+ All Categories
Home > Documents > Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf ·...

Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf ·...

Date post: 18-Oct-2020
Category:
Upload: others
View: 1 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
10
Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span- nung auf Chaplins außerhalb Deutschlands hoch gelobte Filme. Chaplins nach wie vor noch zeitlich ungewisser Auſtritt in den deutschen Licht- spielhäusern wurde aber kontinuierlich vorbereitet auch durch die Wertschätzung von Künstlern, die ihm 1920 ihre Bewunderung öffentlich ausdrückten. Das war freilich keine deutsche Besonderheit, sondern ein Mosaikstein in der internationalen Bewunderung Chaplins, die ihn im Laufe seiner Karriere wiederum mit einer illustren Schar berühmter Künstler quer durch die Literatur- und Geistesgeschichte verglichen hatte: mit Aristophanes, Honoré de Balzac, Miguel des Cervantes, Honoré Daumier, Charles Dickens, Fedor M. Dostojewski, Michel Eyquem de Montaigne, Anatole France, Maxim Gorki, omas Hardy, Homer, Rudyard Kipling, Molière, François Rabelais, Marquis de Sade, William Shakespeare, Jonathan Swiſt, Anton Tsche- chow, François Villon, Voltaire und Antoine Watteau. Oder war Chaplins Tramp auch der direkte Nachfahre der Bühnenfigur Pierrot des französischen Pantomi- men Jean-Gaspard Deburau? 1 Die meisten Vergleiche mögen bemüht wirken, aber an Molière, Shakespeare und Dickens lässt sich schon denken. Das näher hier zu untersuchen, würde allerdings den Rahmen der deutschen Chaplin-Rezeption überschreiten. Den literarischen Anfang der Chaplin-Bewunderung in Deutschland dürſte der deutsch-französische Dichter Iwan Goll [Isaac Lang] (Abb. 19) im Februar 1920 mit seinem Aufsatz «Apologie des Charlot» in der Zeitschriſt Die neue Schaubühne gemacht ha- ben. 2 Für Goll war Chaplin nichts weniger als ein Phi- losoph, und er konnte seine Einschätzung im Gegen- satz zu vielen anderen auf eine solide Basis stellen: Er kannte Chaplin-Filme aus Paris. Um die Zeit, in der Goll seine «Apologie des Charlot» verfasst hatte, lie- fen Chaplin-Filme in nicht weniger als 35 Kinos der französischen Hauptstadt. Goll rief den Men- schen der Nachkriegs- zeit zu, es nütze ihnen nichts, den Krieg zu verdammen, um wieder ein Gleichgewicht zu er- langen; denn der Krieg verdiene nicht mehr als ignoriert zu werden. Für das, was den Menschen helfen könne, hatte Goll ein Rezept: «[…W]as der ganzen Ge- neration unseres Zer- falls fehlt, was sie allein retten könnte – ist […] ein Narr, der euch lachen macht. Einer der es fertig bräch- te, über Europa ein schallendes Meer von Lachen zu wälzen.» Den Narren hatte Goll ebenfalls parat: «[…] Charlot, der dir von allen Kinowänden, von allen Giebeln, Säulen und Neubaulatten entgegengrinst, in der dümmsten Pose der Welt. Die Füße so platt und stumpf wie zwei Bügeleisen, der Schnurrbart friseur- haſt-lechzend-himmelrein und eine so grundgütige geistreiche Nase wie man sie dem Papst wünschen möchte […] Er lächelt und grinst. […] Um Gotteswillen, was soll man denn sonst tun als grin- sen! Er ist der größte Philosoph um 1920, zweifellos. Seine Weltanschauung baut nicht auf den Kartonku- lissen auf, die uns heute noch tragen – Banken, Paläs- te, Dancings – morgen in Schutt zerstieben, sondern sie baut auf dem Nichts auf , das morgen sein wird. Das ist in der Tat reeller. […] Charlot ist der beste Mensch unserer Zeit. Er grinst überhaupt nicht. Er stirbt vor lachender Verzweif- lung.» Die «Apologie des Charlot» kam nicht von ungefähr. Goll hatte Chaplin nämlich bereits 1919 in Paris Le Chapliniade ou Charlot poète [«Die Chapliniade oder Charlot als Dichter»] gewidmet, die 1920 auch in Deutsch erschien, im Dresdner Verlag Rudolf Kaem- 1 Siehe dazu: Lyons, a.a.O., S. 7, 93 [Nr. 201], 101 [Nr. 286], 106 [Nr. 334], 109 [Nr. 373]. 2 Die Neue Schaubühne Nr. 2, Februar 1920, S. 31–33: Apolo- gie des Charlot, von Iwan Goll [Isaac Lang].
Transcript
Page 1: Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf · Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span-nung auf Chaplins

Chaplin, der Philosoph | 55

Eingeweihte warteten also mit wachsender Span-

nung auf Chaplins außerhalb Deutschlands

hoch gelobte Filme. Chaplins nach wie vor noch

zeitlich ungewisser Auftritt in den deutschen Licht-

spielhäusern wurde aber kontinuierlich vorbereitet

auch durch die Wertschätzung von Künstlern, die ihm

1920 ihre Bewunderung öffentlich ausdrückten. Das

war freilich keine deutsche Besonderheit, sondern

ein Mosaikstein in der internationalen Bewunderung

Chaplins, die ihn im Laufe seiner Karriere wiederum

mit einer illustren Schar berühmter Künstler quer

durch die Literatur- und Geistesgeschichte verglichen

hatte: mit Aristophanes, Honoré de Balzac, Miguel des

Cervantes, Honoré Daumier, Charles Dickens, Fedor M.

Dostojewski, Michel Eyquem de Montaigne, Anatole

France, Maxim Gorki, Thomas Hardy, Homer, Rudyard

Kipling, Molière, François Rabelais, Marquis de Sade,

William Shakespeare, Jonathan Swift, Anton Tsche-

chow, François Villon, Voltaire und Antoine Watteau.

Oder war Chaplins Tramp auch der direkte Nachfahre

der Bühnenfigur Pierrot des französischen Pantomi-

men Jean-Gaspard Deburau?1 Die meisten Vergleiche

mögen bemüht wirken, aber an Molière, Shakespeare

und Dickens lässt sich schon denken. Das näher hier

zu untersuchen, würde allerdings den Rahmen der

deutschen Chaplin-Rezeption überschreiten.

Den literarischen Anfang der Chaplin-Bewunderung

in Deutschland dürfte der deutsch-französische

Dichter Iwan Goll [Isaac Lang] (Abb. 19) im Februar

1920 mit seinem Aufsatz «Apologie des Charlot» in

der Zeitschrift Die neue Schaubühne gemacht ha-

ben.2 Für Goll war Chaplin nichts weniger als ein Phi-

losoph, und er konnte seine Einschätzung im Gegen-

satz zu vielen anderen auf eine solide Basis stellen:

Er kannte Chaplin-Filme aus Paris. Um die Zeit, in der

Goll seine «Apologie des Charlot» verfasst hatte, lie-

fen Chaplin-Filme in nicht weniger als 35 Kinos der

französischen Hauptstadt.

Goll rief den Men-

schen der Nachkriegs-

zeit zu, es nütze ihnen

nichts, den Krieg zu

verdammen, um wieder

ein Gleichgewicht zu er-

langen; denn der Krieg

verdiene nicht mehr als

ignoriert zu werden. Für

das, was den Menschen

helfen könne, hatte Goll

ein Rezept:

«[…W]as der ganzen Ge-

ne ration unseres Zer-

falls fehlt, was sie allein retten könnte  – ist […] ein

Narr, der euch lachen macht. Einer der es fertig bräch-

te, über Europa ein schallendes Meer von Lachen zu

wälzen.»

