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Die toten Augen von Balmoral

Date post: 04-Jan-2017
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Mac KinseyBand 2

Carter Flynn

Die toten Augen von Balmoral

Eine Gestalt krachte durch das Unterholz. Beim An-blick von Schloß Balmoral verharrte sie. Mondlicht lag auf den Dächern, Türmen und Zinnen. Wenige Fenster waren erhellt.Bald würden es mehr sein. Sehr viel mehr. Die einsame Gestalt am Waldrand verzog die dürren Lippen. Ein haßvolles Lachen drang aus ihrem Mund wie aus ei-nem tiefen Brunnenschacht Sie hob die Spinnenfinger zum grausigen Schwur. »Bald triffst du mit deiner Fa-milie ein, dann mache ich auch dich zu meinem blin-den Werkzeug, so wahr mir der Satan helfe.«Nebel wallte plötzlich und begann die Gestalt ein-zuhüllen.Drüben auf Schloß Balmoral rüstete man für das Ein-treffen der Königin!

***

Ein Knacken auf der Haupttreppe ließ Elspeth zusammen-schrecken.

Sie wirbelte herum.Wenn das wieder Jeremy war, der Lümmel, der ihr von mor-

gens bis nachts nachstellte, konnte er diesmal was erleben! Er wußte doch genau, wie sehr sie sich in diesen alten Mauern ängstigte.

Es war nicht Jeremy. Es war überhaupt niemand. Die Haupt-treppe lag verlassen und leer.

Elspeth bekam feuchte Hände. Sie verspürte eine beklem-mende Angst. Erzählten nicht die Leute im Dorf, man hätte wieder den Unheimlichen gesehen? Und waren nicht drei

Menschen über Nacht blind geworden? Es hätte mit dem Schloß zu tun, wurde gemunkelt.

Laut sagte es niemand. Alle hatten Angst.Angst vor dem Unheimlichen. Und daß er ihnen ebenfalls

tote Augen anhexte.Da!Wieder knackte es auf der Treppe. Elspeth wurde es unheim-

lich.Flackerte nicht das Licht? Hörte sie nicht einen schleichenden

Schritt?Furchtsam zog sie sich in die Mitte des großen Vestibüls von

Schloß Balmoral zurück. Aus großen angstvollen Augen starrte sie zur Treppe hinüber. Jetzt wünschte sie von ganzem Herzen, nie in die Dienste von Mister Meredith getreten zu sein, der das Schloß für die königliche Familie verwaltete.

Auf der Treppe rührte sich nichts. Auch die elektrischen Bir-nen auf dem mächtigen Leuchter im Vestibül flackerten nicht. Sie hatte es sich nur eingebildet.

Es sind die Nerven, sagte sie sich. Der bevorstehende Besuch der Königin und ihrer Familie macht das! Und Mister Mere-dith, der uns zwanzig Stunden am Tag herumjagt und der we-gen jedem herumliegenden Stäubchen gleich aus der Haut fährt! Als hätte die Königin nichts anderes zu tun, als in den Keller hinabzusteigen oder auf dem Speicher herumzukrab-beln und nachzusehen, ob auch alle Spinnweben fortgewischt sind!

Argwöhnisch behielt Elspeth die Treppe im Auge. Die war aus Stein, und Stein konnte nicht knacken und knarren. Das war tröstlich, beruhigte sie aber nicht.

Sie verspürte ein Drücken auf der Brust, die Atemluft kam ihr dick und zäh und schwer vor.

»Ist da jemand?« fragte sie mühsam. Ihre Stimme war dünn

und kläglich.Sie wünschte, daß Jeremy sich meldete, dieser kleine, eitle,

blöde Kerl, und damit zugab, daß er nur Schabernack trieb und ihr Angst einjagen wollte.

Oder daß einer der fremden Gentlemen ins Licht trat, die vor drei Tagen aus London eingetroffen waren. Die seien das Vor-auskommando des Hofes, hatte Mister Meredith erklärt. Diese Männer gingen mit würdevollem Gesicht herum, waren zu-meist schweigsam wie ein Grab und kehrten das Unterste zu-oberst. Überall stieß man auf sie.

Elspeths Stimme verlor sich in der erdrückenden Weite des Vestibüls. Niemand antwortete.

Aber das Knacken wiederholte sich. Ganz deutlich.Es kam von oben, wo sich die Treppe in der Dunkelheit ver-

lor. Da brannte kein Licht.Nicht für alle Schätze der Welt zusammen wäre das Mäd-

chen jetzt dort hinaufgestiegen. Sein Herz tat einen Sprung und klopfte dann wie rasend bis zum Hals hinauf.

Auf Balmoral ging es nicht mit rechten Dingen zu!War nicht gestern ohne jede Ursache das Dach vom Ge-

wächshaus eingestürzt und hatte den ältesten Gehilfen des Gärtners begraben?

Und wie war es möglich, daß heute in der Frühe im Waffen-saal eine Streitaxt von der Wand fiel und beinahe einem Lon-doner Gentleman den Kopf spaltete?

Ein bedauerlicher Unfall, hatte Mister Meredith gesagt. Gott-lob mit einem glücklichen Ausgang.

Elspeth hatte ihn bei seiner Erklärung genau angesehen. Der verkniffene Zug um seinen Mund war ihr nicht entgangen.

Da ihr Argwohn nun einmal geweckt war, hatte sie auch ent-deckt, daß sich Mister Meredith gleich nach dem Vorfall mit den königlichen Beamten in eines der Zimmer zurückzog, die

zum privaten Gebrauch durch die Königin bestimmt waren.Durch die gepolsterte Tür war kein Laut herausgedrungen.

Ein Beamter hatte aber vor der Tür Wache gestanden.Eine Stunde später hatte sie gesehen, wie zwei Männer die

Streitaxt in eine Plastikfolie gewickelt zu einem der schwarzen Wagen trugen, mit denen die Gentlemen aus London gekom-men waren. Einer war damit weggefahren. Der andere hatte eine Leiter neben der Tür aufgestellt und untersuchte mit grenzenloser Ausdauer die Stelle, wo sich das Mordinstrument aus den Haken gelöst hatte.

Etwas von Fingerabdrucken feststellen hatte sie gehört. Der Mann auf der Leiter hatte den Kopf geschüttelt und nach zwei Stunden resignierend seine Bemühungen aufgegeben.

An zufällige Unglücksfälle glaubte Elspeth nicht. Die Leute im Dorf redeten anders. Auch das Personal. Auf dem Schloß ging etwas vor, und es bedeutete nichts Gutes.

Schritt für Schritt zog sie sich zurück. Neben der Haupttür befand sich die Rufanlage. Mister Meredith mußte informiert werden.

Sie hoffte, daß bloß ein frecher Dieb eingedrungen war, der darauf spekulierte, unter den vielen fremden Gesichtern nicht aufzufallen, und der ein paar Kleinodien stehlen wollte.

Seit in London ein junger Mann nachts in den Buckingham-Palast eingestiegen und unbehelligt bis ans Bett der Königin vorgedrungen war, schienen auch andere zu glauben, es sei ein Kinderspiel, sich unerlaubt und nachts in königlichen Be-sitztümern herumzutreiben.

Ein Einbrecher war zwar auch nicht das, womit Elspeth zu-sammentreffen wollte. Die Vorstellung war schon unheimlich gruselig. Aber ein Einbrecher war immer noch besser als et-was, das sie nur hörte, aber nicht sah.

Sie stieß gegen eine der geschnitzten Holzsäulen, die die

Haupttür flankierten. Zitternd atmete sie aus. Geschafft!Langsam hob sie den linken Arm, streckte ihn aus und griff

um die Säule, wo die Rufanlage installiert war. Ihr Kleid ra-schelte leise, aber ihr kam es übermächtig laut in der geister-haften Stille vor.

Das unheimliche Knacken ließ sich nicht mehr vernehmen.Er hat mich entdeckt, dachte Elspeth, er hat etwas gehört. Er

wartet ab, was geschieht!Über hundert Menschen befanden sich im Schloß. Sie schie-

nen sich in weit entfernten Gebäudeteilen aufzuhalten. Ausge-rechnet jetzt! Elspeth hörte weder Schritte noch Stimmen noch zuschlagende Türen. Sonst war immer etwas zu hören, irgend-ein Geräusch, das die beruhigende Nähe von Menschen ver-kündete.

Ihre Finger erfaßten die Taste und drückten sie ein. Ängstlich schob sie sich an der Säule vorbei und spürte die Kanten des Schnitzwerks über ihren Rücken streichen.

Im Rahmen der holzvertäfelten Rufanlage glimmte ein klei-nes grünes Licht auf. Elspeth konnte sprechen. Aber das Wort blieb ihr in der Kehle stecken. Die Angst schnürte ihr den Hals zu.

Ein unheimlicher Nebel quoll langsam die Treppe herab. Wie ein lebender Teppich. Handhoch höchstens. Er hüpfte von Stu-fe zu Stufe und drang unaufhaltsam weiter herab.

Elspeth starrte aus weit aufgerissenen Augen auf das geister-hafte Schauspiel. Die Knie wurden ihr weich, die Beine droh-ten nachzugeben.

Oben, wo sich die Treppe in der Dunkelheit verlor, tappten Schritte!

Ganz laut, ganz deutlich.Dann flackerte fahle Helligkeit auf. Als würde jemand ein

Streichholz entzünden.

Die Helligkeit nahm zu. Es war ein unwirkliches Licht. Es kam nicht von einem Streichholz, nicht von einem Feuerzeug, nicht von einer Kerze oder von einem elektrischen Beleuch-tungskörper. Es war unsagbar kalt.

Elspeth konnte nicht einmal die Quelle ausmachen.Es war, als würde die Luft leuchten. Einfach so. Aus dem

Nichts.Auch der handhoch über die Stufen herabquellende Nebel

begann zu leuchten.Es war ein Anblick, bei dem man den Verstand verlieren

konnte. Elspeth war nicht weit davon entfernt.Dieser grausige Nebel hatte es auf sie abgesehen! Das begriff

sie.Seine Ausläufer hatten schon den Steinboden des Vestibüls

erreicht und krochen wie schreckliche Geisterfinger auf sie zu. Hier unten leuchtete der Nebel nicht so stark wie oben.

Mitten in der kalt leuchtenden Luft bewegte sich etwas. Eine Gestalt tauchte dort auf. Sie warf einen gnomenhaften Schatten auf die Wand und die Treppenstufen.

Der Unheimliche!Die Leute im Dorf hatten doch recht. Es gab ihn.Elspeth schlug die Hände vors Gesicht Sie wollte die grauen-

hafte Gestalt nicht sehen. Wer sie erblickte, wurde blind.Sie wollte nicht blind sein.Und sie stieß einen gellenden Schrei aus.

*

Minuten später waren sie bei ihr – Mister Meredith, etliche der Männer aus London, Kollegen und Kolleginnen vom Personal und Jeremy, der Nichtsnutz, der jedem Unterrock im Schloß nachstellte.

Die Ohnmacht, die Elspeth umfangen hielt, war nicht sehr beständig. Dafür sorgten schon die Beamten und Mister Mere-dith. Einer versetzte ihr unablässig leichte Schläge auf die Wangen, ein anderer hielt ihr immer wieder ein Riechfläsch-chen unter die Nase, und Mister Meredith tätschelte ihre Hän-de und fühlte ab und zu den Puls.

»Kein Grund zur Aufregung«, besänftigte er das unruhige Personal, »es geht ihr schon viel besser.«

»Sie ist überarbeitet, zwanzig Stunden am Tag auf den Füßen sein ist kein Pappenstil«, sagte Mistress Drawden, eine wasch-echte Hochländerin mit dem Knochenbau eines Pferdes, was die Stärke anging.

Das beifällige Murren von der Partei des Personals klang un-angenehm in Mister Merediths Ohren. Das hörte sich ja fast nach Aufstand an. Das schien der Beginn einer Verschwörung zu sein!

Er musterte seine Leute. Jeden für sich.Unter seinem Blick verstummten sie. Es bedurfte keiner Wor-

te.»Ich denke, wir haben sie soweit«, sagte einer der Hofbeam-

ten. Er schraubte das Riechfläschchen zu und steckte es ein. »Sie spricht, aber es ist verworrenes Zeug. Es ergibt keinen Sinn. Ich verstehe sie nicht.« –

Lloyd Emerson Meredith beugte sich würdevoll und gemes-sen zu dem Mädchen nieder, dem man eine zusammengerollte Decke unter den Nacken geschoben hatte. Er war darauf be-dacht, immer gute Figur zu machen. Er blieb sich in jeder Le-benslage seines Amtes als Statthalter der Königin bewußt. Hal-tung war alles.

Nicht einmal gestern, als sie den Gehilfen des Gärtners unter dem Glasdach herauszogen, hatte er sie verloren. Und heute früh, als die Streitaxt nur knapp den Kopf des Hofbeamten

verfehlte, nur ganz wenig. Die Stirn hatte, er gerunzelt – ja. Mehr nicht.

Das Mädchen starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an. Es erkannte ihn, das nackte Entsetzen wich aus den Augen.

»Ist er fort?« Die Stimme war wie ein Hauch.»Wer denn, mein Kind?« Meredith verströmte Freundlich-

keit, denn sein Personal spitzte lüstern die Ohren.»Der Unheimliche!« brach es aus Elspeth heraus. »Dort auf

der Treppe! Und der Nebel! Er kroch die Stufen herab. Auf mich zu. Alles war von einem grauenhaften Licht erfüllt.«

Meredith wäre es lieber gewesen, wenn sie leiser gesprochen hätte.

Der Unheimliche! Er wußte, was im Dorf und unter dem Per-sonal geredet wurde. Einfach lachhaft! Es gab keinen Unheim-lichen.

Eine Art Hysterie war es, die wie eine harmlose, aber hartnä-ckige Seuche grassierte. Wie das Geschwätz vom Ungeheuer im Loch Ness, das alle paar Jahre auflebte.

»Jetzt beruhigen Sie sich nur erstmal, liebes Kind!« Er rang sich ein Lächeln ab. »Das ist doch Aberglaube. Blanker Unsinn. Es gibt keinen Unheimlichen. Ein Schatten hat Sie genarrt. Ein Lichtreflex vielleicht, und Sie sind darüber zu Tode erschro-cken.«

»Nein, nein!« Ihre Augen drückten aus, daß sie wahrhaftig etwas Grauenhaftes gesehen hatte. Ihre Hand griff nach Mister Merediths Arm und packte ihn schmerzhaft. »Sie müssen mir glauben, bitte, bitte – ich habe ihn ganz deutlich gesehen!«

Mit nachsichtiger Milde schüttelte Meredith den Kopf. Die-ses dumme Ding schien felsenfest davon überzeugt zu sein, daß es etwas erblickt hatte. Das war gefährlich. Wenn die Klei-ne es erst glaubte, glaubte es auch das Personal. Und in einer Woche traf die Königin mit der gesamten Familie ein! Die Fol-

gen malte sich Meredith lieber nicht aus. Schon der Gedanke daran brachte ihn in Schweiß.

Ein Personal, das Botengänge und den Dienst im Schloß ver-weigerte, bloß weil es Angst vor einem Phantom hatte!

Diesen dummen Gerüchten mußte er den Boden entziehen. Der läppische Aberglaube mußte mit der Wurzel ausgerissen werden. Jetzt. Auf der Stelle!

Lieber Himmel, wie dieses dumme Ding die Finger in seinen Arm krallte!

Mit einem Ruck entzog er sich dem schmerzhaften Griff. Die Blicke seines Personals waren noch lauernder geworden.

»Es ist natürlich nichts«, sagte er nicht ohne Schärfe, »und das werde ich Ihnen beweisen. Aber erst wollen wir uns um dieses Mädchen kümmern. Mistress Drawden, verständigen Sie Doktor Vilion.«

Die knochige Frau holte schnappend Atem. »Der gräßliche alte Kerl wollte gestern schon nicht für den Gärtnergehilfen kommen. Sonst würde man auf dem Schloß ja auch nicht seine Dienste in Anspruch nehmen…«

»Ich weiß, was er gesagt hat«, meinte Mr. Meredith säuerlich. »Rufen Sie ihn dennoch her.«

»Der kommt nicht«, prophezeite Mrs. Drawden. »Nicht heu-te. Es ist Donnerstag.«

»Ja, und? Wir haben einen Notfall.«»Donnerstag spielt er mit dem Pfarrer. Seit dreißig Jahren

würfeln sie donnerstags und trinken dabei. Die Patienten vom Doktor wissen es und richten sich sogar mit ihren Krankheiten danach. Und soviel ich weiß, ist dem Pfarrer donnerstags auch noch nie jemand gestorben.«

Die Leute wissen, was sich gehört, dachte Meredith, und laut sagte er: »Bitten Sie ihn, aufs Schloß zu kommen. Schaffen Sie ihn her – wie, ist Ihre Sache.« An die Leute vom Personal ge-

wandt fuhr er fort: »Und ich werde Ihnen beweisen, daß dort oben auf der Treppe nichts ist und nichts war und sich Miß El-speth ganz einfach geirrt hat.« Er verzog etwas den Mund. »Sehen Sie etwas von einem Nebel, der die Treppe herunter-kroch?«

Mutig schritt er auf die Treppe zu. Zwei Hofbeamte schlos-sen sich ihm an. Schweigend, wie es ihre Art war.

Jeremy Bentham fand die Gelegenheit günstig, sich bei Els-peth ins rechte Licht zu setzen und ihr vorzuführen, was für ein toller Hecht er doch war. Er folgte den Hofbeamten.

Ein Mann aus der Dienerschaft und ein Elektriker gingen auch noch mit.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, murmelte Mrs. Drawden. Kopfschüttelnd schaute sie der kleinen Gruppe nach, die die Treppe zum ersten Stockwerk hinaufstieg. Sie war überzeugt, daß es den Unheimlichen gab. Auch wenn Elspeth den Kerl als gnomenhaften Burschen beschrieben hatte. Oder jedenfalls sei-nen Schatten. Um nichts in der Welt wäre sie jetzt mit den Männern dort hinaufgegangen.

Sie eilte viel lieber zum Telefon.Der Doktor war jetzt bestimmt noch nicht zu Hause. Es war

erst zehn Uhr. Der alte Trunkenbold hockte sicher beim Pfar-rer. Aber sie rief dennoch an.

Es blieb beim nutzlosen Versuch. Doktor Vilion war nicht da-heim. Und Pater Ryan hatte kein Telefon.

Aber her mußte Vilion. Mister Meredith hatte ihr die Verant-wortung aufgebürdet. Er wurde sehr ungemütlich, wenn seine Anordnungen nicht befolgt wurden.

Sie nahm den Weg zurück zum großen Vestibül. Ihre Schritte hallten hohl und dunkel durch die Gänge von Balmoral.

Ein Wispern drang an ihre Ohren. Die Rüstungen in den Ni-schen und die alten Banner an den Wänden schienen zu geis-

terhaftem Leben zu erwachen.Sie streifte das Unbehagen ab. Jedermanns Nerven waren

durch die Vorkommnisse überreizt. Da spielten einem die Sin-ne gern einen Streich.

Sie atmete auf, als sie an der Dienstbotentreppe vorbeikam und dort Binnie Barnes mit einem Chauffeur der Londoner Gentlemen stehen sah. Die beiden waren so dicht beisammen wie die Seiten eines Buches.

Binnie wohnte im Ort bei ihren Leuten. Wenn die Arbeit ge-tan war, verließ sie das Schloß. So wie jetzt. Sie arbeitete in der Wäscherei und im Bügelzimmer.

Das rotblonde Mädchen war eine Augenweide und machte jedem richtigen Mann den Mund wäßrig. Verständlich, daß der Chauffeur Appetit auf den niedlichen Happen bekommen hatte.

Mrs. Drawden ging's eigentlich nichts an, Binnie war schließ-lich alt genug, um für sich selber verantwortlich zu sein. Aber die königliche Haushälterin wußte, wie solche Liebschaften zu enden pflegten. Der Liebhaber verduftete nach London, und zurück blieb ein heulendes Mädchen mit fast gebrochenem Herzen.

Darum blieb sie stehen, statt an dem Paar vorbeizueilen und so zu tun, als hätte sie nichts gesehen.

Binnie hatte sich schon für den Heimweg gerüstet. Sie trug feste Schuhe, eine Strickjacke um die Schultern, eine Riementa-sche und daran festgebunden das unerläßliche Kopftuch. Nachts pflegte es draußen feucht und ungemütlich zu sein, selbst im Sommer. Blitzartige Regengüsse waren ebenfalls kei-ne Seltenheit.

»Machen Sie sich gleich auf den Weg«, sagte Mrs. Drawden und behandelte den Chauffeur wie Luft. »Der Doktor soll so-fort kommen. Bestimmt sitzt er noch beim Pfarrer. Elspeth

Karnavon ist zusammengebrochen. Sagen Sie ihm das ruhig, vielleicht beeilt er sich dann.«

»Ich werde es ausrichten, Madam.« Gehorsam machte Binnie einen Knicks. »Ist es schlimm?«

»Das hoffe ich nicht, die Entscheidung hat aber allein Doktor Vilion. Also gehen Sie.« Mrs. Drawden schickte ein stilles Dankgebet zum Himmel, daß noch nicht bis zur Wäscherei vorgedrungen war, daß Elspeth den Unheimlichen gesehen haben wollte. Hier im Schloß!

Binnie baute darauf, daß die königliche Haushälterin weiter-ging. Doch Mrs. Drawden rührte sich nicht vom Fleck. Ihr Ausharren erreichte schon fast das Ausmaß einer Nötigung.

»Ja, dann halt bis morgen«, machte Binnie seufzend und schob mit der Hand den Chauffeur auf Distanz.

Mrs. Drawden sah sich in ihrer Vermutung bestätigt, daß der Kerl nur auf ein schnelles und müheloses Abenteuer aus war. Er machte keine Anstalten, Binnie ins Dorf zu begleiten. Er dachte nicht mal im Traum daran, sie wenigstens zum Seiten-ausgang zu bringen.

Mit einem hochmütigen Blick musterte er die Haushälterin und verschwand von der Bildfläche.

Binnies Schritte hallten noch eine Weile unter den Rundbo-gen her. Sie wurden leiser. Ganz am Ende des Querganges leuchtete noch einmal das hellblaue Kleid des Mädchens auf, bevor die Tür am Seiteneingang dumpf ins Schloß fiel.

Mrs. Drawden setzte ihren Weg zum Vestibül fort.Sie war noch keine fünfzig Schritte weit, als in einer dunklen

Nische gegenüber der Dienstbotentreppe eine Bewegung ent-stand. Eine Gestalt stand dort plötzlich. Sie war aus dem Nichts gekommen.

Sie neigte den Kopf zur Seite, als lauschte sie den energi-schen Schritten der königlichen Haushälterin nach. Schließlich

nickte sie zufrieden und trat aus der Nische heraus.Ein dunkelbrauner Umhang hüllte sie ein. Genau die richtige

Bekleidung für das alte Schloßgemäuer. Eine Kapuze bedeckte den Kopf. Die Gestalt orientierte sich und schaute der ent-schwindenden Haushälterin nach.

Nach der war ihr nicht der Sinn. Mit Mrs. Drawden hatte sie nichts vor. Sie verzog nur den Mund zu einem lautlosen schauderhaften Lachen.

Die Flurbeleuchtung schien dabei auf das Gesicht der dunklen Gestalt.

Es war kein Gesicht.Es war ein Totenschädel!

*

Bedächtig schob die Gestalt die knöchernen Hände in die wei-ten Ärmel des Umhanges und ging gebeugt in jene Richtung, die Binnie Barnes genommen hatte.

Sie spürte die Nähe von Menschen. Dieses ganze Schloß steckte voller Menschen. Es war eine beruhigende Nähe.

Die Leute würden ihr nicht davonlaufen. Sie würde sie sich einzeln holen – später, und jeden für sich. Und dann würde sie große Abrechnung halten.

Vorläufig jedoch war es nicht gut, wenn im Schloß zu viel passierte. Am Ende kam sie nicht!

Sie! Der Haß schüttelte die düstere Gestalt. Unter der Kutte drang das Klappern der Knochen hervor.

Die alte Rechnung mußte endlich beglichen werden. Lange hatte es gedauert, aber jetzt war die Zeit reif. Wo stand ge-schrieben, daß nicht auch Königinnen ihre Schuld bezahlen mußten?

Die Gestalt schien über den Boden zu gleiten. Die Kutte

schwang und beulte sich rhythmisch, doch waren keine Schrit-te zu hören.

Im Vorübergehen strich die Gestalt mit den knöchernen Hän-den über eine Turnierrüstung, die auf einem Sockel ihren Platz gefunden hatte. Der Rüstung war ein Banner mit drei Lilien in den eisernen Handschuh gedrückt.

Augenblicklich begann es in den Gelenken und Scharnieren der prächtigen Rüstung zu knacken, als sei geisterhaftes Leben in sie gefahren. Hinter dem geschlossenen Helmvisier drang sogar ein abgrundtiefer Atemzug hervor.

Die Gestalt schüttelte sich in lautlosem Lachen. Die Macht war ihr jetzt gegeben, sie hatte das Ziel ihrer Wünsche erreicht. Sie war sogar imstande, unbelebter Materie Leben zu verlei-hen. Wie dieser Rüstung.

Sie machte eine knappe befehlende Handbewegung. Augen-blicklich verstummte das Knacken und Knirschen, die Rüs-tung stand wieder still.

Unbelebte Materie gehorchte den Befehlen. Mit den Men-schen war es nicht so einfach. Sie wehrten sich, wenn sie merk-ten, daß der Zauber über sie geworfen wurde.

Wie diese dumme Gans Elspeth, die geschrien hatte, daß das halbe Schloß zusammengelaufen war.

Diesmal hatte es mit dem Mädchen nicht geklappt. Der Zau-ber hatte nicht schnell genug gewirkt. Um ein Haar hätte das Mädchen sogar die richtige Gestalt droben auf der Treppe er-kannt.

Das Knochengerüst in der Kutte schüttelte den Kopf. Den Schatten an der Wand hatte das Mädchen gesehen. Aber der bewirkte den Zauber nicht. Elspeth war nicht blind geworden, ihre Augen waren nicht tot.

Das ließ sich ändern. Später.Jetzt war ein anderes Opfer an der Reihe.

Es würde ein gutes und sehr nützliches Werkzeug sein. Alles Teil eines raffinierten Racheplanes.

Unhörbar glitt die grausige Gestalt in der Kutte weiter durch das Schloß. Sie verschwand im Zwielicht, das am Ende des Sei-tenganges herrschte.

Dann fiel eine Tür zu.Es war dieselbe, durch die Binnie Barnes kurz zuvor Balmo-

ral verlassen hatte.

*

Mister Meredith ließ sich eine Handlampe reichen.Gewissenhaft leuchtete er jeden Winkel droben im Bereich

der Treppenmündung aus. Obendrein war noch die Hauptbe-leuchtung eingeschaltet.

Wenn sich hier oben jemand verbarg, konnte er nicht überse-hen werden. Das war ganz ausgeschlossen.

Natürlich hatte sich niemand versteckt. Wo und wie denn auch? Das hatte er von Anfang an gewußt. Weil es den Un-heimlichen nicht gab. Weil der ein Hirngespinst war.

Mochte der liebe Himmel wissen, was Elspeth Karnavon ge-sehen hatte.

Mister Meredith war heilfroh, daß er nicht allein losgezogen war, um ein Phantom aufzuspüren. Die Gentlemen aus Lon-don, die ihn begleiteten, zählten nicht. Um so schwerer wog das Dabeisein einiger Leute vom Personal.

Die mußten sich mit eigenen Augen überzeugen, daß es hier keinen Geist und keinen Unheimlichen, keinen Schatten und keinen Eindringling gab.

Meredith ließ die umliegenden Räume untersuchen. Sogar Abstellkammern und eine Teeküche, die nur in Betrieb war, wenn die königliche Leibwache auf Balmoral weilte.

Der Erfolg war absolut Null.Siegessicher schaute Meredith das Personal an. »Das war es

dann wohl, denke ich. Hier war nichts, hier war nie etwas.«Die Mienen drückten aus, daß die Leute so halb bereit waren,

ihm zu glauben. Aber eben noch nicht ganz.Und dieser Jeremy zeigte nach wie vor ein aufsässiges Ge-

sicht. Aber der zählte nicht. Der war der jüngste männliche Be-dienstete, und aufgefallen war er Meredith nur durch ein vor-lautes Mundwerk und die ständige Bereitschaft, mit den Mäd-chen anzubändeln.

Darum klang die Stimme des königlichen Statthalters und Schloßverwalters ungewöhnlich scharf, als er sich an den jun-gen Mann wandte: »Sind Sie anderer Ansicht, Jeremy?«

Der Junge wußte zwar, daß es besser war, den Mund zu hal-ten. Aber wie Mister Meredith zu ihm sprach, war das schon ein persönlicher Angriff.

»Der Kerl ist doch längst abgehauen«, erwiderte er darum. »Es wurde viel zu lang rumgetrödelt. Bei dem Krach hat der Bursche es leicht gehabt, unbemerkt zu verschwinden. Viel-leicht gibt es hier sogar Geheimtüren.«

»Davon ist mir nichts bekannt!«»Sie würden es auch nicht zugeben, wenn es anders wäre –

weil Sie es gar nicht dürfen«, höhnte Jeremy Bentham. »Ich wüßte schon, wo ich draußen zu fragen hätte und wem ich mal auf die Zehen treten würde. Elspeth hat von einer gno-menhaften Gestalt gesprochen. Im Umkreis von zwanzig Mei-len kenne ich nur einen, der wie ein Gnom aussieht. Und weiß der Teufel, der Kerl könnte durch jedes Kellerloch kriechen und sich auch durch eine noch so kleine Geheimtür quetschen…«

»Halten Sie den Mund!« verlangte Meredith aufgebracht. »Wie können Sie es wagen, derart unerhörte Verdächtigungen

gegen den Müller auszustoßen? Auf den zielen Ihre bösartigen Worte. Er ist ein Krüppel. Niemand mag ihn. Ich weiß Be-scheid, Jeremy. Sie plappern auch das hirnlose Geschwätz nach, das man über diesen Mann dauernd hört. Ich wünsche aus Ihrem Mund nie wieder etwas Derartiges zu hören.«

»Aber er ist der einzige…« begehrte Jeremy auf. Er war von jeder Einsicht weit entfernt.

»Schweigen Sie auf der Stelle!« verlangte Meredith.Jeremy preßte die Lippen zusammen, bis sie nur noch einen

schmalen Strich bildeten. Mochte Meredith glauben, was er wollte, aber dem Müller mußte jetzt mal auf die Zehen getre-ten werden. Der war's. Mit ziemlicher Sicherheit jedenfalls.

Die Leute aus dem Dorf sagten ja auch, daß mit dem etwas nicht stimmte.

Nicht nur Jeremy traf seine Entscheidung in Bezug auf den Müller. Auch die Gentlemen aus London hielten es für drin-gend geraten, diesen ominösen Müller unter die Lupe zu neh-men. Das gab es ja, daß ein mißgestalteter Mensch vom Haß auf seine Umgebung zerfressen wurde.

