich auch. Manhabe für jeden Arbeiter ein Zimmer in einemHaus am Rande des Dorfes, dort sei es ange-nehm, ausser wenn die Inder, die auch imSchlachthof angestellt wären, einen Topf vollZwiebeln brieten. Dann stinke das ganze Hausjeweils tagelang.

Memets Augen funkelten, als er von seinerzukünftigen Tätigkeit hörte. «Im Dorf habe ichsogar Ochsen geschlachtet, das kann ich auchhier tun.» Darauf grinste der andere Kurdeund stellte seine Zahnlücken zur Schau: «Hierschlachtet man nicht. Die Tiere werden miteinem Schuss in den Kopf getötet. Man will keinfliessendes Blut sehen.» Memet starrte den Chefan. «Das ist ja mundar, unrein!»

Später nahm der Chef Memets Zettel ent-gegen, den ihm der Heimleiter mitgegebenhatte, und sagte, es sei in Ordnung. Er werdemorgen mit dem Heimleiter sprechen, Memetkönne am Ersten des kommenden Monats be-ginnen. Er müsse aber zuerst zwei Tage schnup-pern. Bis wir das alles verstanden hatten, blät-terten wir und auch der Chef minutenlang imWörterbuch. Memet war glücklich, und wirkehrten wieder nach Frauenfeld zurück. Ermeinte, dass ich ihm Glück gebracht hätte.Lachend sagte er, er würde mir von seinem ers-ten Lohn eine Flasche Alucol-Sirup kaufen unddarüber hinaus aus dem Koran zitieren, dannwürde ich geheilt.

schon Deutsch konnte, sollte dem Heimleitersagen, ich sei nach draussen gegangen, falls die-ser nach mir fragen sollte. Doktor Wirz habemir geraten zu reisen und mich möglichst oftan der frischen Luft aufzuhalten, weil diese fürein Magengeschwür Balsam sei. Im Zug, schonzu dieser frühen Morgenstunde, sang Memetsein Lied. Die Mitreisenden schauten uns so er-staunt an, als ob wir gerade aus dem Irrenhausausgebrochen wären.

Der Chef der Metzgerei, der dicker war alsunser Mulla, und seine kleine, etwas molligeFrau bedienten in rot-weiss gestreiften Anzügendie Kundschaft, als wir eintraten. Sie fragtenuns etwas. Wahrscheinlich wollten sie wissen,was wir kaufen wollten. Memet nannte seinenNamen, sonst nichts. Nachdem die Frau undder Mann etwas besprochen hatten, sagte dieFrau: «Ahaaa…» Sie sprach weiter – für uns zuschnell, wir verstanden nichts. Ich nahm dasWörterbuch aus meiner Jackentasche undreichte es ihr. Die Frau sprach weiter, währendsie das Wörterbuch zugeklappt in der Handhielt, und betonte jede Silbe. Ich hörte «zweiUhr» heraus. Natürlich verriet ich nicht, dassich etwas verstanden hatte. Offenbar hatte auchMemet «zwei Uhr» verstanden. Er wandte sichan mich und sagte in einem Tonfall, der verriet,dass er sich ungerecht behandelt fühlte: «Die-se Gurke hat mir nicht gesagt, ich solle erst umzwei kommen. Er hat nur gesagt, komm mor-gen!» Mit Gurke meinte er den anderen kurdi-schen Angestellten der Metzgerei. Wir drehtenuns um, «Danke» konnten wir beide sagen, undwarteten bis fünf vor zwei am Bahnhof, wo dieReisenden uns Fremdlinge anstarrten. Dannliefen wir den gleichen Weg, die Hauptstrasseentlang, zurück zur Metzgerei, während Me-met sein Liebeslied sang.

Der andere Kurde war nun auch da. Ergrinste, in seinem Mund fehlten zwei Schnei-dezähne. Er sagte, er habe gehört, wir seien zufrüh dagewesen. Der Chef habe ihn zum Über-setzen geholt, obwohl er auch nicht viel verste-he. Die Frau des Metzgers bat uns in den hin-teren Raum der Metzgerei, sie wollten von demanderen Kurden wissen, wer ich wäre und war-um ich mitgekommen sei. Bevor ich etwas ant-worten konnte, sagte Memet dem Kurden, er

9D ISKUSS ION

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Gestern Lebensstelle, morgen Lebensunternehmer

Brigitte Blöchlinger ist freieJournalistin.

ALEXANDER SALVISBERG

«Man kann sich schonfragen: Wer sind dennheute die Helden derArbeit? Das sind doch die,die zweihundert Prozentarbeiten und sich kaum zuHause blicken lassen.»

Wie sieht das Arbeiten in Zukunftaus? Gerät die Work-Life-Balanceaus dem Gleichgewicht, oder ent-wickeln wir uns alle zu hoch mo-tivierten Lebensunternehmern?Eine Diskussion mit den Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaft-lern Gudela Grote, Margit Oster-loh, Matthias Kunz und AlexanderSalvisberg.

TEXT UND MODERATION:

BRIGITTE BLÖCHLINGER

An den Arbeitnehmer, die Ar-beitnehmerin von heute werdenhöchste Anforderungen gestellt.Wie sieht der optimale Arbeit-nehmer in zehn Jahren aus?

MATTHIAS KUNZ: Die Anforderun-gen an die Hard Skills, das heisstan die Ausbildung, werden auchweiterhin kontinuierlich zuneh-men. Die lebenslange Weiterbil-dung wird bestimmt noch zent-raler werden – eine recht neueEntwicklung übrigens, erst seitungefähr zehn Jahren taucht imStelleninseratemarkt die Forde-rung nach Weiterbildung in grös-serem Ausmass auf. Dann werdenMotivation und Identifikationmit der Arbeit und der Betriebs-kultur vor allem im Dienstleis-tungsbereich noch wichtiger wer-den.ALEXANDER SALVISBERG: Die An-forderungen an die Soft Skills sindaber nicht wirklich gestiegen, dieWerte haben sich einfach ver-schoben: von zuverlässig, seriös,treu, ehrlich zu anpassungsfähig,flexibel, sich selbst motivieren,selbst Ziele setzen können, ini-tiativ und teamfähig. Heute soll-

ten auch Angestellte am bestenwie selbständige «Entrepreneurs»funktionieren.MARGIT OSTERLOH: Der Anteil anWissensarbeit wird zunehmen.Der Fokus wird sich vom Indivi-duum auf das Team verlagern.

Nehmen wir als Beispiel die Ar-beit von Modedesignern, die eineneue Kreation aushecken: Inihrem kreativen Prozess wird nieauseinander dividiert werdenkönnen, wer genau welchen Inputzum gemeinsamen Output beige-tragen hat. Weil bei Wissensarbeitdie individuelle Leistung im Teamschwer zugerechnet werden kann,müssen Teammitglieder auchstärker als bei traditioneller Ar-beit intrinsisch motiviert sein. Dasbedeutet, dass sie weniger durchexterne, insbesondere monetäreAnreize motiviert sind. Vielmehrziehen sie aus der Arbeit selbstBefriedigung, weil sie herausfor-dernd ist und ihnen Spass macht.

Sie ermöglicht, was Motiva-tionsforscher «Flow Experience»genannt haben, also ein Voll-in-der-Arbeit-Aufgehen. Ein solchesüberdurchschnittliches Engage-ment wächst natürlich nicht von

alleine, und man kann es nichtbefehlen. Man kann es nur ermög-lichen, insbesondere durch Selbst-bestimmung und Partizipation inder Arbeit sowie durch faire Be-handlung.

Nicht jeder spürt beim Arbeitendie «Flow Experience». Wie wir-ken sich die hohen Anforderun-gen auf die Persönlichkeit der ein-zelnen Individuen aus?

GUDELA GROTE: In einer unserer Un-tersuchungen haben wir unter an-derem Personen befragt, die be-wusst keine geradlinige Laufbahneingeschlagen, sondern zum Teilsichere Stellen aufgegeben haben,um flexiblere Arbeitsformen aus-probieren zu können. Entspre-chend gut konnten sie mit Unsi-cherheiten umgehen – wie es vonvielen Arbeitgebern heute ja ge-fordert wird.

Doch das ist bei weitem nichtdie Mehrheit; viele Menschenkönnen und wollen sich nichtauf neue Arbeitsmodelle einlas-sen, sondern suchen eine sichereArbeit im traditionellen Sinn; inden neuen Arbeitsformen sehen

10 D ISKUSS ION

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men gegründet als während desIT-Booms. Es gibt nach wie vorviele Leute, die ihre Pläne erfolg-reich weiterverfolgen – mit rea-listischeren Vorstellungen aller-dings. Es ist also nicht so, dass bisvor zwei Jahren die totale Eupho-rie herrschte und jetzt Katerstim-mung. OSTERLOH: Man muss unterschei-den, von welchem Optimismusman spricht: jenem, viel Gewinnzu machen, oder in vernünftigemRahmen selbständig zu arbei-ten. Vielleicht besinnen sich dieLeute heute wieder mehr auf dieArbeitsinhalte und nicht so sehrauf das schnelle, ganz grosse Geld.

Historisch betrachtet, nimmt dieMenge von Arbeit ab; die Ar-beitszeit schrumpft, die Bedeu-tung der Freizeit steigt. Schautman sich jedoch gewisse Berufs-zweige an, sieht man sich einemHeer von Überstundenmacherngegenüber. Wie schätzen Sie die-se widersprüchlichen Trends ein:Nimmt die Bedeutung der Arbeitzu oder ab?

KUNZ: In den Achtzigerjahren kam– unter anderem vertreten vonAndré Gorz – die Meinung auf,die industrialisierte Gesellschaftrationalisiere sich zu Tode. Heu-te wissen wir, dass das ein Mythosist. Die Arbeitsgesellschaft wirdmit Sicherheit nicht aussterben.Speziell bei interessanten Jobs lei-

tung von stumpfsinniger, harterphysischer Arbeit zu beobachten,gleichzeitig werden an die geistigeArbeit höhere Ansprüche gestellt– im Grossen und Ganzen sehe ichdie Entwicklung positiv.

Bis Frühling 2000 herrschte auchin der Schweiz dank dem IT-Boom eine geradezu amerika-nisch anmutende Aufbruchsstim-mung, viele gründeten eine eigeneFirma und wurden CEO, selbst

sie keine Chance für sich, sonderneine Überforderung – da sind dieUnternehmen gefordert, sie müs-sen ihre Erwartungen besser ver-mitteln und geeignete Strukturenschaffen, damit ihre Angestelltenmit den neuen Anforderungenwachsen können.

Man gewinnt den Eindruck, dassdas Arbeiten für alle anspruchs-voller wird. Oder täuscht das?

GUDELA GROTE

«Hohe Ansprüche an dieArbeit müssen nichtnegativ sein. Sie sind aucheine Chance, eigene Kom-petenzen zu entwickeln.»

SALVISBERG: Autonomie, Flexibi-lität, Entscheidungsfähigkeit, po-sitiver Umgang mit Unsicherhei-ten – das sind ja alles Parameter,die nicht nur in der Arbeitzunehmend von Bedeutung sind.In allen Bereichen unseres Lebenshaben wir ja mittlerweile keineandere Wahl als zu wählen, müs-sen wir uns als unsere eigenen«Lebensunternehmer» bewähren. KUNZ: Was sich jedoch ändert, istdas Tempo, mit dem einmal ge-setzte Werte zerstört und durchneue ersetzt werden. Das versetztviele in Stress.GROTE: «Anspruchsvolle» Arbeitbraucht aber nicht automatischnegativ konnotiert zu sein. AlsArbeitspsychologin kann man esauch so sehen: Werden höhereAnsprüche an mich gestellt, stecktauch mehr Chance für die eigeneKompetenzentwicklung darin.OSTERLOH: Es ist auch eine Entlas-

wenn sie keine entsprechende Er-fahrung mitbrachten.Wie viel vondiesem Optimismus wird sich indie mittlerweile doch eher düsterwirkende Zukunft hinüberrettenlassen?

GROTE: Heute werden gar nichtmarkant weniger Start-up-Fir-

GUDELA GROTE ist Direktorin des In-stituts für Arbeitspsychologie der ETHZürich.

FORSCHUNGSSCHWERPUNKTE:

Auswirkungen der Arbeitsflexibilisierungauf die Persönlichkeitsentwicklung,Wechselwirkung von Organisation undTechnologie, Sicherheitsmanagement.

MATTHIAS KUNZ ist wissenschaftlicherMitarbeiter am Soziologischen Institutder Universität Zürich und Geschichts-lehrer.

FORSCHUNGSSCHWERPUNKTE:

Arbeitsmarkt und Zeitgeschichte.

MARGIT OSTERLOH ist Direktorin desInstituts für Betriebswirtschaftliche For-schung an der Universität Zürich.

FORSCHUNGSSCHWERPUNKTE:

Organisationsforschung, Motivations-und Wissensmanagement, Technolo-gie- und Innovationsmanagement, Frau-en in Unternehmen.

ALEXANDER SALVISBERG ist Assistentam Soziologischen Institut der Univer-sität Zürich.

FORSCHUNGSSCHWERPUNKTE:

Arbeitsmarkt und sozialer Wandel, Schlüs-selqualifikationen in Stelleninseraten.

Gesprächsteilnehmer

ten die Leute ihr Selbstverständ-nis noch immer von ihrer Arbeitab, auch wenn andere Faktorenwie die Freizeit wichtig sind.

Dann ist der Anteil erwerbs-tätiger, qualifizierter Frauen inden letzten zehn Jahren beachtlichgestiegen. Dieser Trend wird sichnicht so schnell umkehren, dieFrauen machen das auch nichtrein aus finanziellen Gründen,sondern weil ihnen die Erwerbs-arbeit einfach wichtig ist.OSTERLOH: Dann bleibt noch zubedenken, dass in gleichem Aus-mass, wie die Arbeitszeit zurück-geht, die Schattenwirtschaft zu-nimmt. Das heisst: Die Leute ar-beiten nicht nicht mehr, sondernsie arbeiten anders, sie bauen zumBeispiel ihr eigenes Häuschenoder helfen sich gegenseitig dabei,gärtern oder machen sonst wasProduktives.GROTE: Es hat sich aber auch ge-zeigt, dass viele Leute mit nochmehr Freizeit nicht viel anzufan-gen wissen. Das gilt allerdingsnicht für berufstätige Frauen mitFamilie: Die wären froh, mehrZeit zu haben.SALVISBERG: Besonders für dieMänner hat sich die Situation ver-ändert. Bis in die Sechzigerjahrewar für sie die bezahlte Erwerbs-arbeit das Zentrum ihres Lebens,aus dem sich alles andere – Fami-lie, sozialer Status, Freizeitgestal-tung, Lebensstil – ableitete. DieseFunktion als Mittelpunkt eines –männlichen – Lebens hat die Ar-beit verloren. Dafür hat sie ande-res gewonnen: Arbeit wurde zudem Ort, wo man zusätzliche An-sprüche wie Selbstverwirklichungund Freiheit realisieren konnte –früher musste man diese Bedürf-nisse, wenn überhaupt, in derFreizeit befriedigen.

Frauen sind heute in der Arbeits-welt stärker präsent und erreichenvermehrt Positionen im mittlerenKader. In die Chefetagen schaffensie es jedoch nach wie vor nuräusserst selten. Wird sich das inabsehbarer Zeit ändern?

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OSTERLOH: Ich bin da pessimis-tisch. Die Frauen holen zwar auf,sie haben mittlerweile sogar einebessere formale Ausbildung alsdie Männer, doch die gläserneDecke, die sie am Aufstieg nachganz oben hindert, ist leider im-mer noch ziemlich bruchfest. DieGründe dafür sind ökonomischschwer zu erklären. ErfolgreicheFrauen im mittleren Managementmüssen besonders leistungsbereitsein, um überhaupt dorthin zu

Männer weniger prestigeorien-tiert arbeiten und sich stärker ander Hausarbeit beteiligen?

KUNZ: Das sind kulturelle Prozes-se, die brauchen Zeit. Kurzfristigbetrachtet tut sich wenig, in einemlängeren Beobachtungszeitraumerkennt man jedoch grosse Ver-änderungen. Langfristig bin ichdeshalb optimistisch, dass sichgleichberechtigtere Verhältnisseeinstellen werden.

MARGIT OSTERLOH

«Die Flow Experience,das heisst das Voll-in-der-Arbeit-Aufgehen, wird inZukunft noch stärker inden Vordergrund treten –bei gleichzeitig hohemCommitment zur Unter-nehmensphilosophie.»

gelangen. Sie haben häufig einedeutlich überdurchschnittlich gu-te Ausbildung und verzichten weithäufiger als ihre männlichen Kol-legen auf Kinder und Familien-leben. Sie sollten also mindestensebenso gute Chancen wie diesehaben, in die Top-Etagen zu kom-men.GROTE: Vielfach scheitert es ja anganz praktischen Dingen wie Kin-derbetreuung. Viele Frauen sindnicht mehr bereit, wegen der Kar-riere auf Kinder zu verzichten.Doch erst wenn sich die Wertori-entierung auch bei den Männernverändert und die Familienarbeitpartnerschaftlich zwischen Män-nern und Frauen aufgeteilt wird,kann sich die Situation für dieFrauen grundlegend verbessern.

Was beobachtet man diesbezüg-lich in der Soziologie? Zeichnetsich eine Trendwende ab, dass

SALVISBERG: Aber man kann sichschon fragen: Wer sind denn heu-te die «Helden der Arbeit»? Dassind doch die, die zweihundertProzent arbeiten und sich kaumzu Hause blicken lassen. Geradein den letzten Jahren ist die Fami-lienarbeit von Männern wiedereher entwertet worden. GROTE: Da bin ich mir nicht sicher.Das Problem der Work-Life-Ba-lance ist momentan in aller Mun-de, in jedem Executive-Manage-ment-Kurs wird dem relativ vielRaum gegeben. Vielleicht entstehtaus der damit aufgeworfenenFrage, was mache ich eigentlichmit meinem Leben, eine neue Be-wusstheit. Viele der Männer sindaber nur gerade für achtzig Pro-zent Teilzeit zu haben, sicher nichtfür sechzig oder gar fünfzig. OSTERLOH: Es gibt mehrere Unter-suchungen, die herausgefundenhaben, dass viele Männer sich

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gemacht, weshalb ich Hochschul-lehrerin geworden bin: gelesenund geschrieben, teilweise vier-zehn Stunden am Tag. Und ichkann Ihnen versichern: So erholtwie nach diesen vier Wochen warich schon lange nicht mehr. Daswar keine Selbstausbeutung, daswar purer Spass.SALVISBERG: Wer sich allerdingsauch noch der Familie widmenwill, muss sich vermutlich ehergegen eine Hochschulkarriereentscheiden.

Wie wird die Universitätsaus-bildung in Zukunft auszusehenhaben, damit sie den neuen Ar-beitsformen genügt?

OSTERLOH: Der Arbeitsmarktmöchte gerne vermehrt fixfertigausgebildete Absolventen. Damitist er meiner Meinung nach aberschlecht bedient. Der grosse Vor-teil der Hochschulen ist nämlichder, dass man dort lernt, indemman forscht. Diese Fähigkeit desForschen-Lernens ist genau das,was in der Wissensgesellschaftgebraucht wird. Also sollten dieUnternehmen diese Formen derSekundärqualifikationen höherschätzen, als sie es im Augenblicktun.GROTE: In unserer Untersuchungzu den Berufswechslern konntenwir das ebenfalls beobachten. Diegrösste Flexibilität fanden wir beiBerufstätigen mit Hochschulab-schluss in den Geistes- und So-zialwissenschaften. Genau so, wiees sich die Wirtschaft in Zukunftverstärkt wünscht. Das müsstefür die Hochschulen eigentlichbedeuten, dass sie die Leute auchweiterhin in erster Linie darin aus-bilden, dass sie das Lernen lernen.Aber dieses Bewusstsein ist mo-mentan sicher noch nicht da. Manist noch immer auf die speziali-sierte Ausbildung fixiert.

– mit dem finanziellen Rückhaltder ETH durch die Teilzeitanstel-lung – nach neuen Finanzierungs-möglichkeiten unserer ForschungAusschau halten konnten. Wirmussten jedoch feststellen, dassdie Forschungslandschaft derSchweiz für dieses Modell nochnicht bereit ist.

Im Wissenschaftsbetrieb gilt: Wernicht mit vollem Einsatz undzweihundertprozentigem Einsatz

nicht trauen, eine Teilzeitanstel-lung zu fordern – weil sie das Ima-ge der «freizeitorientierten Schon-haltung» fürchten. Wohingegenbei Frauen gesellschaftlich akzep-tiert oder sogar begrüsst wird,wenn sie nicht voll arbeiten. – DieFrage ist, ob die Rechnung lang-fristig aufgeht. Frauen haben heu-te eine vergleichbar hohe formaleAusbildung wie Männer. Die In-vestition in ihre Ausbildung soll-te auch eine vergleichbar hohe

Rendite abwerfen. Tut sie dasnicht, bedeutet dies eine erheb-liche volkswirtschaftliche Ver-schwendung.

An der Universität Zürich kannman auf Professorenebene einenklaren Trend weg von Teilzeit-anstellungen beobachten. Ob-wohl Teilzeit ansonsten im Trendliegt, besonders bei Frauen.

GROTE: Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler an Hochschulensind ja in der privilegierten Situa-tion, dass sie maximale Sicherheit– in Form von «Lebensstellen» –bei maximaler Forschungsfreiheithaben. Das wird sich jedoch zu-nehmend ändern. Diese bevorste-hende Änderung war mit einGrund, weshalb ich und meinKollege Theo Wehner uns die Pro-fessorenstelle in der Arbeitspsy-chologie teilen wollten: Damit wir

arbeitet, kann im internationalenVergleich nicht mithalten. VonWork-Life-Balance keine Spur.

GROTE: Gerade als Arbeitspsycho-login kann man sich schon fragen,inwieweit man die Erkenntnisse,die man in seiner wissenschaft-lichen Arbeit gewinnt, nicht aufsich selbst anwenden sollte. Auchwenn die intrinsische Motivationbei Wissenschaftlern sicher aus-gesprochen hoch ist, hat Forschenimmer auch ein Stück weit mitSelbstausbeutung zu tun.OSTERLOH: Mit dem Begriff derSelbstausbeutung habe ichSchwierigkeiten. Der Vorteil anHochschulen ist doch, dass wirim Vergleich zu anderen Berufeneine grosse Autonomie haben.Man kann seine Arbeit inhaltlichwie auch zeitlich viel mehr selbstbestimmen. Ich habe zum Beispielden ganzen August hindurch das

MATTHIAS KUNZ

«Heute wissen wir, dassdie Vorstellung, die indus-trialisierte Gesellschaftrationalisiere sich zu Tode,ein Mythos ist.»

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Der virtuelle Arbeitsplatzgengewirkt haben: vor allem das Elektrizitäts-netz, das einen standortunabhängigen Zugangzu Energie ermöglichte und damit nicht nur füreine dezentralisiertere Ansiedlung von Indus-triebetrieben, sondern auch für den Transfervon Arbeitsrollen in Privatwohnungen und frei-berufliche Privatpraxen die Voraussetzungenschuf.

Erst die Emanzipation von solch physischenBindungen hat es ermöglicht, bei der Standort-wahl und Ausgestaltung der Betriebe erstensstrikt ökonomische Kriterien anzuwenden. Bei-spielsweise konnte den Gegebenheiten lokalerArbeitsmärkte (Lohnniveau, Qualifikations-niveau, Arbeitsethik) und den Eigenheitenlokaler Absatzmärkte Beachtung geschenktwerden. Ebenso wurde es möglich, die Be-triebsgrösse nach technisch-organisatorischenGesichtspunkten zu optimieren. Zweitenskonnte dadurch vermehrt auf ausserökonomi-sche gesellschaftliche Faktoren – etwa auf ak-tuell vorhandene Siedlungsstrukturen oder aufden «Freizeitwert» bestimmter Gegenden –Rücksicht genommen werden.

Diese Entwicklungen haben zwar an derPrävalenz betrieblich organisierter Arbeit we-nig geändert; sehr wohl aber hat eine Dezen-tralisierung der Arbeitswelt stattgefunden, diein einer breiteren geographischen Verteilungvon Firmen und einem zunehmenden Vorherr-schen relativ kleiner Arbeitsstätten Ausdruckfindet. Schweizer Erwerbstätige arbeiten heutetypischerweise in Betrieben mit nur 20 bis30 Mitarbeitern.

Genau hier stellt sich die Frage nach derRelevanz der neuen elektronischen Informati-ons- und Kommunikationstechnologien (IKT),deren Funktion – in Analogie zum Elektrizi-tätsnetz – darin besteht, allen Individuen einenraumunabhängigen Zugang zu Möglichkeitender Information und Kommunikation zu ver-schaffen. Aus objektiven, technischen Gründenist den IKT sogar ein viel grösseres Dezentra-lisierungspotenzial als der Elektrizität zuzu-schreiben, weil Information im Gegensatz zuEnergie leitungsunabhängig übertragbar undan jedem Ort beliebig speicherbar ist.

Tatsächlich haben viele Firmen in den letz-ten Jahren dank den neuen Netztechnologienräumliche Dezentralisierungsprozesse vollzo-gen, ohne dadurch ihren hohen Grad an be-trieblicher Kohärenz zu verlieren. Vor allemgrössere Unternehmen haben ihre innerstädti-

Mit Hilfe neuer Informationstechnologien könn-ten Arbeiten immer komplexerer Art auch zuHause erledigt werden. Prognosen über die un-ausweichliche Ausbreitung der Heimtelearbeithaben sich aber nicht bestätigt. Eine Zwischen-bilanz.

VON HANS GESER

Unter Telearbeit wird gemeinhin eine Er-werbstätigkeit verstanden, die in räumli-

cher Entfernung von einer physischen Betriebs-stätte ausgeführt wird, aber mit Hilfe moder-ner Kommunikationstechnologien in dieseOrganisation eingebettet bleibt. Die Faszina-tion der Telearbeit liegt darin, dass sie mit einerder fundamentalsten Entwicklungen bricht, diehoch entwickelte von vorindustriellen Gesell-schaften unterscheidet: nämlich mit der Ten-denz, Erwerbstätige immer stärker aus ihremhäuslichen Familienkreis herauszulösen und in– zum Teil äusserst umfangreichen – Betriebs-stätten zu konzentrieren.

Es liegt auf der Hand, dass diese räumlicheKonzentration historisch die Voraussetzungbildete, um eng verzahnte Kooperationen her-zustellen, Arbeitsdisziplin einzuüben und durchkollektives Lernen den Arbeitsprozess laufendzu verbessern. Auch konnten dadurch in ra-scher Folge immer wieder neue, fortschritt-lichere Techniken und Organisationsformenzum Einsatz gebracht und – nicht zuletzt – dieöffentliche Verbreitung des firmeneigenenKnow-how und unternehmensspezifischer Pro-duktionsgeheimnisse behindert werden. Über-dies bot sie die Grundlage, um die Arbeitneh-mer zur Identifizierung mit der Firma undihrer Unternehmenskultur anzuhalten, in eindichtes Feld informeller Sozialkontrolle undwechselseitiger Hilfsbeziehungen einzubettenund ihnen am Arbeitsplatz vielerlei sozialeNebenbefriedigungen (Wertschätzung, Grup-pengeselligkeit) zu verschaffen.

Dezentralisierte Arbeitswelt

Im heutigen Rückblick auf die Wirtschafts-geschichte sind allerdings bereits seit dem19. Jahrhundert Entwicklungen zu erkennen,die derartigen Konzentrationsprozessen entge-

Dr. Hans Geser ist ordentlicher Professor fürSoziologie an der Universität Zürich.

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wiesen ist, um in der eigenen Wohnung denschwierigen Wechsel von Frühstückstisch undKindergespräch zur ernsthaft-konzentriertenSchreibtischarbeit zu vollziehen.

Heute, wo eine ungleich höher entwickeltetechnische Infrastruktur zur Verfügung steht,lohnt es sich natürlich, die damalige Diskussion

wieder aufzunehmen. Zum einen haben sichmit Personal Computer und Mobiltelefon tech-nische Allzweckgeräte etabliert, die alle Lebens-und Tätigkeitsbereiche durchdringen. Sie bie-ten die Möglichkeit, vielfältigste Arbeitspro-zesse immer komplexerer Art zu Hause, amArbeitsplatz oder unterwegs stattfinden zulassen.

Zum anderen wächst dank immer billigerer,und leistungsfähigerer Netzverbindungen dieMöglichkeit, zwischen allen Betriebsangehö-rigen distanzunabhängige Realtime-Kommu-nikationskanäle aufrechtzuerhalten. Sophis-tizierte Groupware eröffnet zudem die Chan-ce, auch komplexere Formen multilateralerArbeitskooperation zumindest technisch zuunterstützen oder sogar völlig im Online-Medium neu zu konstituieren («virtual organi-zation»).

In ihrem «Status Report on European Tele-work» von 1999 kommt die von der Europäi-

schen Headquarters durch eine Auslagerungvon Backoffices an die suburbane Peripherieentlastet, während andere durch Einrichtungvon Telezentren (etwa virtuelle Call-Centers)oder durch Outsourcing ihrer Buchhaltungin asiatische Länder versuchen, aus dem gutenpersonellen Angebot (beziehungsweise demniedrigeren Lohnniveau) entfernterer lokaleroder regionaler Arbeitsmärkte Nutzen zuziehen.

So scheinen die Arbeitsplätze heute demExodus der Bevölkerung von der Innenstadt indie Vorstädte mit einigen Jahrzehnten Verzö-gerung zu folgen. Dies mit der Konsequenz,dass sich die Bedeutung der Stadtzentren vonder ökonomischen in die kulturelle Sphäreverschiebt. Eine Verlagerung von Vollzeit-arbeitsplätzen in private Wohnungen hat dem-gegenüber bisher nur in sehr geringem Umfangstattgefunden – sie wird wohl auch in Zukunftrelativ wenig Bedeutung gewinnen.