Den Narren hatte Goll ebenfalls parat:

«[…] Charlot, der dir von allen Kinowänden, von allen

Giebeln, Säulen und Neubaulatten entgegengrinst, in

der dümmsten Pose der Welt. Die Füße so platt und

stumpf wie zwei Bügeleisen, der Schnurrbart friseur-

haft-lechzend-himmelrein und eine so grundgütige

geistreiche Nase wie man sie dem Papst wünschen

möchte […] Er lächelt und grinst. […]

Um Gotteswillen, was soll man denn sonst tun als grin-

sen! Er ist der größte Philosoph um 1920, zweifellos.

Seine Weltanschauung baut nicht auf den Kartonku-

lissen auf, die uns heute noch tragen – Banken, Paläs-

te, Dancings – morgen in Schutt zerstieben, sondern

sie baut auf dem Nichts auf , das morgen sein wird.

Das ist in der Tat reeller. […]

Charlot ist der beste Mensch unserer Zeit. Er grinst

überhaupt nicht. Er stirbt vor lachender Verzweif-

lung.»

Die «Apologie des Charlot» kam nicht von ungefähr.

Goll hatte Chaplin nämlich bereits 1919 in Paris Le

Chapliniade ou Charlot poète [«Die Chapliniade oder

Charlot als Dichter»] gewidmet, die 1920 auch in

Deutsch erschien, im Dresdner Verlag Rudolf Kaem-

1 Siehe dazu: Lyons, a.a.O., S. 7, 93 [Nr. 201], 101 [Nr. 286], 106

[Nr. 334], 109 [Nr. 373].

2 Die Neue Schaubühne Nr. 2, Februar 1920, S. 31–33: Apolo-

gie des Charlot, von Iwan Goll [Isaac Lang].

Page 2: Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf · Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span-nung auf Chaplins

56 | 4 1920 – Künstler und Intellektuelle rufen nach Chaplin

merer. Schon der Titel dieses ersten Chaplin-Buches

in Deutschland ließ erahnen, dass ein besonderes

künstlerisches Erlebnis auf den Leser wartete: Klei-

nes Kino der Menschlichkeit. Die Chapliniade. Film-

dichtung von Iwan Goll (Abb.  20),3 mit vier kubisti-

schen Zeichnungen des Tramps vom französischen

Maler Fernand Léger (Abb. 21). Tatsächlich hatte Goll

so etwas wie ein Drehbuch verfasst, in dessen Zent-

rum Charlie steht, von Goll, wie in Frankreich üblich,

Charlot genannt. Obwohl Charlot zunächst nur das

lächelnde Bild auf einem von vielen Plakaten ist, mit

dem für seine Filme geworben wird, erwacht das Pa-

pier sehr bald zum Leben. Er steigt aus dem Plakat he-

raus und bekommt erst einmal eine kräftige Ohrfeige

von dem Plakatkleber, weil er dessen Arbeit zunichte

gemacht hat. Charlots Rechtfertigung, er könne die

Menschen nicht immer nur als ein Stück Plakatpa-

pier trösten, nützt dem Plakatkleber herzlich wenig.

Von guten Worten allein kann er seine elf Kinder nicht

ernähren, also muss er seine Arbeit schon ordentlich

erledigen. Und er hält Charlot vor, gut reden zu haben:

«Wer fünf Millionen im Jahr verdient, kann leicht wei-

se sein! Im Übrigen bin ich Buddhist: Nu, was soll ein

richtiger Europäer heut sonst sein!» Das hindert den

von seiner Plakat-Verklebung befreiten Charlot aber

nicht, ein reges, buntes Eigenleben zu entfalten. Er

reist durch die Welt als Dichter, Gelegenheitsdieb  –

und als Revolutionär, den die Menschen anflehen:

«Bring den Kommunismus der Seele». Ganz an Erfolg

gewöhnt, der sich auch in klingender Münze auszahlt,

fragt Charlot die Hoffnungsfrohen: «Und die Millio-

neneinnahme?» Sein Streifzug durch die Welt trägt

ihm aber auch den Tod seiner Gefährtin ein, die ihn in

der Gestalt eines Rehs begleitet hatte und von einem

Jäger erlegt wird. Charlots poetischer Ausflug endet

schließlich im Kreise vieler Charlot-Plakate wieder an

der Litfasssäule, an die ihn der Plakatkleber kleistert.

In seiner Besprechung von Golls Buch schrieb

der angesehene Schriftsteller und Journalist Kurt

Pinthus in der linksdemokratischen Wochenschrift

Tage-Buch im Juni 1921:4

«[…] Das Buch ist ein Witz, eine Satire, eine eminent

ernste Angelegenheit. […] Das Grinsen, mit dem [Chap-

lin] Millionen entzückt, ist hinter der Maske eine na-

menlose Trauer. Die ganze Welt lacht, feixt, boxt sich

in die Rippen: ‹Doch, ich bin traurig wie jeder Pro-

phet›. (sagt Chaplin).

Die furchtbare Tragik des Grinsenmüssens taumelt auf

der weißen Wand. Dichtung? Aus den Flimmerbildern

3 Iwan Goll, Kleines Kino der Menschlichkeit. Die Chaplinia-

de, Verlag Rudolf Kaemmerer, Dresden 1920.  – Der Titel

auf dem Vorsatz lautet hingegen: Die Chapliniade. Eine Ki-

nodichtung.

4 Das Tage-Buch Nr. 22 vom 4. Juni 1921, S. 701: Iwan Goll:

Die Chapliniade, von P. [Kurt Pinthus].

Page 3: Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf · Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span-nung auf Chaplins

Dada und zwei Porträts | 57

heult das Elend der Ekel vor dem eigenen Gesicht. Goll

kam dem Kurbelkasten mit Ethik. […]»

Und über Chaplin führte Pinthus aus:

«Was von Chaplin über das große Wasser gekommen

ist, verläuft im Sandkasten der Politik und den Salz-

seen der kommunistisch-reaktionären Kindereien.

Das ist ewig schade. Chaplin ist der bestbezahlte

Filmkomiker, die enormste Größe Amerikas, Chaplin

massiert das Bauchfell hunderttausend dekadenter

Milliardärssöhne und ebensolcher Töchter, alter Jung-

fern, abgearbeiteter Männer, stiernackiger Negerboxer

und trübsinniger Selbstmordkandidaten durch Figur,

Geste, Gesicht, Ehegeschichten. Er bringt alle zu einem

erschütternden Lachen. Amerika versinkt, wenn Chap-

lin an der Flimmerwand hüpft, für einige Stunden von

Frisko bis New York in brüllende Vergessenheit.

Chaplin grinst – Amerika grinst.

Dada hat ihn als geistigsten Clown reklamiert.»

Dada ist die radikale Kunstrichtung, die 1916 in Zü-

rich ins Leben gerufen wurde und sich die Ablehnung

jeglicher Autorität, der herkömmlichen Kunst und der

bürgerlichen Vorstellungen auf die Fahnen schrieb.

Konsequent weigerten sich die Dadaisten festzulegen,

was stilistisch unter Dada zu verstehen sei. Aktionen

auf allen Gebieten der Kunst sollten mit beliebigen

künstlerischen Ausdrucksmitteln dem Zufall überlas-

sen bleiben und ausschließlich individualistisch sein.