Und vielleicht hatte es mal einen Zwist zwischen dem Müller und dem Schloß gegeben, der nie beigelegt wurde.

Das ließ sich bestimmt alles feststellen.Meredith gab die Handlampe zurück und betrachtete ver-

stohlen und sorgenvoll die Gesichter seiner Begleiter. Er glaub-te die Gedanken von jeder Stirn lesen zu können.

Dieser Jeremy war nichts weiter als ein dummer eitler Schwätzer, der nachplapperte, was die Leute im Dorf sich er-zählten! Mit seiner dummen Anschuldigung hatte der Lümmel den Müller in Verdacht gebracht!

Meredith und seine Begleiter hatten schon fast die Treppe er-reicht, als ein dezentes Knacken und Prasseln sie innehalten ließ.

Die Geräusche drangen aus einem Raum, den sie gleich zu Beginn ihrer Suche gründlich durchforscht hatten.

In Jeremys Augen blitzte es triumphierend auf, als wollte er sagen: Na, bitte, ich hab's doch gewußt, der Unheimliche ist immer noch da. Er hält uns bloß zum Narren! Aber keiner soll mir mehr erzählen, es würde ihn nicht geben!

Die Herren aus London schauten auch ziemlich skeptisch und wußten nicht so recht, was sie aus der Situation machen sollten.

Lloyd Emerson Meredith machte erzürnt auf dem Absatz kehrt und stieß die Tür auf, hinter der die Geräusche erklan-gen.

Seine Hand, die zum Lichtschalter griff, erstarrte in der Luft.Im Raum war es, obschon das Licht nicht eingeschaltet war,

recht hell.Die Helligkeit und das Knacken und Prasseln stammten von

dem lustig flackernden Kaminfeuer.Meredith richtete es langsam die Nackenhaare auf. Und

nicht nur ihm.Es war Sommer, da zündete kein vernünftiger Mensch ein

Kaminfeuer an.Außerdem konnte seit der Durchsuchung gar niemand her-

aufgekommen sein und ein Feuer gerichtet haben.Und drittens war vorhin die Feuerstelle leer und blank gewe-

sen. Ohne Asche. Ohne aufgeschichtetes Holz.Meredith beugte den Kopf vor. Eine seltsame Farbe hatten

die Flammen! So sah er noch nie ein Kaminfeuer brennen!Das nackte Entsetzen packte ihn und seine Begleiter, als er

inmitten der tanzenden Flammen ein Menschengesicht erblick-te, das zu ihnen herschaute und ihnen höhnische Grimassen schnitt.

Die zuckenden Flammen schufen das Gesicht. Einem richti-

gen Menschenantlitz zum Verwechseln ähnlich, nur daß es aus purem Feuer bestand.

Ein Brausen und Fauchen erfüllte mit einem Schlag den großen Raum.

Den beiden Londoner Hofbeamten verschlug es die Sprache. Sie spürten jetzt, was die Leute meinten, wenn sie vom Grauen sprachen.

Jetzt war ihnen nicht mehr zum Grinsen zumute wie an dem Tag, als sie nach Balmoral kamen und hörten, die Leute wür-den sich schrecklich vor dem Unheimlichen fürchten.

Sie hatten das Gerede für abergläubisches Geschwätz gehal-ten und den Unheimlichen bestenfalls für einen besonderen Witzbold aus dem Dorf oder aus der Umgebung, der sich einen deftigen Spaß daraus machte, in einen dunklen Umhang gewickelt den Menschen zu erscheinen oder sie durch Fenster-scheiben zu erschrecken.

Dieses Feuergesicht im Kamin war der reinste Höllenspuk!Das war kein Menschenstreich und auch kein derber Spaß.»Gott steh uns bei, der Feuerteufel!« stieß der Diener hinter

Meredith gurgelnd hervor.»Der Unheimliche!« fügte der Elektriker ächzend hinzu.Mit Verdächtigungen gegen den mißgestalteten Müller war

Jeremy fix bei der Hand gewesen. Jetzt fiel ihm überhaupt nichts ein. Er hatte nur Angst. Und wie erst!

Die Flammen wurden fahl und silbern, das Gesicht zog sich in die Länge. Es hatte mit niemand, den Mister Meredith und die Bediensteten kannten, auch nur eine entfernte Ähnlichkeit.

Flammenbündel schossen aus dem feurigen Mund, Rauch stob aus den glühenden Nasenlöchern. Es war ein unerträgli-ches Bild.

Der flammende Mund bewegte sich. Er formte Worte. Sie blieben unverständlich.

Heimlich kniff sich Meredith in den Arm, weil er für einen schlechten Traum hielt, was er sah. Er erwartete, im Bett aufzu-wachen.

Der Schmerz gab ihm zu verstehen, daß er nicht träumte. Und ein gellender Schrei neben seinem rechten Ohr machte ihm klar, daß er auch keine Halluzination erlebte. Auch seine Begleiter nahmen dieses grauenhafte Feuergesicht wahr und fürchteten sich nicht weniger als er.

Der Diener hatte geschrien.Er preßte sich jetzt die bebenden Hände vor die Augen.

Dann krümmte er sich und taumelte. Er streifte einen der Hof-beamten und brachte den Mann zu Fall.

Meredith entsann sich mit siedendheißem Schrecken des Ge-munkels über den Unheimlichen. Der sollte den Menschen das Augenlicht weghexen können!

Ein fürchterliches Ahnen überkam ihn. Er fing den taumeln-den Diener auf, drückte ihn gegen den Türstock und bog ihm mit Gewalt die Arme vom Gesicht weg.

Wo der Diener eben noch Augen gehabt hatte, bewegten sich weiße Kugeln. Es gab keine Pupillen mehr.

Tote Augen drehten sich rollend in den Höhlen.

*

Mister Merediths Schrecksekunde schien eine kleine Ewigkeit zu währen. Der Anblick, das Begreifen des Entsetzlichen lähm-te seine Entschlußkraft.

Der Unheimliche steckte dort im Feuer. Aus den Flammen hatte er seinen vernichtenden Zauber über den Diener gewor-fen und ihm das Augenlicht gestohlen.

Und wenn der Unheimliche sich nicht damit zufrieden gab? Wenn er sich noch ein Opfer auswählte?

»Raus!« schrie Mister Meredith in einer Lautstärke, die man nie zuvor auf Balmoral vernommen hatte. »Raus hier! Nie-mand schaut ins Feuer!«

Er stieß den erblindeten Diener vor sich her.Der Elektriker und Jeremy schalteten schnell. Sie drückten

die Hände vor die Augen und hasteten hinaus. Jeremy rammte den festgestellten linken Türflügel. Er geriet aus dem Gleich-gewicht, stürzte um ein Haar und warf sich instinktiv in die richtige Richtung, nämlich auf den Flur hinaus. Nicht eine Se-kunde lang nahm er die Hände von den Augen weg.

Meredith hob den gestürzten Hofbeamten vom Boden auf und schob ihn unsanft vor sich her.

Der Feuerschein auf den Wänden wurde heller und greller. Plötzlich klang ein Brausen auf. Mit einem Schlag war es stockfinster im Raum.

Mister Meredith wagte es, einen Blick über die Schulter zu werfen.

Wo eben noch das Feuergesicht aus dem Kamin gegrinst hat-te, von einer Flammenlohe eingerahmt, zeigte sich gähnende Schwärze. Im Kamin brannte kein Feuer, es war nicht einmal ein Funken Glut vorhanden.

Als seien Höllenfurien hinter ihm her, rettete sich Meredith hinaus und schlug erst einmal die Tür zu. Dann merkte er, daß er schlechte Figur machte. Er überwand seine Angst und sagte so kühl, wie ihm eben möglich war: »Wir werden auf alles eine vernünftige Antwort finden. Ich bin sicher, es gibt eine ganz einfache Erklärung.«

Mit einem Sprung stand Jeremy vor ihm und ging mit den Fäusten auf ihn los. »Erklärung? Einfach? Richard ist blind, se-hen Sie denn das nicht? Was wollen Sie da noch erklären? Der Unheimliche hat ihm tote Augen angehext! Er wird uns alle…«

Einer der Hofbeamten packte den jungen Mann von hinten,

drückte ihm den Unterarm gegen den Hals und erstickte sein Geschrei abrupt.

»Jetzt dürfen wir nicht die Nerven verlieren«, sagte der Mann mit einer Stimme, in der im Gegensatz zu seinen Worten noch das Entsetzen mitschwang. »Was hier geschieht, muß ich nach London melden, das ist Ihnen doch klar, Meredith.«

»Man wird mich davonjagen.« Der Verwalter nickte ergeben.»Unsinn. Man wird die besten Kriminalbeamten heraufschi-

cken. Oder die Königin muß ihre Urlaubspläne ändern. Solan-ge wir nicht wissen, was hier geschieht, darf sie unter keinen Umständen nach Balmoral kommen.«

Jeremy lief schon leicht blau an.»Bringen Sie den Jungen nicht um!« bat Meredith.Der Hofbeamte lockerte den Griff. »Ganz friedlich, junger

Mann. Was wir jetzt am wenigsten gebrauchen können, ist eine Panik unter dem Personal. Helfen Sie mit, daß es nicht dazu kommt. Falls Sie den Mund nicht halten, feuere ich Sie eigenhändig, und ich werde dafür sorgen, daß Sie im ganzen Königreich keinen Job mehr bekommen.«

Jeremy verstand nur die Hälfte. Aber immerhin soviel, daß er das Maul halten sollte und daß sie hier etwas vertuschen wol-len. Er nickte. Hauptsache, er kam erst einmal hier weg!

Der würgende Druck verschwand von seinem Hals. Er schluckte und schaute Meredith mit einem mörderischen Blick an. Dann machte er einen Schritt zur Seite, um aus der Reich-weite des Hofbeamten zu kommen, den er hinter sich wußte.

»Das können Sie niemals totschweigen!« zischte Jeremy. »Oder wollen Sie Richard ins Verließ sperren lassen? Dann müssen Sie uns schon dazusperren.«

»Das ist nicht meine Absicht.« Meredith hatte seine Stimme wieder unter Kontrolle. »Ich erwarte lediglich, daß Sie schwei-gen, bis die Kriminalpolizei da ist.« Er wandte, sich an den

Hofbeamten. »Wie lange wird das dauern, Finchley?«»Höchstens bis morgen nachmittag.«Meredith faßte Jeremy ins Auge. »Sie haben es gehört. Ich

denke, wir verstehen uns, nicht wahr?«Jeremys Rebellion brach zusammen. Er nickte. Er gab klein

bei.Meredith stützte den blinden Diener Richard, der versuchte,

die Finger in die toten Augen zu bohren. Das Wimmern des Mannes konnte sogar einen Stein rühren.

Finchley faßte sich ein Herz und ging noch einmal in den Raum, in dem der Feuerteufel im Kamin getanzt hatte. Er war nach zwei Minuten schon wieder zurück.

»Unfaßbar«, murmelte er, »es ist kein Holz auf dem Rost und keine Asche darunter. Das Eisen und die Ofensteine sind eis-kalt. Meredith, was haben wir denn gesehen? War das kein Feuer?«

»Ein anderes Feuer, als wir es kennen, fürchte ich«, sagte der königliche Verwalter mit gedämpfter Stimme. »Es war etwas aus einer anderen Welt. Ich fürchte, es wird wiederkommen. Immer wieder.«

»Also glauben Sie auch an den Unheimlichen«, faßte Fin-chley kühl zusammen. »Ich habe seine Existenz angezweifelt, als ich herkam. Jetzt bin ich davon überzeugt, daß es ihn gibt. Meredith, ich muß sofort London verständigen. Es duldet kei-nen Aufschub!«

*

Die Bäume warfen drohende Schatten. Überall auf dem Weg zum Dorf schien Gefahr zu lauern.

Harvey hätte mich heimbringen können, dachte Binnie Bar-nes. Ein Fußmarsch zurück zum Schloß hätte Harvey nichts

ausgemacht! Männer sind mutiger! Mein Gott, habe ich eine Angst plötzlich! Oder er hätte mich mit dem Auto fahren kön-nen. Es steht jetzt ja doch nur herum. Ich bin noch nie in einer so vornehmen Limousine gefahren!

Binnie schwankte zwischen Stolz auf ihre Eroberung, Ärger über die Unaufmerksamkeit von Harvey und Furcht vor der Nacht, durch die sie heimwärts schritt.

Zu blöd auch, daß ihr die Drawden, dieses Pferd, in die Schmuserei mit Harvey hineingeplatzt war. O ja, er war verär-gert und sauer, und deshalb war er nicht mit ihr zum Dorf ge-gangen! Jetzt verstand Binnie.

Über ihre Angst kam sie dennoch nicht hinweg.Sie hörte Geräusche, die sie nie zuvor vernommen hatte.

Grausig hörte es sich an.Da –! Ein Eulenruf, der in ein Froschquaken überging und

abriß.Eine Katze miaute ganz kläglich, und im nächsten Moment

fauchte es, als wäre ein Löwe los.Wie Löwen fauchen, wußte Binnie. Sie war mal in Edinburgh

gewesen und hatte einen Bummel durch den Zoo gemacht.Waren da nicht auch Schritte hinter ihr? Noch weit zurück in

der Nacht, aber deutlich zu hören?Sie blieb stehen und lauschte. Sollte Harvey es sich überlegt

haben?Da kamen Schritte. Aber anders, als Harvey ging. Harvey

hinkte nicht.Wer immer ihr durch die Nacht folgte, hinkte jedoch.Das Gefühl einer Gefahr wurde eindringlicher, drohender.Glühten da nicht zwei Augen in der Nacht?Binnie begann zu laufen.Das Kleid wickelte sich um ihre Beine und behinderte sie.

Die Strickjacke rutschte ihr von der Schulter. Sie bekam sie ge-

rade noch zu fassen, bevor sie in der Finsternis zu Boden fiel und zurück blieb.

Die verfolgenden Schritte klangen schon sehr viel näher. Das galt ihr – Binnie spürte es mit erschreckender Deutlichkeit.

Sie schrie gellend und rannte um ihr Leben.Ungehört verhallte ihr Schrei in der mondlosen Nacht.Das Dorf war zu weit entfernt. Binnie sah nur ein paar Lich-

ter in weiter Ferne. Aber sie hoffte, sie zu erreichen. Dort im Dorf war sie geborgen. Dort waren Menschen. Ihre Leute. Dort war sie in Sicherheit.

Sie näherte sich dem Fluß. Feuchter Nebel kroch aus dem Wasser des Dee und legte sich um Büsche und Bäume und auf den Weg.

Angstvoll lauschte Binnie hinter sich. Ihre Lungen arbeiteten so laut und ihr Herz schlug so heftig, daß sie die verfolgenden Schritte nicht hörte.

Schon hoffte sie, daß niemand mehr hinter ihr war, daß sie den Verfolger abgeschüttelt hatte, wer immer es war.

Aber dann hörte sie ihn. Er rannte ebenfalls. Nur keuchte er nicht Es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, so schnell laufen zu müssen.

Von Angst getrieben warf sich Binnie herum und hetzte wei-ter.

Ihre Lungen schmerzten, glühende Stiche fuhren ihr durch die Brust, als sie endlich die schmale Brücke aus dem Nebel auftauchen sah. Auf dem anderen Ufer lag das Dorf. Die Lich-ter waren zum Greifen nah.

Binnie hörte den Verfolger schon ganz dicht hinter sich ren-nen. Das war ein Mann. Sie zweifelte nicht länger. Nur ein Mann hielt das durch. Und er hinkte.

Sie kannte niemand, der hinkte.Ihre Schritte hämmerten über den Bohlenbelag der Brücke.

Aus der Nacht schälte sich der mächtig in den Himmel ragen-de Schatten des Kirchturmes. Ein paar Sterne funkelten hinter dem Turmkreuz.

Die Kirche – Pater Ryan – der Doktor!Über ihrer Angst hatte Binnie fast den Auftrag von Mrs. Dra-

wden vergessen. Jetzt erinnerte sie sich.Sie schrie wieder. Warum hörte denn niemand im Dorf, daß

sie in Not war?Vielleicht hörten der Pater und der Doktor sie.Sie ging nur selten zur Kirche. Aber Pater Ryan würde ihr

Schutz gewähren. Ganz sicher. Und schließlich war da auch noch Doktor Vilion, der alte grobe Kerl, der vor niemand Re-spekt hatte.

Hinter Binnie stampften Schritte über die Brückenbohlen. Sie kamen immer näher. Nichts hielt sie auf.

Angesichts der rettenden Kirche noch von dem unbekannten hinkenden Verfolger eingeholt zu werden, brachte Binnie fast um den Verstand. Sie wollte noch einmal einen Schrei aussto-ßen.

Nur ein Röcheln kam aus ihrem Mund. Sie hatte sich völlig verausgabt, die Kräfte verließen sie.

Sie taumelte vollends über die Brücke und spürte plötzlich einen harten Griff an ihrem Arm.

Entsetzt fuhr sie herum.Der Verfolger hatte sie eingeholt. Er trug eine Kutte, und un-

ter seiner Kapuze lugte ein Totenschädel heraus.Binnies Herz setzte kurz aus. Dann sank sie in Ohnmacht.Der Unheimliche fing sie auf und warf sich die schlaffe Mäd-

chengestalt mühelos über die Achsel.Er blieb eine Weile lauschend stehen, das knöcherne Antlitz

dem Dorf zugekehrt. Das Mädchen hatte mehrmals laut geru-fen. Es war schon möglich, daß es jemand gehört hatte und

nachsehen kam, was die Schreie zu bedeuten hatten.Andererseits waren die Leute vom Dorf Balmoral nicht be-

sonders neugierig. Schon gar nicht in einer Nacht wie dieser.Ein Hund schlug an. Ein anderes Tier antwortete vom Ende

des Dorfes. In der Nähe klappte eine Tür.Der Unheimliche streckte eine Knochenhand aus. Sofort

wallte und brodelte der Nebel viel stärker aus dem Dee, wogte unter der Brücke her und kroch das Ufer herauf.

Er verdichtete sich zu einem Wall und entzog den Unheimli-chen allen zufälligen Blicken aus dem Dorf.

Ein zufriedenes Kichern drang aus dem Totenschädel. Eine Knochenhand tätschelte das ohnmächtige Mädchen. »Mit dir habe ich besondere Pläne, mein Täubchen. Du wirst keine to-ten Augen haben, wenn ich dich zu ihnen zurückschicke, aber du wirst mir ebenfalls willenlos gehorchen.«

Er machte eine Handbewegung. Der Nebelwall zog sich um ihn und Binnie Barnes zusammen und hüllte sie ganz fest ein.

Hinkend tappte der Unheimliche mit seiner Last davon.Er kehrte nicht über die Brücke zurück nach Schloß Balmo-

ral, er hielt sich auch nicht an den Fluß. Er schritt auf das Dorf zu.

Niemand sah ihn mit seiner Last.Er versäumte, einen Blick zurück zu werfen.So entging ihm, daß am Ende der schmalen Brücke Binnies

Strickjacke auf den Bohlen lag.

*

Mit geübter Bewegung schüttelte Doktor Vilion die beinernen Würfel und ließ sie aus der Hand über den Tisch rollen.

»Sieben!« zählte er die Augen und schaute grimmig. »Sie müssen mehr bringen, oder der Abend geht endlich mal an

mich.«Er spielte mit Pater Ryan das alte schottische Brettspiel Nai-

rack.Jeden Donnerstag setzten sie sich im Pfarrhaus zusammen

und ließen die Würfel klappern. Die Haushälterin des Geistli-chen suchte das Weite, sobald der Doktor kam. Sie besuchte dann im Dorf ihre Leute. Seit zwanzig Jahren wetterte sie ge-gen das Teufelsspiel.

Pater Ryan focht das nicht an, solange sie ihn nicht beim Bi-schof verpetzte, und Doktor Vilion stellte sich schwerhörig. Außerdem glaubte der sowieso an nichts. Er kam nicht mal an Weihnachten in die Kirche.

Aber seit zwanzig Jahren verlor er jeden Donnerstag beschei-dene Beträge an Pater Ryan und nannte das seinen Beitrag zur Erhaltung der Christenheit.

Und Pater Ryan strich ohne Skrupel die Gewinne ein und füllte damit die Kollekte auf, mit der ihn seine geizigen schot-tischen Schäflein nicht gerade verwöhnten.

Anfangs hatten sich die beiden häufig gestritten. Nairack wurde mit Würfeln aus richtigem Menschengebein gespielt, und Doktor Vilion hatte sich erboten, für das rechte Material zu sorgen. Pater Ryan hatte das als gottlos und lästerlich be-zeichnet und die Würfel aus Stierknochen schnitzen lassen.

Darum könnte er nie gewinnen, behauptete der Doktor. Sie würden Nairack nicht richtig spielen.

Aber in diesem Punkt hatte der Geistliche nicht mit sich re-den lassen.

Inzwischen waren sie zwei grimmige alte Herren geworden und fast so verwittert und abweisend wie das Land.

Da bewegten sich die Freuden des Lebens in recht bescheide-nen Grenzen. Ein Bauer lieferte von seinem Whisky, den er heimlich in einem versteckten Hochtal brannte, ins Pfarrhaus.

Donnerstags labten sich die beiden alten Männer daran. Und sie fanden bescheidenes Vergnügen beim Spiel.

In manchem Jahr brachte der königliche Hof aus London Le-ben ins Dorf. Wenn die königliche Familie Ferien auf Schloß Balmoral machte statt auf Schloß Windsor.

Pater Ryan und der Doktor wurden davon aber eigentlich wenig berührt Sie registrierten die fremden Gesichter und sa-hen manchmal die königliche Familie aus der Ferne. Damit hatte es sich.

Der Hof brachte eigene Ärzte mit. Für einen alten krumm-knorrigen Kerl wie Vilion war da kein Bedarf.

Erst recht nicht für Pater Ryan. Der Hof war anglikanisch, und er war mit Haut und Haaren katholischer Geistlicher. Überhaupt steckte in ihm wie in jedem rechten Schotten die Erinnerung an das traurige Schicksal von Maria Stuart Was ja wirklich kein Grund war, um die Engländer zu mögen. Darum war es Pater Ryan ganz lieb, daß die Anglikaner für sich blie-ben.

In den zurückliegenden Jahren war ein Besuch der königli-chen Familie auf Schloß Balmoral nie ein Gesprächsthema für die beiden Männer gewesen. In diesem Jahr wurde diese Tra-dition beendet.

Der Doktor hatte den Bruch herbeigeführt. Und schon den ganzen Abend befand er sich in einer Stimmung, als hätte er Pater Ryan noch eine höchst unangenehme Eröffnung zu ma-chen und wollte diesen Augenblick nur möglichst lange hin-ausschieben.

Pater Ryan griff nach den beinernen Würfeln und schüttelte sie in den hohlgehaltenen Händen klappernd durcheinander.

»Sie müssen sie auch aufs Brett werfen, Vilion, nicht auf den Tisch. Das macht den Unterschied.« Er ließ die Würfel in den flachen Holzkasten rollen.

Sie kollerten dort herum und blieben endlich liegen.»Elf!« vermerkte Pater Ryan zufrieden. »Der Abend gehört

mir. Die schottische Kirche dankt Ihnen von Herzen, lieber Vi-lion.« Er zog den bescheidenen Gewinn zu sich heran.

Grimmig sah Vilion sein Geld verschwinden. »Reden Sie mir nicht ein, es läge an diesem alten Kasten. Ich vermute eher, Sie hauen mich mit himmlischen Beistand übers Ohr. Zwanzig Jahre Glück in Folge, das erzählen Sie mal Ihrer Gemeinde, aber nicht mir.«

»Gott ist mit den Tüchtigen«, meinte Pater Ryan zufrieden. Er goß für jeden noch einen Schluck Whisky in die Gläser.

»Mit seinen Priestern, wenn sie einen armen Landarzt aus-plündern«, knurrte Vilion. »Das glaube ich eher. Sonst aber läßt er seine Gefolgsleute im Stich.«

»Lästern Sie nicht!« mahnte der Geistliche. »Gott läßt nie-mand im Stich. Allenfalls erlegt er harte Prüfungen auf.«

»Dann hat er sich für Mindy aber einen besonderen Härte-grad einfallen lassen. Gestern ist ihm drüben im Schloß das Dach vom Blumenhaus auf die Birne gefallen. Sie haben mich erst gerufen, als sie ihn schon ausgegraben hatten. Sah ganz lieblich zerschnitten aus, kann ich Ihnen sagen. Ich habe mehr Nähgut verbraucht, als man zum Stopfen einer alten Pferdede-cke nötig hat. Dabei fiel mir auf, daß was mit seinen Augen ist. Heute morgen wußte ich dann Bescheid. Es hat ihn auch erwi-scht. Seine Augen sind tot. Wenn das eine göttliche Prüfung ist, Pater, dann ist Ihr himmlischer Brötchengeber ein Sadist. Es tut mir leid, aber anders vermag ich das nicht zu sehen.«

Pater Ryan erschrak sichtlich. »Mindy auch? Lieber Himmel. Vilion, was kann das nur sein?«

»Nehmen Sie den Leuten nicht die Beichte ab? Sie müßten sonst schon vom Unheimlichen gehört haben.«

»Verschonen Sie mich mit diesem Aberglauben. Und versün-

digen Sie sich nicht!«»Was ist an einem alten Kerl wie mir, der schon soviel auf

dem Kerbholz hat, noch zu verderben? Fragen Sie Ihre Haus-hälterin. Die schlägt dreimal das Kreuz, wenn sie mich sieht. Tja, und was mit unseren Blinden ist, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Es gibt keine medizinische Erklä-rung dafür. Heute gucken die Leute noch munter und ver-gnügt aus ihren Augen, und morgen sind diese Augen tot. Ohne Anzeichen einer Erkrankung.«

»Eine Seuche vielleicht«, deutete Pater Ryan schüchtern eine Möglichkeit an.

»Seit hundert Jahren hatten wir hier keine Seuche – weder eine andere noch eine, bei der die Leute innerhalb von weni-gen Stunden restlos erblinden. Es ist ja gar nichts mehr da – keine Iris, keine Pupille, keine Krause. Nur noch ein weißer rollender Augapfel.«

»Ich weiß, es ist ein schreckliches Los.« Der Geistliche räumte das Nairack-Spiel beiseite und schloß es in eine Truhe ein.

»Das ist Satanswerk, aber kein Los!« wetterte der Doktor. »Man hat mich zu den armen Teufeln gerufen. Wenn alles nichts mehr hilft, dann schreit man nach Vilion. Dann soll ich ein Wunder vollbringen. Die Leute hätten besser Sie gerufen, für Wunder bin ich nicht zuständig.«

»Man hat mich gerufen«, bekannte Pater Ryan kleinlaut.»Aha, und die Wunder haben nicht stattgefunden«, versetzte

Vilion ketzerisch. »Ich habe mit den Leuten geredet. Es ist schwierig, sie können ihr Schicksal noch nicht fassen. Sie sind verzweifelt. Aber ich habe aus ihnen herausgebracht, daß sie zuvor dem Unheimlichen begegnet sind. Die alte Chadwick war im Wald und hat ihre Kräuter gesammelt, und da ist ihr ein Kerl in einer Kutte aufgefallen, der am Rand der Lichtung stand und ihr zugesehen hat. Sie kann sich nur noch daran er-

innern, daß plötzlich Nebel über den Boden herangekrochen ist. Der Kerl am Waldrand war fort.«

Pater Ryan machte energische Handbewegungen. »Ihr Geist ist verwirrt, das wissen Sie. Wer weiß, was sie gesehen hat.«

»Na, dann warten Sie nur mal ab. Nach Hause gefunden hat sie jedenfalls noch, aber mit ihren Augen war schon etwas. Sie hat alles verschwommen gesehen. Morgens waren dann ihre Augen tot. Zwei Tage später hat's den jungen Burgess erwi-scht. Der war auf der Kirchweih in Ballater und schlief seinen Rausch im Straßengraben aus. Die Kälte hat ihn in aller Herr-gottsfrühe auf die Beine gebracht und heimgetrieben. Nach ei-nem Stück Weges hat ein Kerl in einer Kutte vor ihm gestan-den. Dicker Nebel ist kniehoch über die Straße gequollen. Ian Burgess war die Sache unheimlich, er wollte davonlaufen. Aber der Nebel war überall und hat ihn eingehüllt. Sein Ge-sicht soll wie Feuer gebrannt haben, als es mit dem Teufelsne-bel in Berührung kam. Heimgefunden hat er jedenfalls nicht mehr aus eigener Kraft. Seine Augen müssen innerhalb von ei-ner Stunde tot gewesen sein. Sie wissen ja, daß man ihn drau-ßen vor dem Dorf gefunden hat, wo er auf einem Kartoffelfeld herumgeirrt ist.«

»Sie brauchen es mir nicht in aller Ausführlichkeit aufzuti-schen«, versetzte Pater Ryan gereizt. »Ich wohne immerhin hier und weiß Bescheid. Burgess ist etwas Schreckliches zuge-stoßen, das will ich nicht in Abrede stellen. Aber das mit der unheimlichen Gestalt in der Kutte braucht nicht die Wahrheit zu sein. Bedenken Sie, Vilion, er hat doch sicher gehört, was die Witwe Chadwick erzählt hat. Und sicher war er noch nicht nüchtern. Da hat er sich eingebildet, eine Gestalt in einer Kutte erblickt zu haben.«

»Wenn ich es mir mit meinen Diagnosen auch nur so einfach machen könnte wie Sie! Fällt Ihnen dann zu McKnee auch so

eine lockere Erklärung ein? Sein Geist ist nicht verwirrt, auf der Kirchweih war er auch nicht – jetzt wird's schwierig für Sie!« Die Bosheit leuchtete Vilion aus den Augen.

Pater Ryan legte die Hände zusammen. »Dazu vermag ich wahrhaftig nichts zu sagen. McKnee hat einen guten Leu-mund, ist fleißig und arbeitsam und hat noch keinen Sonntag in der Kirche gefehlt, seit er mit seiner Familie hergezogen ist. Vilion, vielleicht handelt es sich um ein Gas.«

»Chemiedreck und so, was? Daran hatte ich auch schon ge-dacht, aber solches Sauzeug würde den Leuten die Augen zer-fressen und die Haut dazu. Und man hätte das auch gerochen. Dreimal könnte eine ätzende Gaswolke nicht unbemerkt vor-beistreichen. Aber abgesehen davon – woher sollte das Gas kommen? Wir haben hier weit und breit keine Industrie, keine Firmenlager, keine Depots. Mittlerweile habe ich diese Vermu-tung auch beiseite geschoben. Heute früh hat man mich zu Mindy gerufen. Seine Augen sind tot, das sagte ich ja. Ich habe ihn ein wenig ausgefragt. Bevor das Glasdach auf ihn herabge-kommen ist, hat er unseren Unheimlichen im Blumenhaus ste-hen sehen. Es war der Kerl in der Kutte. Der Bursche hat schaurig gelacht und zu Mindy gesagt, er werde ihn zu seinem Werkzeug machen. Dann ist mit einem Schlag alles voller Ne-bel gewesen. Mindy konnte nicht sehen, in welche Richtung der Unheimliche verschwunden ist. Jedenfalls war der weg, bevor das Dach einbrach. Mindy hatte nicht so viel Glück. Pa-ter, vier Blinde in etwas mehr als einer Woche, viermal sieht man den Kuttenmann, viermal quillt unheilbringender Nebel umher – dafür gibt es keine natürliche Erklärung.«

»Sie denken an einen Spuk?« Pater Ryan rang sich diese Wor-te mühsam ab.