Naive Sozialromantik

Erstaunlicherweise sind schon Ende der1970er-Jahre – wo der Begriff geprägt wurde –gewagte Prognosen über die unausweichlicheAusbreitung der Heimtelearbeit verkündetworden, obwohl damals nur eine rudimentäreInfrastruktur bilateraler Terminalverbindun-gen zur Verfügung stand. Im Rückblick müs-sen die damaligen Hoffnungen auf die Befrei-ung von bürokratischer Dauerüberwachungund betrieblichen Zeitregimes, auf Eindäm-mung des täglichen Pendelverkehrs und Ein-sparung von Büroraum oder auf den vermehr-ten Einbezug junger Mütter und Behinderterins Erwerbsleben als naive Sozialromantik be-trachtet werden.

Einerseits hat man nämlich zu wenig be-dacht, dass zahlreiche funktionale Gründe fürdie Unternehmen dafür massgebend sind, ihreAngestellten in lokalen Betriebsstätten zu ver-dichten. Dies, weil viele Prozesse der Kommu-nikation und Koordination, der Sozialisierungund Qualifizierung sowie der Überwachungund Sozialkontrolle nur im Medium primärerInteraktion stattfinden können.

Andererseits hat man sich zu wenig klargemacht, welch starke subjektive Motive es fürdie Erwerbstätigen gibt, frühmorgens regel-mässig einen von der Privatwohnung getrenn-ten Arbeitsplatz aufzusuchen. Ein Ort, an demman eine identitätsstiftende Berufsrealität, viel-fältige Lernmöglichkeiten und emotional rele-vante Sozialbeziehungen und Gruppenerleb-nisse erfährt. Ein Ort auch, an dem man nichtauf endogene psychologische Energien ver-

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Heimtelearbeit:Der Arbeitsplatzzwischen Couchund Küche ent-spricht oft wederden Bedürfnissender Mitarbeiterin-nen und Mitarbei-ter noch denender Unternehmen.

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ledge» besitzt und deshalb nur im Milieu ar-beitsplatznaher informeller Interaktion über-mittelt werden kann.5. Zunehmend entwickeln sich Unternehmun-gen zu normativ orientierten Kollektiven, dieunter dem Druck des Marktes und der Öffent-lichkeit ein «Total Quality Management» be-treiben und eine eigene «Firmenphilosophie»(beispielsweise im Hinblick auf Umweltschutzoder den Umgang mit Kunden) entwickeln.Derartige firmeneigene Werte- und Normen-systeme erfordern Massnahmen der Soziali-sierung und Sozialkontrolle, die auf der BasisräumlicherAnwesenheitundPrimärinteraktionaller Angestellten viel wirksamer implemen-tierbar sind.6. Immer mehr Firmen (vor allem im Dienst-leistungssektor) sind strikten Normen desDatenschutzes verpflichtet, die an privatenHeimarbeitsplätzen nicht durchgesetzt werdenkönnen.7. Die Erwerbstätigen selber (besonders bisheran ihre Wohnung gebundene Hausfrauen)schätzen den Arbeitsplatz zunehmend als Ortinformeller sozialer Kontakte und Integration.

Alternierende Telearbeit

Generell erscheinen zwei Tätigkeitsformen mitsehr entgegengesetzten Eigenschaften für eineintegrale Auslagerung in den Heimbereich ambesten geeignet: einerseits völlig routinisierteArbeitsvorgänge (etwa Dateneingaben oderKorrekturlesen), bei denen voraussehbar kei-nerlei Kommunikationsbedürfnisse auftreten;andererseits professionelle, völlig durch inter-nalisierte Qualifikationen bewältigbare Auf-gaben (juristische Expertisen, Sprachüber-setzungen), wo die Einbettung in betrieblicheKooperationsstrukturen, Wissensbestände undSozialkontrollen keine Leistungsverbesserun-gen mit sich bringen würde. Sie haben aberin der heutigen Arbeitswelt beide eine geringeBedeutung.

Empirische Untersuchungen legen nahe,dass die alternierende Telearbeit die grösstenZukunftsaussichten hat, weil sie den Präfe-renzen der Arbeitgeber und Arbeitnehmergleichermassen entspricht. So sprechen sichErwerbstätige in Umfragen regelmässig dafür,bei völlig freier Arbeitsplatzwahl zirka zweibis drei Arbeitstage im Büro (und den Rest zuHause) zu verbringen, um aus den sozialenKontakt- und Lernchancen des Betriebsum-felds Nutzen zu ziehen. In Übereinstimmungdamit hat sich beispielsweise im bekannten«TWIST»-Projekt der BMW gezeigt, dass beieinem breiten Spektrum von Tätigkeiten ein

schen Kommission eingesetzte Expertengruppezum Schluss, dass im Bereich der EU insgesamt6 Millionen Arbeitnehmer (gleich 4 Prozent derErwerbstätigen) als «Teleworkers» bezeichnetwerden können, die entweder regulär mehr alseinen Tag pro Woche als Unselbständigerwer-bende zu Hause arbeiten (3 Millionen), alsSelbständige in wohnungsbasierten Büros tätigsind (1,4 Millionen) oder mobile Telearbeit ver-richten (2,3 Millionen).

In fast perfekter Korrelation mit der Dichteder Internetanschlüsse finden sich maximaleWerte in Skandinavien und den Niederlanden,die geringsten Prozentanteile in den Ländernromanischer Sprache (F, I, GR, P und E). Nichtausgewiesen wird dabei die Zahl vollumfäng-lich zu Hause tätiger Arbeitnehmer, die mitSicherheit weit weniger als 1 Prozent allerUnselbständigen umfasst. Ebenso selten sind«Nachbarschaftsbüros», wo Telearbeiter ver-schiedener Firmen mit derselben Infrastrukturarbeiten.

Die Gründe dafür liegen in einer Reihe vonEntwicklungen in der modernen Arbeitswelt,die eine volle Auslagerung von Arbeitsplätzenin den Privatbereich immer undenkbarermachen:1. Neue flexiblere Organisationskonzepte(lean production, management reengineering),die horizontale Teamkooperation, informelleAnpassungsfähigkeit und dauernde Lernpro-zesse in den Mittelpunkt stellen, erfordernim Vergleich zu traditionellen, bürokratischenund fordistischen Produktionsmodellen regel-mässigere und intensivere innerbetrieblicheKommunikation.2. Die Entwicklung neuer Produkte verlangtebenso wie die Erschliessung neuer Märktedauernde Innovationsprozesse, die erfahrungs-gemäss nur im Medium primärer Gruppen-kommunikation stattfinden können. Nicht zu-fällig gehört die Hightech-Industrie in den USAzu den Branchen mit der grössten geographi-schen Konzentration.3. Steigende Fluktuationsraten erhöhen denAnteil neuer Mitarbeiter, die zum Erlernen ihrerArbeitsrolle auf intensive Unterweisung undBeratung durch Vorgesetzte und Mitarbeiterangewiesen sind. Daraus erklärt sich, dassFirmen mit vielen temporären Arbeitskräftenkaum Telearbeit praktizieren.4. Im Gegensatz zum betriebsunabhängigenprofessionellen Wissen früherer Zeiten über-wiegt heute zunehmend betriebsgebundenesWissen (etwa über firmenspezifische technischeAnlagen und Produktionsverfahren), das meistden inexpliziten Charakter von «tacit know-

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Ebenso bremsend dürfte das von der EUMitte Juli 2002 verabschiedete «Rahmenab-kommen über Telearbeit» wirken, das denFirmen strikte zumutet, für die materielleAusstattung und den Arbeitsschutz der Heim-arbeitsplätze selbst aufzukommen und Tele-arbeiter in jeder Hinsicht gleich wie Betriebs-angestellte zu behandeln.

Option und Widerspruch

Am Beispiel der Telearbeit lässt sich besondersgut illustrieren, dass die Informationstech-nologie nicht als determinierender, sondern als indeterminierender Faktor der Gesellschaftangesehen werden muss: Sie eröffnet neueOptionen, die je nach den vorherrschenden so-zio-kulturellen und psychosozialen Bedingun-gen nur selektiv (beziehungsweise überhauptnicht) ausgeschöpft werden.

Einerseits fügt sie sich gut in die vielfältigenTrends zur Flexibilisierung zwischen den Le-bensbereichen. Sie ermöglicht es, Arbeitstätig-keiten enger und spannungsfreier mit anderensozialen Rollen zu verknüpfen. Andererseitswiderspricht sie eher den internen Flexibilisie-rungsbedürfnissen moderner Dienstleistungs-gesellschaften, in denen sich «Arbeit» immermehr im Medium dichter Normenfelder undals tätiger Umgang mit physisch anwesendenPersonen (Mitarbeitern, Kunden, Auszubilden-den, Pflegebedürftigen) vollzieht.

Heimarbeitsanteil von zirka 1,7 Wochentagenrealisierbar ist und dass dabei erhebliche Pro-duktivitätssteigerungen (zirka 16 Prozent) undEinsparungen an Arbeitsweg (zirka 11 Stundenpro Woche) resultieren.

IBM Deutschland, wo heute zirka 20 Pro-zent der Angestellten über die Hälfte derArbeitszeit ausserhalb des Büros verbringen,ist von traditionellen Individualarbeitsplätzenzum raumsparenden Desk-Sharing überge-gangen. Selbst derart partielle Arbeitsauslage-rungen setzen bei Betrieben und Mitarbeiterntief greifende Anpassungsprozesse voraus, dievon den umfassenden Institutionen (Familie,Schule und Berufsbildung) mitgetragen werdenmüssen.

Insofern das betriebliche Interaktionsfeldals Sozialisations- und Lernkontext wenigerverfügbar ist, sind die Erwerbstätigen genötigt,sich stärker auf ihre endogenen Fähigkeiten undKenntnisse zu verlassen. Insbesondere müssensie selber merken, wann sie Hilfe und Beratungbrauchen oder zusätzliche Weiterbildungsan-gebote in Anspruch nehmen müssen, weil nie-mand da ist, der ihre jeweilige Arbeitsweise und-ergebnisse kontrolliert.

Ebenso ist in charakterlicher Hinsicht eineüberdurchschnittlicheSelbstdisziplingefordert,damit auch ohne Anregung und Überwachungdurch Vorgesetzte und Kollegen regelkonformund zielorientiert gearbeitet wird. Weil infor-mell-horizontale Mechanismen der Motivie-rung und Loyalitätserzeugung abgeschwächtwerden, wird die Leistung der Organisationin kritischer Weise von der Qualität der for-mellen Führungs- und Koordinationsorganeabhängig. Vor allem ist erforderlich, dass Vor-gesetzte sich als Betreuer (Coaches) betätigen.Da sie nicht persönlich anwesend sind, hängtihre Autorität umso ausschliesslicher davon ab,dass sie aufgrund ihrer Qualifikation und ihrerformellen Stellung eine unangefochtene Auto-rität geniessen. Paradoxerweise fehlt infolge derstark verdünnten Interaktionen aber gerade dassoziale Umfeld, das für die Kultivierung undEinsozialisierung solch neuartiger Fähigkeitenund Einstellungen die Voraussetzung wäre.

So muss selbst die Zukunft alternierenderTelearbeit als unsicher betrachtet werden, weildie damit verknüpften Verluste an Firmen-loyalität, Leistungsmotivation und Lernmög-lichkeiten oft als untragbar empfunden werden.Nach neuesten amerikanischen Studien sindgenau aus diesen Gründen die Arbeitgeberwieder dazu übergegangen, das Privileg freierArbeitsplätze auf wenige hoch bezahlte Spezia-listen einzuschränken.

LITERATUR UND WEBSITES

Millard, J.: Proceedings of the sixth European Assembly on Tele-

work and New Ways of Working in Aarhus 1999,

www.eto.org.uk/twork/aarhus99/aarhusmain.pdf

Jäckel, M./ Rövekamp, Ch.: Alternierende Telearbeit. Akzeptanz

und Perspektiven einer neuen Form der Arbeitsorganisation,

Wiesbaden 2001

Gould Ellen, I. / Hempstead, K.: Telecommuting and the demand

for urban living: a preliminary look at white-collar workers,

Urban Studies 4.1. 2002

Status Report on European Telework 1999:

www.eto.org.uk/twork/tw99/pdf/tw99def.pdf

Telework Unlimited (Schweiz): www.telework.ch

European Telework Online: www.eto.org.uk

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Von Rechnern und Retortennachvollziehbar ist, wenn wir die Naturgesetzekennen, die mit ihren Namen verbunden sind.

Wichtig an diesen beiden Begründern dermodernen Wissenschaft ist, dass beide noch festin Traditionen steckten, die inzwischen spurlosverschwunden zu sein scheinen. Kepler warnämlich ebenso sehr Astrologe wie Astronom,und Newton hat mehr alchemistische Schriftenals physikalische Texte verfasst. Für diesenBeitrag spielt vor allem der Aspekt der Alche-mie eine Rolle, weil mit diesem Bemühen dasLaboratorium, wie wir es bis heute kennen, unddie in ihnen beschäftigten Laboranten in dieWelt gekommen sind. Tatsächlich mussten die-se annehmen, sich in einem Laboratorium aufdie Spuren Gottes zu begeben. Ihre Aufgabebestand darin, die Natur immer mehr zu ver-bessern, um sie zuletzt vollkommen zu machen.Alchemisten wollten perfektionieren, was vorden Menschen geschaffen und von der Naturunvollkommen gelassen worden war.

Wenn man den Weg beschreibt, den dieLaboranten dabei beschreiten sollten, klingtdas Ergebnis fast so, als ob man von der Arbeitin einem biochemischen Labor der Gegenwarterzählt. Die Aufgabe des alchemistischenLaboranten war es, erst einen lapis philoso-phorum (einen Stein der Weisen) herzustellen,um anschliessend in den unedlen Metallen daswertvolle Gold heranreifen oder aus natürli-chen Stoffen ein Heilmittel (Panacée) hervor-kommen zu lassen. Der Job seines biochemi-schen Nachfolgers in den Laboratorien vonheute besteht darin, erst einen Katalysator odereinen Trennungsvorgang (Chromatographie)zu finden, um aus den unreinen Stoffen (denHomogenaten vom Schlachthof) das reine Pro-tein zu gewinnen. Aus diesem soll anschliessendein Medikament entwickelt werden.

Mit anderen Worten, in unseren Köpfen undin unseren Gedanken werkeln wir immer nochim alchemistischen Laboratorium herum – ähn-lich dem Labor, in dem Goethes «Faust» einenMenschen erzeugen will. Im Zeitalter vonKlonen und Stammzellkulturen klingt dassehr vertraut. Goethes Regieanweisung für diezweite Szene im zweiten Akt des zweiten Teils– «Laboratorium im Sinne des Mittelalters,weitläufige, unbehülfliche Apparate zu phan-tastischen Zwecken» – kann uns unmittelbarnahe an die Neuzeit heranbringen. Denn wennjemand einen Blick in das Laboratorium derUniversitätTübingenwirft, in dem derausBasel

Technische Innovationen und der wissenschaft-liche Fortschritt haben den Arbeitsplatz Laborim Laufe der Zeit stark verändert. Ein Blick aufdie historische Entwicklung – von den Labora-torien der Alchemisten bis zum «Lab on a chip».

VON ERNST PETER FISCHER

O ra et labora! Bete und arbeite! So lautetdie bekannte Formel der Benediktiner, die

unter den europäischen Mönchen bis weit indas 12. Jahrhundert hinein als ideale Vorschriftangesehen wurde. Viele werden diese Regel vorallem wegen des Gleichklangs der lateinischenWörter kennen, ohne in dieser Übereinstim-mung mehr als einen harmlosen Zufall zu se-hen. Doch die Verbindung geht tiefer, wie sichrasch zeigt, wenn man dem Substantiv «Ora-torium» eine Silbe voranstellt und dabei das«Laboratorium» erhält, in dem erst nach un-serem heutigen Verständnis kein Gott mehrgepriesen, sondern die Natur vermessen undwissenschaftlich-technisch erkundet wird.

Leider gehört es zu den Tendenzen des For-schungsbetriebs, seine Wurzeln aus den Augenzu verlieren, und dazu gehört auch dasBemühen, das schöne Wort des Laboratoriumsimmer mehr zu verkürzen – in der deutschenSprache ist höchstens noch von einem «Labor»die Rede, und im Amerikanischen verschwen-det derjenige offenbar seine Zeit, der mehr als«Lab» sagt, was mit einem breiten «ä» in derMitte auszusprechen ist. Dieser sprachlichenTendenz zur Verkürzung des alten Wortes stehtdas technische Bemühen um eine Verkleinerungvieler Gerätschaften zur Seite, die in den letz-ten Jahren ungeheure Fortschritte gemacht hat.

Goethe und die Stammzellen

Komplementär dazu sind viele Laboratorienenorm viel grösser geworden, wie noch ge-schildert werden soll, aber erst, nachdem wiran das Oratorium im ursprünglichen Labora-torium erinnert haben. An die Tatsache also,dass Wissenschaft mit dem Blick auf Gott und– wörtlich – als Gottesdienst entstanden ist.Johannes Kepler und Isaac Newton zum Bei-spiel waren tief gläubige Menschen, deren Den-ken für heutige Zeitgenossen auch dann schwer

Dr. Ernst Peter Fischer ist Professor für Wissen-schaftsgeschichte an der Universität Konstanz.

19ARBE I TSPLATZ LABOR

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fachen Substanzen zu arbeiten, um sie in neueund nützliche Stoffe umzuwandeln. Von Baeyerentwickelte eine neue Methode, um Indigoblau(für die Blue Jeans) herzustellen. Auch fertigteer die ersten Barbiturate an, die er nach ei-ner Barbara benannte und die wir bis heuteals Schlafmittel verwenden.

Man kann die Chemiker dieser Zeit fast vorsich sehen, wie sie die Augen auf die Reagenz-gläser richten, um zu sehen, ob sich in ihnenFarben oder Schlieren zeigen, mit deren Hilfesich die Verwandlung des Ausgangsstoffs zeigt.Dieses Schauen übernehmen heute Messgeräte,die entweder Extinktionskoeffizienten einerLösung oder ihre Doppelbrechung bestimmen,was natürlich sehr viel genauer als das alte Ver-fahren ist. Zugleich ist der Forscher aber auchweiter von der Natur entfernt, die er nicht ein-mal mehr im Reagenzglas zu Gesicht bekommt.

Automatisierte Laboratorien

Die Automatisierung, die heute jedes Labora-torium erreicht hat und die einzelnen Wissen-schaftler immer weniger mit den eigenen Hän-den und Augen machen lässt, entwickelt erstin der Mitte des 20. Jahrhunderts ihre volleDynamik. Wenn man sich zum Beispiel dieGeschichte des Erbmaterials DNA anschautund von Mieschers Anfängen in Tübingen zuder Auffindung der Doppelhelix im Jahre 1953in Cambridge springt, dann kann man nichtsagen, dass James Watson, Francis Crick unddie anderen, die sich um Nukleinsäuren küm-merten, besonders raffinierte Instrumentebenutzt haben. Im Gegenteil – die eigentlicheArbeit des Modellbaus wurde mit selbst gefer-tigten Pappscheiben erledigt, und die Daten, die

stammende Friedrich Miescher in der zweitenHälfte des 19. Jahrhunderts den Stoff gefundenhat, aus dem die Gene sind, hat man den Ein-druck, Goethes Szene könnte hier spielen.

Das Laboratorium, in dem die moderneBiochemie mit allen ihren Möglichkeiten ent-standen ist, unterschied sich fast nicht von denKellerräumen, in denen grosse Männer wieParacelsus oder Newton sich ganz im Sinne derAlchemie darum bemühten, zur göttlichenSchöpfung beizutragen.

Systematische Suche

Dieses Denken ist dem späten 19. Jahrhundertnatürlich fremd. In jener Zeit ist etwas anderesgelungen: die systematische Suche von Heil-mitteln, die auf eine methodische Basis gestelltwerden konnte. Sie war damit nicht mehr län-ger die Sache von Kräuterweiblein, die sich gutin den Wäldern auskannten. Von nun an warsie eine Angelegenheit der Fabriken, die aus denApotheken hervorgegangen waren und nachund nach zu den pharmazeutischen Firmenwurden, die wir bis heute kennen.

Die entscheidende Geschäftsentwicklung istdabei den Unternehmen gelungen, die eigeneLaboratorien eingerichtet haben, was jetzt kon-kret Räume meinte, in denen nicht produziertwerden musste, sondern in denen experimen-tiert werden konnte. Es waren zuerst chemischeLaboratorien, und in jedem von ihnen standenmehrere Laboranten nebeneinander, die mitsystematischen Aufgaben beschäftigt waren.Ihre Arbeit mussten sie im Stehen verrichten.Da die Labortische von Bleibeschlägen umfasstwaren, bildeten sich bald auf Bauchhöheschwarze Streifen auf den weissen Kitteln derLaboranten, die an dieser Markierung für Aus-senstehende gut erkennbar waren.

Der Fortschritt von der alchemistischen zursystematischen Laborarbeit – ein merkwürdi-ges Wort, da sich in ihm die «Arbeit» verdop-pelt hat – bestand vor allem in der Zahl derLaboranten und in einigen neuen Methoden.Aber auch alt Bewährtes wie die Destillationmit Kolben und Retorten spielten weiterhin einewichtige Rolle. Auch ging man bis zum Beginndes 20. Jahrhunderts wie früher mit den eige-nen Händen zu Werke und agierte vor allemmit Reagenzgläsern, in denen verschiedeneLösungen gemischt und geschüttelt, erhitzt underprobt wurden.

Der grosse Chemiker Adolf von Baeyer(1835–1917) beispielsweise pries das einfacheReagenzglas als das wichtigste Werkzeug desChemikers im Labor. Der Laborant habe nichtmit komplizierten Materialien, sondern mit ein-

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Im Tübinger Labor von FriedrichMiescher, einemder Väter dermodernen Gen-forschung, könnteman sich auchGoethes Faust beider Arbeit vorstel-len. 1869 entdeck-te Miescher hierdie Nukleinsäuren.

20 ARBE I TSPLATZ LABOR

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die Natur selbst in einem naturwissenschaftli-chen Laboratorium immer mehr verschwindet.Man braucht inzwischen nicht mehr als einigeMikroliter – also einen Tropfen –, um alles mes-sen zu können, was sich messen lässt.

Diese Miniaturisierung des Labors strebtim Zeitalter der Mikrochips ihrer logischenVollendung entgegen. Tatsächlich sind ersteBestrebungen aufgetaucht, die Ausrüstung, diein einem Laboratorium für die alltäglichen bio-logischen und chemischen Verfahren benötigtwird, auf einem Chip von der Grösse einer Brief-marke unterzubringen. Dieses Projekt wird esdabei mit eigenwilligen Problemen zu tun ha-ben, denn in diesen Dimensionen geht es weni-ger um Mikro- und mehr um Nanoliter. Solchwinzige Mengen neigen rasch zur Turbulenz,wenn sie strömen. Doch die Gilde der Chemi-ker sieht in dieser Idee den Weg in die Zukunft,weshalb sie dafür ein eigenes Journal gegrün-det hat, das «Lab on a Chip» heisst und in demman davon träumt, den Chip direkt in einenComputer zu stecken, um die individuellenDaten mit dem Wissen der ganzen Welt zu ver-binden.

Dieser Tendenz zur Miniaturisierung kom-plementär entgegen haben sich viele Laborato-rien in der Physik entwickelt, vor allem, seitkurz vor dem Zweiten Weltkrieg die Kern-spaltung entdeckt worden ist. Was Otto Hahn(1879–1968) und Fritz Strassmann (1902–1980) auf einem Tisch beobachtet haben, führ-te bald zu Versuchen, die Hallen beanspruch-ten, und inzwischen gibt es physikalischeExperimente, bei denen die Menschen äusserstwinzig neben den Apparaten erscheinen, mitdenen sie Neutrinos einfangen oder die Wirk-lichkeit anderer exotischer Konstrukte derphysikalischen Phantasie nachprüfen wollen.Selbst die theoretische Physik kommt kaumnoch mit dem Zimmer aus, in dem der Forschersitzt. Vielfach kommt dieser ohne die Verbin-dung mit den Rechnern der grossen Institutenicht weiter. Hier ist eine Grossforschung ent-standen, ohne dass sich sagen lässt, ob es sichum grosse Forschung handelt.

Kurioserweise gehört zu den Folgen derKernspaltung die Möglichkeit, Elemente soumzuwandeln, wie es die Alchemisten erträumthaben. Hahn hat das moderne Treiben daherauch mit dem Namen der Alchemie belegt, mitder alle Arbeit im Laboratorium begonnen hat.Bei allem Wandel ist also etwas Zeitloses zu er-kennen, nämlich die Zielrichtung der Wissen-schaft. Sie muss schon in der Regel der Bene-diktiner stecken, auch wenn das Beten aus derMode gekommen ist.

in die Doppelhelix verwandelt wurden, stamm-ten aus Röntgendiagrammen, die von Hand mitBleistift und Lineal ausgewertet worden waren.

Zwar stehen in den heutigen Laboratorienimmer noch dieselben Flaschen wie vor Jahr-zehnten herum, ansonsten wimmelt es aber vonComputern und Rechnern, die alle miteinandervernetzt sind und auf diese Weise mehr Datenerfassen können als die Laboranten, die wirbesser Wissenschaftler nennen. Die Natur ver-schwindet aus ihren Augen und Händen undrutscht in die Maschinen hinein, was letztlichdazu führt, dass wir nur oft noch von denDingen im Computer sprechen.

Wenn etwa vom menschlichen Genom dieRede ist, dann meinen wir eher die Daten in denRechnern und weniger die DNA in den Zellen.Während die ersten Biochemiker, die sich umdie Analyse von DNA-Sequenzen bemüht ha-ben – wie etwa der kürzlich verstorbene ErwinChargaff (1905–2002) –, die DNA immer vorAugen hatten und selbst manipulierten, gibtman heute seine Probe einem Techniker, der siein einem Kästchen verschwinden lässt und aufKnopfdruck eine Vielzahl von automatisiertenSchritten in Gang setzt, an deren Ende dasgewünschte Ergebnis vorliegt – als Datei ineinem Computer, die per Mausklick verfügbarwerden, ohne dass man sich die Finger dreckigmacht.

Die Automatisierung hat sich durch dieIndustrialisierung rasch entwickelt, und zwarvor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Damalsgingen Biochemiker mit dem konkreten Ziel indie Industrie, für das Forschen zu forschen. IhreIdee bestand darin, die Arbeit der Doktoran-den und Assistenten zu unterstützen, indem siedie Materialien oder die Verfahren herstelltenund kommerziell anboten, die sonst jeweilsmühsam im Laboratorium angefertigt werdenmussten.Wenn etwa einBiochemikerDNA ana-lysieren wollte, musste er erstens eine Quellefür die Nukleinsäuren finden, zweitens diedazugehörigen Analysewerkzeuge anfertigenund drittens die Pappe zurechtschneiden.

«Lab on a chip»

All diese und andere Schritte werden ihm heu-te abgenommen, und viele Firmen bieten hoch-wertige Substanzen und Präzisionsinstrumentean, mit denen die Wissenschaft sich direkt andie Arbeit der Forschung machen kann, ohnenoch viel Zeit für die Vorbereitungen zu inves-tieren. Die Industrie bemühte sich dabei, immermehr Analysen auf immer kleineren Flächen un-terzubringen, was zwar glänzend gelungen ist,aber die oben erwähnte Tendenz verstärkt, dass

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Er folgreich Wissen teilenLinie individuelle Weiterqualifikation undProfilierung und damit mittel- und langfristigverbesserte Aufstiegsmöglichkeiten und mehrLohn. Für andere heisst Nutzen interessantereArbeit, mehr Eigenverantwortung und Ent-scheidungsbeteiligung. Wieder andere wollenin erster Linie soziale Anerkennung im Betrieb,eine gute Integration ins Team und damit ver-bunden Spass an der Arbeit.

Raum für Wissensaustausch schaffen

Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss derRahmenbedingungen der Organisation auf dieWissenskooperation. Diese Rahmenbedingun-gen reichen von den räumlichen Gegebenheitenwie etwa der Einrichtung der Büros bis hinzur konkreten Gestaltung von Sitzungen undder Qualität des Pausenkaffees. Man spricht indiesem Zusammenhang von Affordanz bezie-hungsweise dem Aufforderungscharakter derUmwelt. Damit ist der Einfluss gemeint, den dieräumliche und dingliche Umwelt auf unser Ver-halten und damit auch auf die Bereitschaft zurKooperation ausübt. So laden beispielweiseKirchen zu ruhigem, gemessenem Verhaltenein, während ein gemütliches Café mit ge-dämpftem Licht und angenehmer Hinter-grundmusik zu persönlichen Gesprächen undzum Verweilen einlädt.

Unterschiedliche räumliche Gestaltung för-dert nicht nur unterschiedliche Verhaltens-weisen, sondern sie beeinflusst auch unsereVorstellung von angemessenem Verhalten.Genauso verhält es sich auch mit der Wissens-kooperation in Unternehmen: Kooperationbraucht die Gelegenheit dazu, und zwar sowohlräumlich als auch zeitlich. Büros und Pausen-räume müssen zum Gespräch und Austauscheinladen, wichtige Kooperationspartner müs-sen ohne grossen Aufwand und zumindest zeit-weise auch für direkte Gespräche erreichbarsein, Sitzungen müssen genügend Zeit für denAustausch lassen.