Als Pinthus Chaplin und Dada miteinander ver-

knüpfte, war die Nähe des Dadaismus zu Chaplin

bereits offenbar. 1919 legte der Dadaist Johannes

Baader als Gutenberggedenkblatt seine Collage Eh-

renporträt von Charlie Chaplin aus Zeitungsaus-

schnitten, Wortfetzen, einzelnen Buchstaben und

Zahlen mit einem Foto von Baader selbst und dem

Begriff Oberdada vor. Gegenständliches über Chap-

lin ist darauf nach herkömmlichen Maßstäben nicht

zu erkennen.5 Ebenfalls 1919 widmete George Grosz

Chaplin die Zeichnung Selbstporträt, die in kleiner

Auflage 1921 veröffentlicht wurde, ein Metropolen-

Getümmel jenseits der nach außen getragenen bür-

gerlichen Moralvorstellungen, mit einem düster

dreinblickenden Grosz beim Zeichnen.6

Im April 1920 reagierte die Berliner Dada-Company

in der kurzlebigen Zeitschrift Der Dada auf das Aus-

bleiben von Chaplin-Filmen in Deutschland (Abb. 22):7

«Die internationale Dada-Company, Berlin sendet

Charlie Chaplin,

dem größten Künstler der Welt und großen Dada-

isten, Sympathiegrüße. Wir protestieren gegen die

Ausschließung der Chaplin-Films in Deutschland.»

Unterzeichner waren unter anderem der Maler Geor-

ge Grosz, der Fotomonteur John Heartfield, dessen

Bruder Wieland Herzfelde (Inhaber des Malik-Verla-

ges), der Schriftsteller Richard Huelsenbeck und der

Theatermann Erwin Piscator.

Da Chaplin-Filme in der Weimarer Republik nicht

speziell ausgeschlossen waren, hatte die Dada-Com-

pany sehr wahrscheinlich die juristische Lage des

Imports ausländischer Filme nicht gekannt und war

deswegen zu einer unzutreffenden Schlussfolgerung

gelangt. Wie auch immer: Im Mai 1920 schrieb der

niederländische Zeichner Paul Citroen aus Amster-

dam an Huelsenbeck, den Herausgeber des Dada

Almanachs, dass er «eifrig alle Chaplin-Filme» besu-

che – aber eben in den Niederlanden. Das war aber

nicht alles. Denn Citroen steuerte eine der vielen

eigentümlichen Versionen über Chaplins Herkunft

bei, die ihm zufolge 1920 in einer niederländischen

Zeitung gestanden haben soll, und die auch absolut

nichts mit Tatsachen gemein hatte. Nun sollte Chap-

5 Größe: 35 cm x 46.5 cm. Die Collage datiert vom 14. April

1919.

6 Erschienen 1921 im Verlag der Galerie Hans Goltz, Mün-

chen, in einer einzigen Auflage von 60 Exemplaren. Größe:

49,5 cm x 33,5 cm.

7 Der Dada Nr. 3 vom 3. April 1920, S. 4.

Page 4: Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf · Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span-nung auf Chaplins

58 | 4 1920 – Künstler und Intellektuelle rufen nach Chaplin

lin eigentlich gar nicht Chaplin geheißen haben, in

der Chicagoer Easystreet geboren und als Kleinkind

entführt worden sein – ein Gerüchte-Schlenker, um

eine Verbindung mit Chaplins EASY STREET herzu-

stellen? Citroen zitierte außerdem eine ganz neue Ge-

schichte, wie Chaplin zum Film gekommen sein soll:8

«Sie wissen doch, dass Charlie Chaplins Vater Adolf

Zeppelin hieß und aus Mannheim gebürtig ist, wenn

auch nicht verwandt mit dem Grafen von Zeppelin,

dem bekannten Luftschiff, wie neulich der Nieuwe

Rotterdamsche Courant schrieb: In der Gründerzeit

wanderte Adolf nach Amerika aus, wo ihm in Chicago

in der berüchtigten Easystreet – er hatte dort eine klei-

ne Bar – ein Knäblein geboren wurde, das er Charlie

nannte. Charlie wurde als Dreijähriger von einem wan-

dernden Zirkus gestohlen, als Akrobat ausgebildet,

kam später nach England, wurde dort von L. Weinber-

gen für seine Filmgesellschaft U.S. engagiert und kam

so wieder nach Amerika, wo er heute der bestbezahlte

Filmkünstler ist. So wurde aus dem kleinen einfachen

Karlchen Zeppelin in konsequentem Dadaismus Char-

lie Chaplin the greatets artist of the world.»

Mit der Dada-Company warteten auch ande re Kul-

turschaffende sehnsüchtig auf die Chaplin- Filme.

Kurz vor dem Da da-Protest hatte der Schriftsteller

Hans Siemsen (Abb. 23; siehe auch S. 19) in der ra-

dikaldemokratischen Wochenschrift Die Weltbühne

beklagt: «Ich habe schon viel von [Chaplin] gehört,

aber ich habe ihn noch nie gesehen.» In seinem

Artikel «Zwei Postkarten und ein Buch» beschrieb

er, wie er sich die Zeit einer unbequemen Fahrt im

Personenzug, auch Bummelzug genannt, von Os-

nabrück nach Bremen unter anderem mit zwei

Chaplin-Postkarten aus Paris vertrieb, die er intensiv

studierte. Die eine zeigte das Portrait des lachenden

Tramps mit «Pierrot-Gesicht», die andere Charlie mit

seinem Hund Scraps aus

A DOG’S LIFE. Beide Post-

karten empfand Siem-

sen als «viel schöner

und viel sonderbarer als

alles, was man über ei-

nen Menschen erfinden

kann». Erfüllt von der

Faszination, die die Kar-

te mit der Filmszene auf

ihn ausübte, schrieb der

glühende Chaplin-Ver-

ehrer in der empathisch-

feinsinnigen Weise, die

seine künftigen Arbeiten

über den Filmkünstler

auszeichnen sollte:9

«[… Der Hund] lehnt sich

an ihn. Er sieht ganz

aus wie sein Herr. Aber

sein Herr ist noch sanf-

ter und sieht mit seinen

großen Augen noch hilf-

loser in die Welt. Möge

Gott ihnen helfen!

Es ist eine Szene aus ei-

nem komischen Film.

Alle Welt lacht darüber.

Ich auch. Aber ich lache

vor Rührung. Ich könnte

auch weinen. So süß, so

zart, so sentimental ist

die Photographie. Ein

ausgestoßener Mensch,

der mit seinem Hund vor einer Tür sitzt. Die ist ver-

schlossen. Ein Vagabund und sein Hund. Weiter nichts.

Ich kenne kein Bild von Picasso und kein Gedicht von

[Francis] Jammes und keine Geschichte von Charles Lou-

is Philippe, die zarter und schöner und zärtlicher wäre.

Ich habe diese Karten schon drei Tage. Ich kenne sie

ganz genau. Ich brauche sie gar nicht mehr anzusehen.

Aber ich nehme sie aus meiner Tasche und sehe sie doch

noch einmal an. Erst die eine. Und dann die andere. […]»

Siemsens Erinnerungen an diese Zugfahrt waren der

erste Chaplin-Beitrag überhaupt in der Weltbühne

und erschienen noch im selben Jahr als Bestandteil

des Bandes Wo hast du dich denn herumgetrieben?

(Abb. 24).10 Damit konnte man 1920 immerhin schon

zwei deutsche Bücher kaufen, in denen über Chaplin

etwas nachzulesen war.

Iwan Golls Ehefrau Claire Goll war im deutschspra-

chigen Raum wohl die erste Schriftstellerin, die

Chaplin zum Genie erklärte, und überhaupt eine der

ersten, die Chaplin mit Molière verglich (siehe S. 39).