»Spuk – Geistertreiben – Teufelsspiel – das ist doch nur Haarspalterei! Ich lebe ein Menschenalter hier, ich kenne das

Land und die Leute, ich kann Ihnen die Häuser zeigen, in de-nen ich selber schon Geister habe rumoren hören. Was wir ge-genwärtig erleben, hat es in ganz Schottland noch nicht gege-ben, darauf mein Wort als Arzt. Da sind übersinnliche Kräfte im Spiel.«

Instinktiv griff Pater Ryan an sein Brustkreuz, das er an einer Kette um den Hals trug.

»Nicht, daß ich Ihnen nicht glauben würde, Vilion, aber sind Sie ganz sicher? Meinen Sie, wir hätten es hier mit dunklen Mächten zu schaffen?«

»Dunkle Mächte sind gar kein Ausdruck.« Wütend kippte sich der Doktor den Inhalt des Glases hinunter und reckte auf-fordernd dem Geistlichen das leere Gefäß hin. »Geben Sie mir noch was, ich denke, ich habe so eine Ölung nötig.«

»Sachte, sachte!« mahnte Pater Ryan. Er hatte es nicht gern, wenn der Doktor den gottlosen Menschen so deutlich heraus-kehrte. Zögernd goß er ihm noch daumenbreit Whisky ein, verkorkte die Flasche und stellte sie demonstrativ unter den Tisch, damit deutlich machend, daß es jetzt nichts mehr gab. »Den Fall gesetzt, die armen Menschen hätten sich nicht ge-täuscht und Mindy hätte sich nicht verhört – was könnte die-ser – dieser Unheimliche damit gemeint haben, daß er ihn zu seinem Werkzeug machen will?«

»Darüber habe ich mir den halben Vormittag den Kopf zer-brochen. Ich habe keine Antwort gefunden. Etwas anderes ge-fällt mir nicht. Warum geschehen diese grauenhaften Dinge gerade jetzt? Und bei uns? Man könnte fast auf den Gedanken kommen, es hätte mit dem baldigen Eintreffen der königlichen Familie zu tun.«

Pater Ryan schaute ihn entsetzt an. »Wenn das wahr wäre! Nicht auszudenken! Vilion, selbst auf die Gefahr hin, daß wir uns blamieren, müssen wir etwas unternehmen. Wir wenden

uns an Mister Meredith. Als königlicher Verwalter ist er ver-pflichtet…«

»Der wirft uns raus«, unterbrach der Doktor. »Wenn er uns Gehör schenkt, gibt er zu, daß er an die Existenz des Unheimli-chen glaubt. Und wenn sich dann noch abzeichnet, daß sich das böse Treiben möglicherweise gegen das Schloß richtet, läuft ihm das Personal davon. Ich habe gestern mitbekommen, daß die Stimmung nicht gut ist. Die Leute haben Angst. Wenn erst bekannt ist, daß auch Mindy tote Augen hat, steigert sich die Angst zur Panik. Ein Schloßverwalter, dem die Königin ins Haus steht und der sie ohne Personal empfangen muß, macht eine verdammt schlechte Figur. Aus diesem Grunde wird er uns gar nicht empfangen. Ich traue ihm zu, daß er die Hunde auf uns hetzt.«

»Das nehme ich auf mich – hören Sie nicht?« Pater Ryan legte den Kopf schief und lauschte.

Dünn und hoch gellte ein verzweifelter Schrei in der Ferne.Doktor Vilion stemmte die knotigen Hände auf den Tisch

und stand auf. Mit wuchtigen Schritten strebte er der Tür zu. Dabei sagte er mit einem Beiklang von boshafter Hoffnung: »Ihre Haushälterin wird doch nicht in den Fluß gefallen sein?«

»Was sollte sie drüben auf der anderen Seite suchen?«»Schade«, knurrte Vilion.»Bitte? Ich verstehe heute abend immer so seltsame Dinge.«

Pater Ryan schraubte sich hinter dem Tisch hoch.Der Doktor blieb die Antwort schuldig. Er öffnete die Tür.

Und gerade war wieder eine Hilfeschrei in höchster Not zu hö-ren. Er kam unverkennbar aus weiblicher Kehle. Und vom Fluß her.

Ein Hund schlug im Dorf an.Doktor Vilion stürmte aus dem Pfarrhaus. Er war zwar alt

und grau und krumm, aber er war nicht lahm. Und er kannte

keine Furcht.Scheußlicher Nebel wallte vom Fluß gegen das Dorf her. Die

schmale Brücke war nicht mal zu ahnen. Stockfinster war es obendrein.

Vilion meinte, Bohlengeklapper zu hören. Das Geräusch wie-derholte sich jedoch nicht. Dafür tappten Schritte heran, und schnaufend sagte Pater Ryan: »Ich hätte Sie fast nicht gefun-den, Vilion. Seltsam, um diese Jahreszeit gab's noch nie sol-chen Nebel.«

»Kommen Sie, ich meine, auf der Brücke etwas gehört zu ha-ben.« Der Doktor schritt schon weiter.

Eigenartig fanden sie es ja schön, daß sich der Nebel lichtete, je näher sie zum Fluß und zur Brücke kamen. Mißtrauisch blieb Vilion stehen und sog schnuppernd die Luft ein.

Der Nebel roch nach nichts. Nur feucht war er.Endlich tauchte voraus das Balkengerüst der Brücke auf.Wie an unsichtbaren Fäden gezogen segelten die letzten Ne-

belfetzen über das Wasser davon. Es sah aus, als würden sie sich irgendwo drüben unter den Bäumen sammeln und dann auflösen.

Pater Ryan spürte, wie es ihm die Nackenhaare aufrichtete.»Das ist Hexenwerk!« murmelte er und schlug drei Kreuze.»Oder der Unheimliche hat seine Visitenkarte hinterlassen.«

Vilion spuckte im hohen Bogen ins Wasser hinunter. »Was ist denn das?«

Auf den Bohlen sah er etwas Helles liegen. Nur ein paar Schritte entfernt.

Er hob es auf und befühlte es. Es war aus Wolle. Eine Jacke mit langen Armen und gestrickt, wenn ihn nicht alles täuschte.

»He, ist hier jemand?« rief er mit knarrender Stimme.Der Pater zuckte zusammen. Vom anderen Ufer schimpfte

ein Käuzchen über die Störung. Der Dee-Fluß gluckste leise

und drückte sein dunkles Wasser unter der Brücke her. Im Dorf bellte wieder ein Hund.

Antwort von einer menschlichen Stimme bekam der Doktor nicht.

Sie warteten bald zehn Minuten und kehrten schließlich zum Pfarrhaus zurück. Die Ungewißheit, wer da so gellend geschri-en hatte, und das Erlebnis mit dem geisterhaften Nebel be-drückte sie. Ein Gespräch kam nicht mehr auf.

Die Haustür stand auf, aus dem Flur fiel Licht. Die Haushäl-terin war heimgekommen. »Ich komme besser nicht mehr mit hinein«, sagte Vilion ahnungsvoll und drehte und wendete die Strickjacke. »Wem gehört die? Kennen Sie sie?«

»Einer Frau«, konstatierte der Geistliche und schnupperte an der Jacke. »Sie benützt ein Parfüm.«

»Also ist sie was Besseres«, meinte der alte Doktor grimmig. »Die Frau vom Lehrer und Ihre streitbare Köchin benützen aber kein Parfüm. Jedenfalls ist mir das noch nie aufgefallen. Es könnte sich also um jemand handeln, der drüben im Schloß angestellt ist und nachts zu seinen Leuten heimkommt. Ich nehme die Jacke an mich.«

»Sobald ich etwas höre, schicke ich zu Ihnen, lieber Vilion«, versprach der Geistliche und hörte drinnen seine Haushälterin wegen der zwei Gläser wüten, die sie jetzt noch spülen mußte.

Der Doktor verabschiedete sich knapp und nahm den Heim-weg am Flußufer entlang. Es konnte ja doch jemand ins Wasser gestürzt sein; das ließ ihm keine Ruhe.

Er rief immer wieder, schaute sogar an den seichten Stellen nach, fand aber niemand.

Und wenn der Unheimliche wieder seine Hand im Spiel hat-te? überlegte er.

Vilion drückte die Strickjacke fester an sich.Sein Haus lag dem Pfarrhaus entgegengesetzt. Er hatte keine

Haushälterin, und er pries sich deswegen glücklich. Er liebte nämlich seinen Frieden.

Im Haus roch es zwar etwas muffig, weil er ständiges Lüften für wenig sinnvoll hielt, aber er hatte sich daran gewöhnt, und seinen Patienten blieb gar nichts anderes übrig, als sich eben-falls daran zu gewöhnen. Er war der einzige Arzt im Umkreis von fünfzig Meilen.

Er ließ die Haustür hinter sich zufallen und stand eine Weile in der Dunkelheit am Fenster. Sein Blick ging hinaus auf das Dorf, in dem nur noch die Straßenlampen brannten.

Irgendwo dort draußen war der Unheimliche.Wie im Krampf zog Vilion die krumme Schulter hoch. Dem

Unheimlichen mußte das Handwerk gelegt werden, gleichgül-tig, wer er war und was er beabsichtigte.

Aus der Strickjacke stieg sanfter Parfümduft.Vilion wurde es etwas eigenartig ums Herz. Er war nie ver-

heiratet. Vorgehabt hatte er es ja, aber dann hatte er keine Zeit dafür gehabt, und schließlich war ihm sein Mädchen davonge-laufen und hatte seinen besten Freund genommen.

Er riß sich von seinen Erinnerungen los und knipste das Licht an.

Das Telefon stand im Flur auf einer handgeschnitzten Kom-mode. Der Platz hatte den Vorteil, daß er überall im Haus das Läuten des Apparates hörte. Selbst während der Sprechstun-de.

Doktor Vilion nahm den Hörer ab und tat das, was er als waschechter Schotte noch nie in seinem Leben gemacht hatte – er rief die Polizei an. Nicht die schottische in Aberdeen.

Sondern die englische in London.

*

Früh um acht Uhr läutete verdächtig herb das Telefon.Verschlafen angelte ich mit beiden Armen in zwei verschie-

dene Richtungen – zum Nachttisch und auf den Platz neben mir.

Das Telefon auf dem Nachttisch erwischte ich. Kathleen nicht. Der Platz war schon leer.

Ich hatte den Hörer schon am Ohr und rief schlaftrunken: »Wo bist du?« Dabei peilte ich in Richtung Bad. Die Tür stand auf. Durch den Spalt glaubte ich Kathleens Wuschelkopf zu er-kennen.

Und jetzt hörte ich auch, daß Wasser aus der Dusche rausch-te.

Aus dem Hörer knarrte unangenehm die Stimme meines Chefs: »Welche Spiele treiben Sie denn jetzt wieder, Mac?« Er hüstelte. »Ich erwarte Sie in einer Stunde in Whitehall.«

»Guten Morgen erst mal!« erwiderte ich nicht weniger knur-rig. Dann merkte ich, daß ich keinen Gesprächspartner am Te-lefon hatte. Sir Horatio Merriman hatte bereits aufgelegt.

Whitehall – dort befindet sich unsere Zentrale. Jeder Geheim-dienst muß schließlich seine Zentrale haben. Ich war beim bri-tischen Geheimdienst. Und weil am Ende nur der Erfolg zählt, war es Sir Horatio eigentlich herzlich gleichgültig, wann ich zum Dienst antrat. Er vertrat darin einen sehr großzügigen Standpunkt.

Wenn er jedoch derart heftig und dringend auf einem ganz frühen Termin bestand, dann mußte ihm irgendwo der Hafer-brei angebrannt sein. Und dann meinte er neun Uhr und nicht ein Augenzucken später.

Im Bad hörte das Rauschen auf.»Morgen, Siebenschläfer!« wünschte Kathleen. »Wer war

dran?«»Mein Schneider. Ich habe die letzte Rechnung nicht be-

zahlt.« Ich schwang die Beine aus dem Bett.Kathleen steckte den Kopf aus der Badezimmertür. Sie hatte

sich noch nicht zurechtgemacht und sah dennoch schon hinrei-ßend aus. Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.

»Entweder war es eine andere Frau!« Sie fixierte mich. »Oder es war dein Chef. Nur in diesen beiden Fällen verfallen die Männer auf die nicht sehr originelle Idee, ihren Schneider vor-zuschieben.« Sie seufzte, und ihr hübscher Busen hob sich un-ternehmungslustig. »Reicht es noch zu einem kleinen Früh-stück?«

Für das einladende Bild, das sie bot, hatte ich leider keine Verwendung. Obschon ich ihr jederzeit den Vorzug vor Sir Horatio gegeben hätte, was das betrifft.

Aber ein Frühstück wollte ich ihr nicht abschlagen.Ich zauberte etwas aus Büchse und Kühlschrank zusammen,

und während der Tee zog, machte ich im Bad meinen Stoppel-bart nieder und stellte mich unter die Brause.

Kathleen hatte inzwischen den Tisch gedeckt. Sie entwickelte hausfrauliche Talente. Das mahnte mich zur Vorsicht. Denn von Hause aus war sie eine hartgesottene Geschäftsfrau mit zwei Boutiquen, die ihr mehr einbrachten, als wir zu zweit verjubeln konnten.

Jedenfalls rechnete sie mir das in regelmäßigen Abständen vor.

Aber ich wollte lieber von meinem Gehalt leben, selbst wenn es mir keine großen Sprünge erlaubte.

Kathleen hatte sogar ein winziges Blumensträußchen organi-siert.

»Hübsch, wie du das machst«, lobte ich. Dann beguckte ich die Blumen genauer. Ich wollte schwören, daß sie bis eben noch auf dem Nachbarbalkon geblüht hatten.

»Nicht wahr?« Kathleen strahlte mich an. Und frivol fügte sie hinzu: »Das kann ich auch. Was hältst du vom Heiraten?«

Ich hatte so etwas geahnt. Ein Morgen, der mit einem drin-genden Anruf von Sir Horatio begann, konnte kein gutes Ende nehmen.

»Viel«, sagte ich und grinste düster. »Aber wer nimmt uns zwei schon?«

Sie gab mir einen Tritt unter dem Tisch und sagte vernich-tend: »Du bist ein Schuft!« Dann goß sie Tee ein, und danach fragte sie besorgt: »Tut's sehr weh?«

»Ich bin unverwundbar«, versicherte ich ihr.Wir erledigten das Frühstück in ungebührlicher Hast. Ich

verfrachtete Kathleen in meinen MG und setzte sie in Covent Garden vor ihrem Hauptgeschäft ab. Ihre Top-Verkäuferin kam heraus und blinzelte mir zu. Ich winkte höflich zurück, weil es zu nichts Gutem führt, wenn man das Spiel weiter treibt.

Ich kannte mal einen Kerl aus Soho, schwerreich und wahr-scheinlich ein Gangster, der dieses Geschäft ganz konsequent betrieben hatte. Und weil er in kleinen Dingen ein gesetze-streuer Bürger war und zweitens wußte, was sich gehört, hei-ratete er seine Mädchen. Drei. Der Reihe nach.

Bloß vergaß er dazwischen, sich scheiden zu lassen. Als er endlich auf den Trichter kam, war's natürlich zu spät. Da hatte er schon drei Schwiegermütter.

Zuletzt hörte ich von ihm, daß er nach Frankreich abgehauen sein sollte. Mit einer neuen Puppe. Der Kerl wurde nie schlau, scheint's.

In Whitehall fand ich im ersten Anlauf keinen Parkplatz. Ein Wachsoldat, der mein verzweifeltes Rangieren sachkundig be-obachtete, empfahl mir: »Lassen Sie doch die Luft raus, klap-pen Sie den Kleinen zusammen und nehmen Sie ihn in der Ho-

sentasche mit rauf.«Ich versuchte, den Burschen mit Blicken zu erdolchen. Er

zeigte sich leider wenig anfällig.Im zweiten Anlauf kriegte ich dann ein Plätzchen für meinen

Sportflitzer, und mit einem gewaltigen Spurt schaffte ich es, das Vorzimmer meines Chefs zu erreichen, bevor der kleine Uhrzeiger auf die Neun rückte.

Barbara Hicks, die pferdegesichtige Sekretärin von Sir Hora-tio, hatte schon wieder den unvermeidlichen Tee vor sich ste-hen. Sie zog die Brauen hoch und schaute mich vernichtend an.

Ich mußte unbedingt im Terminkalender vormerken, daß ich ihr zum Geburtstag einen Ballen Heu schenkte. Sie mochte mich nicht. Einmal hatte sie sogar gesagt, sie täte mich nicht mal mit der Feuerzange anfassen, wenn sie müßte.

Bei ihr kam ein Mann schon gar nicht auf seltsame Gedan-ken. Sie hatte auch keinen. Vielleicht war sie deshalb so giftig.

Bei Sheila Green, der zweiten Sekretärin, stellte man schon eher gemütliche Betrachtungen an. Die schwarze Sheila hatte alles, was Barbara Hicks fehlte. Vor allem Figur.

Hinter der Tür von Sir Horatio ging es laut her. Er hatte Be-such. Ich litt unter Ahnungen. Das roch nach einem heiklen Auftrag, bei dem sich niemand die Finger verbrennen wollte. Außer mir.

Auf einem Tablett war Teegeschirr hergerichtet. Ich wies dar-auf.

»Zittern Sie mir auch einen Tee in die Tasse«, sagte ich zu Barbara Hicks und rückte den Krawattenknoten gerade. »Sitzt er?« wandte ich mich an Sheila.

Ihre schwarzen Augen brannten wie Höllenfeuer. »Es geht« Sie schaute amüsiert an mir hinab. »Wenn Sie morgen auch noch zwei gleiche Socken anziehen, ist der Gentleman per-

fekt.«Ich zuckte leicht zusammen. Verflixt, in der Hast vorhin hatte

ich nicht auf solche Kleinigkeiten geachtet. Oder Kathleen hat-te mir ein gemischtes Sockenpaar untergeschoben.

»Ein Gentleman ist selbst im Nachthemd ein Gentleman«, ließ ich Sheila wissen und zeigte mit dem Daumen auf die Tür. »Hoher Besuch, oder was bedeutet der Lärm sonst?«

»Sie sind zehn Sekunden über die Zeit!« Barbara Hicks schoß Blicke ab, als wollte sie mich durch die geschlossene Tür kata-pultieren.

Seufzend sagte ich: »Ich merke schon, die Damen sind was-serdicht wie ein gutes Alibi.«

Damit öffnete ich formlos die Tür. Als einziger Mann vom Geheimdienst hatte ich dieses Privileg. Ich war ja auch meine eigene Spezialabteilung.

Wenn Sir Horatio seinen guten Tag hatte, sagte er ja auch, er sei froh, daß es mich gäbe. Leider hatte er nicht oft seinen gu-ten Tag.

Aber kürzlich hatte ich seine verstorbene Lieblingstante da-vor bewahrt, von einem leichenfressenden Ghoul verspeist zu werden. Seitdem hatte ich alle erdenklichen Freiheiten.

Drei Besucher waren beim Chef. Wie auf Kommando dreh-ten sie den Kopf.

Sie hatten alle den angestrengten Blick, wie es so schön heißt, und einer war krebsrot. Sie waren streng und auffallend kor-rekt gekleidet – gestreifte Hose, schwarze Jacke, schneeweißes Hemd und dunkle Krawatte.

Sie sagten mir nichts, ich hatte sie noch nie gesehen.Sir Horatio erhob sich. Ich hörte sein Aufatmen.»Mister Mac Kinsey«, stellte er mich vor. »Das ist Ihr Mann!«

Er machte mich mit den strengen Gentlemen bekannt.Der mit dem krebsroten Gesicht hieß Argill und war Käm-

merer Ihrer Majestät der Königin. Der Älteste hatte einen ge-wichsten grauen Schnurrbart und hieß Lestershire. Er war der Chef der königlichen Leibwache.

Der dritte im Bunde hörte auf den Namen Pennymaker. Wie ein Falschmünzer sah er nicht gerade aus. Ich wunderte mich auch nicht. Ich hatte schon Leute mit ganz anderen Namen ge-troffen, die klangen, als hätten sie sich die selber gegeben und die dennoch echt waren. Von Beruf war Pennymaker Reise-marschall.

Mir schwante etwas. Die Herren kamen aus dem Bucking-ham-Palast. Die Sommerferien standen vor der Tür. Offen-sichtlich hatten die Gentlemen in diesem Zusammenhang ein Problem.

Ich versuchte, ein wenig in ihren Gedanken zu spionieren. Manchmal klappte das. In letzter Zeit hatte ich jedoch die Fest-stellung gemacht, daß mich meine ›Gabe‹ häufig im Stich ließ. Eigentlich seit dem Zeitpunkt meiner Bekanntschaft mit Mi-riam, der tausend Jahre alten Hexe aus Soho.

Ich mußte sie mal fragen, ob sie mir einen Bann angehängt hatte.

Sir Horatio wies auf einen freien Stuhl, räusperte sich und nahm Platz. »Sie wissen, Mac, daß die königliche Familie in diesem Jahr die Ferien nicht auf Windsor Castle, sondern auf Schloß Balmoral im schottischen Hochland verbringt?«

»Bisher nicht, aber jetzt bin ich im Bilde«, sagte ich und setz-te mich bequem.

Von Windsor Castle wußte ich nur, daß es die größte be-wohnte Burg der Welt ist und eine knappe Fahrstunde west-lich von London liegt. Dort gewesen war ich weder dienstlich noch als sonntäglicher Besucher.

Nach Schloß Balmoral hatte ich auch noch nie meine Schritte gelenkt. Am schottischen Hochland schätzte ich nur den Whis-

ky. Und ein paar Menschen, mit denen mich besondere Erleb-nisse verbanden.

Zum Beispiel ein Teufelsaustreiber, der mir eine Zauberwur-zel gegen den leichenfressenden Ghoul gegeben hatte.

Die Besucher schwiegen, und Sir Horatio half ihnen dabei. Sie überließen mich ungestört meinen möglichen Überlegun-gen. Aber Hellseher war ich nicht, und das Spionieren in ihren Gedanken klappte mal wieder nicht.

»Dann wünsche ich der königlichen Familie einen angeneh-men Aufenthalt auf Balmoral«, sagte ich. »Oder soll ich mit-kommen und auf die Kronjuwelen aufpassen?«

Argill, der Kämmerer, ging hoch wie ein Faß Pulver. »Ich glaube nicht, daß er der richtige Mann ist!«

»Glauben heißt nicht wissen«, meinte Sir Horatio mit mildem Lächeln. Er wickelte einen Gegenstand aus einem braunen Packpapier. Eine respektable Streitaxt kam zum Vorschein.

»Dann übernehme ich wohl die Einweisung«, sagte er und führte mit dem Kriegsinstrument aus verflossenen Tagen einen sausenden Hieb durch die Luft.

Lestershire blickte pikiert. Pennymaker kriegte vor Staunen den Mund nicht mehr zu.

Ich grinste mir eins. Die Herren mußten Sir Horatio für einen völlig eingerosteten Schreibtischmenschen gehalten haben. Aber ich wußte, daß er sich fit hielt. Manchmal sah ich ihn so-gar im Trainingsanzug seine Runden durch den Hyde-Park drehen, und zwei Angehörige unseres Vereins brausten ihm schwitzend hinterdrein. Ohne Leibwache kam auch der Chef eines Geheimdienstes nicht aus.

»In der kommenden Woche wird die königliche Familie nach Balmoral reisen«, begann Sir Horatio.« Der Hof hat die übliche Voraustruppe entsandt. Nun ereignen sich seit zehn Tagen ei-genartige Dinge in der Umgebung des Schlosses. Im Dorf und

unter dem Personal erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand, ein Wesen in Mönchskutte treibe sein Unwesen. Man spricht vom Unheimlichen. Er zeigt sich den Leuten, dann wallt Nebel über den Boden, und danach erblinden die Betref-fenden.«

»Ein Ätzgas«, sagte ich vorschnell; Sir Horatio dämpfte mit einer Handbewegung meinen Eifer.

»Das ist es nicht«, fuhr er fort. »Mit ziemlicher Sicherheit je-denfalls. Denn die Augen der Opfer sind tot. Sie bestehen nur noch aus rollenden weißen Kugeln. Ohne Pupille, verstehen Sie. Der Unheimliche hext den Opfern die toten Augen an. Eine alte Frau namens Chadwick ist erblindet. Geistig soll sie nicht voll auf der Höhe sein, aber das steht in keinem Zusam-menhang mit dem schrecklichen Geschehen. Das nächste Op-fer wurde ein junger Tunichtgut namens Burgess, das dritte ein braver Familienvater namens McKnee. Bis dahin suchte sich der Unheimliche seine Opfer außerhalb des Schlosses.«

Er machte eine Pause.Und bei mir klingelten die Alarmglocken. Seine Worten deu-

teten an, daß der Unheimliche seine Gewohnheiten geändert hatte.

»Vorgestern nun zeigte sich der Unheimliche dem Gehilfen des Gärtners. Das Dach eines Gewächshauses brach über dem Mann zusammen. Gestern früh stellte man bei ihm ebenfalls tote Augen fest. Wie bei den anderen. Ebenfalls gestern löste sich aus unerfindlichen Gründen im Schloß diese Streitaxt von der Wand und zertrümmerte um ein Haar einem Hofbeamten der Vorausabteilung den Kopf. Die Waffe wurde unverzüglich nach London gebracht und auf Fingerabdrücke untersucht. Es sind nur die des Beamten gefunden worden, der sie angepackt hat. Die Wandhaken sind übrigens unversehrt, und es ist ein Rätsel, wie sich die Streitaxt überhaupt lösen konnte.«

Der Chef legte das Mordinstrument in das Packpapier zu-rück. Er strich sich über die Augen.

»Gestern am späten Abend beobachtete ein Dienstmädchen des Schlosses eine unheimliche Gestalt auf der Treppe im großen Vestibül – merken Sie sich die Örtlichkeiten, Mac! Zu-dem quoll Nebel die Treppe herab. Das Mädchen rief über die Sprechanlage um Hilfe. Ich vermute, das hat ihr die Augen ge-rettet. Kurze Zeit später waren der Verwalter Meredith, Hofbe-amte und Leute der Dienerschaft bei ihr. Meredith muß wohl auf das Gerede vom Unheimlichen recht allergisch reagieren, er ordnete jedoch an, den betreffenden Abschnitt des Schlosses zu durchsuchen. Er übernahm sogar die Leitung. In einem Ka-min, der zum Heizen gar nicht vorbereitet war, zeigte sich ein flammendes Antlitz, von Feuer eingerahmt und höhnisch grin-send. Ein Diener namens Richard verlor fast auf der Stelle das Augenlicht. Er ist das fünfte Opfer. Möglicherweise ist ein wei-teres zu beklagen. Heute morgen ist eine Wäscherin, die sonst bei ihren Leuten im Dorf wohnt, nicht auf dem Schloß erschie-nen. Eine Nachprüfung hat ergeben, daß sie gestern gar nicht bei ihren Leuten angekommen ist.«

Ich beobachtete die Gesichter der Besucher. Sie waren wie versteinert, aber voller Unglaube. Und damit reagierten sie ganz normal.

Die Männer hielten das Treiben finsterer Mächte für ausge-schlossen und schlimmstenfalls für Erfindungen von Schwatz-basen.

An der rein sachlichen Darstellung von Sir Horatio hatten sie bisher allerdings nichts auszusetzen. Sie glaubten nur nicht, daß ein böser Dämon den Opfern die toten Augen anhexte. Oder daß er ihnen das Augenlicht stahl.

Ich hielt's für möglich. Denn ich wußte, was die Mächte des Bösen zu bewirken vermochten.

Ich wußte auch, daß es die Verschwörung der Finsternis gab. Sie zu bekämpfen war schließlich meine Aufgabe.

Ich focht ja nicht gegen ein Hirngespinst.Sir Horatio wußte, wie tödlich ernst und gefährlich mein Job

war. Er räusperte sich. »Nachtragen will ich, daß der Gärtner-gehilfe Mindy heißt und die verschwundene Wäscherin Binnie Barnes. In dieser Nacht ist übrigens noch ein Anruf bei Scot-land Yard eingegangen. Von einem gewissen Doktor Vilion. Der war mit dem Dorfgeistlichen zusammen. Gegen Mitter-nacht hörten sie Hilferufe und beobachteten einen eigenarti-gen Nebel über dem Fluß beim Dorf. Der Nebel verflüchtigte sich binnen Sekunden. Merken Sie die Parallelität, Mac?«

Ich nickte. Der Unheimliche schien eine Vorliebe für Nebel zu haben.

»Auf der Brücke fand der Doktor eine Strickjacke, die un-zweifelhaft von einer Frau getragen wurde. Es könnte sich um ein Kleidungsstück der verschwundenen Binnie Barnes han-deln. Das wird zur Zeit überprüft. Scotland Yard wandte sich an den Buckingham-Palast. Dort war man über die seltsamen Vorgänge schon beunruhigt genug. Mac, wie ist Ihre Meinung dazu?«

»Ich fahre hinauf, wie Sie das ja schon längst bei sich be-schlossen haben«, sagte ich in der Art einer guten Vorwärts-verteidigung. Mir war längst klar, daß ich an die Front mußte. Diesmal hinauf ins schottische Hochland.

Die Namen und Fakten hatten sich schon in mein Gedächtnis gegraben. Wenn ich raufkam, wußte ich schon, mit wem ich es zu tun hatte. Das ersparte umständliche Recherchen.

Aber zufrieden war ich nicht.Ich faßte die Besucher des Chefs ins Auge. »Sind im Schloß

oder in seiner Umgebung schon mal ähnliche Dinge vorgefal-len? Ich meine früher. So was hält sich doch im Volk.«

Der Kämmerer schaute mich verbittert an. »Nein. Wir wüß-ten das.«

»Sagen Sie das nicht. Vielleicht ist mal im Mittelalter was vorgekommen. Oder noch früher, als das Schloß noch gar nicht stand. Die Schotten neigten immer zu Geisterkult und finsteren Beschwörungen. Ich weiß, daß man heute noch Spu-ren ihrer mystischen Zentren findet. Da oben gibt es geheim-nisvolle Steinringe und verfallene Tempel, deren Steinblöcke man heute noch nicht bewegen kann. Vielleicht liegt ein Fluch auf der Gegend. Oder ein Dämon ist erwacht.«

Lestershire brauste auf: »Wollen Sie uns zum besten halten?«»Keineswegs. Ich weiß, wovon ich rede.«Pennymaker schien am meisten besonnen zu sein. Er schüt-

telte den Kopf. »Man macht sich natürlich so seine Gedanken«, sagte er mit einer blechern klingenden Stimme. »Es ist aber nie etwas passiert. In der Richtung, die Sie andeuten. Gut, von Geistern und Gespenstern reden die Leute überall, auch in Bal-moral. Etwas Konkretes ist mir nicht bekannt. Und ich war elf mal oben.«

Ich sah keine Ursache, ihm nicht zu glauben. »Sind Drohun-gen im Buckingham-Palast eingegangen?«

Sie drucksten herum, und ich dachte schon, jetzt bekäme ich den richtigen Faden in die Hand, an dem ich den mysteriösen Fall der toten Augen aufspulen konnte.