Idealerweise sind die Rahmenbedingungenim Betrieb so gestaltet, dass das kooperativeVerhalten immer das Naheliegendere ist. Ge-lingt dies, so werden mittel- und langfristigbestimmte Austauschformen und Räume imBetrieb automatisch mit kooperativem Verhal-ten assoziiert und verstärken die Kooperationunter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternweiter. Die Kooperation nicht als Ausnahme,sondern als Normalfall im Betrieb ist ein wich-

Unter dem Schlagwort «Wissensmanagement»versuchen Unternehmen seit einiger Zeit, dasWissen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitereffizienter zu nutzen. Mit Hilfe sozialpsychologi-scher Modelle und Methoden lässt sich besserverstehen, unter welchen Bedingungen Men-schen bereit und fähig sind, ihr Wissen mit an-deren zu teilen.

VON KARIN S. MOSER

W issen wird in der heutigen Gesellschaft, inder immer mehr klassische Produktions-

betriebe zu Gunsten von Dienstleistungsbetrie-ben verschwinden, oft als die wichtigste Res-source für den Unternehmenserfolg betrachtet.Das gilt ganz besonders für Länder ohne Roh-stoffe wie die Schweiz. Eine neue Dimension er-halten Fragen der Wissensnutzung, -verteilungund -bewahrung aber auch aufgrund der Fort-schritte in der Informationstechnologie, dieganz neue Möglichkeiten der Kommunikationund Dokumentation von Daten und Informa-tionen eröffnen, aber auch erfordern.

Wissen kann nur geteilt, bewahrt und wei-terentwickelt werden, wenn die Menschen, diedieses Wissen besitzen, bereit und fähig sind,mit anderen zu kooperieren. Aus zahlreichenUntersuchungen wissen wir, dass die Determi-nanten kooperativen Verhaltens äusserst kom-plex sind. Bei der Kooperation – nicht nur inBezug auf Wissen – sehen sich Menschengrundsätzlich einem Dilemma ausgesetzt: siemüssen Gemein- und Eigennutzen sowie derenjeweilige Vor- und Nachteile gegeneinander ab-wägen. Ein wichtiger Faktor beim Abschätzender Vor- und Nachteile kooperativen Verhal-tens ist die Zeit: häufig ist eigennütziges Han-deln kurzfristig von Vorteil, während sich dieVorteile kooperativen Verhaltens für den Ein-zelnen erst mittel- und langfristig einstellen.

Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die indi-viduelle Bewertung der potenziellen Vorteilekooperativen Verhaltens. Die individuelle Mo-tivation zur Kooperation, beispielsweise imArbeitskontext, kann ganz unterschiedlichsein: für die einen bedeutet Nutzen in erster

Dr. Karin S. Moser ist Oberassistentin undLeiterin eigener Drittmittelprojekte amPsychologischen Institut der Universität Zürich,Sozialpsychologie I.

4. Wissenskooperation kostet. Die Mitar-beitenden müssen einerseits aus- und weiterge-bildet werden, damit sie Informationen kom-petent verwalten, weitergeben und bezüglichihrer Relevanz für sich und andere bewertenkönnen. Zentral ist dabei die kommunikativeKompetenz, ohne die Wissen nicht sinnvollaufbereitet, verteilt undgemeinsam entwickeltwerden kann. Diese Auf-gaben brauchen Zeitund Gelegenheit undmüssen zusätzlich imalltäglichen Arbeitsauf-wand mit einberechnetwerden.

5. Last but not least:erfolgreiche Wissensko-operation setzt eigen-ständige und initiativeMitarbeitende voraus,die mitdenken wollenund können.Je transpa-renter Unternehmens-entscheidungen und-abläufe kommuniziertwerden und je demo-kratischer die Entschei-dungsstrukturen gestal-tet sind, desto eher sindMitarbeitende bereit,ihr Wissen in einegemeinsame Aufgabezu investieren und zuteilen.

Diese Voraussetzungen für eine erfolgreicheWissenskooperation sind keine Selbstverständ-lichkeit im betrieblichen Alltag und werdenvon Managementverantwortlichen oft unter-schätzt. Dies hängt nicht zuletzt damit zusam-men, dass der gesamte Bereich des «Wissens-managements» bisher vornehmlich von infor-mationstechnischen und betriebswirtschaft-lichen Ansätzen dominiert wurde, die beidezwar notwendige, aber für sich alleine keinehinreichenden Bestandteile eines erfolgreichenWissensmanagements sind. Technisch noch soraffinierte Datenbanklösungen bringen nichts,wenn die Mitarbeitenden nicht bereit sind, dieseauch zu nutzen. Ebenso wenig kann Koope-ration von oben herab als Unternehmenszielverordnet und ohne zusätzliche Kosten in denbetrieblichen Alltag integriert werden.

Wissenskooperation messen

Mit dem WiKo-Fragebogen wurde aufgrundeines theoretischen Modells der Wissensko-

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tiger Schritt hin zu einer nachhaltigen Wissens-kooperation.

Eng damit verbunden sind kollektive Fak-toren, wie etwa soziale Anerkennung im Betriebfür kooperatives Verhalten und die kollektiveWirksamkeitserwartung der Mitarbeitenden,das heisst die Überzeugung, dank gemeinsamerKompetenzen besser und effizienter arbeitenzu können. Diese kollektiven Überzeugungensind die Basis, die die Wissenskooperation för-dert und zentrale Aspekte einer Kultur der Re-ziprozität ausmacht. Entscheidend ist, dass sienicht von oben herab verordnet werden kön-nen, sondern sich bei günstigen organisationa-len und individuellen Voraussetzungen lang-sam entwickeln (siehe Grafik rechts).

Bezogen auf die spezifische Situation derWissenskooperation in Unternehmen bedeutetdas Folgendes:

1. Die Mitarbeitenden müssen sich daraufverlassen können, dass nicht nur sie, sondernauch andere grosszügig ihr Wissen zur Ver-fügung stellen werden, sodass längerfristig ge-sehen ein Ausgleich im Wissensaustausch zu-stande kommt. Gilt dieses Prinzip der Rezipro-zität nicht, profitieren Einzelne einseitig vomWissen anderer. Asymmetrien in der Koopera-tion führen zu einem Klima des Misstrauens,das wiederum bewirkt, dass Wissen gehortet,geschützt und als Mittel zur Machtgewinnungbeziehungsweise Machterhaltung eingesetztwird. Diese Kultur der Reziprozität entstehtnicht von heute auf morgen, sondern muss vomUnternehmen gezielt gefördert werden.

2. Erfolgreiche Wissenskooperation setzteine längerfristige Perspektive im Unternehmenfür alle Mitarbeitenden voraus. Die Vorteilekooperativen Verhaltens stellen sich nicht un-mittelbar ein, sondern erst mittel- und langfris-tig. Damit sich die Investition in die Koopera-tion für die einzelnen Mitarbeitenden auchtatsächlich lohnt, müssen sie für sich zumindesteine mittelfristige Perspektive im Unternehmensehen, sowohl bezüglich ihrer individuellenLaufbahn als auch bezüglich der Zukunft desgesamten Betriebs.

3. Unterstützt wird diese Bereitschaft zurKooperation weiter durch eine möglichst hoheAutonomie der Mitarbeitenden und die Betei-ligung an Entscheidungen sowie durch mög-lichst flache Hierarchien und geringe inner-betriebliche Barrieren. So stellen etwa auf Ab-teilungen ausgerichtete Erfolgsmessungen undBelohnungssysteme fast unüberwindliche Hin-dernisse für die abteilungsübergreifende Ko-operation dar und führen zu isolierten Wissens-inseln innerhalb eines Unternehmens.

Kultur der Reziprozität– Soziale Anerkennung der Wissenskooperation– Autonomie und Handlungsspielräume– Bereitschaft zur Perspektivenübernahme und -explikation– Entwicklung geteilter mentaler Modelle– Vertrauen in die berufliche Zukunft

→Wissenskooperation als alltägliches Geschäft

Mitarbeitende– Motivation– hohe Selbstwirksamkeit– Kompetenz

Unternehmen– Geeignete Medien,

Austauschforen und Kooperationspartner

– Gelegenheit: Zeit, Geld und Räume

– Flexible Organisation mit flachen Hierarchien

Voraussetzungenfür eine nach-haltige Wissens-kooperation.

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modells lässt sich feststellen, welcher der unter-suchten Faktoren wie viel zur Wissenskoope-ration beiträgt. Damit zeigt sich, welches dieentscheidenden und damit lohnenden Ansatz-punkte für eine Verbesserung der Wissensko-operation sind, in die der Betrieb investierensollte.

Bei der Firma Sulzer Innotec in WinterthurwurdeaufgrunddesMonitoringmitdemWiKo-Fragebogen beispielsweise eine ganze Reihe vonMassnahmen zur Verbesserung der Wissens-kooperation umgesetzt (Moser, 2002). Dazugehören unter anderem die Förderung infor-meller Gespräche über bauliche Massnahmen(Cafeteria, Zusammenlegung bisher getrennterUnternehmensbereiche),die Neugestaltung vonFirmenanlässen mit weniger Frontalkommuni-kation, ein neues Kommunikationskonzept zurErhöhung der Transparenz bei der Tätigkeitvon Arbeitsgruppen und Ausschüssen, ein Kon-zept für die unternehmensweite Sammlung vonProjektideen sowie Massnahmen zur besserenEinführung von neuen Mitarbeitern.

Zu den tief greifendsten Massnahmengehört sicher die völlige Neuorganisation vonSulzer Innotec weg von der klassisch-hierar-chischen Unternehmensorganisation hin zueiner flexiblen Struktur mit so genannten«knowledge clusters», die bedarfs- und Know-how-orientiert zusammenarbeiten und einenTeil ihrer Arbeitszeit kontinuierlich für Weiter-bildung und Wissenstransfer einsetzen sollen.Wissenskooperation wird damit zu einer zen-tralen Aufgabe für alle Mitarbeitenden. DerErfolg dieser sehr umfangreichen Massnahmenzur Verbesserung der Wissenskooperation wirdderzeit durch ein erneutes Monitoring mitdem WiKo-Fragebogen überprüft und solldann nach Möglichkeit noch weiter verbessertwerden.

operation ein Monitoring-Instrument ent-wickelt, das es erlaubt, den aktuellen Statusquo der Wissenskooperation in einem Unter-nehmen zu messen. Im WiKo-Fragebogen wer-den alle zentralen Aspekte der Wissenskoope-ration berücksichtigt und fliessen die indivi-duellen, organisationalen und kollektivenFaktoren ein, die eine Kultur der Reziprozitätausmachen. Das Modell der Wissenskoopera-tion macht die Vorhersage, dass die Bereitschaftzur Wissenskooperation in einem Unterneh-men umso höher ist, wenn:

a) die Zufriedenheit mit den vorhandenenDokumentationssystemen, den bestehendenAustauschforen und den internen und externenKooperationspartnern der wahrgenommenenWichtigkeit entspricht und die finanziellen undzeitlichen Rahmenbedingungen angemessensind;

b) die Mitarbeitenden über eine hohearbeitsbezogene Selbstwirksamkeitserwartungund Leistungsmotivation verfügen und ihrWissen kompetent bewerten, formulieren undweitergeben können;

c) die vorhandenen Kooperationsmöglich-keiten im Unternehmen tatsächlich von denMitarbeitenden genutzt werden, weil sie übereine hohe kollektive Wirksamkeitserwartungverfügen, Vertrauen in ihre berufliche Zukunfthaben und über eine den Kooperationsan-forderungen entsprechende Autonomie undHandlungsspielräume am Arbeitsplatz verfü-gen.

Treffen alle diese drei Bedingungen zu, sostellt sich im Unternehmen mittel- und langfris-tig eine Kultur der Reziprozität ein, die zu einernachhaltigen Wissenskooperation führt. Damitist eine der zentralen Grundlagen für ein erfolg-reiches Wissensmanagement erfüllt.

Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen

Bisherige Erfahrungen mit dem WiKo-Frage-bogen haben gezeigt, dass mit diesem Monito-ring-Instrument eine detaillierte Beschreibungder relevanten Faktoren der Wissenskoopera-tion im untersuchten Betrieb möglich ist. Pro-bleme und Defizite im Dokumentationssystemwerden genauso sichtbar wie Stärken undSchwächen bei den unterschiedlichen Koope-rationspartnern. Daraus ergeben sich ganzkonkrete Ansatzpunkte für die Verbesserungder Wissenskooperation und die Umsetzungder Wissensmanagementstrategie.

Zum anderen erlaubt das Modell der Wis-senskooperation, die Ursachen für einen hohenodertiefenWissensaustausch festzustellen.Auf-grund des zugrunde gelegten kausalen Mess-

LITERATUR

Moser, K. S.: Wissenskooperation: Die Grundlage der Wissens-

management-Praxis, in: W. Lüthy / E. Voit / T. Wehner (Hg.):

Wissensmanagement – Praxis: Einführung, Handlungsfelder

und Fallbeispiele, Zürich 2002

Moser, K. S.: The acquisition and transmission of knowledge

and the role of metaphors, in: Fischer, M./Boreham, N.

(Hg.): Work process knowledge and work-related learning in

Europe, im Druck

25LE ISTUNGSLÖHNE

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Dr. Dr. h.c. mult. Bruno S. Frey ist ordentlicherProfessor für Theorie der Wirtschaftspolitik undAussermarktliche Ökonomik, Lic. phil. MatthiasBenz wissenschaftlicher Assistent am Institut fürEmpirische Wirtschaftsforschung der UniversitätZürich.

zumindest ernsthaft erwogen. So ist etwa dieAnpassung des Lohns an erbrachte Leistungein zentraler Bestandteil des New Public Ma-nagements.

Ist diese Entwicklung zu begrüssen? DieserFrage sind wir gemeinsam mit Margit Oster-loh, Professorin am Institut für Betriebswirt-schaftliche Forschung, in einem Forschungs-projekt der Schweizerischen Gesellschaft fürOrganisation (SGO) zu «Managing Motiva-tion» nachgegangen. Unser Fazit lautet: Nein.Die hinter «pay for performance» stehendeVorstellung, die Leistungsbereitschaft der Mit-arbeiter liesse sich nur steigern, wenn sie ent-sprechend monetär belohnt werden, greift zukurz. «Pay for performance» führt zwar beieinfachen Tätigkeiten und bei Personen, dieausschliesslich an Gelderwerb interessiert sind,durchaus zu den erwarteten Leistungsstei-gerungen. Moderne Organisationen sind je-doch meist komplexe Gebilde, und viele Mit-arbeiter besitzen auch eine signifikante Eigen-motivation.

Das Problem von Leistungslöhnen ist, dasssie dieser unverzichtbaren Leistungsmotivationoft im Wege stehen und diese sogar untergra-ben können. Unser Buch «Managing Moti-vation» beschäftigt sich mit der «richtigen»Kombination von verschiedenen Instrumentender Mitarbeiterführung, insbesondere auch mitder Frage, wie eine nachhaltige, intrinsischeArbeitsmotivation (Eigenmotivation) der Mit-arbeiter gefördert werden kann.

Leistung schwer messbar

Leistungslöhne sind mit einigen «klassischen»Problemen behaftet, die wissenschaftlich gutuntersucht und auch in der Praxis wohl bekanntsind: Zum Ersten bereitet vor allem die Beo-bachtung und Messung der Leistung einesMitarbeiters Schwierigkeiten. Dies ist immerdann der Fall, wenn die Leistung unklarspezifiziert und arbeitsteilig erbracht wird, so-dass sie nur schwierig (oder gar nicht) einerbestimmten Person zugeordnet werden kann.Im Wesentlichen trifft dies auf alle Formen vonTeamarbeit zu und somit auf einen Grossteilder heute existierenden Tätigkeiten. Nur beieinfachen, isolierten Arbeiten lässt sich dieLeistung des Einzelnen ohne Probleme messenund zuordnen; in diesem Falle jedoch könnenLeistungslöhne sinnvoll und empfehlenswertsein.

Lohnanreize allein reichen nicht aus, die Moti-vation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusteigern. Im Gegenteil: Unternehmen sind heu-te zunehmend auf deren Eigenmotivation undauf freiwillige Leistungsbeiträge angewiesen.Diese gilt es entsprechend zu fördern.

VON BRUNO S. FREY UND MATTHIAS BENZ

Variable Leistungslöhne (pay for perfor-mance) gelten seit geraumer Zeit als Kenn-

zeichen eines fortschrittlichen Führungsinstru-mentariums. Unternehmen, Behörden, ja sogarUniversitäten sollen effizienter werden, indemdie Entlohnung der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer verstärkt an erfolgsorientiertenLeistungskriterien ausgerichtet wird. Insbe-sondere die Zuteilung von Boni oder Aktien-optionen wird vielerorts als Inbegriff einer leis-tungsfördernden Entlohnung angesehen.

Damit hat sich eine zentrale Folgerung derökonomischen Theorie über Arbeitsbeziehun-gen durchgesetzt: Der Lohn soll möglichst engmit der individuellen Leistung eines Arbeitneh-mers verknüpft werden. Moderne Wirtschafts-theorie und betriebliche Praxis stimmen füreinmal überein. Diese Entwicklung bedeutetzugleich, dass Firmen und andere Organisatio-nen vermehrt auf so genannte «extrinsischeMotivation» (von aussen kommende Anreizewie Geld) abstellen, anstatt auf die «intrinsi-sche Motivation» der Angestellten (die innerenBeweggründe) zu vertrauen.

«Pay for performance» ist heute weit ver-breitet. In der Schweiz bezogen im Jahre 200078% der Geschäftsleitungsmitglieder einenLeistungslohn, wobei die variable Komponen-te 22% ausmachte. Auch auf der mittlerenEbene der Abteilungsleiter ist der Leistungslohnmit 66% Bezügern mittlerweile gang und gäbe(vgl. «Handelszeitung» vom 20.6.2001). «Payfor performance»wird nicht nur in der gewinn-orientierten Privatwirtschaft, sondern auch ingemeinnützigen Organisationen und vor allemauch im öffentlichen Bereich eingeführt oder

Zweifelhafte Motivationsförderer

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grundlegend geändert, nachdem sie in den letz-ten Jahren mit ihrer Leistungslohnorientierungin Probleme geraten war. Der ehemalige CEO,Allen Wheat, verbrachte einen Grossteil seinerZeit mit Verhandlungen, in denen er mit seinenInvestmentbankern um die präzise Aufteilungder Erträge aus einzelnen Geschäften rang. DieBanker wollten offenbar jede spezifische Leis-tung belohnt sehen und waren nicht mehrbereit, irgendein Engagement aus freienStücken für ihre Firma zu zeigen.

CSFB sieht gerade dies heute wieder als zen-tralen Bestandteil ihrer Geschäftstätigkeit an.Wie John Mack, der neue CEO von CSFB inder «Neuen Zürcher Zeitung» (8. / 9.12.2001)ausführte, wird sich nachhaltiger Erfolg nurmitMitarbeitenden erreichen lassen,welche «inerster Linie ihr Bestes geben, wachsen, lernen,wirken und mit Respekt behandelt werden»wollen. Geld, so gibt sich Mack überzeugt, soll-te für einen professionellen Investmentbankernur eine nebensächliche Rolle spielen. Der«Verdrängungseffekt» meint genau dies: Geld-anreize, welche jede Leistung spezifisch be-lohnen, können einem Arbeitsengagement ausfreien Stücken im Wege stehen. Evidenz dafürist auch in vielen von Sozialpsychologen undneuerdings Ökonomen durchgeführten Ver-haltensexperimenten gefunden worden. DerVerdrängungseffekt hat sich auch in Feldstu-dien gezeigt.

Freiwilligkeit fördern

Dies heisst nicht, dass Geld unwichtig wäre.Natürlich arbeiten Menschen (auch) für Geld,und monetäre Anreize haben einige gewichtigeVorteile. So braucht sich beispielsweise einprivatwirtschaftliches Unternehmen nicht umdie persönlichen Überzeugungen von Ange-stellten zu kümmern, solange es gut bezahlt unddie Kosten der Überwachung nicht zu hochsind. Es gewinnt sogar an Elastizität, wenn esdarauf verzichtet, «seinen Mitgliedern die herr-liche Vierfruchtmarmelade nahezubringen, diees produziert», wie es Niklas Luhmann einmalgenannt hat.

Extrinsische Anreize erlauben eine relativzielgenaue und wirksame Steuerung dessen,was eine Organisation von ihren Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmern erwartet. Wenn diezu erledigenden Aufgaben nicht zu komplexsind, klar dem Einzelnen zugeordnet werdenkönnen und auch sonst die oben beschriebenenAnreizverzerrungenwenigwahrscheinlich sind,können individuelle Leistungslöhne (über einenFixlohn hinaus) deshalb durchaus wirksamsein.

Zum Zweiten erschwert das so genannte«multi-tasking»-Problem eine individuelleLeistungsentlohnung. Gemeint ist, dass dieAnreize der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitersystematisch verzerrt werden, wenn nur einTeil der Tätigkeit leistungsentlöhnt wird, einanderer aber nicht. Die Mitarbeiter habenausschliesslich einen Anreiz, die leistungs-orientiert bezahlten Tätigkeiten zu unter-nehmen, vernachlässigen jedoch die unbe-zahlten.

Diese Anreizverzerrung ist offensichtlichund in der Realität wiederholt beobachtet wor-den. Ein Beispiel ist anhand von Lehrerinnenund Lehrern einsichtig: wenn deren Bezahlungan die Prüfungsresultate ihrer Schützlingegeknüpft ist, kümmern sie sich wohl um die Ver-mittlung dieses Wissens («teaching the test»),sie vernachlässigen aber tendenziell anderewichtige Aspekte des Lehrerseins wie die Ver-mittlung sozialer Kompetenzen.

Eng damit verbunden ist das dritte, so ge-nannte «fuzzy-tasking»-Problem. Wenn Unter-gebene anhand von klar quantifizierten Vor-gaben entlohnt werden, dann machen sie sichweniger Gedanken darüber, ob die angewen-deten Kriterien überhaupt sinnvoll sind odergar nicht zum Ziel einer Unternehmung oderOrganisation beitragen. Die Folge ist, dasssuboptimale und wenig innovative Zielsystemeformuliert oder erhalten werden.

Schliesslich stellt auch die Manipulationvon Leistungslohnsystemen ein Problem dar.Eine Zurückhaltung in den monetären Anrei-zen ist angezeigt, wenn beispielweise Manager(aber auch andere Mitarbeiter) die Regeln desEntlohnungsystems zu ihren Gunsten beein-flussen können. Diese negativen Auswirkungenvon Leistungslöhnen haben in den letztenMonaten traurige Berühmtheit erlangt. Sosind wohl viele der in den USA bekannt gewor-denen Bilanzmanipulationen in Grossunter-nehmen auch darauf zurückzuführen, dass sichdie über Aktienoptionen entlöhnten Managerdavon einen grossen persönlichen Vorteilversprachen (vgl. «The Economist» vom18.7. 2002).

Die Probleme von variablen Leistungslöh-nen sind jedoch oft noch grundsätzlicher:Der Fokus auf monetäre Anreize kann dazuführen, dass Arbeitnehmer sich nicht mehranstrengen, wenn sie dafür nicht zusätzlichentlohnt werden. Dieser so genannte «Ver-drängungseffekt» lässt sich an einem aktuellenBeispiel verdeutlichen.

Die Investmentbank Credit Suisse First Bos-ton (CSFB) hat kürzlich ihre Personalstrategie

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LITERATUR

Frey, B. S. / Osterloh, M. (Hg.): Managing Motivation. Wie Sie

die neue Motivationsforschung für Ihr Unternehmen nutzen

können, Wiesbaden 2001, 2. Auflage

Ein grosser Teil der Tätigkeiten in Organi-sationen erfüllt allerdings heute diese Bedin-gungen nicht mehr. Deshalb können sie nichtalleine auf Geldanreize vertrauen, sondern sindzunehmend auf intrinsisch motivierte, freiwil-lige Leistungsbeiträge ihrer Mitglieder ange-wiesen. Beispielsweise wird in immer mehrUnternehmen das Wissen derMitarbeiterinnen und Mitarbei-ter als wichtige Quelle für den Un-ternehmenserfolg angesehen. DerProduktionsprozess enthält oftElemente impliziten Wissens, dasheisst Wissen, das sich nicht nie-derschreiben und von aussen beo-bachten lässt.

Infolgedessen können auchkeine geeigneten monetären An-reize festgelegt werden, die die er-forderlichen Anreize zur Schaf-fung und Weitergabe dieses im-pliziten Wissens vermitteln. ImGegenteil muss sich eine Unter-nehmung diesbezüglich auf dieFreiwilligkeit der Mitarbeitendenverlassen und diesezu fördernver-suchen. Dies gilt noch allgemei-ner, wenn man die Existenz desUnternehmens als eine Folge von einem so ge-nannten «Marktversagen» sieht. Gemeint ist,dass Unternehmen deshalb ins Leben gerufenwerden, weil der Markt Gemeingüter, welchefirmenspezifisch sind, gar nicht oder nur unzu-reichend bereitstellt.

Zu solchen Gemeingütern gehören alleTätigkeiten von Mitarbeitern, die Auswirkun-gen auf andere Mitarbeiter haben (so genann-te externe Effekte), ohne dass diese Effekte sichpräzise zurechnen liessen. Beispiele sind dergute Ruf eines Unternehmens, seine besondereUnternehmenskultur, gute Beziehungen zuKunden und Lieferanten, akkumuliertes Wis-sen oder eine besondere Innovationsfähigkeit.

Jeder Mitarbeiter kann von solchen Ge-meingütern einer Firma profitieren, auch wenner oder sie nichts zu seiner Herstellung bei-getragen hat. Wenn er oder sie umgekehrt zuseiner Produktion beiträgt, so können auchandere Organisationsmitglieder davon profi-tieren. Variable Leistungslöhne können infolgeder mangelnden Zurechenbarkeit die Gene-rierung solcher Gemeingüter deshalb kaumsicherstellen. Nur aus innerem Antrieb moti-vierte Mitarbeiter strengen sich an, einen Bei-trag zu diesen «Pool-Ressourcen» zu leisten,welche oft den eigentlichen Wettbewerbsvor-teil einer Unternehmung ausmachen.

Organisationen sollten sich deshalb nichtauf monetäre Anreize zur Leistungsförderungversteifen, sondern vor allem die intrinsischeMotivation der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer zu erhalten und fördern versuchen.Dies ist leichter gesagt als getan, denn intrin-sische Motivation ist ihrer Natur nach immer

freiwillig und lässt sich nicht herbeizwingen.Dennoch sind einige Bedingungen bekannt,unter denen sie ermöglicht und gefördert wird.

So beeinflusst die Gewährung von Parti-zipation und Mitsprache das Engagement fürdie gemeinsam getroffenen Ziele positiv. Engdamit verbunden ist auch die Idee, dass Ar-beitnehmer sich nicht nur um die Ergebnisse amArbeitsplatz kümmern, sondern auch, wie dieseResultate zustande kommen. Die Prozesse ei-ner Organisation, vor allem im Umgang mit denMitarbeitern, sollten deshalb fair sein. DieMitarbeiter werden es mit erhöhtem freiwilli-gen Engagement danken, denn sie schätzen faireBehandlung als einen Wert an sich. Und letzt-lich ist eine als interessant empfundene Tätig-keit immer noch die wichtigste Voraussetzung,dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer im Sinne Ihrer Organisation engagieren.

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Mitsprache undPartizipationbeeinflussen dieMotivation vonMitarbeiterinnenund Mitarbeiternpositiv.

Arbeitsfrust und Freizeitglück?

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so sehr, dass wir nicht mehr in der Lage seien,diese «Gefühlstatsachen» als solche zu regis-trieren.

Auch das ist natürlich krass formuliert.Wenn wir aber zugestehen, dass auch darin einKorn Wahrheit liegt, dann zeigt Arbeit unteremotionaler Perspektive offenbar einen Janus-kopf: Sie ist einerseits – wer wollte es bestrei-ten – eine Pflicht, mit der unausweichlich vielenegative Emotionen verbunden sind. Sie mussanderseits aber auch in ganz zentralem Sinneeine Quelle positiver Emotionen darstellen, sollsie ihren Zweck für das Individuum und dieGesellschaft befriedigend erfüllen können.

Die Crux bei diesem Problemfeld ist, dasssich zwar leicht darüber diskutieren lässt,dass es jedoch sehr schwierig ist, stichhaltigeempirische Untersuchungen durchzuführen.Emotionen begleiten uns den ganzen Tag. Siebeeinflussen und steuern unser Verhalten stän-dig mit – meist, ohne dass wir das bewusstregistrieren. Natürlich gibt es zuweilen starkeGefühlserlebnisse, die unser Bewusstsein über-schwemmen und die wir daher auch aus zeit-licher Distanz noch schildern können. Aberüber die für den Alltag viel wichtigeren «klei-nen» Hochs und Tiefs kann der Mensch auf-grund seines kognitiven Systems nachträglichnicht zuverlässig Auskunft geben. Befragungentraditioneller Art, die sich auf das Gedächtnisdes Befragten stützen, können in den obigenFragen also prinzipiell keine Klärung bringen.

Emotionale Momentaufnahmen

In unserer Untersuchung über die «Qualität desErlebens in Arbeit und Freizeit» wählten wirdaher ein ganz anderes Vorgehen, die so ge-nannte «Experience Sampling Method» (ESM).Die Grundidee dieser Methode ist, die Unter-suchungspersonen direkt im Alltag über dasjeweilige Erleben in konkreten Momenten zubefragen. Die in einem kleinen Fragebogen zubeschreibenden Momente – zirka 7 pro Tag,zirka 50 pro Woche – werden nach einemZufalls-Stichprobenplan bestimmt und derPerson beispielsweise mit einem Pager mit-geteilt. Bisher wurden über 500 Personen inganz verschiedenen Berufen und Lebenslagenuntersucht. Sie lieferten zusammen gegen25000 emotionale Momentaufnahmen ausdem Alltagsleben.