Im Juni 1920 druckte Die Neue Schaubühne ihren

Aufsatz «Amerikanisches Kino» ab, in dem sie sich

mit den «drei weltberühmtesten und gefeiertsten

Mimen Amerikas» auseinandersetzte, mit Douglas

8 Brief abgedruckt in: Richard Huelsenbeck (Herausgeber), Da-

da-Almanach. Im Auftrag des Zentralamts der deutschen Dada-

Bewegung, Reiß Verlag, Berlin 1920, S. 102–104: Eine Stimme

aus Holland. Amsterdam, Mai 1920, von Paul Citroen.

9 Die Weltbühne Nr. 11 vom 11. März 1920, S. 336–339: Zwei

Postkarten und ein Buch, von Hans Siemsen.

10 Hans Siemsen, Wo hast du dich denn herumgetrieben?, Kurt

Wolff Verlag, München 1920, S. 82–87.

Page 5: Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf · Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span-nung auf Chaplins

Kurt Tucholsky und Hans Valentin | 59

Fairbanks, Chaplin (Charlot) und Sessue Hayakawa.

Über Chaplin führte sie aus:11

«Das Genie unter ihnen ist Charlot, der Molière dieses

Jahrhunderts. In der Maske des Clowns, unter vollstän-

digem Verzicht auf eigene Schönheit (welcher unsrer

Schauspieler würde allein auf seine gute Bügelfalte

verzichten!) hat er im Laufe von 5 Jahren fast jede

menschliche Schwäche geprägt. Seine exzentrischen,

mathematisch konstruierten Bewegungen, die see-

lischen und die körperlichen, enthalten immer eine

tragische Komik. Denn das tiefe, wissende Lachen,

das nicht nur an der Oberfläche klebt, wird aus Me-

lancholie und Leid geboren. Die Unwiderstehlichkeit

Charlots liegt aber nicht nur in seinem explosiven mu-

sikalischen Rhythmus, sondern vor allem in seinem

Gesicht, das zwanzig Nuancen in der Sekunde zeigt.

Jeden Abend wandern die Seelen der Pariser Künstler

aus nach Amerika, hin zu Charlot, dessen Schatten le-

bendiger ist wie die Körper aller Mimen der Seinestadt.

Charlot, wie den meisten Amerikanern, ist keine kör-

perliche Leistung unmöglich. Er ist Akrobat, Athlet, Jon-

gleur und das erhöht noch den Effekt seiner Filme. […]

Diese drei Menschen haben den Film nach allen Rich-

tungen ins Grandiose gesteigert. Von ihnen wird der

Kontinent für die Zukunft zu lernen haben.»

Sehnsüchtig wartete auch Kurt Tucholsky auf Chap-

lin-Filme. Wie Siemsen beobachtete er die Entwick-

lung um Chaplin und meldete sich dazu bis Mai

1932  – meistens unter einem Pseudonym  – vor al-

lem in der Weltbühne immer wieder gewitzt-scharf-

sinnig zu Wort. Über Chaplin schrieb er meist als

Peter Panther, zum ersten Mal Ende Juli 1920 in der

Weltbühne. Mit einem einzigen Satz brachte er seine

Erwartungsfreude auf den Punkt, als er im Übrigen

die unbefriedigende deutsche Kinolandschaft aufs

Korn nahm:12

«Und wie wir erst vergnügt werden, wenn Chaplin her-

kommt, der wirkliche Original-Charlie Chaplin, der

große Amerikaner! Er brächte frisches Blut und fri-

schen Wind mit.»

Ebenfalls mit nur wenigen Worten umriss der deut-

sche Filmdichter Hans Valentin im Tage-Buch bei sei-

ner Betrachtung über die «Kunst des Dramas im Film

der Zukunft» Chaplins Bedeutung. Denn Valentin be-

schränkte sich nicht nur auf das Drama, er ging auch

auf das Komische im Film ein und verglich Chaplin

mit Max Pallenberg:13

«Diese Sphäre [der Komik …] findet ihre schönste Er-

füllung etwa in einem Chaplin des Films wie in einem

Pallenberg der Bühne.»

Außerhalb der Kunstszene erregte 1920 Chaplins

Ehekrise die Aufmerksamkeit der Presse. Chaplin

hatte die am 29. November 1901 geborene Mildred

Harris am 23. Oktober 1918 geheiratet, also kurz

vor ihrem 18. Geburtstag. Die Brautleute waren ihre

Ehe sehr schnell, wenn nicht gar überstürzt einge-

gangen, weil Harris angeblich schwanger war.14 Ob

Harris Chaplin eine Schwangerschaft vorgespiegelt

hatte, um ihn in die Ehe zu zwingen, ob sie ehrlich

glaubte, von ihm ein Kind zu erwarten, oder ob sie

vor der Eheschließung tatsächlich schwanger war,

blieb letztlich ungeklärt. Jedenfalls gebar sie am 7.

Juli 1919 den gemeinsamen Sohn Norman Spencer

Chaplin, den sie durchaus vor der Eheschließung

empfangen haben konnte. Das Kind war missgebil-

det und starb schon am 10. Juli 1919. Mitte März

1920 erschienen in den USA Zeitungsberichte, dass

es in der Ehe der Chaplins kriselte, und kurz darauf

reichte Chaplins Frau mit der Begründung, ihr Mann

habe sie böswillig verlassen, Scheidungsklage ein,

über die im Herbst des Jahres verhandelt wurde.

Eine große Rolle spielten finanzielle Forderungen,

und nun wurde schmutzige Wäsche gewaschen.

Mittlerweile hatte Harris ihren Vorwurf auf seelische

Grausamkeit umgestellt, womit Chaplin ebenfalls

konterte. Obendrein unterstellten beide einander

sexuelle Perversionen. Der Ehezwist überschattete

Chaplins Arbeiten an seinem Welterfolg THE KID. Die

First National, für die Chaplin den siebenaktigen THE

11 Die Neue Schaubühne Nr. 6, Juni 1920, S. 164, 165: Amerika-

nisches Kino, von Claire Goll [Klara Aischmann].

12 Die Weltbühne Nr. 31 vom 29. Juli 1920, S. 149: Deutsche Ki-

nodämmerung?, von Peter Panther [Kurt Tucholsky].

13 Das Tage-Buch Nr. 22 vom 12. Juni 1920, S. 741–745: Kunst

des Dramas im Film der Zukunft, von Hans Valentin.

14 Siehe dazu: Charlie Chaplin, Die Geschichte meines Lebens,

a.a.O., S.  231: «Ich wurde erst einige Tage später wieder

an sie erinnert, als [mein Diener Tom] Harrington mir aus-

richtete, sie habe angerufen. Hätte er dabei nicht noch eine

Bemerkung gemacht, so hätte ich mich vielleicht nie mehr

um sie gekümmert, doch erwähnte er, der Chauffeur habe

ihm erzählt, er habe mich von Sam Goldwyns Haus in Be-

gleitung der schönsten Frau hergefahren, die er je zu Gesicht

bekommen habe. Diese absurde Bemerkung reizte meine

Eitelkeit, und das war der Anfang. Wir dinierten, tanzten,

fuhren im Mondschein am Strande entlang, und das Un-

vermeidliche geschah … Mildred begann, sich Sorgen zu

machen.» – Wahrscheinlich hatte Chaplin, der wegen seiner

enorm intensiven Filmarbeit  – er berichtet, wie viele Tage

und Nächte er ununterbrochen mit A DOG’S LIFE verbracht

hat (Charlie Chaplin, Die Geschichte meines Lebens, a.a.O.,

S.  216)  – kaum Zeit für sexuellen Zeitvertreib, geschweige

denn für eine feste Beziehung und deswegen einen gewis-

sen Nachholbedarf, als er Harris traf. Seine Liaison mit Edna

Purviance war er möglicherweise nur aus Bequemlichkeit

eingegangen.