»Gegen Prinz Andrew«, bekannte dann der Kämmerer.»Ein übergeschnapptes Fotomodell«, fügte Lestershire hinzu.

Er mußte es als Chef der königlichen Leibwache ja wissen. »Die Sache ist bereinigt.«

Die Herren schauten genierlich. Ich vermutete mit einiger Be-rechtigung, daß das Fotomodell den flotten Prinzen bedroht hatte, um ihn zu einem Abenteuer zu zwingen. In diesem Punkt ist er nämlich kein Kind von Traurigkeit. Aber wähle-

risch. Vor kurzem hatte er schon eine handfeste Affäre mit ei-nem Fotomodell gehabt, vom dem reichlich delikate Fotos in der Presse auftauchten.

Ich schätzte, daß es der Hof mit stillem Grollen zur Kenntnis genommen hatte.

»Sonst nichts?«Sie schüttelten den Kopf wie an der Schnur gezogen.»Es muß ja nicht unbedingt gegen die königliche Familie ge-

hen«, sagte Sir Horatio. »Das wissen wir aber nicht, und das bleibt ein enormer Risiko- und Unischerheitsfaktor. Mac, Sie reisen sofort, es steht Ihnen alles zur Verfügung, was Sie für nötig erachten.«

Damit war ich eigentlich entlassen.Sofort hieß jetzt. Auf der Stelle.Aber mir ging ein Gedanke im Kopf herum. Ein sehr nahelie-

gender. Vor lauter Bäumen sahen Sir Horatios Besucher und auch der Chef den Wald nicht.

»Weiß der Teufel, was ich dort oben vorfinde«, sagte ich, und es war meine Absicht, daß die Worte nicht allzu höflich klan-gen. »Hat man sich am Hof auch schon mal Gedanken ge-macht, daß es vernünftiger wäre, wenn die königliche Familie in diesem Jahr eben nicht nach Schloß Balmoral führe? Wäre ich für die Sicherheit verantwortlich, ich wüßte, was ich täte. Ist die Familie überhaupt darüber informiert, was dort ge-schieht?«

Ich traf voll ins Ofenloch.»Wie stellen Sie sich das vor?« brauste Argill auf »Man kann

doch nicht zur Königin gehen und sagen, sie soll umdisponie-ren, weil die für ihre Sicherheit verantwortlichen Leute mit ei-nem Problem nicht fertig werden.«

»Na, die Koffer wird sie ja noch nicht gepackt haben. Ich würde ihr schon nahelegen, auf Balmoral zu verzichten.«

»Das – das ist eine unerhörte Respektlosigkeit!« zischte Les-tershire. Sein gewichster Schnurrbart sträubte sich beängsti-gend. »Sie haben von nichts eine Ahnung, Mister Kinsey. Das Hofzeremoniell…«

»Lassen Sie sich mit Ihrem Hofzeremoniell begraben!« riet ich ihm. »Ich fahre hinauf, aber ich garantiere für nichts, und ich behalte mir vor, notfalls eigenhändig die Königin samt Fa-milie auszuladen, wenn ich das für angezeigt halte. Ich habe freie Hand, Sie haben gehört, was Sir Horatio gesagt hat. Und bis nächste Woche – das ist eine verzweifelt knappe Spanne.«

Argill verdrehte die Augen. »Wir müssen uns in die Hände eines Geisterjägers geben! Lieber Himmel, mit Britannien ist es weit gekommen! Ich schäme mich vor der gesamten Nation.«

»Nur Mut!« munterte ich ihn auf. »Es haben sich schon ganz andere Leute geschämt und haben es überstanden.« Dabei fi-xierte ich Sir Horatio.

Hatte er mich den Abgesandten des Buckingham-Palastes als Geisterjäger empfohlen?

Warum eigentlich nicht? Ich fühlte mich sogar ein ganz klein wenig geschmeichelt. Obwohl Geisterjäger ja kein ordentlicher Beruf ist.

Sir Horatio vermied es, mich anzusehen. Ich wußte Bescheid. Er hatte den Besuchern gegenüber dick aufgetragen. Und er baute auf mich.

Ich stand auf.»Bis dann!« sagte ich mit einer ironischen Verbeugung gegen

die Gentlemen. »Spätestens beim Unheimlichen sehen wir uns wieder.«

Sie zuckten ganz erbärmlich zusammen. Es tat mir gut.

*

Ich packte Wäsche für unbestimmte Zeit zusammen.Ansonsten mußte ich mit leeren Händen reisen. Von einer

Pistole abgesehen, die nach Dienstvorschrift zur Ausstattung gehört. Ich bezweifelte, daß sie mir gegen den Unheimlichen von Nutzen war. Deshalb packte ich sie ganz unten in den Kof-fer.

Gegen den Unheimlichen mußte ich antreten wie der nackte David gegen Goliath. Aber ich hatte zwei wertvolle Helfer – meinen scharfen Verstand und meine Erfahrung mit Kreaturen der Finsternis.

Ich mußte die Dinge an mich herankommen lassen, dann handeln – und hoffen, daß es das richtige war.

Als ich dem ominösen Leichenfresser auf der Spur war, hatte ich Kontakt zu einem mystischen Zirkel und zu einer Vereini-gung von Magiern aufgenommen. Zwar hatte ich eine Menge gute Ratschläge gehört, aber nützliche Waffen hatte man mir nicht gegeben. Die einzige Ausnahme war der Teufelsaustrei-ber in Schottland. Notfalls mußte ich ihn noch einmal um Hilfe angehen.

Oder wenn ich vielleicht Miriam, die Hexe aus Soho, um Un-terstützung bat? Wenn sie konnte, würde sie mir die nicht ab-schlagen.

Die Frage war nur, ob ich sie antraf.Besucher schien sie nur zu empfangen, wenn sie wollte.Ich rief Kathleen an und versuchte ihr zu erklären, daß ich

für unbestimmte Zeit nicht verfügbar war. Sie schmollte, und sie wäre nicht Kathleen gewesen, wenn sie nicht gefragt hätte, ob eine Frau mich begleitete.

Ehrlichen Herzens beteuerte ich, ich sei der einsamste Jung-geselle Enlands. Sie knöpfte mir das Versprechen ab, mich zu melden. Die Blöße, mich zu fragen, wohin mich mein Auftrag führte, gab sie sich nicht.

Das schätzte ich an ihr. Sie hatte Stil. Und Rasse.Die Schlüssel für die Wohnung gab ich beim Nachbarn ab.Den Koffer und die übrigen Habseligkeiten verstaute ich auf

dem Beifahrersitz und brauste noch einmal nach London zu-rück. Nach Soho.

Miriam war nicht da. Eine Nachbarin in dem alten schmutzi-gen Haus sagte mir, sie hätte sie seit Tagen nicht gesehen.

Das brauchte nichts zu bedeuten. Oder alles. Miriam war eine Hexe, aber auch Hexen konnte etwas zustoßen.

Ich stieg die ausgetretenen Treppen hinauf und pochte gegen die Tür.

Dahinter blieb es still.Ich überlegte, ob ich einfach eindringen sollte. Ein Besteck,

dem auf Dauer nicht einmal ein Panzerschrank widerstand, hatte ich bei mir. Es wiederstrebte mir aber, mir Zutritt zu ver-schaffen. Das erschien mir als Arglist. Und Freunde gingen so nicht miteinander um.

Wenigstens einen Blick durch das altertümliche Schlüsselloch gestattete ich mir.

Ich zuckte zurück. Vor kurzem hatte mich Miriam zum Tee empfangen, da hatte die Wohnung reinlich ausgesehen, auch wenn sie nicht aufwendig möbliert war.

Was ich jetzt erblickte, sah wie ein uraltes Schreckenskabinett aus.

Der Staub lag fingerdick auf Möbeln und Boden. Spinnwe-ben spannten sich in den Ecken und zwischen den Stühlen und dem Tisch und dem Sofa.

Und drinnen turnte vor dem Schlüsselloch eine dicke fette Spinne herum und schien mich schadenfroh zu beäugen.

So sah ein Zimmer aus, das jahrzehntelang nicht bewohnt war.

Zum Henker, war ich vor der falschen Tür gelandet? Ich war

doch erst kürzlich hier gewesen!Es war die richtige Tür und auch die richtige Wohnung. Ich

erkannte die Anrichte mit der magischen Figur. Auch sie war von Spinnweben umgeben.

Ich begriff, daß ein weiteres Geheimnis Miriam umgab.Und ich verstand, daß sie keinen Besuch wünschte. Vielleicht

war sie sogar da. Mich sehen wollte sie jedoch nicht.Ich fuhr unverrichteter Dinge aus London hinaus. Meine Ge-

danken kehrten immer wieder zu dem schrecklichen alten Haus in der Berwick Street in Soho zurück.

Die Folge war, daß ich sehr unaufmerksam fuhr. Ein Lümmel in einem zusammengehämmerten Wagen nahm mir außerdem noch die Vorfahrt. Um ein Haar rasierte er meinem MG die Schnauze.

Wütend drückte ich auf die Hupe.Der Kerl am Steuer winkte mir grinsend zu und verschwand

mit seinem Rosteimer im Verkehrsgewühl.Die Reise nach Schottland fing ja gut an!Ich gab was auf Vorzeichen.Ein gutes war der Beinahe-Zusammenstoß nicht.

*

Binnie Barnes tauchte aus dem großen Nichts, aus der Schwär-ze der Ohnmacht auf.

Sie wußte nicht, wo sie sich befand.Ihr war kalt, sie fröstelte. Aber Furcht hatte sie nicht.Das wunderte sie sehr, denn sie war äußerst schreckhaft. Sie

ahnte, daß etwas mit ihr vorgegangen war, daß sie eine Ver-wandlung erlebt hatte. Anders konnte sie sich ihren Zustand nicht erklären.

Es roch feucht und moderig.

Zunächst glaubte sie, vielleicht in einen alten vergessenen Keller von Schloß Balmoral geraten zu sein. In ein Gewölbe. Oder gar in ein Verlies. Solche gruseligen Räume sollte es ge-ben.

Dann zuckte sie einmal zusammen. Das war ihre ganze Re-aktion. Hinter ihr waren Schritte gewesen. Sie hatte sich auf dem Heimweg vom Schloß zum Dorf befunden. Jetzt erinnerte sie sich, was gewesen war.

Um Hilfe hatte sie gerufen. Aber es war niemand gekommen. Nur die paar Lichter vom Dorf hatten geblinkt. Wie ein höhni-sches Zwinkern war es ihr erschienen.

Gespenstisch hatte der Kirchturm in den Nachthimmel ge-ragt. Auch die Kirche hatte sie nicht beschützt. Sie war dem Verfolger ausgeliefert gewesen. Und er hatte sie eingeholt.

Der Unheimliche!Er hatte die Kutte getragen, wie die Leute sagten. Unter der

Kapuze hatte sie ein Totenschädel angegrinst.Dann war sie in ein bodenloses schwarzes Loch gestürzt.Da war noch etwas gewesen. Sie grübelte, überlegte.Richtig, mit Elspeth Karnavon hatte es zu tun. Ein Schock

oder so etwas. Mrs. Drawden hatte ihr aufgetragen, deswegen beim Doktor vorbeizusehen und ihn aufs Schloß zu schicken, diesen alten, gräßlichen Kerl, der immer nach Schnaps roch.

Den Doktor hatte sie nicht getroffen, sie entsann sich nicht. Es war ihr auch gleichgültig. Ein Gefühl der Trägheit durch-strömte sie. Es war ihr egal, was mit ihr war und was mit ihr geschah.

Sie verspürte nur böse Laune, sobald sie an andere dachte. An die Kolleginnen vom Schloß. An Mrs. Drawden, den alten Drachen. An Mister Meredith, den Leuteschinder.

Sogar gegen Harvey, den Chauffeur, hegte sie unfreundliche Gedanken.

Wie konnte sie nur! So schön war der Kerl auch nicht! Und außer einem Schäferstündchen hatte er doch nichts mit ihr im Sinn gehabt. Einmal durchs Bett und dann vergessen!

Zum Schein hätte sie vielleicht auf seine Wünsche eingehen sollen und ihn in einen abgelegenen Teil des Kellers locken. Dann ein Stoß – hinein mit dem Kerl in einen finsteren Raum und die Türe fest verriegelt. Dann konnte er zusehen, wie er herauskam. Vielleicht hätte man in vielen Jahren sein Gerippe gefunden und sich gefragt, wer das wohl gewesen sein moch-te.

Die Chance war vorbei. Auch das focht sie nicht an.Sie schaute sich um.Es mußte ein Gewölbe sein, in dem sie steckte. Ein endloses

Gewölbe allerdings. Über sich sah sie behauene Steine. Da und dort tropfte Wasser herab. An der Gewölbedecke und am Bo-den hatten sich schimmelige Flächen entwickelt.

Eine seitliche Begrenzung ihres Aufenthaltsortes sah Binnie nicht.

Die Wände mußten in unendlicher Ferne liegen. Wenn es überhaupt welche gab.

Das war eine Geisterwelt. Es war niemals Schloß Balmoral.Sie registrierte ein gewisses Maß Neugierde. Vor allem auf

den Unheimlichen. Der hatte sie verschleppt, soviel war ihr klar. Er hatte sie in sein Reich gebracht.

Binnie bemerkte zugehauene Steinblöcke. Sie mußten vom Bau des geheimnisvollen Gewölbes übriggeblieben sein. Jetzt standen sie hochkant herum. Irgendwie ließen sie sie an Op-fersteine denken.

Opfersteine?Auch das war ihr gleichgültig. Sie verspürte eine Kälte, die

von innen kam. Eine Kälte des Gefühls. Auch sich selber ge-genüber.

Interessiert betrachtete sie einen solchen Stein. Er war mit unbekannten Schriftzeichen und Symbolen bedeckt. Möglich, daß dies einmal ein Hort heidnischer Priester gewesen war. Oder sonst was.

Auf einem benachbarten Stein sah sie ihre Schultertasche lie-gen. Das Kopftuch war noch um den Tragriemen geschlungen.

Binnie hielt nach ihrer Strickjacke Ausschau. Die war nicht da.

Sie zuckte die Achseln. Auch gut, war sie eben weg!Das seltsame Geisterreich war von einem milden Licht er-

füllt, das von überall her drang. Es stammte nicht von Lampen oder Lichtern, es sickerte aus dem Gewölbe wie das tropfende Wasser.

Ein Brausen, Knacken und Prasseln ließ sich plötzlich ver-nehmen. Hinter Binnie. Sie erschrak kaum. Fast geruhsam drehte sie sich um.

Auf einem Opferstein lohte eine gewaltige Flamme. Sie spal-tete sich in viele Zungen. Langsam formte sich in der Gluthölle ein Gesicht. Feurige Haare wehten um die Züge. Die Augen glühten wie zehn Sonnen.

Dann bildete sich das Gesicht besser aus. Von Flammen ein-gerahmt betrachtete es Binnie.

»Wer bist du?« fragte Binnie und trat näher.Früher wäre sie bei einem solchen Anblick gelaufen, so weit

sie die Füße trugen.Zehn Schritte vor dem Stein hielt sie an. Es erschien ihr rat-

sam, denn das Feuergesicht und die Flammen verströmten eine vernichtende Hitze. Ihr blaues Kleid geriet sogar an meh-reren Stellen in Brand.

Binnie erstickte die kleinen Flammen mit der flachen Hand.»Wer bist du?« fragte sie wieder. »Ein Geist? Oder der Un-

heimliche?«

Das Knacken und Prasseln verstärkte sich. Der feurige Mund formte Worte.

Plötzlich erschütterte ein krachender Donnerschlag das Geis-terreich. Instinktiv zog Binnie den Kopf ein, weil sie fürchtete, das Gewölbe würde herunterbrechen.

Aus dem feurigen Mund erscholl ein zorniges Brüllen. Das Gesicht verzerrte sich im Zorn. Irgendwie ähnelte es jetzt dem Antlitz einer bösen alten Frau.

Dann begann in der Nähe die Luft zu leuchten. Sie glühte bald heller als das Flammengesicht.

Eine dunkle Gestalt entstand dort aus dem Nichts. Das Glü-hen hüllte sie ein, blieb aber seltsam transparent. Binnie sah eine schwarze Kutte und eine Kapuze, die den Kopf der Ge-stalt bedeckte.

Der Unheimliche!Er teilte mit den Händen die glühende Hülle. Er hatte Toten-

hände.Mit hinkenden Schritten trat er auf das Feuergesicht zu, das

sich zu einer abstoßenden widerlichen Fratze verzerrte.»Du bist ungehorsam«, redete er zu dem Feuergesicht. Er

sprach mit einer echten menschlichen Stimme. »Du handelst auf eigene Faust und gefährdest meinen Plan. Das kann ich nicht dulden. Entweder du gehorchst, oder ich verwandle dich in Staub und Moder zurück. Du bist mir Dankbarkeit schuldig, denn ich habe dich erweckt. Gelobe beim zweieinigen Satanas, daß du künftig in allem meinen Befehlen gehorchst!«

Das Feuergesicht war widerborstig. Lange Flammenzungen schossen aus der Glut und griffen nach dem Unheimlichen.

Der aber hob nur die Knochenhände. Wirkungslos schossen die Flammen an ihm vorbei und erloschen.

»Du bemühst dich vergebens.« Er lachte tief und grollend, als dringe seine Stimme aus einem tiefen Brunnenschacht. »Ich

bin mächtiger als du. Ich kann dich jederzeit vernichten. Du bist mein Geschöpf. Zeige Demut, oder dein Ende ist da!«

Er schleuderte die knochigen Hände nach vorn.Eine unsichtbare Faust schien die Flammenlohe zusammen-

zuschnüren.Das widerliche Fratzengesicht wurde zusammengedrückt. Es

wuchs in die Länge. Aus dem Feuermaul drangen entsetzliche Schreie.

»Zeige Demut!« verlangte der Unheimliche. »Bereue! Wer ist dein Gebieter und Herr?«

»Du!« wimmerte der Feuergeist. »Ich bereue. Ich will dir in allem gehorchen. Ich schwöre es beim zweieinigen Satan!«

Ein wildes Grollen und Rumoren drang augenblicklich aus dem Boden.

Er hat es gehört, dachte Binnie, die aufmerksam und ohne Furcht den Vorfall beobachtete. Satan ist gegenwärtig!

Der Unheimliche wandte sich langsam um und hob gegen einen unsichtbaren Zuschauer die Hände. Die weiten Ärmel der Kutte rutschten zurück und legten seine Knochenarme bloß.

»Er hat es in deinem Namen gelobt, Meister!« rief er, daß es bis ans Ende des Geisterreiches schallte.

Wieder dröhnte das schreckliche Grollen aus der Tiefe her-auf.

Der unsichtbare Würgegriff löste sich um den Feuergeist. Die Lohe verlor ihre langgepreßte Form, das entsetzliche Gesicht nahm sein ursprüngliches Aussehen an.

Einige Augenblicke lang beobachteten die glühenden Augen noch den Unheimlichen und das Mädchen, dann verschwand die Feuererscheinung.

Binnie Barnes war neugierig, was es mit dem Feuergesicht auf sich hatte. Sie trat an den Steinblock und legte vorsichtig

eine Hand auf das Material. Es war kalt und feucht. Keine Spur von Hitze strömte aus dem Stein.

Schweigend sah der Unheimliche zu.Dann lachte er. Es war gehässig und böse, und es erfreute

Binnie.»Das ist mein Reich.« Er machte eine ausholende Handbewe-

gung. »Ich habe es wiederentdeckt und mir dienstbar gemacht. Es ist ein großes Geheimnis. Hier werde ich den Tag erwarten, an dem ich mich räche und an dem ich ihr alles heimzahle. Ich habe dich in meine Dienste genommen, denn allein kann ich sie nicht ihrer gerechten Strafe zuführen.« Er wurde vom Haß geschüttelt.

»Sie?« fragte Binnie. »Wer ist es?«»Du erfährst es beizeiten. Du bist in meiner Hand, und ich

habe dir die Augen nicht getötet wie den anderen. So bist du mir nützlicher. Geh jetzt. Kehre zurück aufs Schloß.«

»Wie denn? Ich sehe keinen Ausgang.«»Du findest ihn. Setze einfach Schritt vor Schritt. Man wird

dich fragen, wo du gesteckt hast. Sage einfach, du seist vor Angst in den Wald gelaufen.«

»Ja, das werde ich«, versprach das Mädchen und spürte eine noch viel grausamere Kälte aus seinem Inneren strömen.

Sie setzte Schritt vor Schritt, wie der Unheimliche es befohlen hatte. Die Steine blieben hinter ihr zurück. Der Unheimliche verschwand aus ihrem Blickfeld.

Das geheimnisvolle Licht veränderte sich. Es wurde dunkler.Aus dem Nichts erhob sich plötzlich eine uralte Steinwand,

genau so gefügt wie das Gewölbe. Eine finstere Öffnung gähn-te darin.

Niemand hatte Binnie gesagt, daß sie durch dieses schwarze Tor gehen mußte. Sie wußte es einfach. Ohne Zögern schritt sie darauf zu.

Starker Modergeruch schlug ihr entgegen.Gestern noch wäre ihr davon übel geworden. Jetzt machte er

ihr gar nichts mehr aus. Sie war mit Haut und Haaren, Herz und Seele das Geschöpf des Unheimlichen geworden.

Wie lange sie ging, registrierte sie nicht. Sie ermüdete auch nicht.

Mit traumwandlerischer Sicherheit schritt sie durch die Fins-ternis und stieß nicht einmal irgendwo an.

Irgendwann wurde es hell vor ihr. Zuerst war es nur ein schwacher Schimmer. Die Helligkeit nahm langsam zu.

Dann merkte sie, daß dort vorn der geheimnisvolle Gang ans Tageslicht mündete.

Ihr Verstand begann zu arbeiten.Dem Unheimlichen war sie begegnet, als es Nacht war. Er

hatte sie in sein Geisterreich verschleppt. Sein Befehl lautete, sie solle sagen, sie hätte sich im Wald versteckt, wenn man sie fragte.

Da es voraus hell war, konnte es nur Tag sein. Jetzt verstand sie den Befehl des Unheimlichen.

Vielleicht war seit ihrem Verschwinden ein halber Tag ver-gangen.

Sie machte sich nicht weiter Gedanken darüber. Sie erfuhr es ja, wenn sie zurückkehrte. Und war es überhaupt bedeutungs-voll?

Diese Gleichgültigkeit sich selber und den rätselhaften Din-gen gegenüber war tief in sie eingepflanzt. Unausrottbar.

Ein paar hundert Schritte weiter verließ Binnie den seltsamen Gang.

Für Sekunden schloß sie die Augen. Das grelle Tageslicht schmerzte.

Vorsorglich deckte sie eine Hand über die Augen, als sie sich umwandte.

Grünes Geranke hing über die Gangöffnung, die sie eben verlassen hatte. Der Rundbogen aus behauenen Steinen war geborsten.

Sie entsann sich, hier schon einmal gewesen zu sein. Als Kind. Das war schon eine Weile her.

Sie hatte sich gewünscht, Feen und Elfen möchten aus dem dunklen Gang herauskommen und ihre kindlichen Wünsche erfüllen.

Die größeren Kinder, die mit dabeigewesen waren, hatten ihr Angst damit machen wollen, daß sie behaupteten, böse Män-ner würden in dem Loch hausen.

Und von den Erwachsenen war ihr dann mal gesagt worden, das sei der Rest eines alten Stollens. Früher hätte man mal ver-sucht, Silbererz abzubauen. Es hätte sich nie gelohnt, der Stol-len sei ein riesiger Reinfall gewesen.

Die Ranken bewegten sich wie von Geisterhand ruckartig, bis sie einen lebenden Vorhang bildeten. Der Zugang war von allzu neugierigen Blicken verborgen.

Binnie beobachtete den Vorgang. Es erschien ihr selbstver-ständlich, daß der Unheimliche den Zugang zu seinem Geis-terreich tarnen mußte. Nur wer eingeweiht war, durfte hinein. Sie zum Beispiel.

Langsam nahm sie die Hand herunter. Ihre Augen hatten sich an die Tageshelligkeit gewöhnt.

Durch die Baumkronen sah sie die Sonne. Sie stand fast senk-recht. Also war es Mittagszeit.

Der Wald ringsum stand undurchdringlich, das verfilzte Un-terholz bot nicht einmal einer Maus Durchschlupf.

Dennoch tat sich vor Binnie Barnes eine Gasse aus, als sie einfach auf die grüne Mauer losschritt.

Nach einiger Zeit langte sie auf einem Waldweg an. Den kannte sie. Der führte zur Mühle. Jetzt entsann sie sich auch,

daß der Stollen, aus dem kleine Feen und Elfen geschwebt wa-ren, in der Nähe der Mühle lag.

Das war schon immer eine unheimliche Gegend gewesen. Hauptsächlich wegen des Müllers, vor dem man die Kinder zu warnen pflegte.

Binnie hatte ihn ein paarmal im Dorf gesehen. Bill Mortimer war ein kleiner verkrüppelter Mann, dem die Kinder garstige Worte nachgerufen hatten. Aber ein guter Müller war er.

Und überhaupt war das Dorf froh, daß sich ein Müller einge-funden hatte. Sonst würde die Mühle immer noch leerstehen und langsam verfallen.

Das Mädchen nahm die Richtung zum Dorf und kam nach kurzer Zeit an den Fluß. Unter den Bäumen war der Weg schattig und die Luft angenehm kühl.

Von fern polterte Hufschlag. Jemand ritt hinter den Uferbäu-men aus.

Binnie wandte nicht einmal den Kopf. Sie strebte der Brücke zu. Zum Schloß zurück mußte sie, hatte der Unheimliche ihr befohlen. Gleichmäßig setzte sie die Schritte. Wie eine Maschi-ne.

Der erste und einzige Mensch, der ihr bei der Brücke begeg-nete, war der gräßliche alte Doktor.

Das Mädchen bemerkte wohl, wie Vilion die Brauen hochriß und sie und ihr Kleid anstarrte. Es war ihr jedoch völlig gleich-gültig, was der alte Kerl dachte.

Vilion hatte die abgeschabte Arzttasche in der Hand. Er kam von einem Hausbesuch, was selten genug vorkam.

»Man hat Sie überall gesucht«, sagte er. »Man dachte schon an ein Verbrechen, Miß Barnes. In der vergangenen Nacht wurden Hilfeschreie gehört. Hier von der Brücke. Fühlen Sie sich in Ordnung?«

»Ich hatte Angst, ich habe mich im Wald versteckt«, sagte

Binnie und schaute an dem Mann vorbei.»Bis jetzt?« Doktor Vilion staunte milde. »Na ja, es geht mich

nichts an. Kann ich Ihnen helfen?«Binnie Barnes blieb ihm die Antwort schuldig. Sie setzte sich

wieder in Bewegung und ging an dem Doktor vorbei auf die Brücke.

Doktor Vilion betrachtete scharf ihr unbewegtes Gesicht, die kalten mitleidlosen Augen. Das war eine andere Binnie Barnes als jene, die er von Kindesbeinen auf kannte. Darauf wollte er Pater Ryans Whisky wetten!

Ihr blaues Kleid sah böse aus. Als sei sie Feuer zu nah ge-kommen.

Er verkniff sich alle weiteren Fragen, weil ihm ein Gefühl sagte, daß das Mädchen doch nicht antwortete, höchstens je-doch mißtrauisch wurde. Von der Strickjacke schwieg er erst recht.

Seltsame Dinge gingen vor.Er empfand jetzt ein Gefühl der Erleichterung, daß er noch in

der Nacht Scotland Yard in London informiert hatte.Man werde seinen Hinweis weiterleiten. An die richtige Stel-

le, hatte man ihm gesagt. Er werde wieder hören.Bis jetzt hatte sich nichts getan.Die Jungens können ja nicht fliegen, überlegte Vilion. Er kniff

den Mund zusammen und schaute der entschwindenden Ge-stalt des Mädchens nach. Binnie war auf dem Weg zum Schloß.

Ohne ihren Leuten Bescheid zu sagen, daß sie wieder da war, daß es ihr gut ging, daß ihr nichts zugestoßen war!

Vilion fand's seltsam.Dabei mußte das Mädchen doch wissen, daß sich seine Leute

mächtig um sie Sorgen gemacht hatten. Und andere Leute auch. Am Morgen, als sie vom Schloß angerufen hatten, daß

Binnie fehlte, hatte sich das halbe Dorf an der Suche den Fluß entlang beteiligt.

Selbst Vilion war mitgegangen.Er faßte seine Arzttasche fester, stapfte seinem Haus zu,

hängte ein Schild an die Haustür, daß er erst am späten Nach-mittag zu sprechen sei, und schloß sich in seinem Arbeitszim-mer ein.

Aus einer Truhe grub er alte Bücher.Er begann darin zu blättern. Es waren handgeschriebene

Kräuterfibeln. Und Bücher über Magie, Zauberei und Hexen-kunst.

Ab und zu machte sich Vilion eine Notiz.Er hoffte, ein Mittel gegen den Unheimlichen zu finden. So

ging es nicht weiter.Und er mußte vorsichtig obendrein sein. Wenn es ruchbar

wurde, daß er sich mit Zaubertränken abgab und Magie be-trieb, stießen sie ihn auf seine alten Tage noch aus der Ärzte-schaft aus, die lieben Kollegen.

*

Eine Tour nach Schottland rauf ist normalerweise eine Sache für zwei Tage – wenn man es sich gemütlich dabei macht.

Davon hatte Sir Horatio nicht gesprochen. Also drehte ich auf, daß dem MG bald die Radmuttern fortflogen.

Bis Coventry blieb ich auf der Autobahn, dann quetschte ich mich durch die nördlichen Stadtteile von Birmingham und ge-wann die Autobahn M 6. Das ist die schnellste Verbindung rauf in die Gegend, in der mein Ziel lag.

Hinter Varlisle ging es mehrspurig weiter bis nach Glasgow.Ich erwischte voll den Feierabendverkehr und verlor Zeit.Eine Übernachtung unterwegs kam für mich jedoch nicht in

Frage. Ich wollte mich erst zur Ruhe betten, wenn ich meinen Schritt nach Balmoral Castle gesetzt hatte.

Vorausgesetzt, sie ließen mich überhaupt hinein.Das war ja kein Hotel für Touristen oder durchziehende Ge-

heimdienstleute oder sonstiges fahrendes Volk.Die Frage war überhaupt, ob ich im Schloß Quartier nehmen

sollte. Irgendwo mußte ich ja unterkriechen. Die Hochland-nächte hatten es selbst jetzt im Sommer in sich.