Um einige Ergebnisse der skizzierten Unter-suchung schildern zu können, ist zuvor ein

Spricht man von der emotionalen Seite der Ar-beit, dominieren meist negative Sachverhalte:Stress, Angst am Arbeitsplatz, Burnout, Mob-bing sind die zentralen Themen. Freizeit gilt da-gegen vielfach als alleiniger Hort des Glücks.Die Untersuchung des tatsächlichen Erlebensim Alltag liefert jedoch ein wesentlich differen-zierteres Bild.

VON URS SCHALLBERGER

Betrachtet man Arbeit als Mittel zum (dop-pelten) Zweck, gesellschaftlich nachgefrag-

te Güter und Dienstleistungen zu produzierenbeziehungsweise den individuellen Lebensun-terhalt zu finanzieren, erscheint sie leicht nurals notwendiges Übel. Jemand, der viel arbei-ten muss, ist aus dieser Sicht zu bedauern. Wergar ohne Widerwillen viel arbeitet und zudemnoch Freude daran hat, gerät in Verdacht, einWorkaholic, im Klartext: krank zu sein. Viel-leicht gibt es einige Privilegierte, denen es ge-lingt, ihr Hobby zum Beruf zu machen. ImNormalfall ist Arbeit aus dieser Perspektiveaber nur eine Quelle negativer Emotionen; das«eigentliche», wirklich erfüllende Leben be-ginnt erst jenseits der Arbeit, in der Freizeit.

Dieses Bild ist zwar oft anzutreffen, aberdoch wohl ein Zerrbild. Denn die Erfahrunglehrt doch auch: Wer in der Berufsarbeit nurmehr oder weniger leidet, kann auch die Frei-zeit kaum geniessen und steht in Gefahr, krankzu werden. Zudem: Wie soll jemand «selb-ständig», mit «grossem Einsatz», «initiativ»,«flexibel» oder gar «kreativ» arbeiten können,wie es heute in Stelleninseraten so oft gefordertwird, wenn die Arbeit nicht auch Freude macht?

Der durch seine Bücher über das so genannteFlow-Erleben bekannt gewordene PsychologeCsikszentmihalyi geht sogar noch einen Schrittweiter: Er glaubt belegen zu können, dass imheutigen Alltag – in völligem Gegensatz zumskizzierten Bild – eigentlich die Berufsarbeit dieHauptquelle von positiven Emotionen sei. DieFreizeit sei demgegenüber primär durch Lan-geweile und Apathie gekennzeichnet. Das Vor-urteil, Arbeit sei eine a priori unangenehmePflicht, beherrsche aber das moderne Denken

Dr. Urs Schallberger ist ausserordentlicherProfessor für Angewandte Psychologie und Per-sönlichkeitsforschung an der Universität Zürich.

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der beiden Aktivierungsformen gekennzeich-net. Dabei kommen alle Kombinationen vor:Zum Beispiel ist das Befinden vor einer wichti-gen, aber heiklen Sitzung oder vor einem Bun-gee-Sprung typischerweise durch hohe positiveund hohe negative Aktivierung gekennzeichnet.Dagegen ist für die meisten Menschen bei-spielsweise Abwaschen oder ein Zahnarzt-besuch eher wenig positiv aktivierend, jedochmit einer gewissen (in den beiden Beispielenunterschiedlichen) negativen Aktivierung ver-bunden.

Eine letzte Unterscheidung betrifft den Zu-sammenhang zwischen positiver beziehungs-weise negativer Aktivierung und dem momen-tanen beziehungsweise habituellen Befinden.Hier gibt es einen auffälligen Unterschied: Fürdas momentane Wohlbefinden ist vor allem dieAbwesenheit von negativer Aktivierung (alsoetwa Stress oder Ärger) wichtig. Ob gleichzei-tig noch positive Erlebnisse im Sinne der posi-tiven Aktivierung vorhanden sind, erweist sichals sekundär. Die negativen Spannungen habenoffenbar die Kraft, eine gleichzeitig vorhande-ne positive Aktivierung weit gehend zu über-strahlen. Betrachtet man dagegen das habitu-elle Wohlbefinden, dann kehren sich die Ver-hältnisse um: Hier wird dann entscheidend, inwelchem Ausmass der normale Alltag Mo-mente positiver Aktivierung umfasst. Das Aus-mass negativer Aktivierung wird zweitrangig,es wird sozusagen durch das Ausmass positiverAktivierung übertönt. Offenbar hat «Glück imMoment» und «längerfristiges Glück» je eineeigene, geradezu konträre Bedingungsstruktur.Darauf wird zurückzukommen sein.

Typisches Erleben von Arbeit und Freizeit

Wie sieht nun die typische Befindlichkeit inArbeit und Freizeit aus? Um diese Frage auf-grund von Zeitstichprobendaten beantwortenzu können, muss man zuerst eine sinnvolle Ab-grenzung von Arbeitsmomenten und Freizeit-momenten vornehmen. Denn es gibt ja auchwährend der Arbeitszeit immer wieder Mo-mente, die man nicht als Arbeit betrachtenkann, und es gibt in der «Freizeit» viele Mo-mente, die bloss der Erledigung von Notwen-digkeiten dienen (etwa Einzahlungen machen,Zähne putzen, Haushaltsarbeit). Um einesaubere Abgrenzung zu erhalten, haben wir indieser Frage auf die Sichtweise der Probandenselbst abgestellt. Wir haben also zum Beispielnur jene Momente zur Freizeit gerechnet, dievon der betreffenden Person wirklich als«echte» Freizeit, also als frei verfügbare Zeit imvollen Wortsinne erlebt wurden.

kleiner Exkurs in die Psychologie des Alltags-befindens notwendig. Dieses Befinden wird imalltäglichen Sprachgebrauch oft pauschalisie-rend als «gut oder schlecht» beziehungsweise«eher glücklich oder eher unglücklich» cha-rakterisiert. Damit können aber ganz verschie-dene Sachverhalte gemeint sein.

Grunddimensionen des Alltagsbefindens: Die positive Aktivierung widerspiegelt das Ausmass an Energieund positiver Zuwendung, die etwa ein schönes Fest auslösenkönnen; die negative Aktivierung dagegen das Ausmass unange-nehmer Spannungen, die auf Abbau drängen.

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Eine erste Differenzierung betrifft denUnterschied zwischen dem habituellen unddem momentanen Wohlbefinden, das heisst,zwischen der überdauernden Grundstimmungauf der einen und dem Befinden im aktuellenMoment auf der andern Seite. Dass diese bei-den Aspekte nicht übereinstimmen, kommtsehr oft vor: Auch (habituell) eher glücklicheMenschen sind in bestimmten Momenten eherunglücklich und umgekehrt.

Eine zweite Differenzierung betrifft dasmomentane Befinden und wird mit dem Be-griffspaar «positive» und «negative Aktivie-rung» ausgedrückt. Es handelt sich dabei umzwei Grunddimensionen, in denen man das All-tagsbefinden relativ gut abbilden kann. Bei derpositiven Aktivierung geht es um das Ausmassan Energie und positiver Zuwendung, die bei-spielsweise ein spannendes Problem oder auchein tolles Fest auslösen können. Die negativeAktivierung hingegen widerspiegelt das Aus-mass unangenehmer Spannungen, die auf Ab-bau drängen.

In der Grafik oben sind Beispiele von Ad-jektiven angeführt, welche die entsprechendenBefindlichkeiten charakterisieren. Reale All-tagsmomente sind immer durch einen «Mix»

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Unterscheidet man zwischen Arbeit undFreizeit, lassen sich diese Zusammenhängenoch präzisieren. Es zeigt sich nämlich, dassdie positive Aktivierung aus der Arbeit für dashabituelle Wohlbefinden bedeutungsvoller istals jene aus der Freizeit. Bei der negativenAktivierung ist es hingegen gerade umgekehrt.

Benutzt man nun die Begriffe der positivenund negativen Aktivierung, um das Befinden inArbeit und Freizeit zu beschreiben, ergibt sichfür alle sozioökonomischen Gruppen ein sehreindeutiger Befund: In der Arbeit ist die nega-tive, aber auch die positive Aktivierung weitstärker ausgeprägt als in der Freizeit. Das heisst,Arbeit wird unter dem Aspekt negativer Akti-vierung als deutlich unangenehmer erlebt alsFreizeit. Unter dem Aspekt positiver Aktivie-rung ist es aber genau umgekehrt. Hier wirddie Freizeit ebenso eindeutig als unangenehmererlebt als die Arbeit.

Arbeit zeigt also unter emotionaler Per-spektive tatsächlich einen Januskopf: Siebringt zwar eine erhebliche positive Aktivie-rung mit sich und ermöglicht Momente moti-vierten Aufgehens im Tun. Der positive Effektdieses Zustandes auf das momentane Wohl-befinden wird aber durch den ebenfalls vor-handenen Stress oft übertönt. Eine analogeJanusköpfigkeit ergibt sich aber auch fürdie Freizeit: Das Fehlen von negativer Akti-vierung wird zwar als Ruhe und Entspannunggenossen, jedoch um den Preis einer reduzier-ten positiven Aktivierung, das heisst einerTendenz zur Langeweile. Diese wird ja durchdie moderne Freizeitindustrie auch weidlichgenutzt. Das vollkommene momentane Glückliegt so gesehen also weder in der Freizeitnoch in der Arbeit. Diese Aussage ergibt sichaus dem Durchschnitt aller untersuchtenZeitpunkte und Personen – das heisst, siewiderspiegelt das in diesem Sinne für heutigeMenschen «typische» Erleben von Arbeit undFreizeit.

Spannender Job, ruhige Freizeit

Unsere Befunde beschränken sich selbstver-ständlich nicht auf die blosse Kontrastierungdes Befindens in Arbeit und Freizeit. Die (übri-gens einzigartige) Sammlung von Beschrei-bungen des momentanen Alltagserlebens vonErwachsenen erlaubt darüber hinaus die Ab-klärung vieler, sehr spezifischer Fragestellun-gen – seien diese bezogen auf die Arbeit, dieFreizeit oder den gesamten Alltag.

Darauf kann hier nicht weiter eingegangenwerden. Lediglich ein Befund sei noch ange-führt. Er knüpft am bereits beschriebenenSachverhalt an, dass für das habituelle Wohl-befinden (im Sinne der Grundstimmung)primär das Ausmass positiver Aktivierung imAlltag ausschlaggebend ist. Das Ausmass dernegativen Aktivierung, das für das momentaneWohlbefinden so destruktiv ist, ist auf dieserEbene eher sekundär.

TrügerischeFreizeitidylle: DasFehlen negativerAktivierung wirdzwar als Ruhe und Entspannunggenossen, imHintergrund drohtaber oft die Lange-weile.

LITERATUR UND WEBSITES

Schallberger, U. / Pfister, R.: Flow-Erleben in Arbeit und Freizeit.

Eine Untersuchung zum Paradox der Arbeit, Zeitschrift für

Arbeits- und Organisationspsychologie, 45, S.176–187, 2001

Weitere Informationen zum Nationalfondsprojekt «Qualität des

Erlebens in Arbeit und Freizeit. Untersuchungen mit der

Experience Sampling Method» unter:

http://www.psychologie.unizh.ch/angpsy/Forschung/Papers/

BaAAPZwBil31.pdf

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Etwas verkürzt ausgedrückt heisst dies: JenePersonen weisen die beste Grundstimmung auf,die einer als spannend erlebten (positiv akti-vierenden) Berufstätigkeit nachgehen und inder Freizeit mit verhältnismässig wenig Stress(negative Aktivierung) konfrontiert sind. DasGegenteil – stressarme Arbeit und «erfüllte»Freizeit – ist gemäss den Befunden unserer Zeit-stichprobenuntersuchung kein brauchbaresGlücksrezept. Der Kontrast zum eingangsgeschilderten Klischee der emotionalen Be-deutung von Arbeit und Freizeit könnte nichtgrösser sein.

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Emotionale TankstellenFeld von Anweisungen zum Zwecke einerphysiologisch begründeten Optimierung derReproduktionsfähigkeit. Zeit, Ernährung undmentale Einstellungsmuster spielten dabei eineentscheidende Rolle.

Auf der anderen Seite führten die Arbeitereinen wechselvollen Kampf um Arbeitszeiten,Pausen und gegen entsprechende Kontroll- undStrafsysteme. Denn die arbeitswissenschaft-lichen Pausenkonzepte beruhten auf physio-logisch definierbaren Belastungskriterien, diesoziale und kommunikative Aspekte vernach-lässigten.

Der Zürcher Historiker Rudolf Braun be-zeichnet die Pause als ein Ritual, welches dasharte Zeitdiktat des mechanisierten Produk-tionsflusses im Sinne einer aktiven Distanz zuüberwinden versuchte: Neben gesetzlich, tarif-lich und betrieblich vereinbarten Pausen gabes auch informelle und von Arbeitsgeberseitenicht vorgesehene Pausenpraktiken. Dabei ginges um ein widersprüchliches und «eigensin-niges» Verhalten zwischen demonstrativemÜbertreten, Missachten der Fabrikordnungund der Orientierung an Werten wie Pünkt-lichkeit und gruppenorientierter Arbeitsdiszi-plin. Historische Untersuchungen berichtenvon Neckereien, von heimlichen Nickerchenund verlängerten Toilettenbesuchen.

Semantik der Pausenräume

Pausenkultur weist neben disziplinierender,normativer, zeitlicher und subjektiver auchsemantische Aspekte auf. Sie äussern sich in derSprache der Pausenräume und in Form symbo-lischen Konsumverhaltens während der Pause.Zahlreiche Unternehmen versuchten das Ess-und Trinkverhalten der Angestellten in Pausendurch Konsumangebote und Kontrolle zu be-einflussen. So wurden beispielsweise bei derdeutschen Stahlbaufirma Krupp die zugelas-senen Pausen mit vom Betrieb freigestelltenKaffeekochern und leichtem Kornbranntweinattraktiver gestaltet.

Das Ausschenken von Getränken sollte dasverbreitete Schnaps- und Biertrinken verhin-dern, was jedoch von den Arbeitern trotz derteilweise erforderlichen Bezahlung hartnäckigverteidigt wurde. Die offiziellen Pausenzeitenwurden zur Erholung gebraucht und dientenweder dem lustvollen Umgang mit anderennoch intensiven Gesprächen. Oft wurden dieBrote neben dem Arbeitsplatz alleine verdrückt.

Ob Kantinen als Gegenmodelle zur rationa-lisierten Fabrikarbeit oder Kaffee-Ecken alsInformationszentren in Büros: Die Gestaltungdes Pausenverhaltens hat in der Arbeitswelteine lange Tradition – mit wechselnden Funk-tionen.

VON GABRIELA MURI

Zeitpraktiken als überindividuell-kognitiveOrientierungsmuster dienen in erster Linie

der Synchronisierung individueller und gesell-schaftlicher Tätigkeitsabfolgen. Sie beeinflus-sen jedoch nicht nur das äussere Verhalten vonMenschen, sondern auch die Bildung ihresSozialcharakters. Gerade bei der Einhaltungvon informell geregelten Pausen während derArbeit spielen Formen der Selbstregulierungeine zentrale Rolle. So wurde in den frühenJahrzehnten der Industrialisierung die Fabrik-disziplin zur neuen Erfahrung einer «totalenArbeitswelt», in der eine abstrakte Arbeits- undZeitordnung regierte.

Physiologische Optimierung

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden inFabriken erstmals Kontrollkarten angeordnet,die «Kommen» und «Gehen» der Arbeiter er-fassen sollten. Es ging vor allem darum, Arbeitvon Nicht-Arbeit zu trennen, die als «lustvolleVerausgabung» in der Arbeitssphäre verbotenwar. Moralische Schriften priesen die Maxime:«Nutze die Zeit! Nutze jede Minute deinesLebens!» Das frühe Aufstehen und die Einsicht,dass Zeit Geld ist, sollten verbreitet und vonden Arbeitern verinnerlicht werden.

Die modernen Naturwissenschaften beein-flussten zudem die Vorstellungen über das rich-tige Verhältnis von Arbeit und Entspannung,die Diskussion über die Normalarbeitszeitund das vorherrschende Körperbild. Neue Er-kenntnisse über Thermodynamik und Stoff-wechselforschung übertrugen Energiekonzepteaus der Physik auf den menschlichen Körperund führten dazu, dass das richtige Verhältnisvon Arbeit und Entspannung ein wissenschaft-liches und kein individuelles oder moralischesProblem mehr war. Pausen wurden zu einem

Lic.phil./dipl. arch.ETH Gabriela Muri istOberassistentin am Volkskundlichen Seminar derUniversität Zürich.

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ken der Mitarbeiter beeinflussen und damitauch zu einem hegemonialen Instrument wer-den. In einer ethnographischen Untersuchungvon 1997 beschreibt Andreas Wittel eine Firmamit einer ausgesprochen gepflegten Kaffeepau-senkultur. Während in der Mehrzahl bundes-deutscher Betriebe die Infrastruktur für das

Kaffeetrinken von den Angestellten selbst or-ganisiert wird, stellt die betreffende Firma denKaffee selbst zur Verfügung.

Die Positionierung der Kaffee-Ecken an gutfrequentierter, sozusagen zentraler Verkehrs-lage weist auf die besondere Bedeutung derKaffeepausenkultur hin. Während die Firmaden Kommunikationscharakter betont – «einOrt, an dem man aufeinander zugeht» –, be-schreiben die Beschäftigten die Kaffee-Eckepragmatischer als Informationszentrum undweisen erst in zweiter Linie auf den Regenera-tions- und Pausencharakter hin.

Die Firma ist sich der die Arbeitsleistungfördernden Wirkung des Kaffees bewusst,genauso wie seines symbolischen Gehaltes, In-formalität, Gemütlichkeit und lockere Kom-munikation zu fördern. Trotz der kommuni-kationsfördernden Wirkung wird der Kaffee-konsum aufgrund seiner motivationssteigern-den Wirkung gefördert. Die arbeitsweltlichePraxis wird so gesehen also höher bewertet alsdie lebensweltliche. Die Mitarbeiter könnentheoretisch jederzeit Kaffee trinken, aber eininformelles Regelwerk sorgt für bestimmtezeitliche Benützungsregeln.

Die Herrschaftsausübung in dieser Firmaberuht auf Selbstzwang, der Kaffee wird zueinem idealen Mittel, diesen zu verdeutli-chen. Das kann so weit gehen, dass befragte

Nicht nur Nahrungsmittel waren Ausdruckeiner lenkenden Absicht von Unternehmersei-te, auch die Zuteilung der Räume wurde nachbestimmten Mustern vollzogen und waren Aus-druck innerbetrieblicher Hierarchien. Die Kan-tine wurde als Gegenmodell zur rationalisier-ten Fabrikarbeit als Familienraum konzipiert.Als emotionale Tankstelle solltesie die fehlende Zuneigung imFunktionsgetriebe der modernenFabrik – gewissermassen eineDienstleistung des weiblichenKantinenpersonals – kompensie-ren. Die Arbeiter hatten für ihreMittagspausen im ersten Oberge-schoss eine karge Einrichtung mitlangen Tischen und Bänken zurVerfügung, die Angestellten im-merhin Einzelstühle und die eben-falls im ersten Obergeschosss re-sidierende Direktion einen Spei-sesaal mit eigenem Eingang,Stukkaturen und gediegen-bür-gerlicher Ausstattung.

Die besondere «Sprache vonPausensphären» zeigt sich auchin der Gestaltung von Pausen-nischen, in denen Gegenstände und Bilder dieTräume und Hobbys der Arbeiter zum Aus-druck bringen: Zu den Themenkreisen dieser«Gegenwelten» im Kleinen gehören der Sportals Sinngebung des Sinnlosen, exotische Land-schaften und Pin-up-Girls. Bezeichnend ist,dass diese «Gegenwelten» einerseits den Ar-beitsalltag überwinden, andererseits aber letzt-lich auf ihn bezogen bleiben.

Produktive Kaffeepausen

Obwohl die Pausenfrage heute nicht mehr imZentrum arbeitsrechtlicher Forderungen steht,gewinnt sie wieder an Bedeutung. Denn Ar-beitszeitverkürzungen führen zu einer zuneh-menden Verdichtung der Arbeitsprozesse, undPausen tragen zur «Entdichtung» der täglichenArbeitszeit bei. Aus kulturwissenschaftlicherPerspektive stellt sich in diesem Zusammen-hang die Frage, inwieweit symbolisch regulier-te Formen von Auszeiten durch die Industriali-sierungswellen verdrängt und inwiefern sie inder Gegenwartsgesellschaft sowohl im Bereichder Binnenkultur der Arbeitswelten als auch ineiner modernen Freizeitkultur noch oder wie-der von Bedeutung sind.

Firmenideologien können im Sinne einerkulturellen Steuerung – der Herausbildung ei-ner Organisationsidentität, der Steigerung derLeistungsmotivation und Loyalität – das Den-

Auszeit: An dieWand gepinntePoster machenden Pausenraumzur symbolischenGegenwelt.

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haltung wirksame «Körpervorschriften». Die-se sind nicht unmittelbar an den Produktions-ablauf gebunden, werden aber als Ausdrucks-repertoire einer verinnerlichten Arbeitsmoralin der Arbeitspraxis genauso bedeutsam. Trotzausgeprägter Pausenkulturen benützen Ange-stellte in modernen Betrieben Rechtfertigungs-muster für Pausen, die auf eine hochgradig ver-innerlichte Zeitdisziplin schliessen lassen: «Beimir kommts schon vor, dass ich einmal indie Luft schau, aber immer mit schlechtemGewissen.»

Zeitautonomie im Alltag

Die Erfahrungen von Konflikten im Pausenall-tag wie auch von «Eigensinn» und Pausenspie-len sind letztlich Bestandteile einer diversifi-zierten Alltagssprache der arbeitsweltlichenBinnenkultur. Sie bestimmen das Deutungs-system von Einschränkung und Selbstverwirk-lichung ebenso mit wie normativ gelenkteErfahrungen von Zwang und Freiheit.

Arbeitspausen können so als zeitlich und oftauch räumlich begrenzte Mikrosphären zwi-schen Bedürfniszuweisung und Bedürfnisarti-kulation umschrieben werden. Ihre Funktionenund Leistungen reichen von der effizient ein-gesetzten körperlichen Reproduktionsleistungüber die umfassender konzipierte Erholungs-phase bis hinzum mehroderweniger toleriertenRaum für«Eigensinn» im Sinne von verdecktenProtestformen. Erfahrungen von Zwang undFreiheit im Arbeitsalltag sind daher immer auchAusdruck einer gegenwartstypischen Interpre-tation von Zeitautonomie im Alltag.

Mitarbeiterinnen zwischen altruistischen (mitjemandem eine halbe Stunde sprechen, der lan-ge krank war) und egoistischen (vom Urlauberzählen) Motiven sozialer Zeit und verschie-denen Kompensationhandlungen unterschei-den. Das fehlende formelle Zeitkontrollsystemwird durch ein informelles ersetzt und so oftintensiviert. Die gegenseitige Kontrolle erfolgtnonverbal durchAufschauen oderAuf-die-Uhr-Blicken oder durch Fragen wie «Na, gehst duschon?».

Die Basis für dieses Kontrollsystem bildetdie hohe Bewertung der informellen Kommu-nikation und ihre formellen Auswirkungen –Kaffeekultur, Betonung der Teamfähigkeit undinnenarchitektonische Zeichen wie Gross-raumbüros und Bistroecken. Dies führt auch zueiner Vermischung von Berufs- und Privatlebenund zu einer ständig erforderlichen Festlegungder Grenzen zwischen beiden Sphären. Legiti-me Formen von Nichtarbeit wie Arbeitsunlustund Tratschen werden als Arbeit beziehungs-weise als Arbeitsgespräche getarnt, indem diebetreffenden Angestellten am Arbeitsplatz blei-ben und nonverbal signalisieren, dass sie ar-beiten (man runzelt etwa die Stirn oder besuchtsich unter einem Arbeitsvorwand am Arbeits-platz).

Verinnerlichte Arbeitsmoral

Die dargestellten Aspekte zum Thema Kaffee-pausen in einem modernen Dienstleistungsbe-trieb lassen auf eine firmenideologisch funk-tionalisierte, arbeitsweltlich durch deutlichsichtbare Symbolstrukturen umgesetzte undlebensweltlich differenzierte Interpretation derPause schliessen. Ihr Zwangscharakter hatsich im Vergleich zu Pausenmustern der erstenIndustrialisierungsepoche auf neue Funktions-ebenen verlagert: Dem zeitstrukturellen Zwangdes Maschinentaktes und eines sich im Laufeder Jahrzehnte herausbildenden wissenschaft-lichen Deutungssystems von Leistung undErholung steht ein mehrschichtiges Vermitt-lungssystem gegenüber. Bei diesem steht derZusammenhang einer auf Kommunikationausgerichteten Firmenkultur und dem gemein-sam angestrebten Erfolg im Mittelpunkt. EinZusammenhang, der sowohl Firmenanlässeund Einstellungsgespräche als auch die inter-nalisierte Sichtweise der Firmenideologie vonMitarbeitern prägt.

Während der Körper in industriellen Ar-beitswelten durch Schwerstarbeit und eine derMaschine angepasste Körperhaltung direkt anProduktionsabläufe gebunden war, sind esbeim erwähnten Betrieb ebenfalls bis zur Kopf-

LITERATUR

Braun, R.: Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen In-

dustriegebiet im 19. und 20. Jahrhundert, Erlenbach/Zürich/

Stuttgart 1965

Lüdtke, A.: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und

Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Ergebnisse,

Hamburg 1993

Simsa, R.: Wem gehört die Zeit. Hierarchie und Zeit in Gesellschaft

und Organisation, Frankfurt am Main/New York 1996

Sperling, H.-J.: Pausen: Zur Innenansicht der Arbeitszeit, in: Zoll,

R. (Hg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frank-

furt am Main 1988, S. 565–579

Tanner, J.: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industrie-

arbeit und Volksernährung in der Schweiz1890–1950, Zürich

1999

Wittel, A.: Belegschaftskultur im Schatten der Firmenideologie. Eine

ethnographische Fallstudie, Berlin 1997

36 GLE ICHSTELLUNG

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Kontinuität und Unterbruchein Jahr unterbrechen. Zudem wollten wir wis-sen, warum sich ein Teil der «Unterbreche-rinnen» später wieder eine Stelle sucht, andereihre Erwerbskarriere aber ganz aufgeben, ohnejemals wieder in den Arbeitsmarkt zurückzu-kehren. Als Datengrundlage hat die Berufsver-laufsstudie von Marlis Buchmann und StefanSacchi gedient, welche die Berufs- und Fami-lienlaufbahnen von zwei Generationen vonSchweizerinnen und Schweizern mit den Ge-burtsjahrgängen 1949 bis 1951 beziehungs-weise 1959 bis 1961 retrospektiv erfasst. An-hand dieser für die deutschsprachige Schweizrepräsentativen Daten haben wir die Bedeutungder Familienkonstellation, der Ausbildung, desEinkommens, der Bedingungen des Arbeits-marktes sowie der Generationszugehörigkeitfür Erwerbsunterbrechungen und Wiederein-tritte mittels Ereignisanalysen statistisch unter-sucht.

Bildung, Familie, Finanzen

Aus der Forschung ist bekannt, dass die Fami-liensituation sowie individuelle Merkmale wiedie Bildung und die finanzielle Lage einen be-deutenden Einfluss darauf haben, ob Frauenihre Berufstätigkeit unterbrechen und spätereventuell wieder einsteigen. Dies zeigt sich auchin unseren Ergebnissen. Vor allem die Fami-liensituation spielt, wie erwartet, eine heraus-ragende Rolle und leistet mit 65 beziehungs-weise 54 Prozent den grössten Beitrag an dieErklärung von Erwerbsunterbrechungen undWiedereintritten (siehe Grafik 2). Das heisst,dass Frauen in der Schweiz oft unterbrechen,weil sie heiraten oder ein Kind erwarten.

Bei verheirateten Müttern wird die Wahr-scheinlichkeit eines Wiedereinstiegs ins Er-werbsleben erst wieder grösser, wenn die Kin-der aus dem Schulalter herausgewachsen sind.Diese Zusammenhänge lassen sich in allenwestlichen Industrieländern beobachten, wobeidie Erwerbsquote von Frauen mit kleinerenKindern in der Schweiz besonders tief liegt. Einwichtiger Grund dafür ist in den geschlechts-spezifischen Rollenvorstellungen von der(häuslichen) Arbeitsteilung zu suchen. In derSchweiz sind diese noch vergleichsweise tradi-tionell.

Kinderbetreuung und Hausarbeit werdennoch von vielen Schweizern und Schweizerin-nen als wichtigster Aufgabenbereich von Müt-tern erachtet. Damit einher geht ein Mangel an

Wovon hängt es ab, ob Frauen in der Schweizkontinuierlich erwerbstätig bleiben? Und wes-halb suchen bestimmte Arbeitnehmerinnen nacheinem Unterbruch wieder eine Stelle, währendandere dem Berufsleben für immer den Rückenzukehren? Ein aktuelle soziologische Studie istdiesen Fragen auf den Grund gegangen.

VON IRENE KRIESI, STEFAN SACCHI

UND MARLIS BUCHMANN

In der Schweiz sind immer mehr Frauen er-werbstätig. Seit Anfang der 1970er-Jahre ist

die weibliche Erwerbsquote von 33 auf 45 Pro-zent im Jahr 2000 angestiegen. Trotz dieserZunahme sind Frauen nach wie vor weitausschwächer ins Erwerbsleben integriert als Män-ner. Deren Erwerbsquote liegt mit 62 Prozentimmer noch deutlich höher (siehe Grafik 1,Seite rechts). Zudem geht die überwiegendeMehrheit der erwerbstätigen Männer, aberweniger als die Hälfte der Frauen einer Voll-zeitbeschäftigung nach. Vergleicht man dieSchweiz mit anderen westlichen Industrielän-dern, zeigt sich, dass der Anteil der erwerbs-tätigen Frauen bei uns eher tief liegt.