Page 6: Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf · Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span-nung auf Chaplins

60 | 4 1920 – Künstler und Intellektuelle rufen nach Chaplin

KID gedreht hatte, versuchte, sich das Zerwürfnis

der Eheleute zunutze zu machen. Mit Chaplin stritt

sie nämlich darüber, ob der Film ungeachtet seiner

Länge nur als drei Dreiakter zu bewerten sei, so dass

Chaplin 405.000 Dollar erhalten sollte, obwohl die

Produktion 500.000 Dollar verschlungen hatte; als

der Film bei der Preview, die Chaplin veranstaltet

hatte, stürmisch bejubelt wurde, einigten sich die

Vertragspartner zugunsten von Chaplin auf eine

Vorschuss-Zahlung von 1,5 Millionen Dollar und auf

70 % der Einspielergebnisse, auf die der Vorschuss

angerechnet wurde.

Ursprünglich waren die streitenden Eheleute

übereingekommen, dass Chaplin Harris eine Abfin-

dung von 100.000 Dollar zahlte. Während Chaplins

Streit mit der First National um THE KID zog Harris

jedoch ihre Zustimmung zurück. Harris wollte damit

erreichen, Chaplins Geschäftsvermögen pfänden zu

können, zu dem das Negativ des Filmes gehörte. Ab

Anfang April 1920 war Chaplin deswegen mit dem

Negativ auf der Flucht und schnitt den Film in einem

Zimmer des Hotels Utah in Salt Lake City; abschlie-

ßende Schnittarbeiten fanden in einem Filmstudio in

Fort Lee, New Jersey, statt. Zu dieser Zeit unterhielt

Chaplin eine Beziehung zu der Schauspielerin Flo-

rence Deshon, die ihn nach Salt Lake City begleitete.

Dies war keine herkömmliche Zweier-Liaison zwi-

schen Chaplin und Deshon, sondern wegen Deshons

gleichzeitigen Verhältnisses mit dem Verleger Max

Eastman eine Art offene Dreierbeziehung, von der

der Chaplin-Biograf Kenneth Lynn als Verbindung

à la JULES UND JIM [nach François Truffauts Film

von 1962] sprach. Angeblich hätte Chaplin Deshon

am liebsten geheiratet, wenn er nicht noch an Har-

ris gebunden gewesen wäre. Deshon soll sogar ein

Kind von ihm erwartet haben, was freilich nie erwie-

sen wurde. Angeblich starb das Kind im Mutterleib.

Nach einem Abfindungspoker wurde Chaplins Ehe

mit Harris am 19. November 1920 geschieden. Har-

ris erhielt schließlich die ins Auge gefassten 100.000

Dollar und Teile der gemeinsamen ehelichen Güter.15

Im Endeffekt hatte Chaplin Harris bewegen können,

seine Vermarktung von THE KID nicht zu behindern.

Der Stoff rief sowohl die Regenbogenpresse auf den

Plan, als auch die deutsche Filmfachpresse. An dem

auffallend jungen Alter von Chaplins Frau bei der

Eheschließung. Die Erste internationale Film-Zeitung

titelte Ende März 1920: «Charlie Chaplins Ehe in Ge-

fahr». Dabei konnte sich das Blatt einige Seitenhiebe

nicht verkneifen. Chaplin beabsichtigte danach un-

ter anderem, sich einem neuen, noch unbekannten

«Fimmel» zuzuwenden  – war Deshon neben ande-

ren kursierenden Namen dieser «Fimmel»? Dem

deutschen Branchenblatt zufolge wollte Chaplin sich

für etwa umgerechnet 10.000 Mark «das Loskom-

men vom eigenen Weibe» erkaufen und seine «Ehe-

fesseln ab[...]streifen»:16

«[… Das] reizende[…] Geschöpf […] will sich nicht von

ihm scheiden lassen, denn sie hat Chaplin aus inniger

Liebe geheiratet und liebt ihn noch und immer. Der

berühmte Komiker findet diese Hartnäckigkeit durch-

aus nicht komisch und nach eigenem Geschmack. […

Die Kabelmeldungen berichten] von seiner unheimli-

chen Drohung, die Scheidung selbst gegen den Willen

seiner Frau durchzusetzen. […] Was nun daraus wird,

werden uns die amerikanischen Blätter und Berichter-

statter englischer Blätter ja auf dem schnellsten Wege

wissen lassen. Man bedenke, welch schöne neue Gro-

teske – diesmal aus dem Leben – das abgeben wird,

wenn Chaplin mit erhabener und wegwerfender Ge-

bärde seiner Ehefrau einen Packen Banknoten vor die

Füße wirft und ihr damit sagen will: ‹Für Dich, meine

Liebe, ist mir nichts zu teuer!›»

Wesentlich zurückhaltender nahm der Film-Kurier

die Scheidungsaffäre auf und beschränkte sich zu-

nächst auf die Wiedergabe ausländischer Meldun-

gen, die versicherten, dass der Scheidungsprozess

Chaplins komischer Wirkung in den Kinos keinen

Abbruch getan habe.17 Auch im Herbst 1920 ver-

hielt das deutsche Blatt sich neutral und referierte

lediglich aus amerikanischen Blättern Harris’ Be-

hauptung, von Chaplin schlecht behandelt worden

zu sein. Sie habe «eine sehr traurige Existenz an der

15 Siehe dazu: Robinson, Chaplin: His Life and Art, a.a.O.,

S.  274–277.  – Bei Robinson tritt Florence Deshon nicht in

Erscheinung. Joyce Milton stellt Chaplins Vaterschaft an

Deshons vor der Geburt gestorbenem Kind in ihrer umstrit-

tenen Chaplin-Biographie Tramp. The Life of Charlie Chaplin,

HarperCollinsPublishers, New York 1996, S. 178, als festste-

hende Tatsache hin, bleibt aber Nachweise schuldig. Ken-

neth S. Lynn, Charlie Chaplin and His Times, Aurum Press,

London 1998, S.  236, hat klargestellt, dass es diese nicht

gibt. Milton und Lynn stützen sich auf Max Eastmans 1964

veröffentlichte Memoiren Love and Revolution. My Journey

Through an Epoch, Random House, New York, S. 206. East-

man soll mit Chaplin während dessen Arbeiten an My Au-

tobiography über Deshon telefoniert haben. Chaplin habe

sie als «großherziges Mädchen» bezeichnet (a.a.O., S. 207),

sie dann aber in seinem Buch nicht erwähnt. – Das speku-

lative Gerücht über Chaplins Vaterschaft griff 2001 Darwin

Porter in seinem anekdotenhaft-fiktiven Buch Hollywood’s

Silent Closet. A Novel, Blood Moon Productions, Staten Is-

land 2001, S. 400, auf. Danach war der Fötus laut Chaplins

japanischem Kammerdiener Kono zwischen Tijuana und

dem Staat New York verscharrt worden.

16 Erste internationale Film-Zeitung Nr. 12-13 vom 31. März

1920, S.  28: Neues aus aller Welt. Charlie Chaplins Ehe in

Gefahr.

17 Film-Kurier Nr. 108 vom 23. Mai 1920, S. 5 (Beilage S. 1): Al-

lerlei vom Übersee-Film.