Vielleicht erfuhr ich mehr über den Unheimlichen, wenn ich mich mit den Leuten im Dorf und in der Umgebung anfreun-dete. Was hieß, daß ich dort auch wohnen mußte.

Verkehrt war das nie. Die Leute tauten dann eher auf.Hinkommen mußte ich aber erst mal, dann konnte ich wei-

tersehen.Hinter Perth kam die Dunkelheit. Ich hatte noch rund siebzig

Meilen vor mir.In einer halbwegs ebenen Landschaft war so eine Strecke ein

Klacks. Die zog ich in einem Streifen herunter.Hier konnte das eine Affäre werden, die die halbe Nacht

dauerte. Ich hatte mich nämlich entschlossen, über Blairgowrie und den Devils Ellbow zu fahren. Der andere Weg führte über Aberdeen. Aber der war ein riesiger Umweg und hätte mich die ganze Nacht gekostet.

Also steuerte ich auf den Paß los, der Teufels Ellbogen ge-nannt wurde.

Zu Recht, wie ich bald merkte.Mondlicht lag auf einer bizarren Landschaft, aus deren

dunklen Talschatten sich nackte Bergspitzen dem Himmel ent-gegenkrümmten.

Auf den wettergeschützten Hängen gab es Wälder, auf freien Höhenrücken hatten sich verkrüppelte Bäume in den ewig bla-senden Wind gebogen.

Aus dunklen Schluchten braute Nebel.Das war so recht eine Landschaft, in der ich mir Magier und

Hexer, Priester längst vergangener Völker, weise Männer, mu-tige Recken, Drachen, Geister Und Dämonen vorstellen konn-te. Leibhaftig sogar.

In solchen Gegenden waren die alten Sagen und Legenden auch entstanden. Davon war ich überzeugt. Niedergeschrieben hatte sie dann irgendein Mönch in einem entfernten Kloster, der sie nur vom Hörensagen kannte.

Die Maschine des MG lief wie eine frisch aufgezogene Ta-schenuhr. Ich nahm die Serpentinen dennoch mit allergrößter Vorsicht. Hinter jeder Kurve konnte ein Steinrutsch die Straße blockieren. Das war hier immer möglich.

Meinen Sportflitzer wollte ich nicht zu Schrott fahren.Nicht einmal der Königin zuliebe.Auf der Paßhöhe hielt ich für eine Zigarettenlänge an. Es

wehte ein Lüftchen, daß es mir fast das Hemd aus den Knopflöchern der Jacke zog.

Weit und breit war ich der einzige Mensch. Die Gegend war so verlassen wie die Rückseite vom Mond. Nicht einmal in den Tälern unter mir sah ich ein Licht blinken.

Der Wind fraß mir die Zigarette in der Hand auf.Ich machte, daß ich zurück in das Auto kam. Durch das Falt-

deck zog es zwar auch, aber daran war ich gewöhnt.Nach einer groben Berechnung hatte ich noch ein Drittel der

Strecke vor mir. Wie es aussah, kam ich so spät am Ziel an, daß sie im Schloß wahrscheinlich schon alle in den Federn lagen.

Dann klingelte ich eben einen dienstbaren Geist heraus. Ich war ja nicht zu meinem Vergnügen unterwegs, sondern um Balmoral von einem Alptraum zu befreien.

Deshalb empfand ich keine Gewissensbisse.Die Abfahrt vom Paß kam mir wesentlich steiler vor als der

Aufstieg. Ich lenkte den Wagen behutsam und achtete auf Stei-ne und Schlaglöcher. Ein Achsbruch oder ein Aufsetzer war nicht das, was ich jetzt gebrauchen konnte.

Drunten im Tal kam ich durch eine Ortschaft, die dunkel und verlassen lag wie ein verwunschenes Dorf. Zwei grüne Augen starrten ins Scheinwerferlicht. Eine Katze, die neben der Straße hockte.

Gegen Mitternacht erreichte ich Braemar am Fluß Dee. Ich hatte noch zehn Meilen vor mir. Die Straße gabelte sich. We-nigstens brannte die Ortsbeleuchtung, so daß ich die Straßen-schilder entziffern konnte. Ich mußte rechts abbiegen.

Die lange Fahrt schlauchte mich. Ich spürte die Müdigkeit in allen Knochen. Die Eintönigkeit des nächtlichen Landes war ebenfalls nicht dazu angetan, mich wachzurütteln.

Ich schreckte hoch und stellte entsetzt fest, daß ich eingedöst und dennoch gefahren war.

Junge, sagte ich mir, mach diesen Unfug nicht noch mal, sonst war's der letzte in deinem Leben!

Ich drehte das Radio an.Der Empfang zwischen den schottischen Bergen war misera-

bel.Plötzlich saß ich bolzgerade hinter dem Lenkrad.Ich registrierte zwei Dinge gleichzeitig – ein Hinweisschild,

daß es noch eine Meile bis Balmoral war, und eine Gestalt mit-ten auf der Straße.

Sie war dunkel gekleidet. Ich hätte sie fast übersehen. Oder zu spät erkannt.

Jemand aus der Umgebung, dachte ich. Hat sich in Balmoral verspätet, vielleicht im Wirtshaus, und schwankt jetzt heim-wärts. Die Gestalt kam mir entgegen.

Dann stutzte ich.Der Kerl sah mir verdächtig nach einem Mönch aus. Jeden-

falls trug er eine Kutte.Die Sache gefiel mir immer weniger. Mir klangen plötzlich

die Worte von Sir Horatio im Ohr. Zeigte sich nicht der Un-heimliche in einer Kutte?

Unrecht tun wollte ich niemand. Ich drückte kräftig auf die Hupe, um den nächtlichen Pilger von der Straße zu treiben.

Er dachte nicht daran, mir Platz zu machen.Ich blendete die Scheinwerfer auf.Der Atem stockte mir, mein Herz machte ein paar verrückte

Schläge.Er stand vor mir, der Unheimliche, der Kerl, der auf seiner

Spur tote Augen hinterließ!

*

Unter der Kapuze grinste mich ein Totenschädel an.Langsam zog er die Hände aus den weiten Ärmeln der Kut-

te. Knochenhände – ich hatte es mir schon gedacht.Lieber Himmel, wenn er seinen verderbenbringenden Nebel

losließ, war ich erledigt. Dann war ich das nächste Opfer mit toten Augen!

Er hob die Arme. Die Ärmel glitten zurück. Klar, der Un-heimliche war ein Gerippe, das imstande war, nach Belieben herumzuwandeln.

Ich fragte mich erst gar nicht, wie es möglich war.Ein Zauber. Ein Fluch. Die Kräfte des Bösen. Schwarze Ma-

gie. Es gab viele Möglichkeiten.Ich rechnete im Bruchteil einer Sekunde meine Chancen

durch.Wenden und abhauen dauerte zu lange. Die Straße war

schmal, zu leicht konnte ich den Flitzer in den Graben setzen. Dann hing ich erst recht fest. Und gegen seinen Nebel war ich

machtlos. Der holte mich ein, selbst wenn ich einen weltmeis-terlichen Sprint hinlegte. Bis zum Dorf schaffte ich es zu Fuß nicht.

Außerdem mußte ich an ihm vorbei.Damit gab ich mich in seine abgenagten Hände.Ich mußte im Wagen bleiben. Und versuchen, an ihm vorbei-

zuzischen.Ich hatte es kaum gedacht, da drückte ich auch schon das

Gaspedal durch. Jeden Augenblick war ich gewärtig, den grauenhaften Nebel brodeln zu sehen.

Und da war er schon.Er kroch aus dem Boden, wallte über den Grund und schien

den Armbewegungen des Unheimlichen zu gehorchen. Er schob sich mir entgegen.

Mir lief es eiskalt den Rücken herab.Wenn ich da hineinschoß, dann war ich fällig!Eine winzige Chance bestand noch – der Nebel kroch erst

über den Boden und die Straße. Aber ich saß verdammt tief unten.

Der MG ging ab wie eine Rakete beim Start. Jetzt waren die Dinge nicht mehr aufzuhalten.

Die Räder schmierten pfundweise Gummi auf die Straße. Das Radieren mußte noch in Balmoral zu hören sein.

Vielleicht hatte der Unheimliche aus den bisherigen Erfah-rungen mit seinen Opfern geschlossen, ich würde ebenfalls vor Angst wie gelähmt sein.

Angst hatte ich, und die nicht zu knapp.Aber ich war nicht gelähmt. Ich war zum Widerstand bereit.

Meine Haut und die Augen verkaufte ich nur zum Höchst-preis.

Daß mein Wagen auf ihn loszischte, überraschte ihn jeden-falls sichtlich. Denn er riß die Arme beiseite.

Der verderbliche Nebel begann sich zu heben.Ich ging kein Risiko ein. Mein Hemd war mir näher als seine

Kutte. Ich kniff die Augen zu, um nicht den Nebel hineinzube-kommen, hielt den MG auf Kurs und hoffte auf einen Hauch Glück.

Dabei versuchte ich, seine Gedanken zu ertasten. Es war doch denkbar, daß er welche hätte. Er funktionierte ja wie ein Mensch.

Ich bekam etwas zu fassen. Soviel Haß hatte ich auf geisti-gem Wege noch nie zu spüren bekommen. Wie eine Flamme schlug es mir ins Gehirn.

Ich schrie auf. Aber ich behielt die Augen zu.Es krachte dumpf. Der MG erhielt einen Stoß und schlingerte

gefährlich. Dann hob er ab.Ich riß die Augen auf.Vor mir kein Nebel. Kein Unheimlicher. Nur die leere Straße

und die Bäume rechts und links.Ich brüllte vor Freude auf. Ich hatte dem Kerl ein Schnipp-

chen geschlagen.Und ich wußte, was passiert war. Ich hatte ihn überfahren. Er

war nicht schnell genug ausgewichen.Mein Flitzer, setzte auf. Ich dachte schon, daß die Ölwanne

im Eimer sei. Es ging gerade noch einmal gut ab. Aber ich mußte meine ganze Geschicklichkeit aufbieten, um den Wagen auf der Straße zu halten. Er entwickelte eine fatale Neigung, sich um einen Baum zu wickeln.

Nach zweihundert Längen hatte ich ihn unter Kontrolle und bremste ihn ab.

Ich war ein leichtsinniger Vogel. Mein Chef hat mir das im-mer wieder bestätigt. Ich wollte wissen, was mit dem Unheim-lichen geschehen war. Von einem Auto überfahren zu werden ist nämlich eine höchst ungesunde Sache mit schädlichen Fol-

gen.Geschwind kurbelte ich das Fenster herunter und steckte den

Kopf hinaus.Der Mond beleuchtete eine seltsame Szene. Mir richtete es

sämtliche Haare auf.Der Nebel war wie Geisterspuk verflogen. Damit wußte ich,

daß der Unheimliche ihn erschaffen oder gerufen hatte.Auf der Straße hüpfte der Unheimliche herum. Eben hatte er

noch gelegen, das hatte ich deutlich gesehen. Ich hatte ihn also sauber erwischt.

Bei dem Anprall hatte es ihm Gliedmaßen vom Gerippe ge-rissen. Die suchte er jetzt zusammen.

Mir quollen die Augen vor, als ich ihn ein knöchernes Bein aufheben und unter die Kutte stecken sah. Es hielt auf Anhieb, denn er hüpfte nicht mehr herum wie ein Känguruh.

Es schien ihm noch etwas zu fehlen, denn er tappte suchend weiter auf der Straße herum.

Mich packte das Grausen.Ich griff mir an den Kopf. Das gab es doch nicht! Das durfte

doch nicht wahr sein! Ein Gerippe, das seine Bestandteile zu-sammenlas und sich selber wieder zusammenbaute!

Weg! hämmerte es in meinen Kopf. Nichts wie weg, Junge! Wenn der Kerl erst komplett ist, kommt er dir auf den Hals!

Ich drückte den Gang rein, ließ die Kupplung anschleifen und gab Gas.

Minuten später brauste ich ins Dorf Balmoral hinein.Hier brannte die Straßenbeleuchtung. Hinter etlichen Fens-

tern war es noch hell.Ich war unter Menschen und fühlte mich einigermaßen ge-

borgen.Ein Gasthof hatte noch geöffnet. Vielleicht hatten sie in

Schottland andere Schließungszeiten. Oder man kümmerte

sich nicht um das Gesetz.Mir war es gerade recht. Ich stoppte den Wagen vor der Tür

und trat ein.Verräucherte Luft schlug mir entgegen.Der Laden war noch erstaunlich gut besetzt. Dann fiel mir

ein, daß Wochenende war. Das erklärte die Zahl der Gäste.Die Köpfe fuhren bei meinem Eintritt herum.Die Leute starrten mich an, als hätte ich gesagt, ich würde ih-

nen das Dach über dem Kopf anzünden.»Guten Abend!« wünschte ich und orientierte mich. Im Hin-

tergrund war der Ausschank. Links an der Längsseite des Raumes befand sich aber auch eine Theke.

Mühsam konnte ich durch den Qualm ein aufgehängtes Schild entziffern. Was ich für eine Theke hielt, war das Post-amt.

Ziemlich originell, dachte ich, das Postamt in der Kneipe!Die Männer erwiderten meinen Gruß zurückhaltend, aber

nicht unfreundlich.Ein bärbeißig blickender Bursche, der tatsächlich einen Kilt

trug, faßte mich ins Auge. »Sie sehen mächtig blaß aus, Mister? Hatten Sie einen Unfall? Wir hörten Reifen quietschen.«

Die anderen spitzten sofort die Ohren.Sie hatten nicht nur die kreischenden Reifen gehört, sondern

auch den vorfahrenden Wagen. Und nur ich war hereingekom-men.

Ich machte ein harmloses Gesicht. »Unfall? Nicht direkt. So ein seltsamer Kerl stand auf der Straße und wich nicht aus. Hatte eine Kutte an. Ich glaube, mein Wagen hat eine ganz net-te Beule.«

Auf die Reaktion war ich gespannt.Sie fiel unterschiedlich aus. Vom lähmenden Entsetzen bis

zum Aufatmen reichte sie.

Die Leute wußten, wer der Kerl in der Kutte war. Der Un-heimliche!

»Ist er hin?« Der bärbeißige Mann im Kilt heuchelte keine Anteilnahme. Er war ein echter Schotte, derb und gerade her-aus.

Ich schaute ihn fest an. Dann die anderen. Der Reihe nach und langsam. Die Spannung steigerte sich bis zur Unerträg-lichkeit.

»Was kann man an einem Skelett noch kaputt machen?« sag-te ich endlich. »Als ich den Kerl zuletzt sah, suchte er auf der Straße seine Knochen zusammen.«

*

Die wenigsten erschraken so, wie ich es erwartet hatte.Wenn ein Dorf ein Geheimnis hat und ein Fremder davon er-

fährt, ist das Erschrecken meist groß.Die Leute merkten, daß ich Bescheid wußte. Sie erwiesen mir

die Ehre, mich nicht für dumm zu halten. .»Mann, haben Sie ein Schwein gehabt!« sagte der Mann im

Kilt und betrachtete mich von Kopf bis Fuß. »Spüren Sie was an den Augen? Ich meine, sehen Sie mich?«

Er sorgte sich, daß ich etwas abbekommen haben könnte und bald mit toten Augen dasitzen würde.

Ich lächelte dünn. »Ich habe ihn überrascht. Der Nebel war noch nicht voll entwickelt, wenn Sie das meinen.«

Er nickte. Genau das meinte er.»Sie müssen ein Sonntagskind sein. Und ein Glückspilz be-

sonderer Art. Den Sie da über den Haufen gefahren haben, ist der Unheimliche. Er geht hier um. Wer ihn sieht und seinen Nebel zu spüren bekommt, erblindet auf der Stelle.«

So ähnlich hatte ich es gehört. Ich nickte.

»Wer sind Sie?« fragte er.»Ich komme aus London herauf«, sagte ich ausweichend.

»Bin schon den ganzen Tag unterwegs.«»Ah, dann wollen Sie zum Schloß rüber?« Er ging auf Di-

stanz.»Nicht unbedingt. Und nicht sofort. Da werden sie außerdem

schon schlafen.Mir gefällt es hier. Ich bleibe, wenn ich Ihnen Gesellschaft

leisten darf.«Ich fand den richtigen Ton. Seine abweisende Miene hellte

sich auf.»Die Leute aus London setzen sich nie zu uns«, sagte er.»Ich gehöre nicht zum Hof«, erklärte ich.»Darum.« Er bot mir einen Stuhl an.Ich bin kein Freund von großen Förmlichkeiten und setzte

mich. Im Nu war der Tisch von Gästen umringt. Ich mußte ih-nen erzählen, wie ich den Unheimlichen überfahren hatte.

Ich merkte ihnen die Hoffnung an, daß ich es dem grausigen Kerl für alle Zeiten besorgt hatte. Aber danach hatte es mir nicht ausgesehen. Das sagte ich den Leuten auch.

Sie gaben ihre Zurückhaltung auf. Sie behandelten mich wie einen der Ihren.

Ich bekam von ihnen zu hören, was mir Sir Horatio schon in knapper Form dargelegt hatte. Hier war es lang und breit, mit allerlei Ausschmückungen.

Ich spitzte die Ohren, als der Name Binnie fiel. Die Namen hatte ich mir gut eingeprägt. Ein Mädchen Binnie war ver-schwunden, das wußte ich. Es war auf dem Schloß angestellt. In der Wäscherei, glaube ich.

Diese Binnie war wieder aufgetaucht.Das war mir neu.Ich brauchte überhaupt keine Fragen zu stellen. Es genügte,

daß ich ein guter Zuhörer war. Schotten sind sehr mitteilsam. Besonders im Gasthaus. Oder wenn sie, wie diese Leute hier, die Furcht im Nacken sitzen hatten.

Diese Binnie war nachts auf dem Heimweg vom Schloß zum Dorf spurlos verschwunden. Tags darauf war sie um die Mit-tagszeit plötzlich aufgetaucht und schnurstracks zum Schloß gegangen.

Dabei wäre es doch die natürlichste Sache von der Welt ge-wesen, daß sie erst ihre Familie beruhigte, die sich mächtige Sorgen um sie machte. Aber nein, sie hatte der Familie nicht mal guten Tag gesagt. Und den Doktor hatte sie auch abfahren lassen. Der war ihr unterwegs begegnet. Im Wald hätte sie sich versteckt. Aber ihr Kleid sei nicht zerrissen, sondern ange-brannt gewesen.

Ich nickte. Die Leute durften erwarten, daß ich etwas beizu-steuern hatte.

»Ist der Doktor hier?« fragte ich.»Den ganzen Tag noch nicht. Er arbeitet, es brennt noch

Licht«, sagte der Mann im Kilt.Inzwischen war es zwei Uhr geworden. Ich war rechtschaf-

fen müde. Den Doktor wollte ich nicht mehr stören. Außerdem hatte ich ein paar Gläser Malzbier eingefahren und fühlte eine wohlige Mattigkeit aus dem Bauch aufsteigen.

Ins Schloß ließen sie mich doch nicht mehr hinein. Ich wand-te mich an den bärbeißigen Mann. »Kann man im Ort ein Zim-mer bekommen?«

»Wenn Ihnen mein Gästebett genügt?«»Herzlichen Dank, aber ich möchte Ihnen keine Umstände

bereiten. Ist hier im Haus denn nichts zu kriegen?«Er zog die Nase hoch. »Laglens Frau vermietet nicht mehr,

seit sie die ganze Arbeit allein machen muß. Laglen treibt sich viel lieber herum und läßt alles für sie übrig. Sie macht die

Post und das Gasthaus.«Diesen Laglen hatte er nicht ins Herz geschlossen. Mir war

zwar aufgefallen, daß eine Frau bediente, aber ich hatte mir nichts dabei gedacht.

»Unter diesen Umständen nehme ich Ihr Angebot gerne an«, sagte ich.

Eine halbe Stunde später verließ die Gästeschar das Wirts-haus. Ich befand mich mitten drin.

Im spärlichen Licht, das aus den Fenstern sickerte, begutach-teten wir meinen Sportflitzer. Unter dem linken Scheinwerfer war er kräftig eingedellt. Sonst war gottlob nichts zu Bruch ge-gangen.

Mir fiel auf, mit welcher Hast die Männer auseinanderström-ten und wie sie furchtsame Blicke nach rechts und links war-fen.

Die toten Augen, dachte ich, ich verstehe sie! Die Angst vor dem Unheimlichen hält sie gepackt! Jeder von ihnen kann das nächste Opfer sein!

Ich konnte mitreden. Ich hatte den Männern sogar etwas vor-aus – ich hatte dem Unheimlichen gegenübergestanden.

Und ich hatte ebenfalls hundsgemeine Angst gehabt.Mein bärbeißiger Gastgeber hieß Leod.Im Wagen war kein Platz. Also ging er voraus, und ich zu-

ckelte im Schrittempo hinter ihm her.Da und dort ging Licht hinter einem Fenster an. Ein Wagen

um diese Zeit und so langsam war eine seltene Darbietung. Und leise ist mein MG nun auch nicht gerade.

Leod blieb stehen und zeigte auf ein Haus, in dem hinter zwei Fenstern Licht brannte. »Da wohnt der Doktor. Sie haben nach ihm gefragt, ich dachte mir, daß es Sie interessiert.«

»Ja, sehr.«Leod wohnte ein Stück weiter auf der gegenüberliegenden

Straßenseite. Von seinem Haus aus konnte ich noch die er-leuchteten Fenster vom Doktor sehen.

Um niemand zu wecken, schoben wir den Wagen in den Hof.Wer außer Leod noch im Haus lebte, wußte ich nicht. Er hat-

te nicht darüber gesprochen. Nach den Kitteln, Schürzen und Jacken zu urteilen, die hinter der Haustür auf den Holznägeln hingen, mußten es aber eine Menge Leute sein.

Das Gästebett stand in einer kleinen, aber gemütlichen Kam-mer. Von einem Deckenbalken hingen geräucherte Schinken.

»Stören die Sie?« fragte er.»Lassen Sie sie hängen. Ich bin nicht hungrig.«Er lachte, wünschte eine gute Nacht und zog die Kammertür

hinter sich zu.Ich stellte meinen Koffer in die Ecke, bückte mich unter den

Räucherschinken durch und langte mein Schlafzeug aus dem Gepäck.

Zwei Minuten später lag ich im Bett.Und irgendwann wurde ich von dem Gefühl einer nahen Ge-

fahr wach.Ich lag ganz still und lauschte. Im Haus knackte es einmal.

Ich schrak zusammen, bis mir aufging, daß es Holz war, das sich in der Nachtkälte bewegte.

Es dauerte auch etwas, bis ich mich zurechtfand und wußte, daß ich in Leods Gästekammer lag.

War jemand ins Zimmer eingedrungen? Die Tür ließ sich nicht abschließen und besaß auch keinen Riegel. Ich lauschte auf Atemzüge.

Nichts.Aber plötzlich fuhr es mir wie eine heiße Flamme ins Gehirn!Ich preßte beide Hände auf den Mund, um meinen brüllen-

den Schrei zu ersticken.Die Schmerzen wüteten unbeschreiblich. Ich fürchtete, den

Verstand zu verlieren.Das kannte ich. So einen Angriff hatte ich schon einmal er-

lebt. Bei der Begegnung mit dem Unheimlichen. Aber da war er nicht so mörderisch ausgefallen.

Ich ahnte, daß der zweite Angriff mich im Schlaf hätte treffen sollen. Wahrscheinlich wäre es um mich geschehen gewesen.

So aber war ich wach, und wenigstens unterschwellig arbei-teten meine Abwehrkräfte.

So jäh, wie der Angriff erfolgt war, wurde er beendet.Ich hütete mich, konzentriert zu denken. Wahrscheinlich

konnte der Unheimliche nicht nur das Gehirn eines Gegners angreifen, sondern auch seine Tätigkeit abtasten.

Ich wollte ihn nicht zu einem zweiten mentalen Angriff er-muntern.

Aber aus dem Bett kletterte ich und tappte zum Fenster.Drunten stand eine dunkle Gestalt.Nicht der Kerl in der Kutte.Sie schaute herauf.Im Zimmer war es dunkel, sie konnte mich hinter der Schei-

be nicht sehen.Bange Minuten vergingen. Dann trat die Gestalt in den

schwarzen Schatten des Hauses gegenüber zurück und war verschwunden, als hätte der Erdboden sie verschlungen.

Ich war sicher, daß es ein Mann gewesen war. In jedem Falle aber ein Mensch und kein Geist.

Er hatte mich aber genau so angegriffen wie der Unheimli-che! Durch Gedanken!

Ich war in größter Verwirrung.Wer besaß denn noch diese Fähigkeit?Schade, daß ich keine Einzelheiten erkannt hatte oder das

Gesicht. Der Kerl hatte wohlweislich den Mond hinter sich ge-lassen.

Eins war sicher – ich war erkannt.Und wie es aussah, hatte ich es mit zwei Gegnern zu tun.

*

Miserable Träume plagten mich.Als an die Kammertür gepocht wurde, fühlte ich mich wie

gerädert und gevierteilt.Die dunkle Gestalt auf der Straße vor dem Haus fiel mir ein.

Zum Donnerwetter, die hatte ich mir doch nicht geträumt! So wenig wie das gewalttätige Zusammentreffen mit dem Un-heimlichen!

Ich lernte Leods Familie kennen. Er hatte fünf Kinder, außer-dem wohnten noch seine Mutter und die Schwiegermutter bei ihm. Seine Frau war ein robustes Wesen mit herzensguten Au-gen.

Leod sagte, es sei ihm eine Freude gewesen, mir Obdach zu geben. Er trug mir den Koffer hinunter und wollte ihn in den MG stellen. Da sah ich etwas.

»Halt!« rief ich entsetzt. »Zurück!«Er schaltete schnell. Die Angst vor dem Unheimlichen hatte

diese Menschen schon soweit getrieben, daß sie praktisch kei-ne Schrecksekunde mehr hatten. Sie reagierten einfach.

Leod machte einen Sprung zurück.»Halten Sie Ihre Leute fern!« rief ich und sah mich nach ei-

nem soliden Knüppel um. Auf der Rückenlehne meines Scha-lensitzes hatte ich nämlich eine armdicke Schlange ausge-macht.

Ich wußte nicht, ob sie harmlos oder giftig war. Wenn sie aus dieser Gegend stammte, war sie ungiftig. Schlangen aus nörd-lichen Breiten sind meist harmlos.

Ich wußte aber nicht, ob es hier überhaupt noch Schlangen

gab. Und von allein war das Tier nicht in den Wagen gekro-chen.

Jemand hatte es hineingetan. Das konnte natürlich auch mit einer giftigen Schlange geschehen sein.

»Teufel noch eins!« schimpfte Leod und schaute ins Auto. »Da sind ja noch viel mehr!«

Ich spähte von der anderen Seite durchs Fenster. Der gesam-te Fußraum wimmelte von unterschiedlichstem Gewürm, das unter- und über- und durcheinander kroch. Sogar auf beiden Sitzen tummelte sich das Viehzeug.

Auf der Ablage hatten sich drei dicke Schlangen niedergetan und beobachteten das Treiben unter sich.

Was hier beisammen war, stellte den Bestand eines mittleren Zoos dar. Und das konnte nicht sein. Niemand ging derart ver-schwenderisch mit Schlangen um, bloß um jemand zu erschre-cken oder ihn von einer einzigen Schlange beißen zu lassen.

Hinzu kam, daß ich unter dem Gewürm keine mir bekannte Art entdeckte.

Es waren Phantasiereptilien!Nichts anderes. Eine kleine Aufmerksamkeit des Unheimli-

chen oder des anderen Kerls.Ich fand eine ausgebaute Radspeiche, öffnete die Autotür

und stocherte das Viehzeug heraus.Hätte ich mich schlaftrunken oder in eine Unterhaltung mit

Leod begriffen ins Auto gesetzt, hätte ich mich mitten in das widerliche Gewürm gepflanzt.

Der Morgen war kühl und frisch und der Boden kalt. Die Schlangen hätten schnell erstarren müssen. Aber davon konnte ich nichts merken.

Sie griffen mich und Leod an.»Stroh!« sagte ich. »Schaffen Sie einen Büschel Stroh herbei!«Leod lief los und kam mit dem Stroh wieder.

Ich zündete das Büschel an und warf es auf die Schlangen. Was sich darunter hervorwand und fliehen wollte, schleuderte ich mit der Speiche in die Flammen zurück.

Zischende Flammenbündel schossen heraus. Ich hatte es er-wartet, aber Leod erschrak fast zu Tode.

Gewissenhaft suchte ich das Auto nach versteckten Exempla-ren ab.

Drei stöberte ich noch auf, sie hatten sich unter die beiden Sitze verkrochen. Und eine holte ich aus dem zugeklappten Handschuhfach.

Niemand sollte mir erzählen, die Schlange sei von allein hin-eingekrochen und hätte die Klappe hinter sich zugezogen.

Ich überantwortete die vier Reptilien ebenfalls dem Feuer.Leod starrte auf die Flammen und verstand die Welt nicht

mehr. Nach ein paar Minuten war das Stroh verbrannt. Ich stieß mit der Speiche die Asche auseinander.

»Sehen Sie etwas von Schlangenresten, Leod?« fragte ich.Zumindest hätten Schlangenskelette übrig sein müssen und

Köpfe, die ja größere Knochengebilde darstellen und nicht so leicht verbrennen.

Außer Strohasche war nichts da!Leod wurde vom Grauen geschüttelt. Viel besser ging es mir

auch nicht, obschon mir häufiger Phänomene dieser Art be-gegnet waren.

»Hexenwerk!« stieß Leod hervor und bekreuzigte sich. »Teu-felsspuk!«

Wie zur Bekräftigung der Worte fuhr ein Windstoß über den Hof und zerteilte die Asche. Ins Erdreich eingebrannt zeigten sich die Umrisse der Geisterschlangen.

»Werfen Sie eine Schaufel Sand drüber«, empfahl ich Leod, »und besprengen Sie den Platz mit Weihwasser. In den meis-ten Fällen hilft's.«

Wir hatten Zuschauer. Leods Familie war aus der Tür zum Hof gekommen. Die entsetzten Gesichter würde ich mein gan-zes Leben lang nicht vergessen.

Ich schätzte, daß bis zum Mittag die Sache mit den Teufels-schlangen im Dorf herum war. Ändern konnte ich es nicht. Und wollte ich auch nicht.

Denn damit hatte ich den Leuten vor Augen geführt, daß man durchaus den dunklen Mächten entgegentreten und ih-rem Treiben Einhalt gebieten konnte.

Nur fürchtete ich, daß die Angst vor dem Unheimlichen so tief bei den Leuten saß, daß sie sich lieber verkrochen, statt ge-gen ihn etwas auf die Beine zu stellen.

Ich hob den Koffer und mein Handgepäck auf den Beifahrer-sitz und verabschiedete mich von Leod, der noch immer nach Worten suchte. Für die Gastfreundschaft hatte ich mich schon bedankt.