Kommt hinzu, dass Schweizerinnen auchwesentlich seltener Vollzeit arbeiten als Frauenin anderen Ländern. Dies hat erhebliche Kon-sequenzen für die Stellung von Frauen in derGesellschaft sowie im Arbeitsmarkt. Erstensstellt die Integration ins Erwerbsleben einegesellschaftspolitisch wichtige Dimension so-zialer Ungleichheit dar. Nicht erwerbstätig zusein, bedeutet neben dem Ausschluss aus einemzentralen Lebensbereich auch eine finanzielleAbhängigkeit sowie ein tiefes gesellschaftlichesPrestige. Zweitens sind Erwerbsunterbrechun-gen und Teilzeitarbeit mitverantwortlich für dietieferen Löhne und Berufspositionen sowie diegeringen Aufstiegsmöglichkeiten von Frauen.

Vor diesem Hintergrund haben wir empi-risch untersucht, wovon es abhängt, ob Schwei-zerinnen kontinuierlich erwerbstätig bleibenoder ob sie ihre Erwerbsarbeit für mindestens

Dr. Marlis Buchmann ist ordentliche Professorinfür Soziologie an der Universität und der ETHZürich. Lic. phil. Irène Kriesi ist Assistentin amSoziologischen Seminar der Universität undDr. Stefan Sacchi wissenschaftlicher Mitarbeiteran der Professur für Soziologie der ETH Zürich.

37GLE ICHSTELLUNG

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nach der Position innerhalb des Betriebs unter-schiedlich günstig sind. Wie aus Grafik 2ersichtlich wird, leisten Merkmale des Ar-beitsmarkt-Kontextes mit 13 beziehungsweise14 Prozent tatsächlich einen wichtigen Beitragzur Erklärung von Erwerbsunterbrechungenund Wiedereinstiegen.

Grosse Bedeutung kommt dabei der Qua-lität des Stellenangebotes für Frauen mit un-terschiedlichen Berufsausbildungen zu. Erstenserleichtern jene Ausbildungen, die Zugang zueinem grossen Angebot an Teilzeitstellen eröff-nen, Frauen eine kontinuierliche Erwerbstätig-keit. Betrachten wir verschiedene Berufsaus-bildungen im Einzelnen, so unterbrechenbeispielsweise kaufmännische Angestellte be-sonders selten. Sie kehren nach einer Unterbre-chung auch öfter wieder ins Erwerbslebenzurück. Dies hängt mit der grossen Verbreitungflexibler Arbeitszeiten sowie dem speziell fürFrauen grossen Stellenangebot in diesem Ar-beitsmarktbereich zusammen. Auf der anderenSeite bieten technische Berufe sowie Verkaufs-berufe unterdurchschnittliche Möglichkeitenfür eine kontinuierliche Berufstätigkeit.

Kinderkrippen und Tagesstätten, wodurch sichdie Vereinbarung von Familie und Beruf fürMütter schwierig gestaltet. Eine weitere Ur-sache für die geringe Erwerbsbeteiligung vonverheirateten Frauen und Müttern ist im Lohn-bereich zu suchen. Die im internationalen Ver-gleich recht hohen durchschnittlichen Löhneermöglichen es Frauen mit einem vollzeit-erwerbstätigen Partner überhaupt erst, ihreErwerbsarbeit zu unterbrechen.

Unsere Ergebnisse zeigen umgekehrt aberauch, dass gerade Frauen mit schlechtem Ver-dienst weniger Möglichkeiten haben, ihre Be-rufstätigkeit vorübergehend zu unterbrechen,weil der normalerweise ebenfalls unterdurch-schnittliche Lohn des Partners nicht als Haus-halteinkommen ausreicht. Und auch im Falleeiner Unterbrechung sind sie aus finanziellenGründen schneller gezwungen, wieder eineStelle zu suchen. Verglichen mit anderen Ein-flussfaktoren spielt die Höhe des Einkommensfür die Arbeitsmarktintegration von Schwei-zerinnen allerdings eine eher geringe Rolle.

Eine grössere Bedeutung kommt hingegender Ausbildung zu: Je gebildeter Schweizerin-nen sind, um so eher bleiben sie kontinuierlicherwerbstätig. Und soweit Frauen mit hohemBildungsniveau dennoch unterbrechen, steigensie schneller und häufiger wieder ein. Erklärenlässt sich dies damit, dass Frauen mit tertiärerBerufsbildung oder Hochschulabschluss Zu-gang zu qualifizierteren, interessanteren undbefriedigenderen Tätigkeiten haben. Neben derdaran geknüpften intrinsischen Erwerbsmoti-vation riskieren Frauen mit guter Ausbildungzudem, durch ein längeres Aussetzen aus demErwerbsleben den Anschluss an die fachlicheEntwicklung in ihrem Beruf zu verlieren, sodasssie nach einer längeren Unterbrechung kaumnoch mit einer gleichwertigen Stelle im ange-stammten Bereich rechnen können.

Arbeitsmarkt-Kontext wichtig

Bisherige Untersuchungen zur weiblichen Er-werbsbeteiligung haben sich fast ausschliesslichmit der Bedeutung individueller Merkmalebefasst. Dabei wird übersehen, dass auch dieMöglichkeiten, die der Arbeitsmarkt bietet,darüber mitbestimmen, ob Frauen auch nachder Gründung einer Familie kontinuierlicherwerbstätig bleiben können oder ob sie –freiwillig oder gezwungenermassen – dem Er-werbsleben den Rücken kehren. Wir sind davonausgegangen, dass die Bedingungen für eineVereinbarung von Familie und Beruf und damitfür eine kontinuierliche Beschäftigung je nachBeruf, Branche, Art des Unternehmens sowie je

Erwerbsquote

Jahr

70%

60%

50%

40%

30%

20%

10%

2000199019801971

Erklärungsbeitrag

Kohorte

Arbeitsmarkt

Einkommen

Humankapital

Familien-konstellation

70%60%50%40%30%20%10%

11%

7%

14%

13%

1%

3%

9%

23%

65%

54%

Grafik 1: Erwerbsquote der ständigen Wohnbevölkerung derSchweiz nach Geschlecht, 1971–2001. ■ Frauen ■ Männer

Dat

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Grafik 2: Neben der Familienkonstellation leisten Merkmaledes Arbeitsmarktes einen wichtigen Beitrag zur Erklärung vonErwerbsunterbrechungen und Wiedereintritte ins Erwerbsleben. ■ Erwerbsunterbrechungen ■ Wiedereintritte

38 GLE ICHSTELLUNG

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Schliesslich spiegeln sich im Erklärungs-beitrag der Kohortenzugehörigkeit (siehe Gra-fik 2) längerfristige Veränderungen von weib-lichen Erwerbsverläufen. Frauen der jüngerenKohorte (Jahrgänge 1959–61) haben ihre Er-werbstätigkeit deutlich seltener unterbrochen.Zugleich steigen sie häufiger und schnellerwieder ein als die zehn Jahre ältere, um 1950geborene Kohorte. Diese Generationsunter-schiede tragen immerhin 7 Prozent zur Er-klärung der Erwerbsunterbrechungen und so-gar 11 Prozent zur Erklärung der Wiederein-stiege bei. Dies deutet darauf hin, dass eineeigene Berufstätigkeit zu einem immer wichti-geren Bestandteil weiblicher Lebensläufe wird.Eine Ursache dafür ist wohl in den zunehmendweniger traditionellen Einstellungen zu Ge-schlechterrollen und häuslicher Arbeitsteilungvon jüngeren Frauen und Männern zu suchen.

Einstellungswandel erforderlich

Ungeachtet dieser Entwicklung unterscheidetsich die Arbeitsmarktintegration zwischen denGeschlechtern auch in der jüngeren Generationzu Ungunsten der Frauen.Vor dem Hintergrundder anfangs erwähnten gesellschaftlichen Kon-sequenzen – tiefere Löhne und Berufspositio-nen, tiefes Prestige, (finanzielle) Abhängigkeit –kann eine über das Rechtliche hinausgehendeGleichstellung von Männern und Frauen nurerreicht werden, wenn sich deren Erwerbsver-läufe in quantitativer und qualitativer Hinsichtangleichen.

Dies setzt – neben der vermehrten Schaffungvon ausserfamiliären Kinderbetreuungsmög-lichkeiten – einen Einstellungswandel voraus,welcher bei Frauen zu einer Einforderung desRechts auf eine eigene, nicht nur marginale Er-werbsarbeit führt, bei den Männern hingegenzu einer grösseren Bereitschaft zur Reduktionder Arbeitszeit und einer stärkeren Beteiligungan Hausarbeit und Kinderbetreuung. Seitensder Unternehmen müssten Arbeitsabläufe undStellenprofile stärker unter dem Gesichtspunktihrer Vereinbarkeit mit familiären Aufgabengestaltet werden, sodass Arbeitsbelastung undzeitliche Anforderungen auch bei qualifiziertenTätigkeiten und in Führungspositionen mit fa-miliären Verpflichtungen vereinbar sind. Diesegesellschaftspolitischen Forderungen sind kei-neswegs neu, aber nach wie vor sehr aktuell.

Frauen mit technischen Berufen unterbre-chen zwar nicht besonders oft, sie steigen abernach einer Unterbrechung nur selten wieder insErwerbsleben ein. Erklärt werden kann dies mitdem schnellen qualifikatorischen Wandel intechnischen Berufen, welcher dazu führt, dassFrauen nach einer Erwerbspause schnell denAnschluss verlieren und im gelernten Berufkeine gleichwertige Stelle mehr finden. AuchVerkäuferinnen kehren nach einer Erwerbs-unterbrechung eher selten wieder in den Ar-beitsmarkt zurück. Die oft monotone, körper-lich anstrengende und schlecht bezahlte Arbeitmacht einen Wiedereinstieg im Verkauf ver-ständlicherweise nicht besonders attraktiv.

Anspruchsvoller Job – grosse Bindung

Seitens des betrieblichen Umfeldes haben wiruntersucht, inwieweit die Arbeitsmarkteinbin-dung von Frauen von der Stellung im Unter-nehmen sowie von der Betriebsgrösse abhängt.Dabei hat sich gezeigt, dass Frauen in höherenberuflichen Positionen erheblich seltener Er-werbspausen einlegen. Zudem nehmen siewesentlich häufiger und schneller wieder eineBerufstätigkeit auf. Stellen mit Prestige undVerantwortung, welche meistens auch interes-sante Tätigkeiten sowie eine autonome Ar-beitszeitgestaltung beinhalten, binden Frauensomit besonders stark ans Berufsleben.

Interessanterweise wirkt sich auch dieGrösse eines Unternehmens auf die Erwerbs-kontinuität aus, und zwar auf die Wahrschein-lichkeit eines Wiedereinstiegs: Frauen, die vorder Unterbrechung in einem mittelgrossen Be-trieb mit zwischen 50 und100 Beschäftigten ge-arbeitet haben, nehmen zu einem späteren Zeit-punkt besonders oft wieder eine Berufstätigkeitauf. Dieser auf den ersten Blick eher überra-schende Befund dürfte zum einen damit zusam-menhängen, dass eine Beschäftigung in einemmittleren Betrieb dank einer vielfältigerenTätigkeit, höheren Anforderungen und besse-ren betrieblichenWeiterbildungsmöglichkeitenmehr zur Pflege und Erweiterung der indivi-duellen Qualifikationen beiträgt als eine Tätig-keit in einem Kleinbetrieb. Dies erleichtert ent-sprechend einen späteren Wiedereinstieg.

Verglichen mit Grossunternehmen mit mehrals 100 Beschäftigten haben mittlere Betriebezum anderen auch eine weniger institutionali-sierte, stärker auf persönlichen Beziehungenberuhende Personalrekrutierung, welche die –aufgrund der wesentlich geringeren Einarbei-tungskosten lohnende – Wiedereinstellung vonerfahrenen ehemaligen Mitarbeiterinnen be-sonders begünstigen dürfte.

LITERATUR

Buchmann, M. / Kriesi, I. / Pfeifer, A. / Sacchi, S.: Halb drinnen –

halb draussen. Analysen zur Arbeitsmarktintegration von

Frauen in der Schweiz, Chur /Zürich 2002

40 GLE ICHSTELLUNG

UNIMAGAZIN 3/02

Was ist unbezahlte Arbeit wert?schaft nur schlecht bestimmt ist. Die in Basellehrende Philosophieprofessorin AngelikaKrebs hat in einem kürzlich veröffentlichten,sehr interessanten Artikel verschiedene Arbeits-begriffe aus philosophischer Sicht diskutiert(siehe Tabelle 1, Seite rechts). Es ging ihr da-rum zu überlegen, mit welcher Definition diegesellschaftliche Bedeutung von Arbeit am bes-ten erfasst werden kann, und eine begrifflicheGrundlage bereitzustellen für die Anerkennungall jener Arbeiten, die nicht auf dem formellenArbeitsmarkt geleistet werden.

Obwohl keine der vorgestellten Definitio-nen in allen Punkten theoretisch überzeugendoder empirisch einfach umsetzbar ist, verwen-den die meisten Studien zur Messung und Be-wertung unbezahlter Arbeit heute aber folgen-de Begriffsbestimmung: «Arbeit ist Güterpro-duktion, bei der die Produzentin beziehungs-weise der Produzent durch eine andere Personersetzbar ist (Drittpersonkriterium)». Auch diefolgenden Ausführungen basieren auf dieserDefinition.

Zeitaufwändige Haushaltsarbeiten

Die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung(SAKE) ist eine seit 1991 durchgeführte jähr-liche telefonische Befragung von zirka 16000Personen,die in ersterLinie Daten zurErwerbs-struktur und zum Erwerbsverhalten der schwei-zerischen Wohnbevölkerung erfasst.1997wur-de erstmals nach dem Arbeitsaufwand für un-entgeltliche Tätigkeiten gefragt, und dieserFragenblock wird nun in einem Dreijahres-rhythmus wiederholt. Die SAKE liefert damiteine regelmässige Datengrundlage zur statisti-schen Erfassung der unbezahlten Arbeit in derSchweiz. Unterschieden werden in dieser Erhe-bung folgende drei Bereiche unbezahlter Arbeit:1. Arbeiten im eigenen Haushalt (etwa Haus-arbeiten und Kinderbetreuung), 2. freiwilligeund ehrenamtliche Tätigkeiten in Organisatio-nen («volunteer work»); 3. unbezahlte, nicht-institutionalisierte Arbeit ausserhalb des eige-nen Haushaltes («Nachbarschaftshilfe»).

Die Ergebnisse der Befragung von 1997 sindin Tabelle 2 dargestellt. Um einen Eindruck derGrössenordnung der unbezahlten Arbeit zu er-halten, enthält die Tabelle zusätzlich als Ver-gleich die Zahlen der für die bezahlte Arbeit inden verschiedenen Wirtschaftsklassen aufge-wendeten Stunden. Thesenartig sollen hier fol-gende fünf Punkte hervorgehoben werden:

Der Beitrag der meist von Frauen geleisteten,unbezahlten Arbeit ist volkswirtschaftlich vonenormer Bedeutung. Immer noch fehlen in derSchweiz aber genaue Methoden, um ihren Wertrealitätsnah zu messen.

VON ELISABETH BÜHLER

Unbezahlte Arbeit stellt im Gegensatz zurErwerbsarbeit einen wenig erforschten und

statistisch bisher mangelhaft erfassten Lebens-bereich dar. Erst in den 1990er-Jahren erhobendie statistischen Ämter einer grösseren Anzahlvon Staaten – so auch der Schweiz – genauereDaten über diesen Bereich. Dieses langjährigeVerkennen der enormen volkswirtschaftlichenBedeutung der unbezahlten Arbeit ist unter an-derem eine Folge der unzutreffenden Annahmein der Wirtschaftstheorie – neoklassischer undmarxistischer Provenienz –, wonach in den pri-vaten Haushalten nur konsumiert, nicht jedochproduziert und gearbeitet werde. Nur allzu häu-fig erhält man bekanntlich auf die Frage «Wasarbeiten Sie?» die Antwort: «Ich arbeite nichts,ich bin Hausfrau» (seltener Hausmann).

Die fehlende ökonomische Anerkennungder unbezahlten Arbeit führte insbesondere fürFrauen, die in unserem Kulturraum traditionellden Hauptteil der unbezahlten Arbeit leisten,zu grossen Nachteilen im Sozialversicherungs-system. Mit der Einführung von Erziehungs-und Betreuungsgutschriften im Rahmen der10. AHV-Revision wurde dieses Problem zwaranerkannt, die Höhe der Gutschriften kannjedoch den Erwerbsausfall vieler Frauen beiweitem nicht kompensieren.

In diesem Beitrag werden einige neue Denk-modelle und Methoden vorgestellt, die von fort-schrittlichen Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftlern mit dem Ziel entwickelt wordensind, einem besseren Arbeitsbegriff und einerrealitätsnäheren Messung des wirtschaftlichenWohlstandes näher zu kommen. Zuerst sollaber auf einige Definitionen des Arbeitsbe-griffes eingegangen werden, die heute zur Dis-kussion stehen.

Wenn wir uns dem Begriff «Arbeit» etwasnäher zuwenden, sehen wir bald, dass er so-wohl im Alltagsleben als auch in der Wissen-

Dr. Elisabeth Bühler ist Oberassistentin amGeographischen Institut der Universität Zürich.

41GLE ICHSTELLUNG

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schiedene methodische Ansätze, nämlich input-beziehungsweise outputorientierte. Die output-orientierten Ansätze gehen vom Ergebnis derProduktionstätigkeiten in den privaten Haus-halten aus. Durch die Bewertung dieser Güterund Dienstleistungen mit den Preisen ähnlicher,am Markt umgesetzter Güter resultiert dannder Produktionswert der privaten Haushalte.Dieser theoretisch überzeugende Ansatz schei-tert in der Praxis daran, dass die notwendigenumfassenden Informationen über Art und Um-fang der in den Haushalten erzeugten Güternicht verfügbar sind.

Aus diesem Grund gelangen heute in denmeisten Ländern inputorientierte Ansätze zurAnwendung. Gemessen und bewertet werdenhier die Inputs in die unbezahlte Güterproduk-tion, insbesondere die Anzahl Arbeitsstunden,wie sie beispielsweise die SAKE erhebt. Bei dermonetären Bewertung der investierten Arbeits-

– Der Zeitaufwand für unbezahlte Arbeitenist enorm. Die zeitaufwändigste Tätigkeitüberhaupt – auch im Vergleich zur bezahltenArbeit – stellt das private Zubereiten von Mahl-zeiten dar. Erst an zweiter und dritter Stellefolgen die beiden grossen WirtschaftsklassenIndustrie/Energie/Wasser sowie Handel/Repa-ratur/Gewerbe. Aber auch Putzen, Aufräumenund Bettenmachen gehören zu den aufwändigs-ten Tätigkeiten im Land.– Die letztes Jahr von der UNO gefeierte Frei-willigenarbeit («Year of the Volunteer») gehörtzu den kleineren Posten unbezahlter Aktivi-täten. Volunteer work macht mit total rund250 Millionen Arbeitsstunden nur gerade dreiProzent der Stunden aus, die unbezahlt gear-beitet werden. – Mit 290 Millionen Arbeitsstunden weist dieinformelle Arbeit ausserhalb des eigenen Haus-halts («Nachbarschaftshilfe») eine ähnlicheGrössenordnung auf wie die Freiwilligenarbeit. – Den Hauptbestandteil unbezahlter Arbeitenbilden aber mit grossem Abstand die Arbeiteninnerhalb des eigenen Haushaltes (rund 94 Pro-zent). Hausarbeit ist deshalb ein ökonomischerFaktor, der nur mit den Dimensionen der ge-samten Erwerbsarbeit verglichen werden kann.– 52 Prozent aller (bezahlten und unbezahl-ten) Arbeitsstunden werden von Frauen geleis-tet. Dies entspricht etwa ihrem Anteil an der ge-samten Wohnbevölkerung. Eklatante Unter-schiede zwischen den Geschlechtern sinddagegen in der Aufteilung der bezahlten undunbezahlten Arbeiten festzustellen. 66 Prozentaller bezahlten Arbeitsstunden entfallen auf dieMänner; 67 Prozent aller unbezahlten Arbeits-stunden auf die Frauen.

Verschiedene Bewertungsmethoden

Um den Wert der unbezahlten Arbeit geldmäs-sig zu bewerten, gibt es zwei grundsätzlich ver-

Tabelle 1: Verschiedene Arbeitsbegriffe

Arbeit =

Zweckrationales Handeln

Mühe

Entlohnte Tätigkeit

Güterproduktion

Güterproduktion, bei der der Produzent / die Produzentin durch eine andere Person ersetzbar ist (Drittpersonkriterium)

Gesellschaftlich notwendige Tätigkeit

Tätigkeit für andere

Tätigkeit im Rahmen des gesellschaftlichen Leistungsaustausches

Quelle: Krebs 2001

Tabelle 2: Bezahlte und unbezahlte Arbeit in der Schweiz

unbezahlte Arbeiten bezahlte Arbeiten nach Wirtschaftsklassen

Tätigkeiten geordnet nach dem Mio. Stunden Arbeit Mio. Stunden ArbeitTotal der geleisteten 1997 1997Arbeitsstunden insgesamt Frauen Männer

Mahlzeiten zubereiten 1183 344

Industrie, Energie, Wasser 300 977

Handel, Reparatur, Gewerbe 458 665

Putzen, aufräumen, betten 893 209

Haustiere, Pflanzen, Garten 494 385

Einkaufen 468 240

Abwaschen, Tisch decken/abdecken 448 203

Kinder: Hausaufgaben, Begleitdienste 347 268

Immobilien, Informatik, F&E 174 435

Gesundheits- und Sozialwesen 384 174

Baugewerbe 34 499

Reparieren, stricken, nähen 236 292

Waschen, bügeln 425 43

Verkehr und Nachrichten 93 337

Land- und Forstwirtschaft 109 306

Gastgewerbe 203 184

Finanzen, Versicherungen 140 239

Administrative Arbeit im Haushalt 155 211

Kinder füttern, waschen 231 87

Unterrichtswesen 146 170

«Nachbarschaftshilfe» 214 76

Diverse Dienstleistungen 148 134

«Volunteer work» 90 162

Öffentliche Verwaltung 68 172

Pflege im Haushalt 21 13

Total Arbeitsstunden 7462 6825

Quelle: Madörin 2001 (leicht abgeändert)

42 GLE ICHSTELLUNG

UNIMAGAZIN 3/02

len, die zufällig ausgewählte 24-Stunden-Tagevollständig dokumentieren.

Politischer Handlungsbedarf

Das Missverhältnis zwischen der Aufteilungvon (un-)bezahlten Arbeiten auf die Ge-schlechter und den Zielsetzungen der Gleich-stellungspolitik verweist auf einen grossen po-litischen Handlungsbedarf. Die Vereinbarkeitvon Beruf und Familie, von bezahlter und un-bezahlter Arbeit, gilt gegenwärtig als Schlüs-selposition, wenn es darum geht, die Gleich-stellung der Geschlechter im Arbeitslebentatsächlich zu verwirklichen. Damit auch Frau-en erwerbstätig sein können, ohne auf Kinderverzichten zu müssen, gilt es Wege zu finden,um sie von einem Teil der unbezahlten Arbei-ten zu entlasten.

Die Erhöhung des Angebotes an familien-ergänzenden Kinderbetreuungseinrichtungenist eine wichtige Massnahme, die gegenwärtigauch vielerorts an die Hand genommen wird.Die Erfahrungen aus anderen europäischenLändern zeigen jedoch klar, dass es nichtgenügt, den Frauen den Zugang zur Erwerbs-arbeit zu erleichtern, um eine gleichmässigereAufteilung der bezahlten und unbezahltenArbeiten auf die Geschlechter zu bewirken.Notwendig sind heute in erster Linie Mass-nahmen zur vermehrten Einbindung der Män-ner, insbesondere der Väter, in die Kinderbe-treuungs- und Haushaltsarbeiten.

Dazu müssen neue Instrumente entwickeltwerden, welche sich auf materieller und ideel-ler Ebene direkt auf die Männer richten. Dabeisind auch die Sozialwissenschaften herausge-fordert. «Debatten um die Umverteilung undZukunft der Hausarbeit erfordern eine andereökonomische Diskussion, als sie heute zu neuerArbeit, alternativer Ökonomie, sozialer Öko-nomie oder zum Non-Profit-Sektor geführtwird», hält beispielsweise die ÖkonominMascha Madörin fest.

stunden gelangen wiederum zwei unterschied-liche Methoden zur Anwendung: die Markt-kostenmethode und die Opportunitätskosten-methode.

Der Marktkostenansatz fragt nach demBetrag, der ausgegeben werden müsste, umArbeiten von Fachleuten ausführen zu lassen,anstatt sie selber unentgeltlich zu verrichten.Die Opportunitätskostenmethode wiederumfragt, wie viel jemand verdient hätte, wenn eroder sie, anstatt gratis im Haushalt oder sonst-wo zu arbeiten, einer bezahlten Arbeit nachge-gangen wäre. Massgebend ist also das entgan-gene Einkommen. Jeder der oben angespro-chenen Ansätze weist spezifische Vor- undNachteile auf. Eine konzeptionell vollständigüberzeugende Methode liegt bisher aber nichtvor. Man sollte sich deshalb bewusst sein, dasszum heutigen Zeitpunkt die Berechnung desWertes der unbezahlten Arbeit mit einigenUnschärfen behaftet ist.

Unterschiedliche Werte

Auf 215 Milliarden Franken berechneten dieSt. Galler Ökonomen Schmid, Sousa-Poza undWidmer diesen Wert für die Schweiz des Jah-res 1997 mit Hilfe der Marktkostenmethode.Diese enorme Summe entspricht fast dengesamten jährlichen Löhnen der Erwerbstäti-gen. Mit knapp 200 Milliarden Franken steu-ert die Haus- und Familienarbeit den überwie-genden Teil bei (volunteer work und Nach-barschaftshilfe knapp 20 Milliarden). Gemässdem Opportunitätskostenprinzip dagegen ha-ben die Schweizerinnen und Schweizer «nur»auf 139 Milliarden Franken verzichtet, indemsie unentgeltlich tätig waren. Im ersten Fall(Marktkostenmethode) beträgt der von Frauengeleistete Anteil an der unbezahlten Arbeit rund66 Prozent, im zweiten Fall (Opportunitäts-kostenmethode) infolge der durchschnittlichtieferen Frauenlöhne noch rund 62 Prozent.Das Bundesamt für Statistik in Neuchâtel plant,ab dem Jahr 2003 den Wert der unbezahltenArbeit in der Schweiz in Form eines Satelliten-kontos zur volkswirtschaftlichen Gesamtrech-nung auszuweisen.

Bereits wurde die Methode vorgestellt, diegegenwärtig im Rahmen der SAKE zur Mes-sung unbezahlter Arbeit verwendet wird. DieseArt der telefonischen Befragung führt jedocherwiesenermassen zu relativ unzuverlässigenDaten. Es ist deshalb wünschenswert, dass inZukunft auch in der Schweiz bessere Metho-den, beispielsweise so genannte «Time Use Sur-veys», zur Anwendung gelangen. Solche Sur-veys basieren auf tagebuchähnlichen Protokol-

LITERATUR

Krebs, A.: Verdeckte Arbeit anerkennen. Der institutionelle Begriff

von Arbeit, Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik,

Heft 15, S. 44–54, 2001

Madörin, M.: Grössenordnungen der unbezahlten und bezahlten

Arbeit, Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik, Heft

15, S. 24–26, 2001

Schmid, H. /Sousa-Poza, A. /Widmer, R.: Monetäre Bewertung der

unbezahlten Arbeit. Eine empirische Analyse für die Schweiz

anhand der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung, Bundes-

amt für Statistik, Neuchâtel 1999

43ARBE I T NACH DER ARBE I T

UNIMAGAZIN 3/02

tätig, und im Alter von 62 Jahren ist gut einDrittel schon pensioniert – freiwillig oderzwangsweise. Schlussendlich ist es nur noch ei-ne knappe Mehrheit von 51 Prozent, die sicherst nach dem vollendeten 65. Altersjahr ausdem Erwerbsleben zurückzieht. Eine um ein,zwei oder drei Jahre vorgezogene Pensionie-rung ist häufig geworden. Verbesserte wirt-schaftliche Verhältnisse – welche eine vorgezo-gene Pensionierung erlauben – sind dafür eben-so verantwortlich wie eine arbeitsbedingtegesundheitliche Erschöpfung, rasche techno-logische und organisatorische Umstrukturie-rungen sowie Altersdiskriminierungen auf demArbeitsmarkt.

Widersprüchliche Strategien

Seit den 1990er-Jahren haben sich die Wider-sprüche zwischen den Strategien vorzeitigerPensionierungen und erwarteten finanziellenEngpässen der Altersvorsorge europaweit ver-stärkt. Es wird immer deutlicher, dass sichSozialpolitik und Wirtschaft eine vorzeitigeAusgliederung älterer Menschen langfristigkaum mehr leisten können. Trotzdem kennenviele Firmen und Verwaltungen weiterhinfeste Altersregelungen, welche eine Weiter-beschäftigung nach Erreichen des AHV-Altersausschliessen.

Es gibt primär drei Gründe, weshalb derTrend zur (Weiter-)Beschäftigung älterer be-ziehungsweise pensionierter Arbeitskräfte ins-künftig Bedeutung gewinnen wird: Erstenskann die zukünftig erwartete demographischeAlterung besser bewältigt werden, wenn mehrMenschen länger erwerbstätig bleiben. Demo-graphisch gesehen erscheint die in den letztenJahrzehnten erfolgte Ausbreitung von Früh-pensionierungen langfristig unhaltbar. Immerhäufiger wird deshalb die Förderung der Alters-teilzeitarbeit oder selbst eine Erhöhung desRentenalters ins Gespräch gebracht. Die«International Association for the Study ofInsurance Economics» in Genf bezeichnet dieAltersteilzeitarbeit als 4. Säule der Altersvor-sorge und gibt zur Förderung der Idee einNewsletter «The Four Pillars» heraus.

