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Die Straße ins Totenland

Date post: 04-Jan-2017
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Page 1: Die Straße ins Totenland
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Mac Kinsey�Band 15�

W.A. Hary�

Die Straße ins�Totenland�

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Die Ausfallstraße nach Norden war eine Hauptschlagader des Lon-doner Verkehrs und aus diesem Grunde schon ein heißes Pflaster. Aber seit geraumer Zeit verschwanden dort Autofahrer spurlos. Samt ihrem Fahrzeug.

Mit rechten Dingen ging das nicht zu. Falls die Leute verunglückt waren, mußten doch wenigstens die

Fahrzeuge zu finden sein – irgendwelche Schrotthaufen hinter He-cken und in Wassergräben.

Doch nicht einmal Blechleichen wurden entdeckt. Da klemmte ich mich in meinen MG und machte mich auf den

Weg… »Verfahren!« ächzte Fred Stillman. Angst flog ihn an. Seine

schweißnassen Hände klammerten sich um das Lenkrad, daß die Knöchel weiß hervortraten.

Gehetzt schaute er umher. Verdammt, ja, er hatte Angst. Das Grauen schüttelte ihn. Wo war er plötzlich? Er war doch eben noch auf der Hauptstraße

gefahren und dann… Alles war anders, auf erschreckende, unerklärliche Weise. Stillman fuhr mit hämmerndem Herzen weiter. »Ich – ich muß umkehren!« redete er sich ein: aber das ging nicht:

Er konnte sich nur am Lenkrad festklammern und geradeaus fah-ren.

Da, ein Dorf! Auf dem Ortseingangsschild stand das Wort ›HELL‹! »Das bedeutet HÖLLE!« murmelte Fred Stillman. Er bäumte sich

gegen den Zwang auf, weiterzufahren. Er hatte furchtbare Angst vor diesem Dorf mit Namen Hölle – ein Dorf, das auf seinem Weg überhaupt nichts zu suchen hatte. Er hatte London im Norden ver-lassen – und jetzt dies.

»Nein!« brüllte er. Im Licht der Straßenlaternen sah er die Dörfler. Alles fröhliche

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Menschen, wie es schien. Stillman schaffte es, langsamer zu fahren. Aber er schaffte es

nicht, seinen Wagen anzuhalten. So rollte er in das Dorf hinein. Die Dörfler gaben sich gut gelaunt. Drüben war eine Gruppe von

Leuten. Sie lachten und scherzten. Eine Szenerie, die Stillman keineswegs beruhigte. Das Ganze kam

ihm vor wie eine – Falle! Ein Hupen ließ Fred Stillman zusammenzucken: Ein Auto über-

holte ihn. Der Fahrer drohte wütend mit der Faust, anscheinend weil Stillman so langsam fuhr.

Fred Stillman flüchtete sich in Zorn. Er wollte seine Angst über-winden und einfach daran glauben, daß er keinen Grund dafür hat-te. Deshalb drohte er zurück. Das war seine Art, sich gegen das Grauen zu wehren.

Doch dann schaute ihn der Mann an: Seine Augen waren wie Glas. Seine Stirn war bis zu den Augenbrauen gespalten. Die weit auseinanderklaffenden Ränder waren blutverschmiert. Der Kopf hatte überhaupt eine seltsame Haltung, als hätte der Mann das Ge-nick gebrochen.

Fred Stillman schrie. Er sah, daß es sich um einen Unfallwagen handelte, total verbeult.

Ein Wunder, daß das Auto überhaupt noch fuhr. »Der ist tot!« schrie Fred Stillman entsetzt und trat voll auf die

Bremse. Jetzt endlich konnte er es! Gleichzeitig krachte es am Heck. Stillman wurde tief ins Polster

gepreßt und wieder nach vorn geschleudert. Der Gurt verhinderte, daß er mit dem Kopf in die Scheibe schlug.

Im Rückspiegel sah er die Bescherung: Jemand war aufgefahren, weil er so abrupt gebremst hatte.

Seine Nerven machten nicht mehr mit: Fred Stillman war am Ende. Er sprang aus dem Wagen und rannte nach hinten.

Ein paar Dörfler näherten sich. Sie lächelten. Schadenfroh? Zitternd betrachtete sich Fred Stillman den Schaden: Der Koffer-

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raum war total eingedellt. Bei dem teuren Wagen kostete das min-destens tausend Pfund.