Während ich den Sportflitzer aus dem Hof steuerte, überleg-te ich, daß die Gelegenheit günstig war, dem Doktor meine Aufwartung zu machen. Immerhin hatte der Scotland Yard alarmiert. Er durfte erwarten, daß die Obrigkeit etwas unter-nahm.

Als ich auf die Straße bog, bot sich mir voraus ein abscheuli-ches Bild. Ein verwachsener, fast gnomenhafter Mann mit schütterem Haar wurde von einer Menschenschar gehetzt.

Die Menge machte mir einen aufgeputschten Eindruck. Sie setzte sich aus Kindern und Halbwüchsigen, vor allem aber aus Erwachsenen zusammen.

Die Kinder bewarfen den krummgewachsenen Mann mit Dreck und Steinen. Die Halbwüchsigen hieben ihm mit Ruten auf die Beine, und die Erwachsenen traktierten ihn mit Faust-schlägen und Knüppelhieben.

Der bedauernswerte Mann schwankte unter den Schlägen

und Mißhandlungen. Es kam wir wie ein Wunder vor, daß er nicht schon zu Boden gefallen war.

Der Anblick regte mich auf. Ich kann es nicht leiden, wenn Überlegene ihre Kraft an einem wehrlosen Opfer auslassen. Da schießt mir die Galle ins Blut Und dann passiert sehr leicht et-was.

Selbst wenn der verwachsene Mann, ein richtiger Krüppel, etwas Schlimmes angestellt hatte, gab das in meinen Augen den Leuten nicht das Recht, ihn durch das Dorf zu prügeln. Ir-gendwo hat jedermann seine Würde.

Hier wurde sie mit Steinen und Dreck beworfen und mit Ru-ten, Stöcken und Fäusten geknüppelt.

Besonders ergrimmte mich, daß ich ein paar Gesichter aus dem Gasthof erkannte. Letzte Nacht hatten die Leute lamm-fromm getan. Jetzt drehten sie durch, was immer auch der An-laß sein mochte.

Zwei Männer taten sich besonders hervor – ein jüngerer, schwarzhaariger Kerl, der auf Frauen wirken mußte wie Ben-zin auf ein Feuer. Stellte ich mir jedenfalls vor. Denn der Ben-gel war hübsch. Und um die zwanzig.

Er trat den Krüppel auf gemeine Art wiederholt in die Ober-schenkel.

Wenn der arme Teufel strauchelte, fing ihn ein anderer Mann auf, gab ihm Ohrfeigen und haute ihm die Faust auf den Kopf.

Dieser Mann sah derb und grob aus. Er hatte ein verwüstetes Gesicht. Ich tippte auf Alkohol.

Da der Bursche in seinem Leben offensichtlich schon viel ge-soffen hatte, konnte ich ihn schwer schätzen. Aber fünfzig Jah-re hatte er bestimmt schon auf dem Buckel.

Eben packte er den Krüppel, zog ihn an den Haaren hoch und halb zu sich herum und haute ihm die flache Hand ins Gesicht.

Die Lippen des armen Teufels platzten, aus der Nase lief Blut, das zerrissene Hemd färbte sich rot.

Ich sah auch rot.Ich steuerte mit einer verbissenen Wut den MG auf die Meu-

te zu, die wie von Sinnen war und jeden Streich, der auf das Opfer dieser Hetzjagd niederging, mit beifälligem Gejohle quittierte.

Sie wich kaum zurück. Ich schlug das Lenkrad etwas ein und trat zugleich auf die Bremse. Ich tat's mit Fingerspitzengefühl.

Wie berechnet brach der Wagen aus und stellte sich quer. Fürs erste hatte ich die Meute von dem jämmerlich blutenden kleinen Mann und seinen zwei Hauptpeinigern getrennt.

Zwar kriegte ich saftige Flüche zu hören, aber daran störte ich mich nicht. Wie der Teufel sprang ich aus dem Auto.

»Schämen Sie sich nicht?« knurrte ich die zwei Kerle an. »Was hat der Mann getan?«

Der Bursche mit dem verwüsteten Gesicht starrte mich an wie eine Erscheinung. »Wollen Sie auch was abhaben?« erkun-digte er sich dann. Ich roch seine Fahne. Er hatte schon wieder kräftig inhaliert.

Natürlich wollte ich nichts abhaben, ich wünschte auch keine Rauferei.

Ansatzlos schlug er gestochen auf meinen Magen.Wenn der Kerl wirklich betrunken war, wollte ich ein Jahr

lang im Kirchenchor singen!Er schlug konzentriert, genau und hart wie ein Pferd.Ich konnte gerade noch die Bauchdecke hart machen. Es ist

kein Fehler, daß unsere Ausbilder uns bei den vierwöchentlich stattfindenden Auffrischungskursen auch auf blitzschnelle Ge-genreaktionen trimmen. Ein lahmer Geheimagent ist sehr schnell ein toter Geheimagent.

Dem Hieb konnte ich nicht die Wucht nehmen. Es gelang mir

aber, die Wirkung abzuschwächen.Im nächsten Augenblick hatte ich den Mann im Wickel. Mit

der rechten Hand packte ich sein Handgelenk und nahm es in den Schraubstock, mit der linken drehte ich ihm das Hemd vor der Brust zusammen. Mit einem Ruck zog ich ihn zu mir her-an. Unsere Gesichter waren nur handbreit voneinander ent-fernt.

»Hinterhältigkeiten kann ich nicht ausstehen, mein Freund! Lassen Sie den Mann in Ruhe, verschwinden Sie!«

»Das geht Sie einen Dreck an!« zischte er mir ins Gesicht. »Wer sind Sie überhaupt?« Er hatte einen neuen Trick auf La-ger. Er trat mir mit aller Kraft gegen das Schienbein.

Meine Geduld ist auch nicht grenzenlos. Ich stieß ihn heftig zurück. Er verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken.

Ein mörderischer Blick traf mich, der mich bis ins Mark frös-teln ließ. Ich hatte mir einen Todfeind gemacht.

Der gutaussehende junge Mann hatte während des Zwi-schenfalles weiter den verwachsenen kleinen Mann malträ-tiert. Ich ging jetzt dazwischen und stoppte den Rohling mit einem Haken auf die Rippen.

Sofort ließ er die Arme herabhängen und japste nach Luft.»Eine Meute von zwanzig Leuten gegen einen wehrlosen

Mann – darauf können Sie sich was einbilden!« sagte ich sar-kastisch.

»Halten Sie sich raus!« Er war fanatisiert »Das ist der Kerl, der den Leuten die toten Augen anhext, ich hab's immer ge-wußt. Das ist der Unheimliche!« Er zeigte auf den Krüppel, der mich flehend anschaute.

Mir verschlug es die Sprache. Soviel Dummheit auf einem Haufen war mir noch nie begegnet.

Die aufgeputschte Meute erhob ein zustimmendes Geschrei.Im Hintergrund sah ich Leods Familie herzueilen. Aus dem

Doktorhaus hastete ein knorriger, etwas gebeugter Mann mit grauem Haar. Er machte ein Gesicht, als wollte er die ganze Welt zum Frühstück vertilgen.

»Pack, elendes!« schimpfte er. Er schien eine gewichtige Per-sönlichkeit zu sein, denn das Geschrei verstummte. Ich tippte darauf, daß er der Doktor war.

Er mischte sich unter die Menge, in der die Leod-Familie un-tertauchte. Ich hörte ihn wettern; er hatte keine gute Meinung von den Leuten.

»Das wird Ihnen noch leid tun!« keuchte der junge Mann, dem ich die Rippen massiert hatte. »Der Kerl ist die Bestie, die…«

»Halten Sie doch den Mund!«»Binnie hat er verhext. Und Harvey. Vielleicht mich auch

schon!« schrie er.Es war die Angst vor dem Unheimlichen, die unter den Leu-

ten umging.»Beruhigen Sie sich erst mal, und dann denken Sie über den

Unsinn nach, den Sie verzapfen!« empfahl ich ihm und be-mühte mich um das Opfer der Volkswut.

Der verwachsene kleine Mann hatte eine Menge abbekom-men. Er blutete nicht nur aus den Lippen und der Nase. Sein gequälter Blick schnitt mir tief in die Seele. So schaut einen eine mißhandelte und herumgestoßene Kreatur an.

»Bitte, helfen Sie mir!« flehte er mich an. »Ich bin nicht der Unheimliche, die Leute sind verrückt geworden. Ich habe nichts mit den Dingen zu schaffen!«

»Hast du doch!« brüllte der junge Mann dazwischen. »Wir erwischen dich doch noch. Warte nur, wir räuchern dein He-xennest aus!«

Jetzt riß mir der Geduldsfaden. »Ihren Namen!«»Raten Sie mal!« höhnte er.

»Ich erfahre ihn, keine Sorge. Die Sache wird ein Nachspiel für Sie haben, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

Er stutzte. Irgendwie dämmerte ihm, daß er bei mir an die falsche Adresse geraten war. »Sind Sie Polizist?«

»Ihr Verstand scheint ja zeitweise noch zu funktionieren, gra-tuliere!« lobte ich ihn bissig.

Er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Er kniff die Lip-pen zusammen und tauchte in der Menge unter.

Der grobschlächtige Kerl, der mich immer noch haßvoll an-schaute, schloß sich ihm an und klopfte den Straßendreck von der Hose.

Der kleine verkrüppelte Mann an meiner Seite lächelte weh-mütig.

»Jetzt sind sie erschrocken, aber sie werden es wieder tun. Sie geben keine Ruhe. Sie brauchen einen Sündenbock. Der bin ich. Es ist besser, ich gehe fort, bevor sie mir die Mühle anzün-den.«

»Die Leute werden sich hüten!« versuchte ich ihn aufzumun-tern.

Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne sie besser. Die Angst geht um. Und so, wie ich aussehe – wir sind hier auf dem Land, Mister. Einer, der so gezeichnet ist, wird für alles verantwort-lich gemacht.«

Ich mochte ihm nicht widersprechen, weil es wahr war. Der Aberglaube wurzelte tief im Volk. Die Ursprünge reichten bis in jene Zeit des Mittelalters zurück, wo es schon genügte, ein kleines körperliches Gebrechen zu haben, um als Hexe und Hexer auf den Scheiterhaufen zu kommen.

Damals war die landläufige Meinung, daß der Teufel seine Anhänger mit einem auffälligen Zeichen versah, damit er sie schneller erkannte.

Unterschwellig saß das immer noch im Gehirn der Leute fest.

Der Mann betastete seine geplatzte Oberlippe. Sie schwoll an.

Die schlagartige Stille fiel mir auf. Ich wandte den Kopf.Die Menge starrte mich an, als sei ich ein Wundertäter. Etwas

war passiert. Ich wußte nicht, was.»Geht nach Hause, Leute!« Der Doktor guckte wütend. Zö-

gernd setzten sich die Leute in Bewegung. Sie räumten die Straße.

Ich empfing ein paar Strömungen. Sie reichten von Furcht bis Freude und Anerkennung.

Der Doktor stapfte heran. Er musterte mich von Kopf bis Fuß. »Sie sind auf dem besten Weg, eine Berühmtheit zu wer-den. Sie sind doch Mac Kinsey?«

»Und Sie Doktor Vilion.«»Der Leod-Clan erzählt was von Geisterschlangen. Ist das

richtig?«In seinen alten Augen sah ich die große Sorge und den tiefen

Ernst. Was in Balmoral vorging, bedrückte ihn sehr.»Mir wäre lieber gewesen, es hätte keine Zeugen gegeben«,

sagte ich. »Eine kleine Aufmerksamkeit des Unheimlichen, nehme ich an. Vergangene Nacht hatte ich eine Begegnung mit ihm.«

»Die Spuren an Ihrem Auto verraten es.« Sein Blick wurde zwingend. »Sie kommen aus London?«

»Es war Eile geboten. Die Lage hier ist dramatisch.«»Dann wissen Sie also Bescheid.« Er ging ein paar Schritte

weg, blieb stehen und wandte den Kopf. »Bringen Sie Morti-mer herein. Ich flicke ihn zusammen.«

Er war ein kauziger Kerl, aber er hatte einen Blick dafür, wo es fehlte. Mortimer, der verwachsene kleine Mann, hatte ärztli-che Hilfe nötig.

Und Doktor Vilion wollte mich im Haus sprechen. So ver-

stand ich seine Aufforderung.Ich fuhr den Wagen an den Straßenrand. Schließlich war hier

eine Durchgangsstrecke, auch wenn ich noch kein Auto hatte vorbeikommen sehen.

Dann stutzte ich Mortimer und schaffte ihn zum Doktor.Ein lästerlicher Fluch flog über die Straße und begleitete uns.Ich wirbelte herum.Natürlich war's der Kerl, den ich zu Boden gestoßen hatte.

Daß ich ihm vor den Augen der Leute eine Niederlage beige-bracht hatte, schien ihn gewaltig zu wurmen.

*

Doktor Vilion stand am Fenster, hatte die Hände auf dem Bücken verschränkt und brummte düster.

»Kirchweih – ha! Im Umkreis von dreißig Meilen ist diese Woche keine Kirchweih. Der Bursche säuft sich wirklich um den Verstand.« Er wandte sich um. »Setzen Sie ihn auf den Stuhl.«

Mortimer hatte die Kraft, sich allein hinzusetzen. Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Drüben standen der junge hüb-sche Bursche und mein anderer Widersacher.

»Wer sind die, Doktor?«Vilion kramte in seiner Tasche herum und holte Tupfer und

eine Blechschachtel heraus, der er eine Pinzette entnahm. Er reinigte Mortimers Platzwunde an der Oberlippe.

»Philby Laglen«, knurrte er. »Er würde besser seiner Frau helfen, statt dessen säuft er wie ein Loch und treibt sich in der Gegend herum. Der Grünschnabel ist Jeremy Bentham, hat 'ne Anstellung auf dem Schloß drüben.«

Das erklärte die um zwei Klassen bessere Kleidung dieses Je-remy. Über die hatte ich mich nämlich schon gewundert.

»Ein seltsames Paar, Doktor.«»Sonst sieht man die zwei auch nicht zusammen. Dem jun-

gen Stutzer ist solcher Umgang nicht fein genug. Aber seit der Unheimliche umgeht, ist alles auf den Kopf gestellt. Die Leute haben Angst. Hier – er muß es ausbaden. Bill Mortimer, unser Müller, stellte er mir seinen Patienten vor.

Der kleine verwachsene Mann zuckte unter Vilions Hand weg.

»Bleib sitzen, sonst kann ich das nicht richten!« knurrte der Doktor ihn an.

Mortimer hatte Mut, alle Achtung. Der Doktor ging nicht sehr zart mit ihm um, aber er blieb auf dem Stuhl und zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ich sah nur, wie blaß er wurde und wie ihm der feine Schweiß auf die Stirn trat. Vilion nähte ihm die Lippe ohne Betäubung zusammen.

»Wie schätzen Sie die Situation ein, Doktor? Ich könnte ver-suchen, Polizeischutz für Mister Mortimer zu bekommen. So-lange die Dinge undurchschaubar sind, sollte er besser nicht zur Mühle zurückkehren.«

»Vorläufig bleibt er hier!« bestimmte Vilion.Er hantierte mit Tupfern und Jodlösung und versorgte die

Schrammen und Abschürfungen, die Bill Mortimer außerdem davongetragen hatte. Ich zählte sechs blutunterlaufene Stellen und bedauerte schon, Jeremy und Laglen nicht gründlicher aufgemischt zu haben.

Laglen?Den Namen hatte ich doch schon einmal gehört »Hat der

Säufer etwas mit dem Gasthaus zu tun, in dem der Post-Schal-ter in der Wirtsstube ist? wandte ich mich an Vilion.

»Er ist der Wirt und der Posthalter, aber die Arbeit macht sei-ne Frau.« Der Doktor war mit dem verkrüppelten Müller fer-tig. »Leg dich eine halbe Stunde hin – aufs Sofa in der Küche.«

Er wartete, bis Mortimers unregelmäßige Schritte im Haus verklungen waren und fragte: »Sie kommen vom Yard?«

»Die Vorfälle werden als zu schwerwiegend betrachtet, um sie Scotland Yard zu überlassen. In einigen Tagen wird die kö-nigliche Familie auf dem Schloß eintreffen.«

Er blickte mich ziemlich irritiert an. »Ja, hat man denn nicht…?«

»Nur, wenn alle Stricke reißen.« Ich lächelte beruhigend. »Bis jetzt ist die Königin nicht informiert.«

Ihm dämmerte es. »Sie sollen hier sondieren!« Er legte die Pinzette in eine Desinfektionsschale. »Und nicht vom Yard.«

Warum sollte ich ihm nicht klaren Wein einschenken? Im-merhin hatte er als einziger Privatmann die Initiative ergriffen und nach London berichtet.

»Geheimdienst«, brummte ich.»So genau will ich's gar nicht wissen. Sie scheinen ein Händ-

chen für magische Geschehnisse zu haben. Sind noch nicht mal richtig da und geraten schon mit dem Unheimlichen zu-sammen.«

»Ein Zufall.«»Glauben Sie!« Er atmete hart. »Vielleicht hat der Kerl ge-

spürt, daß jemand kommt und daß der Besuch gegen ihn ge-richtet ist. Das Schlangengewürm in Ihrem Auto war ja wohl auch kein Zufall.«

»Heute nacht war jemand vor Leods Haus auf der Straße. Gefahr ging von ihm aus. Gefahr für mich. Ein Mann. Ich habe ihn nicht erkannt. Sie könnten recht haben, daß es kein Zufall war.«

»Sage ich doch.« Er desinfizierte die Nadel. »Diese Gefahr – wie empfanden Sie die?«

»Wie eine fauchende Flamme, die in mein Gehirn schlägt. Genau so. Dieses Empfinden hatte ich übrigens auch gestern

nacht, als ich den Unheimlichen überfuhr.«Das machte ihn nachdenklich. Nach einer Weile sagte er:

»Man könnte davon ausgehen, daß der Unheimliche und der Kerl vor Leods Haus identisch sind.«

»Zumindest ist es ein Anhaltspunkt.« Ich mochte seine Theo-rie nicht rundweg ablehnen. Und er hatte mir etwas voraus – er lebte hier und kannte die Leute. Gerade als Arzt fand er hautnahen Kontakt. »Haben Sie einen Verdacht?«

Meine Frage gefiel ihm nicht.»Es gab Zeiten, da hat schon der Hauch eines Verdachtes

Leute an den Galgen, aufs Schafott oder auf den Scheiterhau-fen gebracht. Erwarten Sie also keine Antwort von mir.«

»Ist früher schon mal im Dorf und in der Umgebung etwas vorgekommen?« Diese Frage hatte ich schon in London ge-stellt.

»Es ist mir nichts bekannt, Kinsey. Und ich würde es wissen. Die Leute kommen nicht nur mit ihren Krankheiten zu mir.«

Das war es. Ein Landarzt war meist auch eine Art Beichtva-ter.

»Das heißt, hier soll mal eine Hexe gelebt haben«, sagte er mit einem grübelnden Gesichtsausdruck. »Es ist entsetzlich lange her. Sie wurde ergriffen, man blendete sie und machte ihr den üblichen Prozeß. In Edinburgh wurde sie öffentlich verbrannt.«

»Geblendet?« Bei mir läutete eine Glocke Alarm. »Was hier gegenwärtig geschieht, könnte die Erfüllung eines alten Flu-ches der Hexe sein.«

Er schüttelte den Kopf. »Dazu paßt die Mönchskutte nicht. Oder was das Gewand darstellen soll. Sie denken doch an den Geist der Hexe, oder?«

Ich nickte.»Dann will ich Ihnen mal sagen, was ich von den Opfern mit

den toten Augen selber gehört habe. Der Unheimliche redet mit einer Männerstimme. Sie klingt wie aus einem Brunnen-loch.«

»Schade. Ich hoffte schon, ich hätte den Anfang des Fadens in der Hand.« Ich schaute zur Tür und senkte die Stimme fast zu einem Flüstern. »Was ist mit Mortimer?«

»Sie meinen sein Aussehen? Typisches Rachitisbild. Vermut-lich noch schwere Mißhandlungen in der Kindheit.«

»Er stammt nicht aus der Gegend?«»Er zog vor fünf Jahren zu. Ist gelernter Müller. Wir haben

eine Mühle. Zwei Meilen den Dee rauf. Das Anwesen war ziemlich heruntergekommen. Er hat es hochgebracht. Die Leu-te mögen ihn dennoch nicht. Ein Mann mit seiner Gestalt ge-winnt keine Freunde.«

Das gab mir zu denken.Bill Mortimer hatte mich draußen auf der Straße zwar fle-

hend angesehen, aber konnte ich in seine Seele blicken? Ein Mann, der so tief von den Leuten gedemütigt wurde, sann doch auf Rache; er wünschte doch, es seinen Peinigern heim-zahlen zu können. Daß die Leute ihn nicht mochten, ging ja schon länger, wie ich den Doktor verstand.

Wenn ein Mann lange genug getreten wird – in Worten und Taten – ist er eines Tages soweit. Dann tritt er zurück.

Die toten Augen brauchten ja nicht die Erfüllung eines Flu-ches aus der Vergangenheit sein. Der grausige Zauber konnte durchaus einen aktuellen Hintergrund haben.

Diesen Bill Mortimer mußte ich doch näher durchleuchten.»Ist der Müller der einzige Bürger, der von auswärts zugezo-

gen ist?«»Das wäre schön einfach für Sie!« versetzte Vilion fast bos-

haft. »Nein, auch andere sind hergezogen. Denken Sie bloß mal an das Stammpersonal vom Schloß.«

»Gehört dazu Jeremy Bentham?«»Nein, er ist drüben in Braemar geboren, sein Clan sitzt seit

achthundert Jahren in der Gegend.«»Auch Laglen?« Ich fragte der Form halber. Laglen ist ein

echter schottischer Name.»Der nicht. Er kam vor zehn – nein, zwölf Jahren mit seiner

Frau hier an. Aus Wales oder Cornwall, ich weiß es nicht. Er soll in irgend etwas verwickelt gewesen sein. Unser alter Post-halter war gerade krank, dem hat er geholfen. Dann hat er be-gonnen, das Gasthaus auszubauen. Das war nur noch eine ver-fallene Räuberhöhle mit Ratten als Dauergästen. Damals war er fleißig. Rührte von früh bis spät die Hände. Als der Posthal-ter starb, war es ganz klar, daß Laglen das Amt bekam.

Das Saufen und Herumtreiben hat er erst vor einem Jahr an-gefangen.«

Ich kannte seine Familienverhältnisse nicht. Vielleicht waren sie so, daß er an die Flasche gekommen war.

Großer Sympathien erfreute er sich nicht, das hatte ich ges-tern abend gehört. Die Leute gingen in sein Gasthaus, weil sie dort Geselligkeit fanden und etwas trinken konnten, aber nicht, weil sie ihn mochten.

Ich mochte ihn auch nicht. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.In meine Überlegungen hinein sagte Doktor Vilion: »Übri-

gens sollten Sie sich von der Tatsache, daß das Dorf drei blinde Opfer zu beklagen hat, nicht auf den falschen Weg locken las-sen. Im Schloß sind es zwei Opfer. Bis jetzt.«

Das übersah ich keinesfalls. Es bedeutete, daß der Unheimli-che auch auf Schloß Balmoral sitzen konnte.

»Es gibt einen Menschen, der eine Begegnung mit dem Un-heimlichen überstand, ohne daß danach seine Augen tot wa-ren«, fuhr der Doktor mit gedämpfter Stimme fort. »Elspeth Karnavon. Sie näht und wäscht auf dem Schloß.«

Den Namen kannte ich. »Wie kam es?«»Sie sah einen Schatten an der Wand und den grauenhaften

Nebel. Sie schrie um Hilfe und erlitt eine Ohnmacht. Ich möch-te behaupten, die Ohnmacht hat sie gerettet, Kinsey. Zudem waren sehr schnell Leute zur Stelle. Das war am Donnerstag. Das Mädchen erlitt einen Schock, ich sollte rüberkommen. Bin-nie Barnes war beauftragt, mich zu verständigen.«

Heute war Samstag.»Binnie ist das Mädchen, das zeitweise verschwunden war,

nicht?«Er nickte. Mir fiel der sonderbare Ausdruck in seinen Augen

auf.»Ich hatte meinen geselligen Abend bei Pater Ryan. Das ist

der Ortsgeistliche. Wir hörten Hilferufe, fanden aber niemand. Nur eine Strickjacke lag auf der Brücke. Gestern um die Mit-tagszeit kam plötzlich Binnie daherspaziert, nachdem wir stundenlang nach ihr gesucht hatten. Im Wald hätte sie sich versteckt, sagte sie. Aber ihr Kleid war nicht von Ästen zerris-sen, sondern wie von Funken angebrannt. Ich kann mir nicht erklären, wo das passiert sein könnte. Wir haben nirgendwo in den Wäldern Rauch aufsteigen sehen. Ich kenne Binnie von Kindesbeinen an, ich habe sie heranwachsen sehen. Jetzt ist sie in dem Alter, wo sie den Männern den Kopf verdreht. Als sie gestern an mir vorbeiging, bin ich erschrocken.«

»Hat sie Ihnen auch den Kopf verdreht?«Er schaute grimmig. »Ihre Scherze sind nicht sehr lustig! Es

war der Ausdruck ihrer Augen. Eiskalt. Mörderisch. Tödlich.« Er zögerte: »Sie ist jetzt ein anderer Mensch. Erklären kann ich es Ihnen nicht, ich spüre es eben. Kommen Sie mit!«

Er ging voran in sein Arbeitszimmer, in dem eine anheimeln-de Unordnung herrschte. An einer Längsseite hatte er ein be-scheidenes Labor eingerichtet. Für die Erfordernisse einer

Landarztpraxis schien es zu genügen.Aus einem Schränkchen nahm er einen kleinen Glaskolben.

Eine wasserhelle Flüssigkeit schwappte darin.»Beobachten Sie, was passiert!« forderte er mich auf.Er holte aus dem Schreibtisch einen Rosenkranz mit einem

Kreuz daran.Mit einem dünnen Lächeln erklärte er: »Ich habe ihn mir von

einer Patientin ausgeborgt, ich glaube nicht daran, ich bin Hei-de.«

Mit dem Rosenkranz führte er Pendelbewegungen um den Glaskolben aus.

Die wasserhelle Flüssigkeit verwandelte sich. Sie wurde blut-rot.

Er faßte das Kreuz mit zwei Fingern und hielt es gegen den Kolben.

Im Nu war der Inhalt wieder hell und klar.Die Zusammenhänge verstand ich nicht, nur das Prinzip.

Das war Magie.Jetzt nahm er das Kreuz verkehrt herum. So stellte es das

Symbol des Teufels dar. Bei schwarzen Messen war dies vorge-schrieben.

Als er in die Nähe des Kolbens kam, brodelte die Flüssigkeit auf und färbte sich schwarz. Aus der Öffnung stieg kalter Dampf. Er roch so streng, daß ich Stiche in der Lunge spürte.

Gebannt verfolgte ich dennoch Vilions Vorführung. Er ver-wandelte das Zeug zurück und füllte ein knappes Viertel in ein Fläschchen. Hastig drückte er einen Korken drauf.

Dann lüftete er den Raum.»Ich habe es nach uralten Rezepten hergestellt«, sagte er.

»Ein Zaubertrunk, der vor bösen Mächten schützen soll. Ich nehme seit gestern täglich zehn Tropfen. Das ist für Sie.« Er drückte mir das Fläschchen in die Hand.

Ich zierte mich nicht. Er verstand offensichtlich einiges von Magie. Was er mir demonstriert hatte, war überzeugend.

»Danke!« sagte ich ergriffen.»Bedanken Sie sich nicht, bringen Sie den Unheimlichen zur

Strecke. Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen.«

*

Wir hatten nicht weit zu gehen.Vilion führte mich in ein Haus am Ende einer Gasse.In der Diele trat uns eine Frau mit rotgeweinten Augen ent-

gegen. Ihre Hände waren schrundig von der harten Arbeit auf dem Hof.

In der Stube saß ein junger kräftiger Mann in einem Holzses-sel. Er spannte die Hände um die Armlehnen, daß die Knöchel weiß hervortraten.

Sein Kopf fuhr herum. »Wer ist gekommen?«»Der Doktor und ein Mann aus der Stadt«, sagte Vilion. Und

an mich gewandt: »Das ist Ian Burgess.«Ich starrte in das Gesicht des jungen Mannes.Das Grauen schüttelte mich, als ich die toten Augen sah.Zwei weiße wässrige Kugeln rollten in den Höhlen, als woll-

ten sie herausspringen. Die Gesichtszüge verzerrten sich. Ian Burgess wollte sehen – und konnte es nicht.

Der Anblick war entsetzlich.Der junge Mann bäumte sich gegen das unmenschliche

Schicksal auf, das ihn geschlagen hatte.»Warum?« brüllte er. »Warum, Doktor?«Vilion schwieg. Der junge Mann sackte zusammen. Sein

Atem ging hart und keuchend.Nach geraumer Zeit sagte er mit gefaßter Stimme: »Geben

Sie mir etwas, Doktor, oder ich mache es selber, ich finde

schon was. Das ist kein Leben.«»Das tust du nicht!« fuhr Vilion ihn hart an. »Ich sehe wieder

nach dir, Ian.« Er zupfte mich am Ärmel. Wir gingen.In der Diele stand immer noch die Frau, Ians Mutter.»Vorhin war er in der Küche«, sagte sie unter Schluchzen.

»Er hatte schon das große Messer in der Hand. Helfen Sie ihm, Doktor, ich flehe Sie an!«

Vilion schaute sie nur an. Ich merkte ihm an, er litt genau wie sie.

Dann gingen wir hinaus. Das leise Weinen verfolgte uns.»Haben Sie den Zaubertrunk ausprobiert?« Ich blieb stehen

und schaute auf das Haus zurück.»Wirkt nicht. Zum Henker, Kinsey, halten Sie mich für herz-

los und vertrottelt?«»Für das Gegenteil. Tut mir leid, ich war auf den Anblick

nicht vorbereitet.«»Ich auch nicht, als ich zum ersten Opfer gerufen wurde. Ich

wache jetzt noch nachts auf und sitze schweißgebadet im Bett. Kinsey, bringen Sie diesen Teufel zur Strecke!«

Deshalb war ich ja da.Wenn ich einen Fehler machte, konnte mich Sir Horatio mit

meinen toten Augen nach London zurückholen.

*

Schloß Balmoral erinnerte mich ein wenig an Glamis Castle. Wegen der vielen Fenster.

Glamis Castle in der Gegend von Dundee ist nämlich ein Spukschloß. Und es fängt schon damit an, daß man von außen mehr Fenster zählt, als man innen feststellen kann.

Von Balmoral hatte ich das nicht gehört. Dennoch bekam ich Beklemmungen beim Anblick der Schloßanlage. Aber wohl

deshalb, weil ich dort das, Geheimnis des Unheimlichen zu entdecken hoffte. Und weil sich dort in wenigen Tagen eine nationale Katastrophe vollzog, wenn ich versagte.