Zweitens nimmt in den jüngeren Rentner-generationen die Zahl älterer Männer undFrauen zu, die auch im höheren Lebensalterfachlich und beruflich kompetent und motiviertbleiben. Zunehmend mehr gut qualifizierteältere Frauen und Männer sind interessiert,

Der europaweite Trend zu einer immer früherenAusgliederung kompetenter Menschen ausdem Arbeitsleben erweist sich als Sackgasse.Vermehrt werden Altersteilzeitarbeit und Frei-willigenarbeit im höheren Lebensalter propa-giert. Faktisch sind viele pensionierte Frauenund Männer heute schon in freiwilligen Tätig-keiten engagiert.

VON FRANÇOIS HÖPFLINGER

A rbeit bis ins Grab» war bis Mitte des20. Jahrhunderts das Schicksal der grossen

Mehrheit. Noch 1950 waren zwei Drittel aller65- bis 69-jährigen Männer weiterhin erwerbs-tätig, und selbst 40 Prozent der über 70-jähri-gen Männer waren damals in irgendeiner Formerwerbstätig. Selbst 1970 arbeitete fast dieHälfte der Männer in der Schweiz auch nachErreichen des AHV-Alters weiter. Eine aus-gedehnte nachberufliche Lebensphase ent-wickelte sich für die Mehrheit der Menschenerst in den letzten drei Jahrzehnten: Zum einenverblieben mehr Menschen auch im höherenAlter aktiv und gesund. 65-jährige Männerkönnen heute mit durchschnittlich 13 Lebens-jahren ohne Behinderungen rechnen; gleich-altrige Frauen sogar mit 16 behinderungsfreienJahren.

Zum anderen reduzierte sich die Erwerbs-quote von AHV-Rentnern in den letzten Jahr-zehnten massiv. Gegenwärtig sind nur 8 Pro-zent aller 65- bis75-jährigen Männer und 2 Pro-zent der gleichaltrigen Frauen weiterhin voll-zeitlich erwerbstätig. Weitere 6 Prozent derMänner und 9 Prozent der Frauen in dieserAltersgruppe sind teilzeitlich erwerbstätig.Unter den erwerbstätigen Rentnern finden sichviele ältere Landwirte und selbständig Erwer-bende ohne genügende berufliche Altersvor-sorge.

Obwohl weniger stark als in den Nachbar-ländern hat sich auch in der Schweiz ein Trendzu vorzeitigen Pensionierungen durchgesetzt.Gemäss Schweizerischer Arbeitskräfteerhebung(SAKE) waren im Jahre 2000 schon 17 Prozentder 60-jährigen Männer nicht mehr erwerbs-

Produktives Alter

Dr. François Höpflinger ist Titularprofessor für Soziologie an der Universität Zürich undForschungsdirektor am Universitären Institut«Alter und Generationen» (INAG), Sion.

44 ARBE I T NACH DER ARBE I T

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Altersgruppe Wohneigentümer. Ein ausgegli-chener Generationenmix im Unternehmenhilft, die Bedürfnisse wohlhabender, kritischerSenioren besser abzudecken.

Wie rasch die Entwicklung von einerStrategie der (zumindest teilweise forcierten)Frühpensionierung zur gezielten Förderung derAltersteilzeitarbeit voranschreitet, ist ungewiss.Sie hängt davon ab, wie rasch Arbeitskräfteerneut knapp werden, ob Vorurteile gegenüberälteren Arbeitnehmern verschwinden und obdie berufliche Weiterbildung auch ältere Men-schen integriert. Zumindest kurz- bis mittel-fristig ist eine weitere Polarisierung des «Al-tersarbeitsmarktes» wahrscheinlich, indem ei-nerseits weiterhin viele Menschen sich vorzeitigpensionieren lassen beziehungsweise frühpen-sioniert werden, andererseits eine wachsendeElite aktiver und kompetenter AHV-Rentne-rinnen und -rentner beruflich engagiert bleibt.

Vielfältige Tätigkeitsfelder

Die nachberuflichen Tätigkeitsfelder sind fastso vielfältig wie die Tätigkeiten in früherenLebensphasen. Dabei zeigt sich, dass frühereTätigkeitsmuster nach der Pensionierunggrundlegend beibehalten werden (was kon-tinuitätstheoretischen Annahmen entspricht).Zentral ist primär die bisherige Lebensführung,und wer in früheren Lebensphasen aktiv warund sich in freiwilligen Tätigkeiten engagierthat,wird dies im Allgemeinen auch in der nach-beruflichen Lebensphase tun.

Faktisch bleiben viele Männer und Frauenauch im AHV-Alter aktiv und engagiert, wennauch ausserhalb des monetären Arbeitsmark-tes. So sind viele Frauen auch im Alter weiter-hin im Haushalt tätig und – wenn verheiratet –übernehmen sie einen wesentlichen Teil derBewältigungsarbeit beim Übergang in die nach-berufliche Lebensphase. 62- bis 74-jährigeFrauen sind durchschnittlich 31 Wochenstun-den mit Haus- und Familienarbeiten beschäf-tigt. Als Grossmütter erfüllen Frauen oft auchunersetzliche Betreuungsaufgaben gegenüberihren Enkelkindern. Gemäss einer ZürcherStudie übernehmen beispielsweise schon imersten Lebensjahr eines Enkelkindes 24 Prozentder Grossmütter regelmässig die Säuglings-betreuung.

Intensiv sind viele ältere Frauen und teil-weise auch ältere Männer in der Altersbetreu-ung aktiv. Nach eigenen Angaben kümmernsich 38 Prozent der 65- bis 69-jährigen Frauenund 29 Prozent der gleichaltrigen Männer umältere Menschen ausserhalb des eigenen Haus-halts. Teilweise handelt es sich um Nachbarn

auch im höheren Alter «produktiv» zu bleiben.Alle gerontologischen Studien belegen zudem,dass aktive Engagements wesentlich zu einemerfolgreichen Altern beitragen. Schon heutewären nicht wenige pensionierte Männer(14 Prozent bis 19 Prozent) bereit, bei einem in-teressanten Angebot zumindest teilzeitlich er-

Teilnahme an organisierter und informeller Freiwilligenarbeit

Teilnahme an Teilnahme an organisierter unorganisierter,Freiwilligenarbeit informeller

Freiwilligenarbeit

1997 2000 1997 2000

Total Bevölkerung 26% 25% 30% 23%

Nach Altersgruppe:

25- bis 39-jährig 28% 26% 32% 24%

40- bis 54-jährig 33% 30% 31% 24%

55- bis 61-/64-jährig 29% 27% 32% 27%

62-/65- bis 74-jährig 22% 19% 40% 32%

Über 75-jährig 11% 9% 19% 13%

Nach Bildungsniveau:

Obligatorische Schule 16% 14% 24% 19%

Sekundarstufe II 27% 26% 32% 25%

Tertiärstufe 39% 35% 31% 23%

Quelle: Schweizerische Arbeitskräfte-Erhebungen 1997 und 2000.

Zu beachten: 1997 und 2000 unterschiedliche Frageformen,

1997: Teilnahme ohne Zeitrahmen,

2000: Teilnahme in den letzten vier Wochen.

neut berufstätig zu sein, wobei weniger finan-zielle als berufliche und soziale Motivationen(Interesse an beruflichem Engagement und ansozialen Kontakten) im Vordergrund stehen.

Inskünftig wird die Zahl älterer Menschenansteigen, welche das AHV-Alter dazu benüt-zen, fachlich engagiert zu bleiben oder im Alterals «Jungunternehmer» tätig zu werden. Mo-dellorganisationen – wie Adlatus und Senex-pert – illustrieren, dass es möglich und sinnvollist, im höheren Lebensalter weiterhin produk-tiv zu bleiben, beispielsweise zugunsten jünge-rer Generationen.

Drittens gewinnt der Seniorenmarkt anBedeutung. Die demographische Alterung kon-frontiert Unternehmen häufiger mit älterenKundinnen und Kunden, und eine «zu jungeBelegschaft» erhöht das Risiko, an den Be-dürfnissen dieses wachsenden Kundenkreisesvorbeizuproduzieren. Heutige ältere Frauenund Männer sind aktiver als frühere Gene-rationen, da viele ältere Menschen von einemhohen Wohn- und Lebensstandard profitieren.Lebte vor 12 Jahren eine knappe Mehrheit der50- bis 79-jährigen Personen als Mieter, sindgegenwärtig eine knappe Mehrheit in dieser

45ARBE I T NACH DER ARBE I T

UNIMAGAZIN 3/02

oder Freundinnen, zumeist jedoch sind es An-gehörige (Elternteile, Schwiegereltern und an-dere). Zeitaufwändig sind namentlich Betreu-ungs- und Pflegeleistungen für pflegebedürftigeMenschen im Alter. Gegenwärtig werden ge-samtschweizerisch schätzungsweise 31000 bis40000 pflegebedürftige ältere Menschen zuHause gepflegt.

Bei zu Hause lebenden hilfe- und pflegebe-dürftigen älteren Menschen wird der weitausgrösste Teil der Hilfe, insbesondere der tägli-chen Pflege, durch die – oft selbst älteren – Ehe-partner und nächsten Angehörigen erbracht.Familienhilfe ist für das kostengünstige Ver-bleiben pflegebedürftiger Betagter in der pri-vaten Wohnung entscheidend.

Einmal aktiv, immer aktiv

Auch ausserhalb des verwandtschaftlichenRahmens leisten viele Rentnerinnen und Rent-ner unbezahlte, produktive Arbeiten. Da unbe-zahlte und freiwillig geleistete Arbeiten meistnicht einer Zeitkontrolle unterliegen (und ge-rade die Freiheit von Kontrolle eine Attrakti-vität dieser Art von Engagements ausmacht),wird Freiwilligenarbeit im Alter meist unter-schätzt, dies auch von den freiwillig tätigenälteren Frauen und Männern selbst. Vor allemdie Teilnahme an informeller, unorganisierterHilfe für andere – etwa Hilfe beim Einkaufen,bei Pflege und Betreuung kranker Menschen –wird oft falsch eingeschätzt.

Hinzu kommt, dass die Antworten zur Frei-willigenarbeit stark davon abhängig sind, wiegefragt wird. Auch die aufgeführten Angabensind deshalb mit Vorsicht zu interpretieren. Sowurde im Jahre 2000 nur die informelle Hilfean andere in den letzten vier Wochen erfragt,wogegen1997einfachdanachgefragtwurde,ob«ab und zu» unbezahlte Arbeiten,wie beispiels-weise fremde Kinder hüten, Nachbarschafts-hilfe,Transportdienste, geleistet wurden.

Beim sozialen Engagement jüngerer Rent-nerinnen und Rentner werden zwei interessan-te Sachverhalte sichtbar: Einerseits ist nur eineMinderheit von rund einem Fünftel bis zumAlter von 74 Jahren in der organisierten Ehren-und Freiwilligenarbeit aktiv, und der Anteilorganisiert tätiger Rentnerinnen und Rentnerliegt unter demjenigen jüngerer Altersgruppen.Die organisierte Freiwilligenarbeit ältererMenschen ist noch lückenhaft, zum Teil auch,weil viele Freiwilligenorganisationen noch kei-ne gezielte Strategie zur Mobilisierung ältererFrauen und Männer entwickelt haben.

Andererseits übernehmen viele ältere Men-schen informelle Tätigkeiten ausserhalb von

Freiwilligenorganisationen, sei es in Form vonNachbarschaftshilfe, bei der Betreuung ihrerEnkelkinder oder sei es in Form kleiner Hilfe-leistungen für Fremde.Von den jüngeren Rent-nerinnen und Rentnern sind ein Drittel bis zweiFünftel in irgendeiner Weise für andere tätig,was mehr ist als bei den Erwerbstätigen. Hilfe-

LITERATUR UND WEBSITES

Höpflinger, F. / Stuckelberger, A.: Demographische Alterung und

individuelles Altern, Zürich 1999 (2. Auflage: 2000)

Studienunterlagen zum Alter/n auch unter: www.hoepflinger.com

Aktiv im Alter:Gemäss einerZürcher Studieübernehmen24 Prozent derGrossmütterbereits im erstenLebensjahr einesEnkelkindesregelmässig dieBetreuung.

leistungen und soziale Engagements ältererMenschen geschehen häufig informell und un-organisiert, und auch deshalb wird der Beitragälterer Menschen am sozialen Geschehen oftunterschätzt.

Im Übrigen zeigt sich, dass bei der Freiwil-ligenarbeit eine hohe lebenszyklische Konti-nuität vorherrscht: Wer in jüngeren Lebens-jahren aktiv und engagiert war, bleibt es auchim höheren Lebensalter (eine einigermassengute Gesundheit vorausgesetzt). Wer in jünge-ren Jahren wenig oder keine Freiwilligenarbeitleistete, engagiert sich auch im Rentenalterhäufig wenig. Mit steigender Bildung (und teil-weise auch mit steigendem Einkommen) nimmtdie Teilnahme an organisierter wie unorgani-sierter Freiwilligenarbeit eher zu. Darin wider-spiegelt sich die einfache Tatsache, dass sozialeKompetenzen und soziale Engagements positivverknüpft sind, und da zunehmend mehr kom-petente Frauen und Männer in oft guter Ge-sundheit ins AHV-Alter treten, ist inskünftigmit steigendem gesellschaftlichem Engagementälterer Menschen zu rechnen.

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47ARBE I TSLOS IGKE I T

UNIMAGAZIN 3/02

ne bezahlte Arbeitsstelle anzunehmen und so-mit auch die Arbeitslosigkeit in der Schweiz?Ein enger Zusammenhang zwischen Arbeits-moral und Arbeitslosigkeit kann aus mindes-tens drei Gründen erwartet werden. Zunächstist Arbeitslosigkeit mit dem Verlust der für vie-le Personen in der Schweiz wichtigsten Tätig-keit verbunden. Zweitens legt die Tatsache,dass nahezu 70 Prozent der Schweizerinnen undSchweizer auch dann einer bezahlten Arbeitnachgehen würden, wenn sie das Geld nichtbenötigten, nahe, dass Arbeit eine bedeutendenicht-monetäre Dimension besitzt.

Schliesslich beeinflusst die soziale Arbeits-norm direkt die soziale Akzeptanz des Bezugsvon Leistungen der Arbeitslosenversicherung.In Gemeinschaften mit einer schwachen Ar-beitsnorm wird der Taggeldbezug wohl eher alsAnrecht verstanden, während in Gruppen miteiner starker Arbeitsnorm dasselbe Verhalteneinen starken sozialen Druck zur intensivenStellensuche und sogar soziale Ächtung aus-lösen kann.

Es ist eine wissenschaftliche Herausforde-rung, den Einfluss der sozialen Arbeitsnormvon der Vielzahl anderer Einflüsse auf die Ar-beitslosigkeit zu isolieren. Zuerst muss gezeigtwerden, dass Unterschiede in der Stärke derArbeitsnorm zu unterschiedlichem Verhaltenvon ansonst vergleichbaren Stellensuchendenin ebensolchen Umständen führen. Erst dannkann überzeugend die Meinung vertreten wer-den, die soziale Arbeitsnorm beeinflusse dieArbeitslosigkeit. Es ist deshalb unabdingbardie Stärke der sozialen Arbeitsnorm innerhalbvon Gemeinschaften zu messen.

Abstimmungsresultate untersucht

In unserer Studie wenden wir ein bisher nichtberücksichtigtes Mass für die Stärke der sozia-len Arbeitsnorm an: die Gemeinderesultate derVolksabstimmung über die Kürzung der Ar-beitslosentaggelder vom September1997 in derSchweiz. Wir argumentieren, dass ein Teil derUnterschiede im Abstimmungsverhalten zwi-schen den Gemeinden ein guter Indikator fürdie unterschiedliche Stärke der sozialen Ar-beitsnorm ist.

Nachdem Anfang der 1990er-Jahre die Ar-beitslosigkeit in der Schweiz stark angestiegenwar und die Regierung die Anspruchsdauer ver-doppelt hatte, verbuchte die Arbeitslosenkassegrosse Defizite. Um diese zu reduzieren, kürzte

Inwiefern beeinflusst eine soziale Norm wie dieArbeitsmoral den Arbeitsmarkt? Und inwieweitist sie für die vergleichsweise tiefe Arbeitslosig-keit in der Schweiz verantwortlich? Diesen Fragen ist eine Untersuchung des Instituts fürEmpirische Wirtschaftsforschung nachgegan-gen.

VON RAFAEL LALIVE D’EPINAY

UND ALOIS STUTZER

D ie hohe Arbeitslosigkeit Mitte der 1990er-Jahre in der Schweiz ist vorbei. Mit der

konjunkturellen Erholung ging die Zahl der Ar-beitslosen schnell zurück. Viele Beobachter sindsogar geneigt, von einem «Beschäftigungswun-derland Schweiz» zu sprechen. Gemessen an deräusserst niedrigen Arbeitslosenquote ist dieSchweiz im internationalen Vergleich eine Mus-terschülerin. Die moderate Arbeitsmarktregu-lierung und die in vielen Branchen dezentralenLohnverhandlungen erleichtern den Firmen dieEinstellung neuer Mitarbeiter, ohne die Gefahr,den Mitarbeitern nicht mehr kündigen zu kön-nen. Lässt sich die «Erfolgsgeschichte» jedochvollständig durch die Arbeitsnachfrageseite er-klären?

Im Folgenden soll einem wenig beachtetenFaktor für die Standortattraktivität des schwei-zerischen Arbeitsmarktes nachgegangen wer-den: der hohen Arbeitsmoral. Mehr als 46 Pro-zent der Schweizer Wohnbevölkerung schätzenArbeit laut einer Umfrage der Universität Bernals wichtigste Tätigkeit des Menschen ein. Diegrosse Bedeutung, die der Arbeit individuell zu-gemessen wird, beeinflusst etwa das Verhaltendes Einzelnen am Arbeitsplatz. Wir möchtenjedoch die gesellschaftliche Bedeutung der Ar-beitsmoral hervorheben. Arbeitsmoral wird alseine soziale Norm verstanden, einer bezahltenArbeit nachzugehen und nicht auf Kosten derAllgemeinheit zu leben. Das heisst als eine Re-gularität im Verhalten, die auf einer gesell-schaftlich geteilten Vorstellung beruht. Das ge-forderte Verhalten wird über informelle sozia-le Sanktionen durchgesetzt.

Beeinflusst eine solche soziale Arbeitsnormdie Bereitschaft stellensuchender Personen, ei-

Tiefe Zahlen, hohe Werte

Dr. Rafael Lalive d’Epinay und Dr. des. Alois Stut-zer sind Oberassistenten am Institut für Empiri-sche Wirtschaftsforschung der Universität Zürich.

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Die Punkte 2 und 3 weisen daraufhin, dassbei der Abstimmung normative Überlegungenüber das richtige Verhalten ausgedrückt wur-den. Die Unterschiede im Abstimmungsverhal-ten der Gemeinden können deshalb unter an-derem die unterschiedlichen Einstellungen derStimmbürger in der Umgebung jedes Arbeits-losen erfassen.

Wohl überlegte Entscheidungen

Wir ziehen die Abstimmung über die Arbeits-losentaggelder als Mass für die soziale Arbeits-norm Umfragen vor. Denn sie ermöglicht ei-nerseits, alle Gemeinden in den Blick zu neh-men. Andererseits treffen die Bürger bei einerAbstimmung – eher als bei einer Umfrage –eine wohl überlegte Entscheidung, da diesegesellschaftliche Konsequenzen hat. DurchUmfragen ermittelte Werte können jedochfür einen einfachen Konsistenztest verwendetwerden.

Im Mikrozensus Familie – einer Befragungvon rund 6000 Schweizerinnen und Schweizern– wurde 1995 unter anderem nach der Zu-stimmung zu folgender Aussage gefragt: «Wernicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhaltselber zu verdienen, ist unnütz.» Die durch-schnittliche Zustimmung pro Kanton weist ei-nen statistisch signifikanten, positiven Zusam-menhang mit den Abstimmungsresultaten auf:Je höher die Zustimmung, desto mehr Bürgerstimmten auch für eine Senkung der Taggelder(siehe Grafik, Seite rechts).

Wir sind uns bewusst, dass das beobachte-te Abstimmungsverhalten zum Teil auch in-strumentellen Überlegungen folgt. Arbeitsloseund Leute, die befürchten, ihre Stelle zu verlie-ren, haben beispielsweise mit grösserer Wahr-scheinlichkeit die Kürzung der Arbeitslosen-entschädigung abgelehnt. Die öffentliche Dis-kussion vor der Abstimmung und dienormativen Begründungen in der Nachbefra-gung zeigen, dass beim Abstimmungsverhaltennormative Vorstellungen ebenfalls stark zumAusdruck kommen. Die Volksabstimmungüber die Kürzung der Arbeitslosentaggelderbietet sich deshalb als Indikator für die Stärkeder sozialen Arbeitsnorm in den Gemeinden derSchweiz an.

Unsere empirische Analyse der Dauer derArbeitslosigkeit stützt sich auf alle Personen,die im halben Jahr nach der Volksabstimmungarbeitslos wurden. Mit statistischen Verfahrenhaben wir untersucht, ob Arbeitslose, die inGemeinden mit einer vergleichsweise stärkerensozialen Arbeitsnorm leben, schneller wiedereine feste Stelle haben. Zur Erklärung der Ar-

die Regierung mit einem dringlichen Bundes-beschluss per 1. Januar 1997 die Taggeldsätzeum 3 für Bezüger hoher Einkommen respektiveum 1 Prozent für Bezüger tiefer Einkommen.Darauf ergriffen ein Arbeitslosenverein und dieGewerkschaften erfolgreich das Referendumgegen den Bundesbeschluss, und es wurde eineAbstimmung über die Kürzung der Taggeld-sätze nötig.

Die Abstimmung fand am 28. September1997 statt. Bis Anfang Juni wurden in der öf-fentlichen Diskussion vor allem Finanzfragenthematisiert. Ein radikaler Umschwung in derDiskussion trat am 10. Juni 1997 ein, als derdamalige stellvertretende Biga-Direktor an ei-ner Podiumsdiskussion erklärte, von den fast200000 Arbeitslosen in der Schweiz seien einDrittel Alkoholiker oder Drogensüchtige undein Drittel Drückeberger. Diese Aussage lösteeine hitzige öffentliche Debatte über die wah-ren Gründe der Arbeitslosigkeit in der Schweizaus. Finanzfragen traten in den Hintergrundzugunsten normativer Überlegungen über dieBedeutung der Arbeit und des Bezugs von Ar-beitslosenunterstützung.

Die Debatte wurde in den SchweizerTages-zeitungen weitergeführt.Am 3.Juli1997schriebdie auflagenstärkste Tageszeitung der Schweiz,der «Blick», über «Falsche Arbeitslose: Ihre10 fiesen Tricks». Am 9. Juli 1997 druckte derZürcher «Tages-Anzeiger» ein Interview mitdem Sekretär des Schweizerischen Gewerbe-verbandes, welcher betonte, dass die Gesell-schaft zum grossen Teil aus «Geniessern» be-stehe. Die Arbeit werde als lästiges Übel be-trachtet,welches am besten ganz aus dem Lebenverbannt werden solle. Am 4. August 1997 er-schien in der «Berner Tagwacht» ein Interview,worin betont wurde, dass es nicht nur ein Rechtauf Arbeit, sondern auch eine Pflicht zur Arbeitgebe.

In der Abstimmung unterstützte eine kleineMehrheit von 50,8 Prozent das Referendum,und die Kürzungen mussten rückgängig ge-macht werden. 49,2 Prozent der Urnengängerstimmten für die Senkung der Taggelder. Diedrei wichtigsten Gründe für eine Reduktionder Taggeldsätze, welche in der auf die Ab-stimmung folgenden Wählerumfrage (VOX-Analyse) genannt wurden, waren:1.Die Staats-kassen sind leer und irgendwoher muss dasGeld kommen (29 Prozent); 2. Die Arbeitslo-sen kosten zu viel, sind Profiteure und müssendazu gebracht werden, wieder Arbeit zu finden(25 Prozent); 3. Der Beschluss ist nötig, dieTaggeldkürzungen sind eine gute Sache (21Pro-zent).

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Die Ergebnisse der statistischen Untersu-chungen zur Arbeitslosendauer und zur Le-benszufriedenheit der Arbeitslosen sowie dievor der Abstimmung beobachtete öffentlicheDiskussion und die der Abstimmung folgendeNachbefragung zeigen, dass der schweizerischeArbeitsmarkt durch starke soziale Arbeitswer-te beeinflusst wird und dass diese zu einer ver-gleichsweise tiefen Arbeitslosigkeit beitragen.Es fällt damit Licht auf einen offenbar wichti-gen, jedoch oft vernachlässigten Faktor derschweizerischen Volkswirtschaft. ZukünftigeUntersuchungen könnten wertvolle Einsichtenzu den Bestimmungsgründen der sozialen Ar-beitsnorm liefern. Dabei ist insbesondere nachdem Einfluss von Arbeitsmarktregulierungenauf die gesellschaftlichen Arbeitswerte zu fra-gen. Hinweise darauf können helfen, die Aus-wirkungen von politischen Massnahmen bes-ser einzuschätzen.

beitslosendauer werden dabei nur diejenigenUnterschiede der sozialen Arbeitsnorm berück-sichtigt, die unabhängig von den regionalen Ar-beitsmarktbedingungen bestehen. Die Resulta-te zeigen, dass Stellensuchende in Gemeindenmit hoher Zustimmung zur Kürzung der Ar-beitslosentaggelder tatsächlich schneller eineneue Stelle finden.

Der Zusammenhang zwischen Arbeitsnormund Arbeitslosigkeit ist quantitativ bedeutend.Unsere Simulationen legen nahe, dass Stellen-suchende in Gemeinden mit einer starkensozialen Arbeitsnorm rund zehn Tage frühereine Arbeitsstelle annehmen. Weiter zeigt sich,dass die soziale Arbeitsnorm stärker wirkt,wenn die Muttersprache der Stellensuchendenauch die Umgangssprache in der Gemeinde ist.Der Zusammenhang zwischen der sozialenArbeitsnorm und der Dauer der Stellensuche istzudem besonders stark in kleineren Städtenund Dörfern. Diese Ergebnisse legen nahe, dassdas soziale Umfeld der Gemeinde eine bedeu-tende Rolle für die Dauer der Arbeitslosigkeitspielt.

Weniger glücklich

Eine starke Arbeitsnorm zeigt sich nicht nur imVerhalten der Arbeitslosen, sondern auch inihrem Wohlbefinden. Arbeitslose verlieren mitihrer Stelle einen Teil ihrer Identität und Selbst-achtung. Wie sich dies auf das subjektive Wohl-befinden oder das Glücksempfinden auswirkt,lässt sich mit Umfragedaten zur individuellenLebenszufriedenheit untersuchen. In solchenUmfragen werden die Leute gefragt, wie zu-frieden sie gegenwärtig – alles in allem – mitihrem Leben seien. Als Antwortmöglichkeitsteht ihnen zum Beispiel eine Skala von 1«ganzund gar unzufrieden» bis 10 «ganz und gar zu-frieden» zur Verfügung.

Untersuchungen für eine Vielzahl von Län-dern zeigen, dass Arbeitslose weit wenigerglücklich sind als Beschäftigte, selbst wennberücksichtigt wird, dass sie ein tieferes Ein-kommen haben. Dies gilt besonders stark fürdie Schweiz. Während Beschäftigte bei der Fra-ge nach der Lebenszufriedenheit durchschnitt-lich einen Wert von 8,2 angeben, wählen Ar-beitslose durchschnittlich einen Wert von 6,6.Dabei zeigt sich, dass die Zufriedenheitswerteder Arbeitslosen in jenen Gemeinden tiefer sind,in denen viele Bürger für eine Senkung der Tag-gelder gestimmt haben. Dies deckt sich mit derVorstellung, dass in Gemeinden mit einer star-ken sozialen Arbeitsnorm Stellensuchende demsozialem Druck und Sanktionen stärker ausge-setzt sind.

LITERATUR

Frey, B.S. /Stutzer, A.: Happiness and Economics. How the Eco-

nomy and Institutions affect Human Well-Being, Princeton

2002

Stutzer, A. / Lalive, R.: Soziale Arbeitsnorm und Arbeitslosigkeit in

der Schweiz, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft

und Statistik 138(3), S. 293–316, 2002

In einer Befragung des Bundesamtes für Statistik wurde 1995die Zustimmung zur Aussage «Wer nicht in der Lage ist, seinenLebensunterhalt selber zu verdienen, ist unnütz» ermittelt. Die durchschnittliche Zustimmung pro Kanton weist einen klarenZusammenhang mit den Resultaten der Abstimmung über dieReduktion der Arbeitslosenentschädigung von 1997 auf: Kantonemit einer hohen Zustimmung bejahten ebenso deutlich eine Tag-geldreduktion.

Zustimmung zur Reduktion der Arbeitslosenentschädigung70%60%50%40%30%20%10%

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15%

5%

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Zusammenhang zwischen Abstimmungsverhalten und ermittelten Wertvorstellungen

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Gesunde Arbeitsplätze im Blickgeben und welche Auflagen müssen erfülltwerden?– Eine schwangere Mitarbeiterin hat eineüberwiegend stehende Tätigkeit in ungünstigerKörperhaltung zu verrichten, ausserdem be-steht gelegentlich Kontakt zu infektiösem Ma-terial. Von welchen Tätigkeiten gehen Gefah-ren für den Schwangerschaftsverlauf aus undwie sind diese Risiken zu bewerten?