Page 7: Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf · Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span-nung auf Chaplins

Die deutsche Filmfachpresse zum Scheidungsprozess | 61

Seite des Mannes geführt, der so unzähligen ihrer

Mitmenschen heitere Stunden verschafft hat».18 Dies

klang dezidiert anders als der Artikel der Erste inter-

nationalen Film-Zeitung, der von Harris’ fehlendem

Scheidungswillen und ihrer angeblich unverbrüchli-

chen Liebe zu Chaplin berichtete.

Dass es bei Harris auch ganz einfach um handfeste

finanzielle Interessen ging und weniger um «ewige

Liebe», sprach Ende Mai 1920 aus einer Nachricht

des Kinematographen:19

«Sie verließ den berühmten Charlie wegen ungenügen-

den Unterhaltes. In den wenigen Monaten ihrer Ehe

erhielt sie von Charlie nur 50.000 Dollar und außer-

dem für ihre Mitwirkung beim Filmen wöchentlich

1.000 Dollar. Die Ärmste!»

Die anzeigenfreie Zeitschrift Film-Hölle, die der viel-

beschäftigte Film-Journalist Egon Jacobsohn, von

September 1920 bis 1923 als «Filmteufel» herausgab,

enthielt gleich in ihrer ersten Ausgabe eine Leserzu-

schrift zu Chaplins Scheidungsprozess. Geld mache

nicht glücklich, mutmaßte der Verfasser, wohl aber

eine Scheidung von einer ungeliebten Frau. Ganz si-

cher war er sich aber nicht, ob Chaplin sich mit all dem

nicht lediglich als «Reklamekanone» betätigt habe.20

Ungeachtet des Scheidungsprozesses waren enor-

me Filmschauspieler-Gagen in der Weimarer Repub-

lik ein Dauerthema. Der Ruf, die Stargagen im Zaum

zu halten und zu deckeln, war freilich ein vergebli-

ches Unterfangen, bei dem man aber immer wieder

auf Chaplin zu sprechen kam. In der Film-Hölle war

das nicht anders. Jacobsohn rümpfte die Nase über

den «Größenwahn der [überbezahlten] Kinoschau-

spieler». Der deutsche Schauspieler Emil Jannings er-

hielt nach dem Beitrag eine Stundengage von 1.000

Mark, womit er hochgerechnet längst das Jahresein-

kommen des Opernstars Enrico Caruso von 350.000

Dollar geschlagen habe. Aber: «Was ist das schon ge-

gen den Filmkomiker Charlie Chaplin, der für seine

paar Films mehr als das Doppelte pro Jahr nach Hau-

se schleppt», schimpfte Jacobsohn weiter (unter an-

derem auch über den US-amerikanischen Kinolöwen

Robert Warwick und über Mary Pickford), weil das

ein Vielfaches des Salärs des US-Präsidenten war.21

Der Zusammenhang zwischen außergewöhnli-

chen Einkommensverhältnissen und Chaplins Ehe-

streit war allerdings rasch hergestellt. Dazu druckte

die Film-Hölle ein Interview ab, das Harris dem New

York American gegeben hatte, hielt aber Abstand zu

Harris’ Behauptungen. Chaplins Ehefrau schilderte

ihren Gatten als Menschen, der seine Filmarbeit über

alles stelle und darüber seine Frau vernachlässige.

Stattdessen habe er ältliche Freunde mit nach Hause

gebracht, mit denen er philosophiert und sie damit

gelangweilt habe. Sie zieh ihn auch des «unerhörten

Geizes», da er ihr lediglich zugestanden habe, monat-

lich nicht mehr als 1.000 Dollar auszugeben [damals

für Durchschnittsbürger ein exorbitanter Betrag] und

sich sparsam zu kleiden, obwohl er doch Jahr für Jahr

eine Million Dollar verdiene. Außerdem regte sie sich

über seine «blödsinnige Eifersucht» auf. Gleichzeitig

sei er ein «unheilbarer Kaffeehauszigeuner», der «in

dem slawischen Orient, aus dem er herkam, nur mit

Zigeunerinnen» verkehrte.22 Stichelte Harris damit

auch gegen Chaplins Affäre mit Deshon?

Vom Einfluss des Streites der Eheleute um das

liebe Geld auf Chaplins neuestes Werk THE KID war

ebenfalls die Rede. Zutage trat freilich nicht, welche

Rolle Chaplins Vertragsfirma First National im Hin-

tergrund eingenommen hatte:23

«Chaplin hat sich vorläufig unsichtbar gemacht. An-

scheinend hat er sein Buen Retiro aufgesucht, um die

Ansprüche seiner von ihm getrennt lebenden Frau auf

den Film THE KID prozessual zu erschweren. Das ihr

von Chaplin gemachte Angebot einer Abfindungssum-

me von 125.000 Dollar hat Mildred Harris abgelehnt.»

In diesem Zusammenhang bemerkten in aller Kürze

die Lichtbildbühne und der Film-Kurier:24

«Charles Chaplin hat seine Ateliers in Los Angeles für

ein Jahr geschlossen und das Personal entlassen. Er

will nach England.»

Der Film-Kurier enthielt sich wie das Konkurrenz-

blatt weiterhin einer eigenen Stellungnahme zur

Scheidung und druckte lediglich die Sichtweise des

Pariser Blattes Comoedia ab, die auf einem Artikel

der britischen Daily Mail fußte und im Wesentlichen,

spöttisch ausgeführt, Harris’ Vorwürfe referierte, die

aus dem Scheidungsprozess bekannt waren. Auf die-

se Weise maß das deutsche Fachblatt den Berichten

um Chaplins Ehestreit die Bedeutung zu, die diese

Auseinandersetzung hatte: Für Chaplins Bewertung

18 Film-Kurier Nr. 207 vom 16. September 1920, S.  2: Filmi-

sches aus dem Auslande. Amerika: Charlie Chaplin als Ehe-

gatte.

19 Der Kinematograph Nr. 698 vom 30. Mai 1920, S. 26: Neues

vom Ausland. Amerika.

20 Film-Hölle Nr. 1, September 1920, S. 12: Rubrik «Hier kannst

Du Deine Wut rauslassen», Leserbrief von Fritz K. – Jacob-

sohn war Mitarbeiter/Chefredakteur von Film-Illustrierten

und -Branchenblättern (zum Beispiel der Ersten internatio-

nalen Film-Zeitung und bis November 1924 der Filmbeilage

«Film-B.Z.» der B.Z. am Mittag) sowie Mitverfasser eines

Film-Lexikons.

21 Film-Hölle Nr. 2, Oktober 1920, S. 1, 2: 1.000 Mark Filmgage

pro Stunde. Der Größenwahn der Kinoschauspieler.

22 Film-Hölle Nr. 3, November 1920, S. 12, 13: Die Ehetragödie

des Filmhumoristen. Frau Chaplins Klage.

23 Der Kinematograph Nr. 716 vom 3. Oktober 1920, S. 36: Neu-

es vom Ausland. Amerika.

24 Lichtbildbühne Nr. 41 vom 9. Oktober 1920, S. 41: Was das

Ausland meldet; Film-Kurier Nr. 261 vom 25. November

1920, S.  2: Charlots Ehestand; Nr. 266 vom 1. Dezember

1920, S. 1: Der Film im Ausland. Amerika.