Es war so eine Idee, aber sie beunruhigte mich. Wie, wenn der Unheimliche es auf die königliche Familie oder gar auf die Königin abgesehen hatte?

Ich brauste den Kiesweg hinauf, der nur bei offiziellen Anläs-sen benutzt wurde. Vor dem Hauptportal stoppte ich.

Man hatte meine Anfahrt beobachtet. Ich war sofort von handfesten Leuten umringt, die sehr unfreundlich schauten. Es störte mich aber nicht, ich entlud den MG.

»Sie haben sich wohl vertan!« sagte ein Mann, dessen Jacke auf der Hüfte eine verdächtige Ausbeulung aufwies. »Einen Gasthof finden Sie im Dorf.«

»Die vermieten nicht«, gab ich zurück.»Das ist doch Balmo-ral Castle? Dann bin ich auch richtig. Und bevor Sie sich Ärger einhandeln, Gentlemen, verständigen Sie besser Mister Mere-dith. Und vielleicht auch Mister Finchley.«

»Ich bin Finchley.« Ein hagerer Mann trat heran. Er musterte mich wie einen toten Vogel, den die Katze herbeigeschleppt hat. »Sie wünschen?«

»Ein passables Quartier und jede Unterstützung. Ach ja, und grüßen soll ich Sie. Von den Gentlemen Argill, Lestershire und Pennymaker.«

Finchley atmete hörbar auf. »Gott sei Dank, wir erwarten Ihre Truppe sehnlich. Sie sind Mac Kinsey?«

»In voller Lebensgröße. – Hm, sagten Sie Truppe?«»Sicher.« Er wurde nervös und schaute den Kiesweg entlang.

»Ihre Spezialabteilung wurde uns angekündigt.«»Ich bin die Spezialabteilung«, sagte ich bescheiden.»Mein Blutdruck! Machen Sie nicht solche Scherze mit mir!«

Sein Gesicht wurde puterrot.

»Sie können sich ja rückversichern«, schlug ich ihm vor. »Die Situation ist zu ernst, als daß man Witze machen sollte.«, Ich gab ihm die Autoschlüssel. »Lassen Sie auftanken. Der Wagen soll jederzeit einsatzbereit gehalten werden. Ich würde mich gerne mit den Örtlichkeiten vertraut machen.«

Finchley stand noch sichtlich unter einem Schock. »Örtlich-keiten?«

Der Laden lief mir zu zäh. Wenn alle Leute von der Voraus-truppe so langsam wie Finchley waren, stellte sie keine Hilfe, sondern eine Gefährdung dar.

»Das Glashaus. Der Raum, in dem die Streitaxt von der Wand fiel. Das Vestibül. Das Zimmer, wo das Feuergesicht er-schien. Dachten Sie, ich wollte die Ahnengalerie der Windsors besichtigen?«

Die handfesten Männer hatten schon bei Nennung der Na-men Argill, Lestershire und Pennymaker etwas Abstand zwi-schen sich und mich gebracht. Ich konnte atmen, ich war nicht mehr eingekeilt.

Meine nicht sehr devoten Worte machten sie ärgerlich. Ich pfiff auf ihre Ansicht. Ich war hier, um den Unheimlichen zur Strecke zu bringen, bevor er die königliche Familie zur Strecke brachte.

Ich dachte nicht daran, mich in das umständliche Zeremoni-ell einbinden zu lassen, das sie gewöhnt waren.

»Unmöglich!« machte Finchley von oben herab. »Woods, führen Sie Mister Kinsey.«

Ich schüttelte stur den Kopf. »Nicht Woods – Sie! Bei Hof mögen Sie eine große Nummer sein, aber noch ist der Hof nicht hier. Also, können wir beginnen?«

Er seufzte und verdrehte die Augen. Aber er schritt voran.Einer seiner Männer klemmte sich in meinen MG, ein ande-

rer bemächtigte sich des Gepäcks.

Zwei aus der Truppe folgten Mister Finchley und mir in eini-ger Entfernung.

Erste Station war das Blumenhaus.Die Trümmer waren beseitigt, der Wiederaufbau lief. Sogar

heute. Sogar heute am Samstag Das wollte etwas heißen, wo es unsere Gewerkschaften doch so genau nehmen.

Ich probierte, mit meiner ›Gabe‹ etwas aufzuspüren. Feindli-che Strömungen, Aggressionen, Haßgefühle. Wenn der Un-heimliche hier gewesen war, konnte etwas zurückgeblieben sein.

Nichts. Ich tappte wie in einem stockdunklen Wald.Nicht anders war es in dem Saal, in dem die Waffe aus den

Rundhaken gefallen war. Ich ließ mir eine Leiter bringen und kletterte hinauf.

Die Haken waren unversehrt. Es war an ihnen auch nicht manipuliert worden.

Das große Vestibül durchstöberte ich, als hätte ich dort ein Goldstück verloren. Ich ließ mir zeigen, wo Elspeth Karnavon gestanden hatte, als der Nebel die Treppe herabkroch, wo sich die Rufanlage befand, und wo sie den Schatten an der Wand bemerkt hatte.

Die Aussage des Mädchens kannte ich in groben Zügen. Sie erschien mir zutreffend. So konnte sich die Begegnung abge-spielt haben.

»Jetzt das Zimmer, in dem sich die feurige Erscheinung ge-zeigt hat«, bat ich Finchley. Er hatte sich in die Rolle des Frem-denführers gefunden. Ich war mit ihm zufrieden, er machte seine Sache ausgezeichnet.

Als wir die Treppe hinaufstiegen, traf ich einen Bekannten.Jeremy Bentham stand wie vom Donner gerührt. Er trug

nicht die Kleidung, die er drüben im Dorf angehabt hatte. Er hatte sich mächtig beeilt, ins Schloß zu kommen. Allerdings

hatte ich mich auch eine Weile beim Doktor aufgehalten.Jeremy zog ganz sacht den Brustkorb ein. Die Rippen, die ich

gestreichelt hatte, schienen ihn noch zu jucken.»Gut durchatmen«, empfahl ich ihm grinsend. »Immer gut

durchatmen. Das hilft.«Finchley schaute Jeremy und mich an, als hätten wir eine

Schraube locker.Er merkte, daß wir uns kannten. Er gab sich aber nicht die

Blöße, zu fragen.Die Sache ging ihn nichts an. Das war eine Angelegenheit,

die nur den jungen Mann und mich betraf.Jeremy deutete mein Schweigen richtig. Ich konnte fast den

Stein von seiner Seele fallen hören. Er hastete an uns vorbei.Finchleys Gesicht war ein einziges Fragezeichen.Das fragliche Zimmer befand sich in der Nähe der Treppen-

mündung.Beim Eintritt ging ich fast in die Knie, so hart und wütend

traf es mich. Der Haß strömte noch aus den Wänden und aus dem Kamin, in dem sich das flammende Antlitz gezeigt hatte.

»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Finchley besorgt. Er wollte mich stützen. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß ich in die Knie gegan-gen war.

Der Schlag in mein Gehirn war anders, als ich es aus der Be-gegnung mit dem Unheimlichen und aus dem Angriff der nächtlichen Gestalt auf der Straße kannte.

Hier hatte ein Dämon gewütet. Ganz einwandfrei.Ich erschrak. Dann bescherte also nicht nur der Unheimliche

seinen Opfern tote Augen. Es existierte obendrein ein Dämon, der ebenfalls diese grauenhafte Macht besaß.

»Es geht schon, bemühen Sie sich nicht.« Ich lehnte mich ge-gen die Wand.

Der Zaubertrank des Doktors fiel mir ein. Ich schickte Fin-

chley hinaus und träufelte mir eine Dosis auf die Zunge.Das Zeug schmeckte wie Krötensaft.Ich würgte es hinunter.Nach ein paar Minuten ließ die Heftigkeit der dämonischen

Haßströme nach. Ich spürte sie immer noch, aber sie peinigten mich nicht mehr.

Der Trank war ein wahres Zauberelixier. Den Doktor mußte ich mir warm halten.

Finchley hatte Besorgnis im Blick, als ich vor die Tür trat. Ich zerstreute mit einem Lächeln seine Sorgen. »Und jetzt würde ich gerne mein Quartier sehen.«

Es lag in, einem Seitenflügel.»Wir wohnen ebenfalls hier«, erklärte Finchley. Er zog die

Brauen hoch.Aus einem Zimmer voraus trat ein Mädchen, bei dessen An-

blick ich an Dinge dachte, über die man als Gentleman nicht spricht. Bei ihr war alles am richtigen Fleck.

Finchley teilte meine stille Begeisterung nicht. »Miß Barnes, was haben Sie hier zu suchen?«

Ich zuckte leicht zusammen. Das also war Binnie Barnes!Ich betrachtete sie jetzt mit ganz anderen Augen.»Jemand muß ja wohl das Zimmer herrichten«, erwiderte

Binnie schnippisch. Sie hatte einen aufreizenden Gang und be-tonte noch den Schwung ihrer Hüften. Und seltsam, es sah nicht eine Spur ordinär aus.

»Jaja, schon gut, aber gehen Sie jetzt!« Finchley wedelte un-geduldig mit der Hand.

Binnie strich ganz dicht an mir vorbei. Ich schaute sie an.Im selben Augenblick verstand ich, was Doktor Vilion ge-

meint hatte.Ich blickte in ihre Augen wie in eine Eisgruft!Nicht ein Funken Wärme war darin. Nur eisige Kälte. Und

der Tod.Ich erschrak doch und hastete hinter Finchley her, der bereits

die Tür meines Zimmers erreicht hatte.Als ich über die Schulter schaute, verschwand Binnie auf der

Treppe.»Bitte!« Finchley klinkte mir die altertümliche Tür auf.Ich warf einen vorsichtigen Blick ins Zimmer.Auf Anhieb fiel mir nichts auf, das Verdacht erregte. Ich wur-

de deswegen aber nicht leichtsinnig.Mein Gepäck war da, meine Wäsche bereits eingeräumt.Ich durchsuchte jeden Winkel. Ohne Ergebnis.Dann fiel mein Blick aufs Bett. Es war Mittag, also noch nicht

Zeit, um sich hinzulegen. Das Bett konnte ich aber auch jetzt untersuchen und nicht erst am Abend, wenn vielleicht jemand die Sicherung herausdrehte und ich im finstern stand.

Ich schleuderte das Deckbett hoch.Finchley stieß einen scharfen Laut aus, der wie ein Zischen

klang.Und ich fror bis ins Mark.Im Bett lag eine schwarze Kutte mit Kapuze!

*

Bevor ich es verhindern konnte, griff Finchley danach. Mein Warnruf kam zu spät.

Der Unheimliche hatte mir seinen Gruß ins Bett legen lassen. Damit bezweckte er etwas. Er wollte mich nicht bloß ein-schüchtern.

Und er wußte, wo ich zu finden war.Er schien jeden meiner Schritte zu kennen.Finchley schrie auf. Die Kutte erwachte zu geisterhaftem Le-

ben. Sie schlang sich blitzschnell um seinen Hals und drehte

sich zusammen.Jetzt begriff ich, was der Unheimliche mir zur Nacht zuge-

dacht hatte.Statt meines Halses steckte der von Finchley in der mörderi-

schen Drosselschlinge.Der Mann riß vor Entsetzen und aus Luftmangel den Mund

auf. Seine Hände krallten sich in den Stoff, wollten die wür-gende Umschlingung lösen.

Die Kuttenenden schlangen sich um seine Hände und fessel-ten sie.

Ich sprang hinzu. Ich riß an dem schwarzen Stoff. Er gab nicht nach, im Gegenteil. Er drehte sich enger zusammen.

Ich hätte ein Messer benötigt Wo war hier die nächste Küche?Es blieb nicht die Zeit, sie zu suchen. Finchley lief bereits

blau an. Sein Mund war schrecklich aufgerissen, aus den Au-gen sprach das nackte Grauen.

Ich sprach eine Bannformel. Die Wirkung war gleich null.Es ging um Sekunden.Der Zaubertrank! Er war zum Einnehmen. Aber außer ihm

hatte ich nichts, das mit magischen Kräften hergestellt war. Ich mußte es wenigstens versuchen.

Mit fliegenden Fingern entkorkte ich das Fläschchen und träufelte von der Flüssigkeit auf die Kutte.

Die Wirkung machte mich sprachlos.Der schwarze Stoff riß wie Papier, die würgende Drossel lös-

te sich von Finchleys Hals.Fetzen der Kutte fielen auf den Boden, andere lösten sich auf

und schwebten wie Ascheflocken. Der Vorgang war von einer beklemmenden Faszination.

Ich war drauf und dran, mehr von dem Zaubertrank über den Stoff zu schütten. Es wäre Vergeudung gewesen, ich be-zähmte mein Verlangen.

Finchley stürzte mit dem Gesicht voran in mein Bett. Der Schreck und die Atemnot hatten ihn geschafft.

Ich sah aber, daß er die Kraft hatte, den Kopf zur Seite zu drehen. So konnte er atmen. Das fehlte jetzt noch, daß er in be-wußtlosem Zustand jetzt in meinem Bett erstickte.

Das Zimmer war mit einem Kamin ausgestattet. Es war kein Holz darin aufgeschichtet.

Ich fegte die Reste der Kutte zusammen und warf sie auf den eisernen Schemel in der Feuerstelle.

Im nächsten Augenblick hatte ich mein Feuerzeug ausge-knipst und an die Fetzen gehalten. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, daß sie sich noch einmal zusammentaten und einen Angriff unternahmen.

Die höllischen Kräfte, die in ihnen vorhanden waren, schlummerten unter Einwirkung des Zaubertrankes wahr-scheinlich nur. Wenn sie wieder freigesetzt wurden, ging der Tanz von neuem los.

Eine Stichflamme puffte in der Feuerstelle hoch. Ich bekam so schnell gar nicht die Hand weg. Es sengte mir die Haare auf dem Handrücken ab.

Höllenfeuer!Es war so heiß, daß der eiserne Schemel glühte, obgleich die

Verpuffung nicht einmal eine Sekunde währte.Sorgsam barg ich das Fläschchen in meiner Tasche. Sein In-

halt wirkte Wunder. Ich hoffte, daß er für mich eine Art Le-bensversicherung war.

Das blitzartige Feuer hatte ein dumpfes Wummern verur-sacht. Finchley wälzte sich auf dem Bett herum und starrte mich mit Augen an, als hätte er einen Blick in die Abgründe der Hölle getan.

»Das war mir zugedacht«, sagte ich und schluckte. »Sie wa-ren zu schnell.«

»Mister Kinsey, um Gottes willen, was war das?« Er begann zu zittern.

»Eine Aufmerksamkeit des Unheimlichen, wenn Sie wissen, was damit gemeint ist.«

Er nickte, seine traurig hängenden Backen gerieten in Auf-ruhr. »Die Leute reden von ihm. Ein Gespenst«

»Schlimmer, ein Satan.«Er setzte sich auf. Sein Hals trug rote Strangulationsmale.

Nervös rieb er mit beiden Händen darüber.»Dieser Vorfall darf nicht bekannt werden«, sagte ich. »Unter

dem Personal würde wahrscheinlich eine Panik ausbrechen.«»Aber – aber es muß doch etwas geschehen!«»Es geschieht. Darum bin ich hier. Der Unheimliche hat mich

erkannt und weiß um meine Absichten. Er will mich beseiti-gen. Ich weiß jetzt, woran ich mit ihm bin. Ein erkannter Geg-ner ist nur noch halb so gefährlich.«

»Wer ist es?«Er machte mir Laune. »Das weiß ich nicht. Er wird sich zu er-

kennen geben, wenn er die Zeit für gekommen hält.«Finchley stierte auf den Boden. Die Kutte war fort.»Ich habe sie angezündet, den Rest hat sie selber besorgt. Sie

hat sich vernichtet.«Er verdrehte auf eine furchteinflößende Art die Augen. Ich

hatte zuviel gesagt, er verkraftete es nicht. Er verstand es nicht einmal.

Auf den Kopf gefallen war er jedoch nicht.»Das Mädchen!« stieß er scharf hervor. »Diese Binnie Barnes!

Sie hat das Ding ins Bett praktiziert.«»Ich war nicht dabei«, schwächte ich seine Behauptung ab.Natürlich kam nur das Mädchen in Frage. Aber ich wollte

nicht, daß Finchley jetzt auf Binnie Barnes losging. Das Mäd-chen konnte mir sehr wertvoll werden. Aber nur, wenn es

nicht gewarnt war.»Restaurieren Sie sich, das Badezimmer steht zu Ihrer Verfü-

gung.« Ich wies auf die angelehnte Tür.Er schleppte sich hinein. Ich hörte das Wasser rauschen.Binnie Barnes hatte meine Wäsche eingeräumt. Die Pistole!

Es durchzuckte mich heiß.Ich sondierte die Fächer im Schrank.Sie hatte die Waffe oben auf die Unterhemden gelegt. Ein

Seufzer der Erleichterung stieg aus meiner Brust. Das hätte ein schönes Theater gegeben, wenn die Waffe verschwunden wäre.

Ich überprüfte sie. Aus reiner Routine. Und weil's Vorschrift war.

Ich fluchte leise.Das Steckmagazin war leer. Sogar die Patrone aus der Kam-

mer war entfernt, die immer drin steckt.Finchley kam aus dem Bad zurück. Er sah wieder ganz

passabel aus.Ich hielt ihm die Automatic unter die Nase. Er wurde merk-

lich blasser. »Bitte – was soll das?«»Dieses Mädchen versteht mehr von Waffen, als ein Zimmer-

kätzchen eigentlich sollte. Leer – entladen. Beschaffen Sie mir die passende Munition. Sie selber, niemand sonst. Dann kom-men Sie zurück, und wir machen Mister Meredith unsere Auf-wartung.«

Er eilte davon, als sei noch immer die Teufelskutte hinter ihm her.

Ich richtete mich im Bad etwas her.Finchley brachte fünf Minuten später die Munition. Ich lud

die Automatic und legte das Schulterholster an. Die Waffe kam an den Platz, der ihr zustand.

Mit diesen Kugeln konnte ich gegen dämonische Wesen und

höllische Kreaturen nichts ausrichten. Im Londoner Magier-Zirkel hatte man mich aufgeklärt.

Geweihte Kugeln mußten es sein. Und aus Silber. Und dann mußte man noch Glück haben.

Ich wollte die Automatic nicht gegen den Unheimlichen ein-setzen. Weil es nichts brachte. Aber der Unheimliche schien Einfluß auf Menschen zu haben. Wie auf Binnie Barnes zum Beispiel. Vor denen mußte ich mich hüten und schützen.

*

Mister Meredith war unergiebig wie ein trockener Brunnen.Er vermochte seine Enttäuschung über meine Ein-Mann-

Truppe nur mangelhaft zu verbergen, Er hatte ebenfalls erwar-tet, daß wenigstens ein Dutzend hartgesottener Geheimagen-ten auf Balmoral einfiel.

Ich ließ mir von ihm die Räume zeigen, die der königlichen Familie vorbehalten waren. Sorgsam suchte ich die Wände, die Decken und harmlos erscheinende Winkel nach Symbolen des Bösen ab.

Meredith verstand mein Treiben nicht. Und aufklären moch-te ich ihn nicht.

»Suchen Sie Spinnweben, oder was?« sagte er verärgert »Es wird jeden Tag gewischt.«

»Es ist auch alles tadellos in Schuß.«Mein Lob versöhnte ihn einigermaßen.Zum Abschluß des Rundganges bat er zum Tee. Ich war an

einem soliden schottischen Whisky eigentlich mehr interes-siert. Die pflegten ja hier Sitten wie in den feinsten Londoner Damenkränzchen. In den Hofdienst würde ich nie treten, das stand für mich fest.

Ich entwischte der Teerunde, in der leeres Geschwätz geführt

wurde, und rief den Doktor an. Es dauerte eine Weile, bis er sich meldete.

Er hätte einen Bruch in der Praxis, den müßte er erst richten, erklärte er mir knurrend.

»Ich halte Sie nicht auf, Doktor.«»War Mortimer vor drei Stunden noch bei Ihnen?«Der Anschlag mit der Mönchskutte beschäftigte mich immer

noch. Ich suchte den Beginn des Fadens. Ich durfte niemand ausklammern. Mortimer war ein Krüppel. Aber Mitleid ist be-kanntermaßen ein Gefühl und kein Indiz.

»Der ist gleich nach Ihnen gegangen«, brummte Vilion. »Sonst noch was?«

»Nein, und vielen Dank, Doktor.«Es konnte bedeutungslos sein, daß Mortimer nach mir ge-

gangen war. Gleich nach mir. Es konnte aber auch von großem Gewicht sein.

*

Er schlich sich an das Haus heran und lachte wie zehn irrsinni-ge Teufel. Der Mann, der aus London gekommen war, hatte es auf ihn abgesehen. Auf ihn, den Meister!

Und der Narr aus London glaubte noch, es könnte ihm gelin-gen!

Er krümmte sich vor Lachen.Seine Hände glitten über rauhen Stein und drückten einen

Quader aus seinem Bett. Leicht schwang der Stein herum.Aus der Mauer ertönte ein Scharren. Eine Tür öffnete sich in

der Wand.Der Meister trat ein und stellte sich auf einen grauen Stein im

Fußboden. Erst mußte er das Opfer darbringen.Er stach mit der Spitze seines Taschenmessers in seinen lin-

ken kleinen Finger und ließ sieben Blutstropfen auf den grau-en Stein fallen.

Augenblicklich begann der Stein zu leuchten. Er wurde durchsichtig. An seiner Oberfläche zeigten sich dunkle Struk-turen. Sie gewannen Form und stellten einen Hexenring mit den sieben Symbolen der Hölle dar.

Der Meister lächelte. Die Blutstropfen waren genau in die Mitte gefallen. Der Hexenring sog das Blut auf.

Diffuses Licht drang aus den Wänden, die vor Feuchtigkeit glänzten.

In einer Nische flammte eine Feuersäule auf. Die Flammen formten ein Gesicht. Der Flammendämon wohnte interessiert der Handlung des Meisters bei.

Gerne hätte der Meister ihn vertrieben, aber er durfte das Opferritual nicht unterbrechen.

Der Schein aus dem Stein verblaßte.Jetzt streckte der Meister die linke Hand aus – mit der Innen-

fläche nach oben.»Dieses Licht bringe ich dir dar, Satan, dir und deiner treuen

Dienerin«, sagte er feierlich. Auf seiner gerade noch leeren Handfläche lag jetzt ein Auge. Es bewegte sich, es versuchte zu schauen.

Der Meister streckte die rechte Hand aus. Auch in der lag plötzlich ein Auge. »Und dieses Licht bringe ich den hölli-schen Mächten dar, auf das sie mir wohlgesonnen sind.«

Ein Grollen und Poltern drang aus der Tiefe.Der Stein begann wieder zu leuchten.Der Meister krümmte sich. Jetzt mußte er das Martyrium er-

dulden.Jedesmal, wenn er den Raum betrat und das vorgeschriebene

Opfer darbrachte, erlebte er mit, was in diesem Haus einst ge-schehen war.

Er hörte Schreie, und er zitterte vor Furcht.Die Knechte des Hexenjägers waren im Schutz der Nacht

herangeschlichen und hatten das Haus umstellt. Jetzt brachen sie mit einer Wagendeichsel die Tür auf.

Laurina, die gefürchtete Hexe, der Schrecken des Landes, hatte es so kommen sehen. Das Kreuz hatte Macht erlangt, und es setzte diese Macht genau so rücksichtslos ein wie sie ihre teuflische Kunst.

Die Männer, die da kamen, würden ihren Leib zerstören. Nicht jetzt, später erst. Sie würden sie quälen und ihr entsetzli-che Schmerzen zufügen. Aber ihre schwarze Seele würde in der dunklen Welt weiterleben und immer wieder zurückkeh-ren. Solange, bis sie die Macht des Kreuzes brechen konnte.

Mit schrecklichem Getöse brach die Haustür entzwei.Laurina hatte die geheimen Bücher bereitgelegt. Niemals

durften sie in die Hände ihrer Feinde fallen.Aus der Mauer hatte sie einen Stein gebrochen und dahinter

den Mörtel herausgekratzt. Der Hohlraum war gerade groß genug, um die geheimen Bücher aufzunehmen.

Sie legte sie hinein, schob den Stein in die Öffnung und hörte die Männer im Haus poltern.

»Sie dürfen auch dich nicht bekommen«, sprach Laurina zu einem Wolf, der in der Ecke kauerte und den Fang aufriß. Er fieberte, er wollte den Eindringlingen den Garaus machen. Aber Laurina gab nicht den Befehl.

Sie ergriff einen Topf, den sie all die Jahre sorgsam gehütet hatte, und goß seinen Inhalt über den Wolf aus.

Eine Feuersäule stieg bis unter die niedrige Decke des Zim-mers. Der Wolf verging in einem Augenblick. Aber die Feuer-säule blieb bestehen. Ein höllisches Gesicht formte sich, aus dessen Mund fauchend Flammenbündel schossen. Aus den Nasenlöchern stob Rauch. Die Augen sprühten Blitze.

Der Dämon, der in Wolfsgestalt Laurina gedient hatte, war in seine ursprüngliche Zustandsform zurückgekehrt. Er war ein Feuerdämon.

Laurina machte über dem Gesicht das Satanszeichen.Das Gesicht löste sich auf, die Flammensäule brach zusam-

men. Nur Moder und etwas Asche blieben am Boden zurück.Mit dem nackten Fuß fegte Laurina die Reste zusammen und

schob sie in die Fuge zwischen den Bodensteinen und der Wand. Da würden sie wohlverwahrt bleiben bis zur Auferste-hung. Sie lachte, daß das ganze Haus davon erbebte.

Die Männer drangen in das Zimmer ein.Sie schützten sich mit heiligen Symbolen und schleuderten

ein Netz über die Hexe. Zu viert warfen sie sich auf Laurina, stießen sie zu Boden, wickelten sie fester ins Netz, bis sie sich nicht mehr rühren konnte.

Sie vermieden es, ihr in die Augen zu blicken. Laurina hatte die grausame Gabe, den Verstand eines jeden zu verwirren, der auf den Grund ihrer Augen sah.

»Zündet das Feuer an!« befahl der Anführer der Häscher.Laurina ächzte, aber sie wehrte sich nicht. Sie leistete keinen

Widerstand. Es war alles vorherbestimmt. Sie ging ins dunkle Reich ein. So wollte es Satan. Und gestärkt würde sie wieder-kehren.

Als das Feuer auf dem Herd loderte, schoben die Häscher ein Messer hinein. Sie machten die Klinge rotglühend.

»Schreist du nicht?« höhnte der Anführer. »Schrei doch, ich höre es gern, wenn Hexen schreien!«

Er drückte ihr das Messer über die Augen.Laurina war geblendet.Ihre Augen waren tot.»Ihr werdet es bezahlen«, sagte Laurina, als die Schmerzen

nachließen. »Mit Augen werdet ihr bezahlen, daß ihr Laurina

geblendet habt.«Danach sagte sie nichts mehr.Auch nicht, als man sie wegschleppte und zur Folter schaffte.Selbst als sie auf dem Scheiterhaufen brannte, blieben ihre

Lippen verschlossen.Der Meister krümmte sich. Er litt die grausame Pein mit.

Endlich sah er den Knecht des Henkers, der die Asche zusam-menfegte und ins Meer streute.

Jetzt fielen die Schmerzen von ihm ab. Die Prozedur war überstanden. Er hatte Laurinas Martyrium miterlebt und mit-ertragen.

Der Stein zu seinen Füßen wurde dunkel. Die Augen in sei-nen Händen waren verschwunden.

In der Nische schrumpfte der Feuerdämon zu einem winzi-gen Flämmchen zusammen.

Langsam schritt der Meister weiter. Gerade, als träte er durch ein unsichtbares Tor in eine andere Welt, tat sich plötzlich ein weites Gewölbe vor ihm auf, grenzenlos bis in die Ewigkeit.

Das Flämmchen schwebte hinter ihm drein.Der Meister steuerte auf einen Steinquader zu, der wie ein

Altar aufragte. Eine schwarze Kutte lag obenauf.Er trat vor den Stein, hob die Arme, spreizte sie und reckte

sie dann dem Boden entgegen. »Satan, schau auf deinen Die-ner, der dir zu gefallen trachtet. Ein Mann ist gekommen, der Gefahr bedeutet. Er kämpft gegen das schwarze Reich. Gib mir die Kraft, ihn zu vernichten. Ich opferte dir seine Augen.«

Aus dem Boden zuckten rote Flammen. Sie ergriffen die Hände, die Arme, sprangen auf den Körper über. Der Meister erlebte die Umwandlung zum Unheimlichen.

Die Flammen lösten alles Fleisch von ihm, bis nur noch die Knochen übrig waren.

Jetzt verschwanden die Flammen im Boden.

Der Meister aber warf die Kutte über sein Gerippe und zog sich die Kapuze über den Totenschädel. In den leeren Augen-höhlen begann es matt zu leuchten. Langsam hob er die Kno-chenhände vor die Höhlen. Er hielt sie, als hätte er einen Spie-gel ergriffen.

Und er sah wahrhaftig. Sah, was sich weit entfernt zutrug.Ein Zimmer, zwei Männer, eine Kutte – sein Todesgeschenk.Aber es legte sich dem falschen Mann um den Hals.Zornig schleuderte der Unheimliche die Hände nach vorn.

Das Bild zerbarst unhörbar.Lange stand der Unheimliche, starr und regungslos. Er faßte

einen neuen Plan. Seine Geschöpfe mußten marschieren. Und wenn der Fremde auch denen entging, dann mußte er ihn in einer guten Falle fangen.

Aus dem knöchernen Mund des Unheimlichen drang ein La-chen wie aus einem tiefen Brunnenschacht.

*

Auf Balmoral Castle herrschte ein eigenartiges Klima. Die Leu-te aus London taten, als hätten sie die Vornehmheit erfunden oder als sei die Königin eingetroffen und erhole sich von der Reise.

Diese Leisetreterei ging mir auf die Nerven. Ich finde mich auf jedem Parkett zurecht, aber wo übertrieben wird, will ich lieber nicht mit dabei sein.

Also seilte ich mich, wie man so sagt, bei der erstbesten Gele-genheit ab. Ich hatte die Absicht, hinüber ins Dorf zu fahren.

Ich sah Binnie Barnes nirgendwo. Vor dem Abendessen hatte ich sie zweimal mit einem Kerl zusammenstehen sehen, der auch diesen Eisgruftblick hatte.

Und weil ich neugierig bin und nicht zum Vergnügen nach

Balmoral Castle gekommen war, fragte ich, wer der Mann sei.Harvey Attlee, erklärte mir Finchley. Der Mann sei sein

Chauffeur, und er sei sehr mit ihm zufrieden. Nur gestern und heute müßte er sich über Harvey etwas wundern. Er sei kalt-schnäuzig und abweisend und von einer nie gekannten Kälte.