Anhand von zwei konkreten Fällen aus dertäglichen Arbeit der Abteilung für Arbeitsme-dizin des Instituts für Sozial- und Präventiv-medizin und der medizinischen Poliklinik, inder die Fachrichtungen Arbeitsmedizin undArbeitshygiene vereint sind und eng zusam-menarbeiten, soll etwas genauer auf die Vor-gehensweise eingegangen werden.

Arbeitsschutz im Labor

Welche Atemschutzmaske soll ich meinen Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern besorgen, dieverschiedentlich Umgang mit Xylol haben? Solautete die Anfrage einer Laborleiterin. Xylolist in der Tat ein toxikologisch relevantes Lö-sungsmittel, das zu den aromatischen Kohlen-wasserstoffen zählt. Es kann bei entsprechen-der Belastung akute und chronische gesund-heitliche Beschwerden verursachen. Darüberhinaus wird über eine erhöhte Abortrate unterLösungsmittelbelastung berichtet. So sind Ar-beitsschutzmassnahmen beim Umgang mit Xy-lol nicht nur gerechtfertigt, sondern erforder-lich. In der Rangfolge der Schutzmassnahmenrangiert die persönliche Schutzausrüstung, zuder die Atemschutzmasken gehören, jedoch aufder untersten Stufe. Im Fall von Xylol, das auchüber die Haut aufgenommen werden kann, bie-tet zudem eine Atemschutzmaske unter Um-ständen keinen ausreichenden Schutz.

Um die gesundheitlichen Risiken einschät-zen zu können und Empfehlungen für dieSchutzmassnahmen aussprechen zu können,müssen die Arbeitsplatzsituation und dieSchadstoffbelastung genau bekannt sein. Ausdiesem Grund wurde zunächst eine Begehungder Laborräume durchgeführt. An mehrerenArbeitsplätzen wird dort mit Xylol gearbeitet.Mit einer erhöhten Belastung durch Einatmenvon Xyloldämpfen konnte besonders bei einemArbeitsvorgang gerechnet werden, an dem Xy-lol-getränkte Proben mit einem Fön ohne Ab-zug getrocknet werden. Bei diesem Arbeits-schritt ist auch ein Hautkontakt möglich.

Die Untersuchungen der Arbeitsmediziner desInstituts für Sozial- und Präventivmedizin helfendie gesundheitlichen Risiken am Arbeitsplatzzu vermindern und das Wohlbefinden von Mit-arbeitern positiv zu beeinflussen. Seit vergan-genem Jahr obliegt der Abteilung Arbeits- undUmweltmedizin die arbeitsmedizinische und ar-beitshygienische Betreuung der Universität unddes Universitätsspitals. Ein Überblick.

VON BRIGITTE MERZ

A rbeitsmedizin befasst sich mit dem Einflussvon Arbeit und Arbeitsbedingungen auf den

Menschen und seine Gesundheit. Sie hat zumZiel, das körperliche, geistige und soziale Wohl-befinden der Arbeitnehmer in allen Berufen undArbeitsbereichen zu fördern und aufrechtzuer-halten. Wie vielfältig dabei die Bereiche sind,aus denen Themen bearbeitet werden, zeigenfolgende beispielhafte Fragestellungen: – Eine Mitarbeiterin klagt über Atemwegs-symptome, die nur am Arbeitsplatz bei be-stimmten Tätigkeiten auftreten. Gibt es in die-sem Bereich Arbeitsbedingungen oder Gefah-renstoffe, die Reizungen der Atemwegeverursachen können? Welche Arbeitsschutz-massnahmen können ergriffen werden, um ge-gebenenfalls die Belastung zu reduzieren?– Seit dem Umzug in andere Räumlichkeitenklagen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterzunehmend über Erkältungssymptome, und dieZahl der krankheitsbedingten Absenzen hatsich gesteigert. Zugerscheinungen am Arbeits-platz werden als Ursache vermutet. Können dieneuen raumklimatischen Bedingungen dafürverantwortlich sein und wenn ja, welche Mass-nahmen können ergriffen werden, um diese Si-tuation zu verbessern?– Ein neuer Arbeitsplatz für kurzzeitige Tätig-keiten soll eingerichtet werden. Es stehen nurzwei fensterlose Räume zur Verfügung. Kön-nen diese Räume prinzipiell unter den Ge-sichtspunkten des Arbeitsschutzes für den vor-gesehenen Zweck genutzt werden? Wenn ja,welchem Raum ist aus arbeitsmedizinischerund arbeitshygienischer Sicht der Vorzug zu

Dr. Brigitte Merz ist wissenschaftliche Mitarbeite-rin an der Abteilung Arbeits- und Umweltmedizindes Instituts für Sozial- und Präventivmedizin derUniversität Zürich.

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tragen werden, kann unter diesen Bedingungensogar ganz verzichtet werden.

Risiko und Sicherheit

Ein weiteres Beispiel aus der Praxis der Abtei-lung Arbeitsmedizin betrifft die Einschätzunggesundheitlicher Gefahren am Arbeitsplatz im

Rahmen von systematischen Arbeitsplatzbege-hungen. Hintergrund dieser Inspektionen ist dieUmsetzung der Richtlinie 6508 der Eidgenös-sischen Koordinationskommission (EKAS), dieden Beizug von Arbeitsärzten und anderen Spe-zialisten der Arbeitssicherheit für die Risiko-analysen vorschreibt.

Im Zentrum steht die Ermittlung von Ge-fahren chemischer, physikalischer und biologi-scher Art am Arbeitsplatz – beispielsweise dieBelastung durch verschiedene Arbeitsstoffe, dieEinwirkung von Lärm oder Strahlen oder derUmgang mit Mikroorganismen. Bei Bedarfwerden zur Risikoabschätzung neben den Er-kenntnissen aus Begehungen der Arbeitsberei-che und Befragungen der Verantwortlichen undder Mitarbeitenden auch Arbeitsplatzmessun-gen vorgenommen, um die Belastungen objek-tiv beurteilen zu können. Darüber hinaus flies-sen aber auch arbeitsorganisatorische und er-gonomische Aspekte in die Beurteilung derSicherheit und des Gesundheitsrisikos am Ar-beitsplatz mit ein, und es werden Massnah-menvorschläge erarbeitet.

Bei den systematischen Arbeitsplatzbege-hungen wurde in einem Arbeitsbereich dieHolzstaubbelastung als eine der Hauptgefah-ren für die Gesundheit identifiziert und men-genmässig erfasst. Holzstaub wird über dieLungen aufgenommen, und die bekanntengesundheitlichen Auswirkungen betreffen die

So sollte hier die Gefahrstoffbelastungdurch Messungen objektiviert werden. Mit ei-ner personenbezogenen Schadstoffmessung inder Luft könnte nur die Aufnahme über dieAtemwege ermittelt werden. Um aber gleich-zeitig die inhalative und dermale Xylol-Belas-tung abschätzen zu können, wurde ein so ge-nanntes biologisches Monitoring durchgeführt,das heisst, die Substanz selbst oder eines ihrerAbbauprodukte wird in biologischem Materi-al (etwa Blut oder Urin) mengenmässig erfasstund damit die gesamte innere Belastung unab-hängig von dem Aufnahmeweg des Gefahr-stoffes ermittelt. Zu diesem Zweck gab der Mit-arbeiter, welcher an diesem Tag am Arbeits-platz mit der grössten möglichen Expositiongearbeitet hatte, jeweils am Schichtende eineUrinprobe ab. Darin wurde der für Xylol spe-zifische Metabolit Methyl-Hippursäure quan-titativ bestimmt.

In allen Urinproben war dieser Metabolit,der normalerweise nicht im Urin vorkommt,nachweisbar, sodass eine eindeutige Belastungdes Personals vorlag. Die Konzentrationen la-gen jedoch deutlich unter dem empfohlenenGrenzwert, dem so genannten biologischenArbeitsplatztoleranzwert (BAT-Wert), sodasskeine akute Gefahrensituation bestand. Die Be-fragungen der einzelnen Mitarbeiterinnen undMitarbeiter durch die Arbeitsmedizinerin erga-ben auch keine Hinweise auf bestehende chro-nische Gesundheitsstörungen. Einige klagtenjedoch bei bestimmten Arbeitsschritten überakute arbeitsplatzbezogene Gesundheitspro-bleme. Aus diesem Grund und in Anbetrachtdes jungen Alters einiger Mitarbeitender undder möglichen fruchtschädigenden Wirkungvon Xylol musste der Arbeitsschutz verbessertwerden.

Die beste präventive Massnahme, die ge-troffen werden kann, ist der Austausch des Ge-fahrenstoffes durch eine Chemikalie vergleich-barer Wirkung, aber mit geringerer Toxizität.So suchte die Laborleiterin nach Methoden mitXylol-Ersatzstoffen. Diese Alternativen wur-den arbeitsmedizinisch und toxikologisch be-wertet und werden jetzt nach ökonomischenund anwendungstechnischen Gesichtpunktenbeurteilt.

Ausserdem wurden weitere technische undorganisatorische Arbeitsschutzmassnahmenerarbeitet – die Anschaffung eines belüftetenTrockenschrankes, das Verlegen bestimmterArbeitsschritte in die Kapelle und das Tragengeeigneter Schutzhandschuhe –, sodass letzt-endlich die Xylol-Belastung minimiert werdenkann. Auf Atemschutzmasken, die ungern ge-

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Das Arbeitenmit toxischenLösungsmittelngehört in vielenLabors zum Alltag.Wie gesundheitli-che Risiken amArbeitsplatz ver-mindert werdenkönnen, zeigen dieEmpfehlungen undAnalysen der Ab-teilung Arbeitsme-dizin des Institutsfür Sozial- undPräventivmedizin.

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des Sicherheitsdienstes zusammen. Sie helfentechnische, organisatorische und persönlicheMassnahmenvorschläge und ihre Umsetzungs-möglichkeiten zu erarbeiten. Dabei wird derKontakt sowohl zu den Verantwortlichen alsauch den Mitarbeitenden gesucht.

Aber auch die Früherkennung von arbeits-bedingten Erkrankungen, also die sekundärePrävention, ist ein ganz wesentlicher Bestand-teil der arbeitsmedizinischen Tätigkeit. Dazugehört auch die Beurteilung, ob gesundheitli-che Beschwerden durch Arbeitsplatzbedingun-gen ausgelöst oder unterhalten werden. Nebender individuellen Beratung und Untersuchungder betroffenen Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter spielt die Analyse der Arbeitsplatzbe-dingungen und die Bewertung in Hinblick aufdie Beschwerdesymptomatik eine wesentlicheRolle. Sollten sich Hinweise auf eine arbeitsbe-dingte Erkrankung ergeben, werden sowohldem Arbeitnehmer als auch dem Arbeitgeberentsprechende Verbesserungsvorschläge unter-breitet.

Aber auch Mitarbeitende mit bestehendenErkrankungen und einem eingeschränktenLeistungsvermögen sollenTätigkeiten zugeord-net werden können, die ohne weitere Gefahrfür ihren Gesundheitszustand und ihre Sicher-heit ihren Fähigkeiten entsprechen und ihreMöglichkeiten nutzen. Auch bei diesen Mass-nahmen der tertiären Prävention können dieArbeitsmediziner aufgrund ihrer Kenntnisseder Arbeitsplatzbedingungen und -anforderun-gen als Verbindungsglied zwischen den behan-delnden Ärzten, dem Arbeitgeber und Arbeit-nehmer dienen.

Die Arbeitsmedizin bietet letztlich ein viel-fältiges Feld von Fragestellungen, die techni-sche, naturwissenschaftliche, toxikologischeund medizinische Erkenntnisse verbindet. DerKontakt zu anderen Spezialisten der Arbeits-sicherheit sowie zu Verantwortlichen und An-gestellten aus vielen Bereichen der Universitätund des Universitätsspitals trägt dazu bei, dieArbeit in der Abteilung Arbeitsmedizin zu einem interessanten und spannenden Erlebnismit ständig wechselnden Herausforderungenzu machen.

Atemwege. Die persönliche Belastung durchHolzstaub kann deshalb am besten über per-sonenbezogene Messungen ermittelt werden,das heisst, das Messgerät befindet sich am Mit-arbeiter in Höhe der Einatemzone. Es bestehtdie Möglichkeit, Kurzzeit- oder Langzeitmes-sungen (acht Stunden) durchzuführen. Da indiesem Fall die Staubbelastung während Tätig-keiten, die nur zeitweilig anfallen, beschriebenwerden sollte, wurden Kurzzeitmessungen vor-genommen.

Die Messungen erfolgten während der Ar-beiten mit hoher Holzstaubbelastung. Dabeizeigte sich eine beachtenswerte Belastung be-sonders bei den Arbeiten an einer Fräsmaschi-ne, aber auch bei Reinigungsarbeiten, sodasstechnische, organisatorische und personenbe-zogene Massnahmen zur Reduktion der Staub-belastung vorgeschlagen und teilweise bereitsumgesetzt wurden.

Prävention an erster Stelle

Der Einfluss von Arbeitsplatzbedingungen aufdie Gesundheit der Arbeitnehmenden und derWert und die Bedeutung von Arbeitsschutz-massnahmen sind heute allgemein anerkannt,und umfassende gesetzliche Regelungen, wiezum Beispiel das Arbeitsgesetz und die dazu-gehörigen Verordnungen, die Mutterschutz-verordnung und die Verordnung über denSchutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer vor Mikroorganismen sowie die erwähnteEKAS-Richtlinie 6508, tragen dem Rechnung.

Auch in der Universität und dem Univer-sitätsspital gibt es – wie oben beispielhaft auf-geführt – verschiedene Belastungen an den ein-zelnen Arbeitsplätzen, die darüber hinausdurch die Einführung neuer technischer Me-thoden oder einer veränderten Arbeitsorgani-sation einem stetigen Wandel unterliegen.

Die Aufgaben der Arbeitsmedizin umfassenMassnahmen der so genannten primären, se-kundären und tertiären Prävention. Das wich-tigste Ziel ist die primäre Prävention. Dasheisst, durch die Gestaltung der Arbeitsplätzesollen die Sicherheit und die Gesundheit derArbeitnehmenden erhalten und Unfälle sowiedie Entstehung von Berufskrankheiten vermie-den werden. Deshalb sind auch Gefährdungs-beurteilungen und Risikoanalysen für die Ar-beitsplätze gefordert. Die Verantwortung dafürobliegt dem Arbeitgeber.

Die Arbeitsmediziner und Arbeitshygieni-ker spielen dabei aber eine wesentliche bera-tende Rolle und arbeiten eng mit den anderenSpezialisten der Arbeitssicherheit des perso-nalärztlichen Dienstes, der Spitalhygiene und

Abteilung Arbeits- und UmweltmedizinKontaktpersonen:PD Dr. med. Philipp Hotz, Leitender Arzt,Telefon: 01 634 46 45, [email protected]. med. Brigitte Merz, Arbeitsmedizinerin, Telefon: 01 634 46 46, [email protected] Hofmann, Arbeitshygiene,Telefon: 01 634 46 46, [email protected]

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Zwischen Berufsarbeit und Demokratieentleerten Torso interpretierte und der Ideeder (deutschen) Bildung entgegensetzte, oder –international – durch Richard Sennets Klagegegen die ökonomische Globalisierung, welchezur «Corrosion of Character» (1998) führe.Der publizistische Markt der öffentlichenEmpörung gegen den weltweiten Wirtschafts-markt scheint noch lange nicht ausgeschöpft,denkt man an den jüngsten internationalenBestseller «The Silent Takeover. Global Capi-talism and the Death of Democracy» (2001) derjungen Cambridge-Dozentin Noreena Hertz.Hier scheinen das Ende des romantischen Kind-heits-Mythos und derTod der Demokratie zweiinterdependente Folgen der Globalisierung zusein, ganz ungeachtet des Umstands, dass diePropagandisten des romantischen Kindheits-bildes wie etwa Runge oder Fröbel kaum alsdemokratisch gesinnt bezeichnet werden kön-nen.

Realitätsferne Rhetorik

Die Zukunftsvisionen gehen davon aus, dassdie Slogans von «new work» oder «new eco-nomy» Wirklichkeit abbilden. Sie berücksich-tigen nicht die Möglichkeit, dass Sprache eineWirklichkeit bloss suggerieren könnte, die indieser Form gar nicht existiert. Die Rede vonsich auflösenden traditionellen Berufen wirdnämlich weder durch den historischen Blicknoch durch die Statistiken bestätigt. Das Phä-nomen der verschwindenden Berufe ist seit jeeine übliche Begleiterscheinung wirtschaftli-cher Entwicklung, wie etwa Rudi Pallas Lexi-kon der untergegangenen Berufe (1998) be-scheinigt; Berufe wie Windenmacher, Lerseneroder Guillocheure dürften heute kaum mehrbekannt sein: Sie verschwanden schon vorJahrhunderten, weil die Marktentwicklung sieschlicht überflüssig machte.

Gegenüber der Rhetorik ist grundsätzlichVorsicht geboten: Während der Humanbereichmit den Begriffen «Effizienz» und «Flexibilität»mechanisiert wird, erfährt die wirtschaftlicheSprache eine merkwürdige Anthropomorphi-sierung. «Der Markt fasste Mut» ist heuteein stehender Begriff, gleich wie die «Aktienleiden» («Finanz und Wirtschaft»,21. 8. 2002),oder die «Börse hustet», oder der Umstand,dass in einer bestimmten «Börsenstimmung»gewisse «Aktien interessant» seien («Stocks»,16. 8.2002). Der «optimistischen Börse» stehtder «Börsenkoller» entgegen, ihm wiederum

«Flexibilität», «Effizienz» und «lebenslanges Ler-nen» sind aktuelle Schlagworte der Arbeitswelt.In der Pädagogik sind die damit verbundenenVorstellungen keineswegs neu. Gerade imdeutschsprachigen Raum bieten sie deshalb An-lass, Perspektiven der Bildung wieder breit zudiskutieren.

VON DANIEL TRÖHLER

D ie Pädagogik erwacht aus ihrem Dornrös-chenschlaf – nicht durch den Kuss eines

schönen Prinzen, sondern durch die scheinbarhässlichen Ansprüche der immer dominanterwerdenden Wirtschaft. War bisher vor allemim deutschsprachigen Raum das Ideal der Bil-dung von der Ästhetik der Antike dominiert, solauten die magischen Begriffe heute «Flexi-bilität» und «Effizienz». Euphoriker wie derRektor der Universität St. Gallen, Peter Gomez,orakeln, dass binnen weniger Jahre die Schulesich stärker verändern werde als in den letzten500 Jahren ingesamt – also die Folgen der Re-formation mit eingerechnet –, und Zukunfts-forscherinnen wie die deutsche JournalistinGudrun Englisch interpretieren die kommen-den Bildungsinstitutionen als «Marktplätze»,welche mit Bildungsgutscheinen betreten undauf welchen insbesondere das im Internet ver-fügbare Wissen gehandelt, aber nicht hierar-chisch und zeitfressend vermittelt werde.

Die globalisierte «Wissensgesellschaft» –das neue soziologische Zauberwort, das bereitsjenes der «Risikogesellschaft» abgelöst hat –wird als Befreiung der Menschen aus denZwängen der industriellen Gesellschaft ver-standen. Traditionelle Berufe gelten deswegenals antiquiert; die Zukunft gehört den flexibelnJobnomaden, die sich in einem lebenslangenLernprozess an die stets neuen Situationen an-passen. Skeptiker dagegen beklagen die Kälteder wirtschaftlichen Gesellschaft und pochenromantisch inspiriert auf das Eigenrecht derKindheit, den Schonraum, der es dem Kind erstermögliche, sich selbst zu werden.

Unterstützt werden sie durch prominentePhilosophen wie Jürgen Mittelstrass, der imMai 2002 in einem Vortrag an der UniversitätZürich das verfügbare Internet-Wissen als sinn-

Dr. Daniel Tröhler ist Lehrbeauftragter amPädagogischen Seminar der Universität Zürich.

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diese Arbeit endlich zu einem BIGA-anerkann-ten Beruf zu machen.

Neue Begriffe – alte Ideen

In die Zukunft schauen ist ein heikles Geschäft,inbesondere wenn die Sprache der Gegenwartschon falsche Signale setzt. Diese suggeriert

nämlich, dass «Flexibilität» und «Effizienz»sowie «lebenslanges Lernen» zukünftige Ziel-vorstellungen seien und, umgekehrt gedacht,noch nicht existierten, so als ob etwa der his-torisch am weitesten verbreitete Beruf, jenes desBauern, nicht permanent Flexibilität erforderthätte. Seit Beginn der systematischen pädago-gischen Reflexion war «Flexibilität» ein Kern-begriff – nur hiess dies damals im 18. Jahrhun-dert «Biegsamkeit».

Damit wurde explizit auf die Kommerziali-sierung beziehungsweise Industrialisierungder Gesellschaft reagiert. Gerade im Übergangzur protoindustriellen Gesellschaft verlangtePestalozzi zusammen mit der verbesserten Aus-bildung mehr «Gewerbsamkeit und Biegsam-keit» (1780), wobei nicht nur in der Berufsbil-dung mehr «Flexibilität» erreicht werden sollte,sondern auch in dem, was später Allgemeinbil-dung hiess – Pestalozzi nannte dies noch die«allgemeine Biegsamkeit des Kopfs und desHerzens» (1782).

Den Denkern des 18. Jahrhunderts war dasProblem der wirtschaftlichen Entwicklungdurchaus bewusst. Die wohl prominentestePassage, die das belegt, stammt aus Rousseaus

das «Börsenfieber» (NZZ, 20. 8.2002). Dieverkehrte Rhetorik wirkt sich auch auf dieDimension der Zeit aus: Während Börsenin-vestitionen immer kurzfristiger angelegt sind,um zum «schnellen Geld» zu gelangen, wirdvon den Menschen unter den Bedingungen derglobalen Ökonomie verlangt, dass sie «lebens-lang lernen».

Betrachtet man dagegen die Bildungsstatis-tiken in der Schweiz, so absolvieren noch im-mer rund zwei Drittel aller Schulabgängerinnenund -abgänger eine Berufslehre. Diese Berufs-bildung wird von den Trägern des dualenBerufsausbildungssystems, den Betrieben unddem Staat, nicht à fond perdu ermöglicht, weilsie Schöngeister wären, sondern letztlich, weilKundinnen und Konsumenten danach fragen.Der Einfamilienhausbesitzer wird bei einemdefekten Dach auch künftig den Dachdeckerbeauftragen und kaum einen flexiblen Sing-lehrer.

Und so wird auch die ZukunftsforscherinGudrun Englisch auf ihrem permanenten Tripum dieWelt es vorziehen, dass ihr Flugzeug vonausgebildeten Technikern gebaut und gewartetwurde und nicht von kreativen Optikern oderDamenschneiderinnen. Heizungen und Kami-ne werden auch in Zukunft von ausgebildetenKaminfegerinnen und -fegern gewartet, so wieman bei Krankheiten im Allgemeinen Ärzte auf-sucht. Richtig ist zwar, dass etwa der Beruf desAutomechanikers marginalisiertwird,abernur,weil das Ersetzen von Motorenteilen billiger istals deren zeitaufwändige Reparatur. Dafür istder Beruf des Automonteurs wichtiger gewor-den, und derjenige des Autoelektrikers erlebteinen ungeahnten Aufschwung.

Die Berufsbildungsinstitutionen und dieVerbände haben darauf adäquat reagiert undentsprechende – im konventionellen Rahmengestaltete – Bildungsgänge konzipiert und rea-lisiert. Mit Ausnahme ganz weniger spezifischerBerufe im Umfeld der Informatik hält sich dasduale Berufsbildungssystem als solches stabilund entlässt gut ausgebildete Berufsleute indie Wirtschaft. Die Bemühungen um staatlicheAnerkennung der Berufsbildung sind dabeibeachtlich: Der Migros-Genossenschaftsbundmusste vor Jahren sein ganzes Prestige auf-wenden, um die Tätigkeit der Magaziner, diebis dahin lediglich angelehrt worden waren,mittels einer anerkannten Berufslehre aufzu-werten – was sich auch in der Umbenennungdes Berufs zu «Lagerist» ausdrücken sollte.Ebenso verhält es sich mit dem Arbeitsgebietder Hundecoiffeure: In diesem Falle wurde vomVerband viele Jahre hindurch dafür gekämpft,

Gefragte Berufs-leute: Auch künftigwerden Flugzeugewohl von ausgebil-deten Technikernund nicht vonkreativen Optikernoder flexiblen Sing-lehrern gewartet.

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chischen Antike und der Republik Genf dieBerufsbildung explizit mit den Pflichten desBürgers der Gesellschaft gegenüber.

Pestalozzi pflanzt sein pädagogisch-proto-industrielles Konzept in jenes des autarken«oikos», das gemäss dem Republikanismus dieMenschen zu patriotischer Tugend führen soll,während Dewey die Erziehung auf Demokratiebezieht. Sein enger Vertrauter, George HerbertMead, fokussierte 1908/09 Bildung auf «Ge-schmeidigkeit» (suppleness), als «skill thatcan be adapted», sodass Berufstätige «can turnfrom one form of manufacture to another».«Skill» ist «developed intelligence», und diesedie Voraussetzung der «citizens» in einer«industrial democracy». Schule fördert dieseArt von «skills», wenn sie in einer Demokratiesituiert ist.

Versteht man die Konzepte des amerikani-schen Pragmatismus als Versuche, Bildung,moderne Ökonomie und Demokratie in ihrergegenseitigen Abhängigkeit zu verstehen, sokönnte die Geschichte Dornröschens anders en-den als im Märchen. Denn ihr Erwachen hängtja, genau genommen, weniger mit dem Auf-tauchen des Prinzen zusammen als mit dem Um-stand, dass der Fluch des 100-jährigen Schlafsan diesem Tag zu Ende ging: Das Verlieben istaus dieser Sicht ein zufälliges Ereignis.

In Analogie dazu böten die kruden und mitwenig historischen Kenntnissen vertretenenSlogansderNew-economy-Enthusiasten geradeim deutschsprachigen Raum Anlass, die vor100Jahren verpasste Möglichkeit, Bildung inter-national zu diskutieren, wieder aufzunehmen.Damals wurde stattdessen eine anti-ökonomi-sche, anti-demokratische und nationalistischeBildungstheorie etabliert, die auf innerlicheTotalität zielte und die der bourgeoisen Ideo-logie des Wilhelminischen Kaiserreiches ent-sprach. Aus diesem Traum muss sie erwachen.

Dabei wird sich herausstellen, dass eine fun-dierte Allgemeinbildung das Mittel zur Flexi-bilität ist, aber auch, dass diese nicht imscharfen Gegensatz zur Berufsausbildung stehtund dass Lernen und Arbeit ebenfalls keineGegensätze sind. «Flexibilität» und «Effizienz»werden dann normativ nicht primär auf öko-nomischen Gewinn, sondern im Sinne ver-schütteter Traditionen auf Staatsbürgerlichkeitund Demokratie ausgerichtet sein. Menschensind dann lernfähige (das heisst flexible), soziale und politische Wesen, und kein Kano-nenfutter entfesselter Börsenhasardeure, de-nen, so die vielleicht naive pädagogische Hoff-nung, es vor allem an etwas (allgemeiner)Bildung fehlt.

Erziehungsroman «Emile» (1762). Die Frage,welchen Beruf Emile lernen solle, wird an-gesichts der unsicheren wirtschaftlichen Ent-wicklung entschieden. «Wer noch so schöneTalente hat, aber unter Verhältnissen lebt, indenen er sie nicht gebrauchen kann, wird imElend umkommen, als ob er sie nicht besässe.»Rousseau warnt vor überspezialisierten Be-rufen, und Emile wird folglich zuerst als«Mensch» gebildet, dann als Landwirt, dannalsTischler – Berufe, die von den Menschen im-mer benötigt würden.

Damit scheint ein Paradox gegeben: je all-gemeiner die Bildung, je flexibler der beruflicheMensch. Dass insbesondere die deutschspra-chige Rezeption Rousseaus Einstehen für dieMenschenbildung mit der griechisch-ästhe-tischen Bildungsidee verknüpfte und sie alsGegensatz zur Berufsbildung deutete, ist einesder tragischen Momente der Geschichtsschrei-bung der Pädagogik, die noch immer der Kor-rektur bedarf.

«Flexibilität» ist innerhalb der pädagogi-schen Reflexion so wenig ein neuer Begriff wie«Effizienz». Der langjährige Präsident der Har-vard University, Charles William Eliot, veröf-fentlichte 1909 einen Aufsatz unter dem Titel«Education for Efficiency», in welchem ergegenüber der kontinentaleuropäischen Tradi-tion Nutzensaspekte in den Mittelpunkt stell-te. Gleich zu Beginn hält er fest, dass dieserzentrale Gesichtspunkt nicht nur auf die Jugendbezogen werden sollte, sondern – ohne denBegriff des «lebenslangen Lernens» zu verwen-den – «until the powers of the mind and bodybegin with added years to decline».

Und John Dewey, einer der einflussreichstenErziehungsphilosophen des 20. Jahrhunderts,plädiert 1916 in «Democracy and Education»für «social efficiency» als Ziel der Erziehung ineiner Demokratie, die von Dewey als koopera-tive und durch Erfahrung und gegenseitigenAustausch lernende Form eines gemeinschaft-lichen Lebens gedeutet wurde.