Page 8: Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf · Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span-nung auf Chaplins

62 | 4 1920 – Künstler und Intellektuelle rufen nach Chaplin

als Künstler war der Zwist belanglos. Folgerichtig

hatte der Film-Kurier denn auch die Nachricht, die

Gründungsmitglieder der United Artists, die «Großen

Vier», bereiteten «Interessantes mit ‹Überfilmen›

vor[…]», als entschieden wichtiger behandelt.25

Dass Chaplin sich bis auf Weiteres an derartigen

Aktivitäten mit eigenen Filmen für die United Ar-

tists nicht würde beteiligen können, ging aus einer

Meldung der Lichtbildbühne vom November 1920

hervor. Bisher hatte Chaplin erst die Hälfte seiner

vertraglichen Verpflichtungen bei der First National

abgearbeitet und durfte bis zur Erfüllung seines Ver-

trages nicht auf eigene Rechnung filmen.26

Unterdessen hatte sich die Illustrierte Filmwoche  /

Illustrierte Kino-Woche jenseits von Chaplins eheli-

chen Querelen und seiner Auseinandersetzung mit

der First National dem «amerikanischen Humor»

zugewandt, offensichtlich in der Erwartung, dass

US-amerikanische Grotesk-Filme in absehbarer Zeit

nach Deutschland kommen würden. Dies geriet zu

einer Abhandlung über das Lachen, mit Abbildun-

gen von Chaplin, «Fatty» Arbuckle, Louise Fazen-

da und Douglas Fairbanks, die der Leserschaft den

Mund nach zukünftigen Filmvergnügen wässrig ma-

chen sollten:27

«[… D]er eigentlich Vertreter des amerikanischen Hu-

mors [ist] der Grotesk-Komiker, wie wir ihn aus Frie-

denszeiten noch von der Varietébühne kennen, und

über den wir oft und herzlich gelacht haben. Hoffent-

lich gibt es bald ein fröhliches Wiedersehen – im Film!!»

Die Vorboten eines «fröhlichen Wiedersehens» mit

Grotesk-Komikern aus den USA hatten sich längst

auf den Weg nach Deutschland gemacht. Mit seinen

Sunshine-Comedies meldete sich im April 1920 der

seinerzeit wohl größte US-amerikanische Filmkon-

zern Fox Film Corporation mit seinem Präsiden-

ten William Fox an der Spitze. Über den deutschen

Ableger, die Fox-Film-Gesellschaft, offerierte deren

im Berliner Nobel-Hotel Adlon abgestiegene Reprä-

sentant unter anderem «zwerchfellerschütternde

Lustspiele».28 Da im Frühjahr 1920 weiterhin unklar

war, wann US-Grotesken nach Deutschland würden

eingeführt werden können, versuchte die deutsche

Filu-Film-GmbH aus der Not eine Tugend zu machen:

Nach Drehbüchern von Theo Halston produzierte sie

in der Regie von Artur Brenken-Kiekebusch vier Gro-

tesken in US-amerikanischer Machart mit Petty Kid

als Hauptdarsteller. Das Ziel war hochgesteckt, denn

man maß sich an der «amerikanische[n] Filmgrotes-

ke […, wie sie] zum Anfang des Krieges durch Charlie

Chaplin vertreten war».29

Ob US-amerikanische Grotesken deutschen Lustspiel-

filmen qualitativ vorzuziehen waren, war für deutsch-

nationale Stimmen womöglich zweitrangig. Denn im

Oktober 1920 opponierte die Lichtbildbühne natio-

nalbewusst gegen den Auslandsfilm: «Grotesken von

Deutschen für Deutsche» – und reduzierte Chaplin im

gleichen Atemzug mehr oder minder auf Artistik:30

«Max Linder und der gliederverrenkende Charly Chap-

lin - ihre Kunst in allen Ehren -, die amerikanischen

Sunshines und anderen Comedies können uns unter-

halten und belustigen; den eigentlichen Kern unseres

nationalen Geschmacks treffen sie nicht, sie können

das elementare herzbefreiende Lachen nicht auslö-

sen, wie KOHLHIESELS TÖCHTER oder ROMEO UND JU-

LIA IM SCHNEE [beide von Ernst Lubitsch, 1920]. Das

deutsche Filmlustspiel muss von Deutschen für Deut-

sche geschrieben, inszeniert und gespielt werden.»

Anfang November 1920 erschienen in deutschen

Fachblättern Werbeanzeigen der Londoner Unity

Film Co., Ltd. (Direktor Ernst Bru), die im Weltvertrieb

50 «Mack Sennet[t] Keystone Lustspiele» auch für

Deutschland anboten, darunter 22 Einakter und vier

Zweiakter mit Chaplin. Zum ersten Mal zeigte man

ihn zu Werbezwecken im Tramp-Kostüm (Abb.  25).

Dazu hieß es:31

«Die Unity Film Co., Ltd., ist die ausschließliche Bezugs-

quelle für alle Käufer in europäischen Staaten der her-

25 Film-Kurier Nr. 201 vom 9. September 1920, S. 3: Filmisches

aus dem Auslande. Amerika.

26 Lichtbildbühne Nr. 46 vom 13. November 1920, S. 34: Was

das Ausland meldet.

27 Illustrierte Filmwoche / Illustrierte Kino-Woche Nr. 32 vom 7.

August 1920, S. 323: Amerikanischer Humor.

28 Lichtbildbühne Nr. 15 vom 10. April 1920, S.  21: Amerika

und Deutschland; Nr. 15 vom 10. April 1920, S. 76, 77: Wer-

bung für Fox-Films.

29 Film-Kurier Nr. 107 vom 22. Mai 1920, S. 3: Aus dem Glas-

haus. – Geplant waren die Filme PETTYS FLEGELJAHRE, PET-

TYS VERHÄNGNIS, PETTY HAT EINEN VOGEL und PETTY DER

UNGLÜCKSRABE. Zensurvorgänge sind nur für beiden ersten

Filme nachweisbar (Film-Prüfstelle Berlin Prüf-Nr. 107 und

108 vom 21. und 22. Juli 1920).

30 Lichtbildbühne Nr. 42 vom 16. Oktober 1920, S. 42, 43: Das

deutsche Lustspiel, von H. Wollenberg [Dr. Hans Wollenberg,

Chefredakteur des Blattes].

31 Lichtbildbühne Nr. 45 vom 6. November 1920, S.  136, 137,

und Der Kinematograph Nr. 721 vom 7. November 1920,

S. 23, 24: etwas sich unterscheidende Werbungen The Unity

Film Co., Ltd.

Page 9: Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf · Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span-nung auf Chaplins

Chaplins Erfolgsgeheimnis: Maschinen und maschinenhafte Bewegungen? | 63

vorragenden Lustspielserie mit dem größten Künstler

der Welt, Charlie Chaplin, und garantiert alle Kopien

von Original-Negativen.»

Um diese Zeit beklagte Dora Benjamin in der Ersten

internationalen Film-Zeitung den Rückgang deut-

scher Filmexporte in die USA. Von der möglichen

Wechselwirkung zwischen dem Export und dem

weiterhin bestehenden deutschen Filmimport-Ver-

bot wollte sie dabei nichts wissen. Vielmehr schob

sie die inhaltliche Veränderung in der deutschen

Filmproduktion nach dem Ersten Weltkrieg auf den

deutschen Geschmack, der durch die Revolution ei-

nen geistigen Aufschwung erfahren habe, während

ein solcher Aufschwung an den USA vorbeigegangen

sei. Veränderungen habe es in Übersee nur «auf dem

Gebiet der Verherrlichung der Technik [gegeben],

die den Amerikanern und ihren Dollars den Krieg

gewonnen [haben …], […] trotz deutscher Tüchtigkeit

und Aufopferung». Am Beispiel von Chaplin-Filmen

versuchte Benjamin zu illustrieren, welche Art Filme

zum Absatz in den USA produziert werden müssten.