Das hatte mich stutzen lassen. Ich verdächtigte Binnie, daß sie diese Veränderung bei Harvey bewirkt hatte. Die zwei hat-ten nämlich etwas miteinander, wie mir Mister Finchley anver-traute.

Wenn Binnie sich in jener Nacht nicht im Wald versteckt hät-te, sondern dem Unheimlichen in die Hände gefallen war, wo-für ich nach dem Zwischenfall mit der Kutte in meinem Bett fast meinen Kopf verwetten wollte, dann hatte sie vielleicht einen Fluch mitgebracht. Einen Bann, der jeden, mit dem sie zusammenkam, zu einem ebensolchen kalten Wesen machte wie sie eines geworden war.

Das war sogar einigermaßen logisch. Und es ergab endlich einen Sinn und ließ eine Zielrichtung erkennen.

Binnie war hier auf dem Schloß beschäftigt. Wenn sie nach und nach das gesamte Personal mit dem Bann belegte, dann waren zwar dieselben Menschen auf dem Posten, jedenfalls den Namen nach, aber sie waren anders geworden. Und Ande-re. Im Inneren. Kreaturen des Unheimlichen. Willfährige Werkzeuge, die er nur zu lenken brauchte.

Eine tückische und tödliche Falle für die königliche Familie.Ich sagte davon besser nichts zu Meredith und Finchley,

sonst mußte ich sie noch in eine Nervenheilanstalt bringen las-sen. Auch wenn Meredith immer noch so tat, als sei der Un-heimliche ein Hirngespinst.

Und deshalb wollte ich wissen, wo Binnie und Harvey sich herumtrieben. Solche Leute hatte ich lieber unter Kontrolle.

Von dem Mädchen entdeckte ich keinen Schürzenzipfel.

Auch nicht, als abgetragen wurde und Personal von der Schloßwäscherei kam, um Tischtücher und Servietten in Emp-fang zu nehmen.

Dafür sah ich geraume Zeit später Harvey von draußen her-einkommen.

Er hatte einen etwas abwesenden Ausdruck im Gesicht. An seiner rechten Hand entdeckte ich Ölspuren. Und aus seiner Jackentasche lugte ein Schraubenschlüssel.

Hatte er nichts besseres zu tun, als zur Essenszeit seinen Wa-gen zu reparieren?

Das kam mir doch eigenartig vor. Ich schaute mich lieber mal draußen um.

Harvey mußte aus der Großgarage gekommen sein. Ich sah dort Licht brennen und überquerte den Seitenhof. Das mittlere Tor stand sperrangelweit auf. Lampenlicht spiegelte sich auf den Limousinen, mit denen die Hofbeamten gekommen wa-ren. Mein MG war auch da. Er stand an der Seite. Wie ein ar-mer Verwandter vom Lande, den man gern vor den Leuten verstecken möchte.

Finchley hatte mir lang und breit sein Wachsystem erklärt, das er ausgetüftelt hatte. Sogar der Wagenpark war einbezo-gen.

Doch was nützt der schönste Plan, wenn kein Wächter da ist? Ich sah jedenfalls keinen. Und ich hörte ihn auch nicht.

»Hallo?« rief ich.Nichts.Auf dem Boden entdeckte ich eine Schleifspur. Und da war

ich schlagartig hellwach. So eine Spur entsteht, wenn man je-mand, der bewußtlos oder tot ist, unter den Armen packt und wegschleppt.

Ich folgte der Spur.Hinter dem Reifenstapel lag der Wächter. Er trug überall an

der Kleidung und an den Händen und auf einer Gesichtsseite Ölspuren. Es war heftig gekämpft worden, er mußte mehrmals auf dem Garagenboden ausgeglitten sein. Die Spuren verrieten es. Der Mann war einmal zu oft wieder hochgekommen.

Da hatte ihm Harvey mit dem Schraubenschlüssel den Schä-del eingeschlagen. Ein Mord einfach so, ohne Motiv, ohne Ur-sache, das leuchtete mir nicht ein. Ich überlegte.

Harvey war in die Garage gekommen, und der Wächter war ihm in die Quere geraten.

Mein MG! Ich umrundete ihn und beguckte ihn von allen Seiten. Zuerst fiel mir nichts auf. Bis ich den Öltropfen unter der Vorderachse entdeckte. Ich ging in die Hocke und griff un-ter den Wagen.

Die Bremsleitung war ausgeschraubt. Jetzt hielt sie, aber so-bald ich aufs Bremspedal gehen würde und sie Druck bekam, würde sie auseinanderfliegen. Unter Garantie.

Hier im Hochland war das ein Freifahrtschein auf den nächstgelegenen Friedhof.

Mir war es im Winter entschieden zu kalt hier, da wollte ich nicht begraben sein. Während ich noch kauerte, fiel mir auf, daß die Radflügelschraube ölverschmiert war. So schwarz wie Harveys Hände und die des Toten.

Ich prüfte. Die Pest dem Kerl an den Hals! Er hatte alle vier Flügelschrauben gelockert. Gerade so weit, daß sie ein gedros-seltes Tempo durchhielten, aber sofort von den Achsen flogen, wenn ich aufdrehte.

Bei mir wollte Harvey oder sein Auftraggeber ganz sicher sein, daß ich mir das Genick brach.

Ich drehte die Schrauben fest und versuchte, die Ölleitung zu reparieren. Harvey hatte den richtigen Schraubenschlüssel mitgenommen.

Aber ich stöberte herum und fand ein reichhaltiges Werk-

zeugsortiment in einem Blechschrank.Minuten später war der Schaden behoben.Natürlich untersuchte ich den MG auf andere niedliche

Überraschungen, die einen früh und plötzlich ins Grab brin-gen.

Aus dem Bolzen in der Lenksäule hatte er den Sicherungs-splint herausgehauen.

Ich regte mich nicht auf, weil es nichts brachte, und ich wun-derte mich auch nicht. Harvey war Chauffeur, er kannte sich mit Autos aus. Ganz besonders mit ihren schwachen Stellen, an denen man ein wenig manipulieren konnte.

Beim Werkzeug fand ich auch noch einen Splint. Ich machte den Wagen fahrtüchtig.

Draußen hörte ich Schritte. Sie kamen schnell näher.Der Tote! Ich mußte erst Finchley informieren, er sollte ent-

scheiden, was geschehen sollte.Geistesgegenwärtig schaltete ich die Beleuchtung der hinte-

ren Reihe aus. Der Reifenstapel lag im Dunkeln, die vorragen-den Füße des erschlagenen Wächters waren nicht mehr zu er-kennen.

»Mister Kinsey? Wo sind Sie?«Das war die Stimme von Jeremy Bentham.Ich richtete mich neben dem MG auf.Es geschah lautlos. Der junge Mann sah mich erst, als ich

oben war.Er fuhr zusammen, daß ich dachte, ihn trifft der Schlag im

Stehen.»Ja, was gibt es?«»Ein Anruf für Sie. Von Doktor Vilion. Unheimlich dringend.

So aufgeregt habe ich den alten Kerl noch nie gehört. Das Ge-spräch liegt auf dem Apparat in der kleinen Halle.«

Das sagte mir etwas. Ich hatte gewaltig die Ohren aufge-

sperrt, als Finchley und Meredith mich herumgeführt hatten.Der Doktor? Ich konnte mir eigentlich keinen Grund denken,

weshalb er mich in der Nacht anrufen sollte. Oder hatte er fest-gestellt, daß sein Zaubertrunk körperliche Veränderungen be-wirkte? Daß man ein Riese wurde oder ein Zwerg? Oder daß sein Hexengift einen langsam, aber sicher von innen heraus auffraß?

»Woher wissen Sie überhaupt, wo Sie mich finden?«Er guckte mich groß und verständnislos an. »Na doch, Har-

vey hat gesagt, er hätte Sie herübergehen sehen.«Harvey! Mir zog es die Kopfhaut mit einem Ruck zusammen.

Ich hatte geglaubt, der würde irgendwo im Schloß untertau-chen, um die Spuren an seinen Händen zu beseitigen und den Schraubenschlüssel verschwinden zu lassen.

Dabei hatte der Kerl mir nachgeschaut. Vielleicht war er mir sogar ein Stück gefolgt.

Als ich vor dem MG auf dem Boden kniete, hätte er mich leicht ebenfalls zur Leiche machen können. Und ich hätte es erst im Himmel gemerkt. Oder in der Hölle. Je nachdem, wo ich rauskam.

»Schönen Dank, Sir, daß Sie nicht gepetzt haben«, sagte Jere-my. Ich war mit den Gedanken woanders, ich kam nicht mit.

»Bitte?«»Daß Sie mich nicht bei Mister Meredith angeschwärzt ha-

ben, Sir. Wegen der Sache im Dorf. Ich weiß auch nicht, was plötzlich mit mir war. Ich mag den Gnom von der Mühle nicht leiden, aber verprügeln wollte ich ihn doch gar nicht.«

»Vergessen. Pflegen Sie Ihre Rippen«, empfahl ich. »Und jetzt flitzen Sie los und bringen Sie Mister Finchley und Mister Meredith zu dem erwähnten Telefon. Ich warte dort. Jeremy, lassen Sie sich durch nichts aufhalten, nicht einmal durch ein Großfeuer.«

»Ja, Sir!« Er sagte es, aber er verstand es nicht. Von meinen Gründen hatte er ja keine Ahnung.

Ich sprintete über den Nebenhof und hastete in die kleine Halle.

Der Hörer lag neben dem Apparat. Ich drückte ihn ans Ohr und meldete mich.

»Zum Henker, wo stecken Sie denn?« tobte Doktor Vilion. »Haben Sie das Fläschchen noch?«

Mir wurden die Knie weich und die Knochen schwach. Ich hatte es geahnt! Sein Trank war ihm mißlungen.

»He, was ist, warum reden Sie nicht, Kinsey?«»Sagen Sie es schon, Doktor!« Ich verspürte schon ein seltsa-

mes Ziehen im Bauch.»Lassen Sie sich das Fläschchen nicht abnehmen, ganz

gleichgültig, was alles passiert«, knurrte Vilion. »Verstehen Sie mich?«

»Als ob Sie neben mir stehen würden.« Mein Herz tat einen Hüpfer vor Freude. Der Dämpfer kam sofort.

»Wegen Mortimer hatte ich doch keine Ruhe, Kinsey. Vor al-lem, als Sie nach ihm gefragt haben. Ich war bei ihm draußen. Er ist fort, verschwunden. Es gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht. Hören Sie seinetwegen im Dorf herum. Jere-my kann nichts damit zu schaffen haben. Er ist hier.«

»Wenigstens ein Lichtblick, Kinsey, hören Sie mir jetzt genau zu. Jede Rückfrage kostet Zeit, und Zeit haben wir nicht. Bur-gess begann vor einer halben Stunde zu toben. Er schlug die Möbel entzwei. Das passierte auch bei McKnee. Und Mindy versuchte, seinem Sohn das Haus anzustecken. Die alte Chad-wick sang unflätige Lieder, und der Diener Richard, den man hier in Pflege hat, rannte zehn Minuten lang mit dem Kopf ge-gen die Wand, bis er endlich die Tür fand und hindurchges-aust ist. Mit den toten Augen ist etwas passiert, Kinsey! Die

Leute haben sich formiert und sind zum Schloß gezogen. Wie von einer unsichtbaren Hand geführt. Sie müßten jetzt eigent-lich bei Ihnen sein.«

»Wenn Sie es sagen, glaube ich es«, stieß ich hervor. »Danke für den Anruf, Doktor!«

Ich hatte den Hörer noch nicht richtig aufgelegt, als ich Tu-mult hörte. Jemand hämmerte ausdauernd und rasend schnell gegen eine Tür. Der Krach kam von Haupteingang. Ich wirbel-te herum, sah nichts von Jeremy, Finchley und Meredith und sprintete los.

Ich flitzte gerade in die große Halle, als mit einem Donner-schlag die gewaltige Tür splitterte und ein Mann durch das Loch hereinstieg. Seine toten Augen funkelten und glänzten. Die weißen rollenden Kugeln schienen von innen heraus zu leuchten.

Leute vom Personal wichen angstbrüllend zurück, als immer mehr Menschen mit toten Augen durch das Loch in der Tür eindrangen. Ich erkannte Ian Burgess.

Er schien sich zum Anführer zu machen. Er lauschte in mei-ne Richtung. Dann tappte er los. Er rief den anderen etwas zu. Am Ende der Reihe tanzte eine uralte Frau und stieß lästerli-che Flüche aus. Das war die alte Chadwick.

Ein Gefühl sagte mir, daß es mir galt, was sie da auf die Bei-ne stellten. Sie machten es nicht aus eigenem Antrieb. Der Un-heimliche steckte dahinter.

Ich hatte Burgess im Sessel gesehen – lebensüberdrussig, ver-zweifelt. Und jetzt stampfte er wie eine Maschine heran. Und dazwischen hatte er einen halben Haushalt zerschlagen.

Der Unheimliche hatte es ihm und den anderen eingegeben. Er hatte sie auch zum Schloß geleitet, und er führte sie jetzt durch die Halle auf mich zu.

Die Menschen mit den toten Augen waren nicht nur seine

Opfer. Mir ging jetzt die ganze Tragweite auf. Er hatte sie zu seinen Helfern gemacht, zu seinen willfährigen Kreaturen.

Er hatte ihnen den Auftrag gegeben, mich zu suchen. Sie hat-ten mich gefunden. Sie waren da.

Ich schaute wie gehetzt um mich. Ich suchte ein Gesicht, das mir unbekannt war. Weil ich hoffte, den Unheimlichen heraus-zufinden.

Burgess erwischte mich fast.Sein Schlag streifte mich an der Schulter. Er reichte aus, um

mich zwei Schritte beiseite zu fegen. Genau der alten Frau in die Arme.

Sie kreischte auf und packte mich. Ich sah ihr Gesicht mit den entsetzlichen toten Augen vor meiner Nase und spürte ihre Fingernägel in meine Haut fahren.

Die Verzweiflung packte mich. Der Unheimliche war ein leibhaftiger Satan.

Er wußte, daß ich mich diesen armen Geschöpfen gegenüber niemals so wehren würde wie bei einem gesunden Menschen.

Er leitete sie. Und sie waren im Begriff, mich bei lebendigem Leib in Stücke zu reißen. Weil er es ihnen so befahl.

Das Fläschchen!Ich stieß die alte Frau zurück, tauchte unter ihren Klauen-

händen weg und rammte Burgess mit der Schulter. Es war ein Gefühl, als hätte ich einen Felsblock gerammt.

Aber ich bekam Luft, sah eine Lücke und sprang hindurch.Sie orientierten sich sofort neu und setzten mir nach. Als hät-

ten sie keine toten Augen, als könnten sie sehen.Ich entkorkte das Fläschchen und spritzte Burgess von dem

Zaubertrank ins Gesicht.Die Wirkung war, als hätte ich ihn mit einem Panzer ge-

stoppt. Er blieb stehen wie festgewurzelt, ließ die Arme hän-gen, legte den Kopf schräg und lallte unverständliche Worte.

Ich freute mich eine Sekunde zu lange über den Erfolg. Zwei Männer bekamen mich zwischen sich und griffen an.

Einer fetzte mir die halbe Jacke vom Leib, der andere behielt ein Büschel Haare zwischen den Fingern, das eigentlich auf meinen Kopf gehörte.

Mir spritzte das blanke Wasser aus den Augen.Ich schüttelte den Kreaturen von dem Zaubertrank entgegen,

bis ich sie alle besänftigt hatte.Aber es war kein dauerhafter Sieg. Sie rückten sogleich wie-

der gegen mich vor. Diesmal gemeinsam.Ich dachte an die Automatic und verwarf den Gedanken wie-

der. Schießen? Auf diese Menschen? Niemals.Lieber gab ich auf.Ich rannte weg. Und da sah ich einen winkenden Arm. Je-

mand zeigte mir einen Fluchtweg.Ich überlegte nicht lange, ich sprintete los.Eine Tür stand auf. Ich sprang hindurch.Dann sah ich, daß der Unheimliche den richtigen Köder in

die Falle gelegt hatte. Es war Binnie Barnes, die mich in den Hinterhalt gewinkt hatte.

Ein Stück weiter stieß sich Harvey von der Wand ab und hob den Schraubenschlüssel zum Schlag hoch über den Kopf.

Und dahinter, in einem matt erhellten Gang, stand er.Der Unheimliche!

*

Sein Totenschädel grinste, in den Augenhöhlen schimmerte es rötlich.

Harvey sprang mich an.Ich war wie gelähmt. Weil ich wie ein Idiot auf den ältesten

Trick hereingefallen war. Und weil ich den Unheimlichen nicht

hier erwartet hatte.Harvey spaltete mir fast das Ohr ab. Ich konnte gerade noch

den Kopf etwas zur Seite nehmen. Mein Schlüsselbein knirsch-te verdächtig. Ich spürte, wie die Schmerzen gleich Feuerwel-len durch die Achsel zuckten.

Harvey holte wieder aus.Ich sprang zurück. Er setzte sofort nach, und das hatte ich

gehofft.Ich griff an, packte seinen Arm, hebelte den Mann aus und

schleuderte ihn in den Gang auf den Unheimlichen.Wie ein Sack Kartoffeln fiel Harvey zu Boden, ohne den Un-

heimlichen zu erreichen. Er hielt sogar noch den Schrauben-schlüssel.

Ich warf alle Skrupel über Bord, angelte die Automatic her-aus und schoß ihm das Mordwerkzeug aus der Hand.

In seinen tödlich kalten Augen rührte sich nichts. Kein Schmerz, keine Wut. Nur die Kälte der Ewigkeit war darin.

Ich schnellte an Binnie vorbei, die mit etwas zustach.Ich spürte einen Stich, hörte ein häßliches Reißgeräusch und

schüttelte aus dem Fläschchen Zaubertrank auf Harveys blu-tende Hand.

Mir wurde kalt bis ins Gebein.Aus seiner Wunde quoll schwarzes Blut!Harvey war schon ins dunkle Reich der bösen Mächte hin-

übergegangen, er gehörte schon nicht mehr auf diese Welt Schwarzes Blut hieß – er war ein Dämon.

Ich feuerte zweimal. Aus nächster , Nähe.Und dann besprengte ich ihn mit Vilions magischer Mixtur.Harvey schrumpfte und begann sich während dieses Vor-

ganges aufzulösen wie die teuflische Mönchskutte aus mei-nem Bett.

Binnie schrie fürchterlich.

Und der Unheimliche griff mich mit seinen Geisteswaffen an. Wieder stieß die lohende Flamme in mein Gehirn.

Ich keuchte und taumelte, aber ich ließ mich nicht aufhalten.Ich hielt das Feuerzeug an den zerfallenden Dämon.Er fing sofort Feuer und verbrannte in wenigen Augenbli-

cken. Etwas Asche blieb zurück. Und ein übler Geruch, der mich würgend husten ließ.

Dabei sah ich, womit mich Binnie gestochen hatte. Sie hielt ein Messer in der Hand und kam auf mich zu. Ihre Augen wa-ren kalt und ohne Regung.

Hinter mir hörte ich den Unheimlichen kommen.Ich stand zwischen den Fronten.Gegenüber zweigte ein schmaler Gang ab. Ich war mit einem

Sprung drüben und wirbelte herum, Automatic und Zauber-trankfläschchen hielt ich bereit.

Sie kamen aber nicht.Ich witterte eine Falle und lauschte. Aus der Ferne hörte ich

Lärm. Das Schloß war in hellem Aufruhr. Offensichtlich hatte aber niemand gesehen, wohin ich verschwunden war.

Wenn jetzt noch die Menschen mit den toten Augen auf-tauchten, konnte ich mein letztes Gebet sprechen. Dann war ich dran.

Kannten der Unheimliche und Binnie einen Weg, wie sie in meinen Rücken gelangen konnten? Ich lauschte angestrengt.

Ein leises Scharren drang an meine Ohren.Aber niemand kam.Ich hielt es zwei Minuten aus.Dann beschloß ich, den Spieß umzukehren.Ich pirschte leise nach vorn, holte tief, aber leise Luft und

wollte um die Kante treten.In diesem Moment flackerte das Licht.Auch das noch!

Wenn es verlöschte, hatte ich verloren.Ich hoffte, daß ich etwas Glück hatte, und sprang um die

Ecke.Binnies Messer verfehlte mich um Haaresbreite. Sie stieß so-

fort wieder zu. Aber ich schlug ihr mit der Automatic auf den Arm.

Sie schien keinen Schmerz zu spüren. Sie ließ auch die Waffe nicht los.

Ich feuerte auf den Unheimlichen, der drei Schritte weiter an der Wand lehnte und die Knochenarme in die Luft gereckt hat-te. Er flehte höllischen Beistand herbei, denn jetzt streckte er die Arme nach unten, dem Boden entgegen.

Rote Flammen züngelten aus dem Steinboden.Die finsteren Mächte waren schon zur Stelle.Der Unheimliche bewirkte das Flackern des Lichtes, das be-

griff ich.Ich feuerte wieder. Seine Kutte staubte. Aber sonst geschah

nichts.In der Verzweiflung spritzte ich ihm von dem Zaubertrank

mitten ins Totenschädelgesicht.Er schnellte brüllend hoch. Die roten Flammen erfaßten seine

Kutte und setzten sie in Brand.Ich stand wie erstarrt, als ich sah, wie er sich verwandelte.Die brennenden Fetzen wehten um seine Gebeine, und durch

schwärzeste Zauberei formten die Flammen Fleisch. Ein Mensch entstand. Aber der brannte auch. Er stand in hellen Flammen.

Er war zur Auflösung verdammt.Ich brachte einen Schrei zustande, um mein Entsetzen loszu-

werden.Der brennende Mensch war Laglen!Der Trunkenbold und Herumtreiber, der Wirt und Posthalter.

»Warum?« brüllte ich ihn an. »Warum hast du das getan?«»Das Vermächtnis der Hexe«, lallte er. »Meine Rache – zu

spät – die Königin – hat mich entlassen – nur eine Torheit – verflucht soll sie sein bis in –«

Ich war mir nicht sicher, ob er einen wirksamen Fluch auf die Königin schleudern konnte. Nach dem, was ich erlebt hatte, hielt ich es doch für möglich.

Ich schüttete ihm aus dem Fläschchen magischen Trank in den Mund.

Er brüllte, daß mir die Ohren gellten.Die Flammen fraßen ihn in wenigen Sekunden auf. Ascheflo-

cken senkten sich langsam zu Boden, andere wurden durch die Hitze hinauf zur Decke gewirbelt.

Laglen verbrannte stehend.Ich schnellte herum. Die Gefahr war noch nicht vorbei. Bin-

nie hatte immer noch das Messer und war von dem Befehl des Unheimlichen beseelt, mich zu töten.

Ich hatte Automatic und Fläschchen zum Angriff bereit.Die kümmerlichen Waffen brauchte ich nicht mehr einzuset-

zen.Binnie starb. Mit ihrem Meister.Sie lag am Boden. Schwarzes Blut quoll aus ihrem Mund.

Langsam schrumpfte sie.Auch sie war ein Dämon geworden. Wie Harvey.Ich steckte die Automatic ein, verkorkte das Fläschchen, in

dem sich nur noch wenige Tropfen befanden, und knipste das Feuerzeug an. Es sollte nichts übrigbleiben. Auch von Binnie nicht.

Während der Dämon hinter mir verbrannte, torkelte ich in Schwaden von Rauch gehüllt der Tür zu, durch die ich in die Falle gelaufen war.

Hustend und halb erstickt taumelte ich in die Halle.

Sie waren noch da, die Opfer des Unheimlichen. Und sie hat-ten immer noch die toten Augen. Ich schluckte. Ich hätte es mir gewünscht, daß sie das Augenlicht zurückbekamen. Und ihnen vor allem.

Aber sie waren still. Sie griffen niemand mehr an. Sie kamen mir vor, als wüßten sie nicht einmal, wo sie waren und wie sie aus dem Dorf fortgekommen waren.

Jeremy tauchte im Laufschritt auf. In seinem Windschatten bewegten sich sehr gemessen Meredith und Finchley.

Der Schloßverwalter beäugte argwöhnisch die Rauchschwa-den, die aus der Tür quollen. Dann die Opfer des Unheimli-chen. Er wurde blaß.

»Mister Kinsey, wollen Sie mir bitte erklären…«»Nein«, unterbrach ich ihn. »Gar nichts erkläre ich Ihnen.

Wenn Sie belieben, im Trauerkonduktschritt zu erscheinen, wo ich um höchste Eile gebeten habe, dann bin ich auch stur. Aber Sie können an den Buckingham-Palast melden, daß keine Ge-fahr mehr besteht.«

Ich wandte mich um.Ich brauchte jetzt ein Gespräch mit einem Freund. Mit Vilion.Er hatte von einer Hexe gesprochen. Ich hatte den starken

Verdacht, es war die nämliche, deren Vermächtnis Laglen an-getreten hatte.

Und in London mußte ich die Hintergründe für Laglens Ra-cheplan aufhellen. Sein ganzer Haß hatte sich auf die Königin gerichtet. Ich fürchtete fast, die dunkle Sache, in die er verwi-ckelt war, hatte sich im Umfeld der Königin abgespielt. Des-wegen hatte sie ihn entlassen.

So hatte er gesagt.Und deswegen hatte er sie mit seiner Rache verfolgt. Er hatte

auf den Zeitpunkt hingearbeitet, daß sie Ferien auf Balmoral machte.

Mir lief es noch eine Weile heiß und kalt den Rücken runter.Dann gewahrte ich einen jungen Mann neben mir. Jeremy!Seine Augen blickten voller Sorge. »Sir, Sie bluten, und gar

nicht wenig. Ich bringe Sie besser zu dem alten gräßlichen Kerl.«

»Da wollte ich auch hin.«Ich riß mich zusammen, als wir durch die Halle gingen.Finchley hob die Brauen. Mein Aufzug befremdete ihn über

alle Maßen.Und Meredith rümpfte die Nase. Sogar hörbar.Einen zerlumpteren Kerl als mich hatten die Hallen von Bal-

moral Castle bestimmt nie gesehen.Aber ich verließ sie als Sieger.Nur das zählte.

ENDE

Jake Ross

Hochzeitsnacht mit Dracula

Joan Masters erschauerte, als der Mann plötzlich vor ihr in der Boutique stand. Seine Kleidung war dezent, aber sündhaft teuer. Dafür hatte sie einen unbestechlichen Blick.Weltmännisches Flair umgab ihn. Er war der Typ, nach dem sich bestimmt viele Frauen heimlich umdrehten – Mitte Vierzig, graue Schläfen, sonnengebräunte Haut.Doch Joan hatte Angst vor ihm. Etwas Dämonisches ging

von ihm aus. Er war nicht gekommen, um etwas zu kau-fen. Er brachte etwas. Das Grauen!Das Grauen war er selber. Denn als er lächelte, sah Joan fingerlange Eckzähne in seinem Mund blitzen. Vampir-zähne!Sie stieß einen gellenden Schrei aus. Haltsuchend griff sie hinter sich.Der grauenhafte Kunde verzog den Mund zu einem noch breiteren Lächeln. Die entsetzlichen Zähne wurden im-mer länger.»Schreien Sie, soviel Sie wollen, meine Liebe, niemand hört Sie!« sagte er und kam auf sie zu.Seine Augen glühten unheimlich. Seine hochgerafften Lippen spannten sich. Seine Blicke wurden unverschämt und durchdringend. Joan spürte sie wie Feuer auf der nackten Haut brennen.Lähmendes Entsetzen würgte ihren Schrei ab.Sie wich vor ihm zurück, bis sie gegen einen vollbehäng-ten Kleiderständer stieß. Ihre Flucht war schon gestoppt.Ihr gehetzter Blick flog zu den beiden Schaufenstern und der gläsernen Eingangstür. Sah denn niemand, was hier los war? Erschrak niemand über den Mann, dessen obere Eckzähne schon fast bis zum Kinn herabreichten?Die Passanten trotteten vorbei. Ihnen fiel nichts auf. Eine Frau warf einen längeren Blick in die Fensterauslage und sagte etwas zu ihrem Begleiter. Der bekam sofort einen leicht gequälten Gesichtsausdruck. Der Preis der Ware schien ihm nicht zu gefallen.Joan Masters wünschte, die Frau könnte ihn umstimmen. Aber die wandte sich ab und folgte ihm.Tretet doch ein! flehte Joan innerlich. Ihr bekommt es zum halben Preis!

Das Paar verschwand, und der unheimliche Kunde grins-te triumphierend, als könnte er sehen, was hinter seinem Rücken draußen vor dem Geschäft geschah.Er kam näher.Joan drohten die Knie nachzugeben. Aus seiner dezent-eleganten Kleidung stieg ein Geruch von Moder und Fäulnis. Er streckte die Hände nach ihr aus.Wieder schrie sie gellend und hilfeheischend.Der unheimliche Kunde lächelte nur spöttisch. »Sie sind unbelehrbar, meine Liebe!« Tadelnd schüttelte er den Kopf. Sein Gesicht nahm einen lüsternen Ausdruck an.Joan hatte hier schon alles mögliche erlebt – Ladendiebe, Kassenräuber und schäbige kleine Erpresser, die Schutz-geld kassieren wollten, aber so ein Kerl hatte bisher nie den Fuß über die Schwelle gesetzt.Sie wollte sich aus den Kleidern des fahrbaren Ständers befreien.Blitzschnell schossen seine Hände hoch und packten sie an den Oberarmen.Die Sinne drohten ihr zu schwinden. Es waren keine Hände. Es waren Krallen mit entsetzlich langen Finger-nägeln, die sich schmerzhaft in ihr Fleisch bohrten. Die Haut war grau und schuppig und sah aus, als würde sie faulen. Der abstoßende Geruch wurde durchdringend. Er entströmte nicht nur der Kleidung. Der ganze Mann roch so.»Was – was wollen Sie?« stieß Joan in größter Not hervor.Er ließ ihre Oberarme los und haschte nach ihrem langen Haar. Genüßlich ließ er es durch seine grauenhaften Fin-ger gleiten.»Sie will mich, meine Liebe«, sagte er. »Ich werde Sie hei-raten.«

»Nein!« Ihre Stimme brach, Joan flog am ganzen Körper. Sie wollte dem unheimlichen Kunden die kleinen Fäuste ins Gesicht schlagen.Sein Blick lähmte sie.»Doch«, sagte er und lächelte geduldig. »Übermorgen um Mitternacht. Ich werde pünktlich sein.« Er ließ ihr Haar los. »Falls Sie die Stadt verlassen wollen – ich weiß Sie überall zu finden.«»Wer sind Sie?« Joans Stimme war wie ein verwehender Hauch.»Oh, entschuldigen Sie, ein unverzeihlicher Fehler.« Er schob die Krallenhände in die Manteltaschen. Dazu machte er eine leichte Verbeugung. »Natürlich sollen Sie wissen, wen Sie heiraten. Ich bin Graf Dracula.«»Dracula!« Die Sinne drohten Joan zu schwinden.»Übermorgen!« sagte er, und seine Zähne zogen sich langsam zurück. »Punkt Mitternacht.«

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