Von der Geschichte lernen

Nach Max Webers berühmter These in «Dieprotestantische Ethik und der Geist des Kapi-talismus» (1904/05) stehen der nicht-lutheri-sche Protestantismus, der Kapitalismus und dieDemokratie in engem Zusammenhang. In derTat wurzeln Rousseau, Pestalozzi, Eliot sowieDewey in der calvinistischen beziehungsweisezwinglianischen Konfession. Ihre Überzeugun-gen waren geprägt von den politischen Prämis-sen des reformatorischen Republikanismus.Rousseau verbindet mit dem Ideal der grie-

58 DAS BUCH

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stiftung. Geschichte kann er-klären, weshalb das Heute soist, wie es ist und wie es hätteanders kommen können. Siekönnte also zu erklären ver-suchen, weshalb Afghanistanheute am Scheideweg steht.Diesen Anspruch an Orientie-rungshilfe erfüllt das Buch nurteilweise.

Afghanistans Entwicklungvor allem in der Zeit des Krie-ges gegen die Sowjetunion wirdzwar detailliert dargestellt,aber nur unzureichend erklärt.Viele Ereignisse, viele Datenund Namen, viele Akteure undStrategien sind aufgeführt,aber die Zusammenhänge feh-len.

Beispielsweise wird der Ein-marsch der sowjetischen Trup-pen strategisch fundiert undmit vielen Zitaten unterlegtbeschrieben. Auch die Schwä-chung der 40. Armee durchInfektionskrankheiten und dieArt der Verletzungen werdengenau ausgeführt. Doch sinddie Schilderungen nur wenig inden Kontext eingebettet undvor allem ohne Gegenwarts-

A fghanistan ist ein unüber-sichtliches und geschunde-

nes Land mit einer verschlun-genen Geschichte. Es ist des-halb begrüssenswert, wennunter der Ägide des Strategie-experten und Afghanistanken-ners Albert Stahel, Titularpro-fessor für politische Wissen-schaften an der UniversitätZürich, über ein solch schwie-riges und weitgehend unbe-kanntes Land ein 140-seitigesBuch publiziert wird, das einenÜberblick schaffen will. Leiderist das Vorhaben nicht ganz ge-glückt.

Das Buch ist in 13 kurzeKapitel unterteilt. Nach einersechsseitigen Einführung in dieGeschichte der letzten 250 Jah-re setzt das Buch zwei Schwer-punkte. Der erste liegt auf demKrieg gegen die Sowjetunionvon 1979 bis 1989. Detailreichwerden der politische Auftragan die sowjetische 40. Armee,ihr Einmarsch, ihre Kriegs-führung, ihre Taktik, ihre Sa-nitätslogistik, ihr Rückzug undihre Verluste ausgeführt, wieauch die Parteien, Komman-danten und die Kampftaktikdes afghanischen Widerstan-des sowie dessen Verluste undFlüchtlinge. Davon abgesetztbehandeln die letzten drei Ka-pitel den Aufstieg der Taliban,den Terrorismus und die Ge-genwart.

Fehlende Zusammenhänge

Schade ist, dass der Buchtitel«Afghanistan – ein Land amScheideweg» etwas anderesverspricht, als der Text bietet.Denn die vielleicht wichtigsteFunktion geschichtlicher Dar-stellungen ist Orientierungs-

Zurück in den Kalten KriegAfghanistan ist nach dem 11. September 2001 ins Zentrum des Medieninteres-ses gerückt, wie zuvor nur nach Erdbeben oder nach dem Einmarsch der Sowjet-truppen. Silvia Berger, Dieter Kläy und Albert A. Stahel rollen nun die Konflikte derletzten 20 Jahre auf.

bezug, der auch im Untertitel«Im Spiegel der aktuellen Er-eignisse» versprochen wird. Aneiner Wegscheide führen meh-rere Wege in die Zukunft, diemit Hilfe des Wissens über dieVergangenheit skizziert wer-den müssten.

Spannende Fragen

Diese Diskrepanz zwischen Ti-tel und Inhalt betrifft vor allemden ersten Teil des Buches. Dieerwähnten letzten drei Kapitelüber die Taliban, den Terro-rismus und die Gegenwart hel-fen viel besser zu verstehen,woAfghanistan heute steht. Diese40 Seiten hätten gut und gerneverdreifacht werden können,denn hier werden spannendeFragen gestellt, etwa nach derRolle der Nachbarstaaten undder multinationalen Erdölkon-zerne.

Gefragt wird auch nachder Zukunft des weltweit amstärksten verminten Agrarlan-des, das lange Zeit vom Geldaus dem Opiumanbau lebte.Gefragt wird nach derZukunfteiner traumatisierten Jugend,

die nur den Krieg kennt, nachden afghanischen Flüchtlin-gen, die in pakistanischen La-gern aufgewachsen sind, mitIdentitätsproblemen zu kämp-fen haben und auf der Suchenach ihren Wurzeln offen sindfür extreme Ideologien.

Kein Buch für Eilige

Die Publikation ist explizit fürein breites Publikum gedacht,richtet sich jedoch eher an einespezialisiertere, am Detail in-teressierte Leserschaft. Es wä-re deshalb vorteilhaft gewesen,das stilistisch sehr heterogeneBuch als Aufsatzsammlung zupräsentieren, denn als solchewäre es zielgerichtet lesbar.

Wer sich für Ahmad ShahMassud, den Löwen des Panj-shir, interessiert, findet in Ka-pitel 6 einen kurzen Überblicküber dessen Taktik, die sich anjene Mao Dsedongs anlehnte.Wer hingegen einen Überblicküber die ethnische Vielfaltmöchte, steuert auf Kapitel 5zu, wo auch die verschiede-nen Mujahedin-Parteien, diegegen die sowjetische Armeegekämpft haben, beschriebensind. Nicht zuletzt äussersthilfreich ist auch die Zusam-menstellung von Internet-adressen und Berichten huma-nitärer Organisationen in derBibliographie.

Berger, Kläy und Stahel ha-ben kein Buch für eilige Lesergeschrieben, sondern für sol-che, die gerne nochmals zurückin die Geschichte des KaltenKriegs schweifen und denKampf der Sowjets knapp unddennoch detailreich ausgeführthaben möchten.

Markus Binder

Silvia Berger,Dieter Kläy, Albert A. Stahel:Afghanistan – einLand am Scheide-weg. Im Spiegelder aktuellen Ereignisse, vdf Hochschulver-lag, Zürich 2002, 140 Seiten, 47 Franken.

59PORTRÄT

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Institute, welche Weiterbil-dungen anbieten möchten. DieKursinhalte sind Sache derInstitute. Die Arbeit der Fach-stelle beginnt mit der Beratungund endet mit der Kurseva-luation.

Auch eine Anschubfinan-zierung bietet die Weiterbil-dungskommission als Auftrag-geberin der Fachstelle. Burri:«Damit kann das Institut einenWissenschafter, eine Wissen-schafterin anstellen, welche einCurriculum verfassen und denKurs während der erstenDurchführung begleiten.» Denerwirtschafteten Ertrag könnendie Institute in Forschungsvor-haben reinvestieren.

Besondere Highlights imWeiterbildungsangebot sindfür Klaus Burri ein ExecutiveMBA-Kurs, den die UniversitätZürich zusammen mit derStanford University durch-führt, oder der Masterstudien-gang in Angewandter Ethikdes Ethik-Zentrums der Uni-versität. Selber mitinitiierthat er einen neuartigen Kursin Betriebswirtschaft für Geis-tes- und Naturwissenschaft-lerinnen und -wissenschaftlersowie einen Master-Studien-

Zuerst hat man das Gefühl,sich im Gebäude geirrt zu

haben. «Aufnahme» oder «Un-tersuchung» steht auf einigenTürschildern. Auch der langeKorridor erinnert an eine Kli-nik: Die Fachstelle für Weiter-bildung ist im ehemaligen Rot-kreuzspital untergebracht. Lei-ter der Stelle ist seit gut einemJahr Klaus Burri. Zuvor hatteder 54-jährige Historiker undErwachsenenbildner die Stif-tung Zentrum für Erwach-senenbildung der UniversitätBasel geführt.

Die Rückkehr an seine Zür-cher Erstausbildungsstätte hatBurri noch keinen Tag bereut:«Das Commitment des Rekto-rates und damit auch finanzi-elle Anreize für die Institutesind da.» Das ist wichtig, dennfür viele Institute bedeutet esnoch Neuland, Weiterbildungfür bereits berufstätige Akade-mikerinnen und Akademikeranzubieten. Den Auftrag dazuerhielt die Universität durch dieWeiterbildungsoffensive desBundes und das neue ZürcherUniversitätsgesetz.

Konkurenz schläft nicht

Lebenslanges Lernen lautet dieDevise. «Das tönt ein bisschennach Bestrafung», schmunzeltBurri. «Aber es ist schon so:Die Erstausbildung wird inZukunft früher einsetzen. DieLeute kommen jünger an dieUniversität und verlassen sienach kürzerer Studiendauer,ihr Wissen veraltet schneller.Um wettbewerbsfähig zu blei-ben, werden sie immer wiederauf Inputs angewiesen sein.»

Die Fachstelle versteht sichals Dienstleisterin für alle

Inputs für die BerufspraxisWissen entwertet sich durch neue Forschungsergebnisse. Die Fachstelle für Weiterbil-dung der Universität Zürich unter der Leitung von Klaus Burri sorgt dafür, dass die aktu-ellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse auch den Akademikerinnen und Akademikern inder Praxis zugute kommen. Das ist nicht immer ganz einfach.

gang Kulturwissenschaften amRomanischen Seminar.

Auch eine Marketingstudiegab der neue Stellenleiter inAuftrag, denn die Konkurrenzschläft nicht. Im Bereich derWirtschafts- und Sozialwissen-schaften sind auch die Fach-hochschulen rührige Mitbe-werber. Immer mehr Konkur-renz kommt auch aus demInternet.

Angesichts dieser Markt-situation findet es Klaus Burriwichtig, die Dozierenden stän-dig auf den Praxisbezug hinzu-weisen: «Die Teilnehmendensind Leute mit Berufserfahrungund sozialen Kompetenzen. Sieerwarten, ihre Erfahrung mitdem verbinden zu können,wasdie Dozierenden vortragen.»Stundenlange Monologe liegenda nicht drin.

Pionierarbeit leistet dieFachstelle auch in SachenRäumlichkeiten. Klaus Burrilegt eine Planskizze auf denTisch: In einem eleganten Neu-bau, nur wenige Gehminutenvom Bahnhof Oerlikon ent-fernt, stehen ab 2003 weiter-bildungsgerechte Plenumssäleund Gruppenräume zur Ver-fügung.

Zu bezahlen haben dieseuniversitären Weiterbildungendie Teilnehmenden selber – einPrinzip, das dort angebrachtsei, wo die Kurse karriereför-dernd wirken, findet KlausBurri. Doch im Sozial- oderUmweltsektor, wo hauptsäch-lich die Allgemeinheit profi-tiere, müsste sich der Staatfinanziell stärker engagieren:«Weiterbildung fördert nach-haltiges Wirtschaftswachstumund ist ein wichtiger Standort-vorteil.»

Vielfältige Bildungsgänge

Klaus Burri ist ein aufmerksa-mer Zuhörer. Er lebt mit seinerFrau in Basel. Dorthin zog ervor 27 Jahren, weil ihm die of-fene, dialogfähige und liberaleKultur am Oberrhein gefiel. In-zwischen hat das Paar einengrossen Freundeskreis. Wich-tig sind ihm auch die Paten-kinder. Dabei fällt Klaus Burriauf, wie vielfältig die heutigenBildungsgänge seien: «Es istkeine Katastrophe mehr, wennein Kind die Matura nichtmacht.»

Natürlich ist Burri auchLeser. Im Moment widmet ersich der Lektüre des «Tschudi-Vademecums» von BernhardStettler, einem Buch über Ri-tuale in Beziehungen und ei-nem Krimi im englischen His-torikermilieu. Seine Zukunfts-vision indes ist beruflicherNatur: «Dass die UniversitätZürich in fünf Jahren auf demIrchel ein Weiterbildungszen-trum besitzt.» Ein so gross-zügiges und lichtdurchflutetesetwa wie jenes der UniversitätSt.Gallen.

Paula Lanfranconi

Der Historikerund Erwachse-nenbildner KlausBurri leitet seitgut einem Jahrdie FachstelleWeiterbildung derUniversitätZürich.

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Sonntagmorgen, kurz nach 11Uhr. Ein Grüppchen wartet

vordem Völkerkundemuseum. Diemeisten sind allein gekommen, auf-fallend viele Frauen. Endlich gibtes Einlass. Nun warten sie wieder– auf Regula Demuth, die durch dieAusstellung mit dem wohlklingen-den Titel: «Luxus der Kulturen»führen wird. Da kommt sie, im kur-zen Rock und mit langen blondenHaaren, ein paar Notizzettel in derHand, und beginnt.

Im Lichthof der Universität istRegula Demuth eine unter vielen.Wie immer um die Mittagszeitdrängen die Studierenden zu denwenigen Plätzen. «Ausschlafen istmein Luxus», sagt die 32-jährigeStudentin und setzt sich.Verständ-lich, als Mutter von Zwillingen,die – immerhin – «termingerecht»in den ersten Semesterferien aufdie Welt gekommen sind. Seit achtSemestern studiert sie Pädagogikund im Nebenfach Ethnologie –ihr wahres Steckenpferd. Dochman habe es ihr ausgeredet: «Da-mit kannst du sowieso nichtsanfangen», hat es geheissen. Jetzt,nach der Arbeit im Museum, istRegula Demuth überzeugt: «Ge-rade hier gibt es Möglichkeiten.»

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Arbeitsort MuseumHat im Völkerkundemuseumwertvolle Erfahrungengesammelt: dieStudentin undMuseumsführerinRegula Demuth.

«Luxus ist für mich, mitten amNachmittag eine Stunde spazierengehen zu können», steht am Ein-gang zur Ausstellung. Regula De-muth beginnt die Führung. Sie er-klärt, dass die Ausstellung im drei-semestrigen Kurs «Museologie» ander Universität Zürich entstandenist; die Ethnologiestudenten sollteneine Ausstellung gestalten. Demuthführt ihre Gruppe zur Hochzeits-torte von Sprüngli, einem der elfausgestellten Luxusobjekte. «DasThema Luxus war schwierig, dennLuxusbegriffe können sich än-dern», sagt sie. «Zucker zum Bei-spiel war im Mittelalter ein ex-klusives Gewürz, heute ist es für1 Franken 50 in jeder Migros zukaufen.»

Zudem sei Luxus im Westennicht dasselbe wie im Osten. EinObjekt – weder aus teurem Mate-rial noch durch eine zeitaufwändi-ge Verarbeitung entstanden – kön-ne wegen seinem Prestige zum Lu-xusobjekt werden. «Diese india-nische Maske zum Beispiel darfnur das künftige Dorfoberhaupttragen.»Vor dem Flakon aus Kris-tall staunen dann alle: Für einenTropfen Parfum mussten 170 Blü-tenköpfe ausgepresst werden; die

Von derArchäologie biszur Zoologie: Das Angebot derMuseen der Uni-versität Zürichist sehr vielfältig. Vielseitig sindauch die Aufga-ben und Arbeits-umfelder, die sieihren Mitarbeite-rinnen und Mit-arbeitern bieten.Drei Porträts.

Die Museumsführerin

Flasche kostet über 60000 Fran-ken.Viel Geld im Vergleich zu den150 Franken, die Regula Demuthals Guide pro Führung verdient.

Noch heute staunt sie, was fürSchätze in den Hinterzimmern desMuseums zuTage gekommen sind.Zum Beispiel eine tibetanischeJacke aus Brokat, einem teurenSeidenstoff, die Ärmel überlang,weil nicht für arbeitende Händegedacht. Aber auch aus Privat-sammlungen konnten die Studen-tinnen prächtige Objekte zusam-mentragen, einen Fliegenwedelaus Ghana zum Beispiel – holzge-schnitzt, mit einer Goldfolie undeinem Antilopenschweif. GenugStoff für Regula Demuth: Sie wirdihre Lizenziatsarbeit in der Ethno-logie schreiben. Manuela Moser

Völkerkundemuseum, Pelikanstrasse 40, 8001 Zürich

Öffnungszeiten: Di –Fr 10 bis 13h und 14 bis 17h, Sa 14 bis 17h,So 11 bis 17h.

Aktuelle Sonderausstellungen:«Rosebud-Sioux. Lebensbilder einerReservation» bis 1. Dezember 2002, «Der Mond als Schuh. Zeichnungender San» bis 5. Januar 2003, «In den Strassen von Shanghai. Chinesisches und westliches Lebenin Fotografien (1910–1930)» bis 30. März 2003.

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Nach ihrem typischen Tag ge-fragt, zuckt Elena Mango mit

den Schultern: «Es gibt ihn nicht.»Beginnt sie aufzuzählen, für was sieals Konservatorin der Archäolo-gischen Sammlung alles zuständigist, wird klar, warum. Einerseits be-treut sie die Praktika von Studie-renden, doziert an der Universität,redigiert wissenschaftliche Artikel,betreibt eigene Forschung. Auf derandern Seite ist die promovierteArchäologin verantwortlich fürdas Museum: sie sichtet geeigneteObjekte, erarbeitet Leihverträgefür Sonderausstellungen, leitet dieWerbung, macht die Prospekteund führt das Publikum durch dieRäume.

Sie lacht und sinniert: «Ich binKonservatorin und wissenschaft-liche Mitarbeiterin. Aber eigentlichbin ich auch Museumspädagogin,Ausstellungsleiterin und Werbe-managerin.» Ganz zu Schweigenvon der «unsichtbaren» Arbeit:dem taktvollen Umgehen mit Pri-vatsammlern, dem Ausschöpfenvon gemeinnützigen Fonds, über-haupt: das Aufspüren von Gön-nern – alles wichtige Arbeiten, diedas Überleben des Museums mit-bestimmen.

Konservator – Kurator oderKustos in Deutschland und Öster-reich – ist der vielleicht auffälligsteMuseumsberuf der Gegenwart.Denn, er hat sich am stärksten ver-ändert. Heute sind Konservatorenspezialisierte Museumsmacher.Manager, die wissen, wie und wasGeld einbringt. Dabei rückt diewissenschaftlich korrekte Kunst-vermittlung in den Hintergrund.Elena Mango ist froh, dass sichdie universitären Museen andersverhalten dürfen. Doch auch dieRolle der Universität hat sichverändert. «Wir müssen heuterechtfertigen, wofür wir das Geldbrauchen», sagt sie. So ist die Pro-fessionalisierung zu einem Haupt-thema auf Symposien mit andernSchweizer Universitätsmuseen ge-worden. «Lehre und Forschunggegen innen, ein Schaufenstergegen aussen» – so bringt ElenaMango ihre Vorstellung eines ge-sunden Museums auf den Punkt.

Sonderausstellungen sind fürdie Konservatorin eine Möglich-keit, diese Vorstellung umzusetzen.Und mit der Ausstellung «Volti diMarmo», die bis Ende Septemberzu sehen war, ist dies Elena Mangoauch gelungen. Gezeigt wurden –

erstmals ausserhalb Italiens –22 Marmorbüsten aus dem floren-tinischen Palazzo Medici Riccardi.Ergänzt wurden sie durch zehnBüsten aus der Zürcher Sammlung.«Man kann vergleichen undQuerverbindungen herstellen – ichübernehme eine Ausstellung nie,ohne etwas anzuhängen», erklärtMango.

Zusammen mit den Architek-tinnen Mireille Turin und UrsulaTobler hat Elena Mango aus demschmalen Raum das Beste heraus-geholt: Die Büsten wurden nichtwie einzelne Zahnstocher aufSockeln platziert, sondern konntenauf Augenhöhe von allen Seitenbetrachtet werden. Das Geschwürhinter dem linken Ohr des altenMannes, die falsche Frisur desPriesters – nichts blieb dem inte-ressierten Beobachter verborgen.

Manuela Moser

Sorgt in derArchäologischenSammlungfür spannendeAusstellungen: die Archäologinund Konservato-rin Elena Mango.

Die Konservatorin

Archäologische Sammlung, Rämistrasse 73, 8006 Zürich

Öffnungszeiten: Di–Fr 13 bis 18h, Sa/So 11 bis 17h.

Nächste Sonderausstellung: «Tabula Rasa. Holzgegenstände aus den römischenSiedlungen von Vitudurum und Tasgetium», 12. November 2002 bis 9. Februar 2003.

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portionen überhaupt nicht mehrstimmen.» Es ging trotzdem; derfertige Modellkörper aus Styroporsieht jedenfalls formecht aus.

«Ein Präparat muss aussehenwie das Original», sind sich diebeiden Experten einig. Dass dieOriginale schöner seien, verneintHäusler: «Nur an Modellen kanndie Struktur eines Schwanzes stu-diert werden. Und nur bei einemPräparat wird wirklich deutlich,wie einzigartig ein Specht steht –zwei Krallen nach vorne, zweinach hinten gerichtet.» Der Vogelmit den Druckknopfaugen hat fürdie Betrachterin etwas Morbides,nicht aber für die Präparatoren. Beiihnen überwiegt das Interesse amObjekt. Eine Faszination, die auchvor den Ferien nicht halt macht:Für die Aufbewahrung von Zu-fallsfunden ist die notwendigeAusrüstung immer mit im Reise-gepäck. Manuela Moser

lich-dokumentarischen Wert. So,wie der grösste Teil der Sammlungdes Zoologischen Museums.

Beat Häusler ist der zweitePräparator, der im ZoologischenMuseum arbeitet; besser gesagt:handwerkt und modelliert. Diebeiden Männer teilen sich drei Ar-beitsräume im Untergeschoss desMuseums – ein Büro, eine Werk-statt zum Sägen und Fräsen und einMazerierraum, der mit seinenWannen und Wasserschläucheneher an eine Molkerei als an einenArbeitsraum im Museum erinnert.«Hier werden die grossen Tier-schädel entfleischt, abgespritzt undgewässert» sagt Häusler; in derEcke stehen die gelben Gummi-stiefel schon bereit.

Aber momentan arbeitet Häus-ler in der Werkstatt an einem See-otterpräparat; es soll in der per-manenten Ausstellung gezeigtwerden. Das Zoologische Museumzeigt Tiere, die nicht oder nochnicht lange ausgestorben sind. Ei-ne Ausnahme ist das Riesenfaultierbeim Eingang – ein Vertreter einerGattung, die es bereits seit der Eis-zeit nicht mehr gibt. Seine monate-lange Rekonstruktion ist HäuslersWerk. Aber auch der viel kleinereOtter macht ihm genug Arbeit,denn er bekam nur das Fell undnicht das ganze Tier. «Durch dasTrocknen hat sich das Fell derartin die Länge gezogen, dass die Pro-

Dominik Steinmann öffnet diehohe Kühlschranktür und

sagt: «Hier muss man vorwärts ma-chen.» Der Blick fällt auf den steifgereckten Hals einer Schildkröte,dann auf einen Stapel massigerPakete. In diesen sind tote Tiereaus dem Zürcher Zoo. Ein Schnee-leopard, ein Bär, ein Krokodil –sie alle landeten im Gefrierfachdes Zoologischen Museums. Es istnun die Arbeit des Präparators,ihre Körper zu entfleischen und zubearbeiten.

Doch vorerst wartet ein ande-res Projekt auf Steinmann: Hun-dert äthiopische Mäuse, die schonseit sieben Jahren tot sind. Wild-biologen des Instituts brachten sievon einer Expedition mit nachHause. Steinmann fasst Maus umMaus mit einer Pinzette, dreht sieauf den Rücken, schaut ihre flecki-gen Felle an und legt sie dann, nachZähnen geordnet, zurück in dieAlkoholgläser. «Die Mäuse sind zueng gelagert worden», ärgert ersich. Doch aus Respekt den getö-teten Tieren gegenüber will er nundas Beste daraus machen.

Das heisst: Die Felle trocknen,gerben, auf Kartonstreifen auf-spannen und nummeriert derwissenschaftlichen Aufbewahrungübergeben. Besucherinnen undBesucher des Museums werden sienie zu Gesicht bekommen; dieseArbeit hat einen rein wissenschaft-

Bild links: «Ein Präparatmuss aussehenwie das Original»:Beat Häusler beider Herstellungeines Seeotter-modells.

Bild rechts: Mitbringsel einerAfrika-Expedition:PräparatorDominik Stein-mann sichtetMäuse aus Äthio-pien.

Die Präparatoren

Zoologisches Museum, Karl Schmid-Strasse 4, 8006 Zürich

Öffnungszeiten: Di –Fr 9 bis 17 h, Sa/So 10 bis 16Uhr.

Aktuelle Sonderausstellung: «Haie – gejagte Jäger» bis 5. Januar 2003.

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xiblen Arbeitszeiten. Überstundenwerden sowieso erwartet.

Da ist mir der Performance-Spe-zialist schon lieber. Das Anforde-rungsprofil dieses Inserats könntemir glatt entsprechen, bin ich dochauch eine Theaterhäsin mit einigenJahren Performanceerfahrung. Ein«Flair für Zahlen» wird gewünscht.Voilà, das ist bei mir relativ gutausgeprägt – nach all den Defizit-berechnungen. Bei der Aufgaben-liste wird es aber etwas schwieri-ger: Hauptsächlich soll ich Per-formance Reports erstellen undweiterentwickeln. Na gut, bei denandern rumschnüffeln, wie sieihren Auftritt vorbereiten, dürfte janicht so schwierig sein, und beimRapportieren kommt mir dannmeine Eigenschaft als Papiertigerwieder zugute.

«Sie unterstützen das Head Per-formance in allen fachlichen undadministrativen Belangen», heisst

E s ist nicht so, dass ich einenneuen Job suche. Papiertiger

bleibt Papiertiger. Aber manchmal,wenn ich wild und hungrig bin –meistens gegen Monatsende –treibts mich raus auf die freie Lauf-bahn. Zur präventiven Umorien-tierung gewissermassen. Dannblättere ich den Stellenanzeigerdurch und schaue, ob vielleicht et-was Passendes für mich zu findenwäre. Da tut sich mir dann jeweilsdas rätselhafte, rosarote Reich derAlphatiere auf.

Zugegeben, auch mein Beruf istein bisschen exotisch. Die ausge-schriebenen Jobs aber, die scheinenaus einer noch viel bizarreren Weltzu stammen. Headhunter werdenda gesucht, ein Performance-Spe-zialist, eine Expertin für die Hu-man Resources, jemand, der einProfitcenter leitet, und eine Abtei-lungsleiterin Leistung. Ich fühlemich nur halbwegs angesprochen.

Im Reich der Alphatiere

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Lieber würde ich eine Abteilung Erfüllung leiten oder bei-spielsweise eine Abteilung Tat, am liebsten aber die AbteilungStreich. Jeder, der sich wieder mal einen Streich geleistet hat,würde ich mit Lunchchecks belohnen. Ich müsste schauen,dass immer genug Streiche gespielt werden, und würde ne-benbei anstiftende Bemerkungen fallen lassen. «Bemerkens-wert, dass die Harddisk so langlebig ist», «Schön, dass dieLöhne so zuverlässig ausbezahlt werden», «Netter neuer Mit-arbeiter» oder auch einfach «Ach, da steht ja gar kein Salz ne-ben der Kaffeemaschine». Wer zu wenig Streiche vorweist,dem werden die Lunchchecks gestrichen.

Vielleicht müsste ich mich aber auch für die Human Re-sources melden. Möglicherweise gehöre ich zu den besondersnachhaltigen Ressourcen. Mein Dow Jones steigt und fälltzwar je nach Tagesverfassung, wenn ich aber mal besondershungrig bin, wächst mein Index in viel versprechenden Kur-ven. Dann wird nämlich ordentlich konsumiert (beim Essenknausere ich nicht) und alles gleich angelegt. Etwa auf Hüft-höhe bleibts dann auch liegen und will nicht mehr weg. Einesichere Anlage mit wenig Risiko.

Ein Headhunter aber will ich nie werden, das klingt mirzu anstrengend. Zuerst wird man mit rohem Fleisch scharfgemacht (das würde bei mir nicht funktionieren, ich mag keinTartar), und dann müsste man immerzu durch die Stadt he-cheln. Ich stelle mir vor, wie man tagein, tagaus Köpfe vonsiegreichen Damen mit Föhnfrisuren und erfolgsverwöhntenHerren mit Brillantine-Haar jagen und sie dann wie Trophäendem Chef auf den Tisch legen müsste. Und das alles bei fle-

es weiter im Inseratetext. Ganz klar, die Hauptrolle brauchtBestätigung. Dann werde ich eben den Szenenapplaus initi-ieren, wenn der Chef wieder einmal seinen grossen Monologhält. Die Koordination mit den internen Stellen ist auch keinProblem: Licht, Technik, Ton werden zum richtigen Zeitpunktzum Einsatz kommen. Und wenn mal ein Satz vergessen gehtund die Souffleuse gerade ein Nickerchen macht, könnte ichden Part übernehmen. (Ich mach das dann von der Bezahlungabhängig.)

Weiter fordert das Inserat für meinen Geschmack schonunverschämt «First-Level-Support für die Portfolio-Mana-ger». Da könnte es Schwierigkeit geben. Auf der Anfänger-stufe, ja da war ich auch mal. Und Support kann man immergebrauchen. Beim Portfolio aber muss ich die Sparte wech-seln. Genau genommen gehört so was nicht auf die Bühne,auch wenn es im Hintergrund natürlich sehr brauchbar ist.Vielleicht entspricht das Inserat ja doch nicht ganz meinemProfil. Auch wenn der Mann, der so chic aus dem Fotobalkenschaut, aussieht wie ein veritabler Theaterhase. Ein mittel-mässiger zwar – aber immerhin.

Ob auch ich ein Alphatier bin, kann ich nach der Lektüredes Stellenanzeigers letztlich nicht sagen. Vielleicht eher einanimal with leadership. Sicher aber ein theatre performer, einwrite creater, computer’s ghost, vielleicht auch eine Presse-stute, eine Federfüchsin oder eine Tintenspionin. Ganz sicheraber auch eine Spezialistin. Ein Papiertiger halt.

Simona RyserSimona Ryser ist Autorin und Sängerin.


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