Gleichzeitig entwickelte Benjamin eine eigenwillige

Theorie, weshalb Chaplins Filme nicht in Deutsch-

land aufgeführt würden und ihr Erfolg in den USA

jenseits von Chaplins analytischem Humanismus

in Oberflächlichkeiten begründet liege – fernab von

dem, was andere durch Chaplins Kunst über intensi-

ves seelisches Erleben zu berichten wussten. Aller-

dings entwickelte sie hierbei eine höchst eigenwilli-

ge dichterische Freiheit, indem sie Szenen entweder

frei erfunden oder anderen Filmen entnommen hat,

die sie fälschlich für Chaplin-Filme hielt:32

«Charakteristisch sind für diese neue [amerikani-

sche] Geschmacksrichtung die Chaplin-Films, die in

Deutschland fast ganz unbekannt sind, weil sie teils

wegen der hohen Kosten teils aber auch darum nicht

bei uns eingeführt werden, weil unser Publikum für

lange Zeit die Freude an den ‹Errungenschaften der

Technik› verloren hat und grausige, sentimentale oder

kriminelle Sujets bevorzugt. […]

Wie sieht nun solch ein Charlie-Chaplin-Film aus?

Ich möchte gleich vorausbemerken, dass es sich hier

weniger um einen Star-Film handelt, als man anneh-

men möchte. Gewiss ist Charlie Chaplin der Liebling

des Publikums, aber das ist nicht so zu verstehen, dass

er einen schlechten Film durch sein gutes Spiel trägt.

Vielmehr sind Regie und Sujet ihm immer ebenbürtig,

und das sichert den Erfolg des Films. Die Hauptsache

in diesen Films ist die verblüffende Wirkung der Ma-

schinen und der maschinenhaften Bewegungen. Mag

es sich nun um eine Musterdampfwäscherei handeln

oder um ein Skating-Rink, immer ist das Technische,

das Blendende und Bezaubernde der Geschwindig-

keit, sei es von Maschinen, sei es von Menschen, die

mit ihnen in unliebsame Berührung kommen, das

Wichtige. Ein Auto im Chaplin-Film rast nicht die

Straße hinunter, es klettert über Bäume und Kirch-

türme – eine Windmühle reißt Wagen und Pferde mit

und schleudert sie in unwahrscheinlicher Entfernung

zur Erde – der Luftzug im Trockenraum der Dampfwä-

scherei bläst nicht nur Papiergeld zum Fenster hin-

aus, sondern Liebespaare und verfolgende Väter, und

wenn Charlie Chaplin nach vieler Mühe Rollschuhlau-

fen gelernt hat, so ist es, als ob ein Orkan losgelassen

wäre, der alles mit sich fortreißt, Rink, Besucher, die

ganze Straße. Der Amerikaner liebt das Groteske, er

liebt die rasende Bewegung. Danach müssen wir uns

richten, wenn wir für Amerika produzieren wollen. An

guten Kräften ist bei uns ja kein Mangel. Je grotesker,

desto komischer – je komischer, desto zugkräftiger –

und was ‹zieht›, das zahlt.»32 Erste internationale Film-Zeitung Nr. 42-43 vom 6. Novem-

ber 1920, S.  4, 5: Welcher Film eignet sich für den Export

nach Amerika?, von Dora Benjamin.

Page 10: Chaplin in Deutschland - Libri GmbHmedia.libri.de/shop/coverscans/217/21794629_lprob.pdf · Chaplin, der Philosoph | 55 E ingeweihte warteten also mit wachsender Span-nung auf Chaplins

64 | 4 1920 – Künstler und Intellektuelle rufen nach Chaplin

Wie sehr sich Chaplins in Deutschland aufgehender

Stern trotz der angeblichen «Maschinenfixierung»

seines Filmhumors weiter abzeichnete, belegte eine

Werbeanzeige im Herbst 1920. Für seine Matray

Film GmbH und die für diese produzierten «grotes-

ken Filmserien» ließ Ernst Matray sich in einem Kos-

tüm und einem Bärtchen ablichten, was verdächtig

an Chaplins Tramp erinnerte (Abb. 26).33

Die Scandinavian Film Agency in Kopenhagen

wiederum setzte auf die «Super Special-Produktio-

nen» der Firma Robertson Cole, Corporation (siehe

S. 41) für die Saison 1919/20, zu der «21 Billy West

Chaplin-Imitationen (Zweiakter)» gehörten. Um die-

se über die dort ansässige Lothar Stark GmbH an den

Mann zu bringen, war der Direktor der Scandinavian

Film Agency, A. Gregory, nach Berlin gereist.34 Aber

33 Lichtbildbühne Nr. 33 vom 14. August 1920, S. 43: Werbung

Matray Film GmbH.

34 Lichtbildbühne Nr. 37 vom 11. September 1920, S. 93: Wer-

bung Scandinavian Film Agency.

35 In der Zeit vom 7. Januar bis zum 13. Mai 1925 ließ die Film-

Prüfstelle Berlin zehn Billy-West-Filme der Arrow Pictures

zu. Der erste Zweiakter war BILLY, BIST DU’S (Prüf-Nr. 9.616),

der letzte BILLY ALS DETEKTIV (Prüf-Nr. 10.462).

36 B.Z. am Mittag Nr. 347 vom 22. Dezember 1923, S. 12: Film-

B.Z.

37 Lichtbildbühne Nr. 33 vom 14. August 1920, S.  45, 46: Die

Grenzen auf!, von Dr. W. [Dr. Hans Wollenberg].

Grotesken, in denen Billy West als Chaplin-Imitator

auftritt, scheinen nicht nach Deutschland gelangt

zu sein. Billy-West-Filme wurden erst 1925 in deut-

schen Kinos gezeigt.35 Es waren aber Grotesken, die

West für die Arrow Pictures gedreht hatte, zu denen

er 1924 gestoßen war. Zu der Zeit hatte er das Tramp-

Kostüm bereits wieder abgelegt. Ende Dezember

1923 berichtete die B.Z. am Mittag von einer Klage

Chaplins gegen «Willi West», womit vielleicht Billy

West gemeint war. In dem Prozess sollte es darum

gegangen sein, dass Chaplin seine Darstellung und

sein Tramp-Kostüm als sein geistiges Eigentum an-

sah, worauf «Willi West» erwiderte, Chaplin habe

doch auf nichts ein Patent, und Charlies Bärtchen

habe es auch schon lange vor den Chaplin-Filmen ge-

geben.36 Ein Urheberrechtsprozess zwischen Chaplin

und West ist allerdings nicht bekannt. Der Grund für

das ausbleibende Interesse deutscher Verleiher an

Wests Chaplin-Imitationen mag darin gelegen ha-

ben, dass Chaplin in Deutschland erst einem breiten

Publikum bekannt gemacht werden musste und an-

schließend sehr viele Chaplin-Filme in den Umlauf

kamen, so dass der Bedarf nach «mehr Chaplin»

nicht noch mit Filmen von Imitatoren gestillt werden

musste. Anders dürfte es sich mit deutschen Chap-

lin-Imitationen verhalten haben, die sich nach dem

einsetzenden Chaplin-Erfolg an das große Geschäft

anzuhängen versuchten.

Wie auch immer: Der Ruf «Die Grenzen auf!»37

war mittlerweile auch in dieser Hinsicht eine ernst-

zunehmende Forderung, die es galt, über kurz oder

lang endlich zu erfüllen.


Recommended