»Das werdet ihr mir büßen!« brüllte Fred Stillman. Nein, er wollte sich nicht unterkriegen lassen. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm passiert war und wie er überhaupt in dieses Dorf gekommen war. Aber als knallharter Geschäftsmann hatte er schon ganz andere Kämpfe gewonnen.

Er ballte die Hände zu Fäusten und marschierte zur Fahrerseite des Unfallwagens.

Hinter dem Steuer saß überhaupt niemand! Stillman schnappte nach Luft. Sein erster Gedanke: Fahrerflucht! Die Dörfler grinsten ihn an. »Wem gehört dieser Wagen?« verlangte Stillman zu wissen. »Miß Norma!« gab ein älterer Mann Auskunft. Er schlurfte müde

näher und verrollte die Augen. »Schlimm, was?« Stillmans Mut schwand wieder. Einer rief lachend: »Kann man sich doch denken: Norma hat noch

nie fahren können!« Ja, das klang schadenfroh. Die ganze Gesellschaft schien sich über

den Unfall zu freuen. Weg hier, schnell weg hier! hämmerten Stillmans Gedanken,

während die Dörfler immer näher rückten. Sie hatten ihn jetzt total eingekreist.

Fred Stillman schwitzte, aber er hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Kragen zu öffnen. Seine Beine gehorchten ihm auch nicht. Er blieb stehen, wo er war, und murmelte«. »Wo – wo ist die Fahrerin?« Er holte tief Luft. »Wo ist sie hin?«

Fahrerflucht! redete er sich wieder ein. »Wieso?« fragte der Alte. »Sitzt doch hinter dem Steuer!« »Hinter dem…?« Stillman kniff fest die Augen zusammen und riß

sie wieder auf: Der Platz hinter dem Steuer war und blieb leer. Er riß die Fahrertür auf. Die wollten ihn hereinlegen. Redeten ihm etwas ein, was gar nicht

sein konnte.

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Jetzt waren sie ihm so nahe auf die Pelle gerückt, daß es kein Aus-weichen mehr gab. Er wurde noch näher an den Wagen gedrängt.

»Entschuldigen Sie bitte vielmals«, sagte in dem Moment eine weibliche Stimme. »Ich bin wirklich zu ungeschickt. Sie haben ge-bremst, und ich habe nicht schnell genug reagiert. Da ist es halt ge-schehen.«

Was war das für ein Spiel? Stillman hörte die Stimme, sah aber nichts.

Atem war in seinem Gesicht, ganz deutlich. Die Stimme aus dem Unsichtbaren: »Äh, Mister, könnte ich wohl

aussteigen?« Stillman prallte zurück. Unsichtbar schob sich jemand an ihm

vorbei. Kleider raschelten. »Das – das gibt es nicht!« stammelte Stillman. »Nur die Ruhe, Mister, ich werde selbstverständlich für den Scha-

den aufkommen, der Ihnen entstanden ist. Sie dürfen nur nichts der Polizei sagen. Die hat mich auf der Liste. Beim Geringsten ist der Führerschein weg. Sie sind doch so lieb und verpetzen mich nicht?«

Stillman konnte nichts mehr sagen. Er zitterte am ganzen Körper und schloß die Augen.

Ein Alptraum! dachte er. Und er wünschte sich, daraus zu erwa-chen.

Aber es war kein Alptraum, sondern grausige Wirklichkeit. Er sah es, als er die Augen wieder öffnete.

»Die Werkstatt ist ganz in der Nähe«, mischte sich ein Mann in bäuerlicher Kleidung ein. »Sie müssen allerdings bis morgen früh warten.«

»Ich – ich muß dringend weiter!« stammelte Fred Stillman. »Ich – ich habe mich nur verfahren und brauche nur zur Hauptstraße zu-rück, um…«

»Ach was!« Aus dem Unsichtbaren hakte sich jemand unter. Still-man schaute in die leere Luft, aus der die Stimme erklang: »Ich ste-he in Ihrer Schuld, Mr. Stillman. Sie sind in dieser Nacht mein

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Gast.« »Sie – Sie kennen meinen Namen?« »Jeder kennt ihn hier. Wir sind unter Freunden, nicht wahr?« Das

war für die Umstehenden bestimmt: Sie lachten hämisch. »Ihr – Ihr Gast?« Stillman wollte immer noch nicht aufgeben.

Vielleicht hatte er eine Chance, wenn er zum Schein auf das Spiel einging?

»Ja, auf dem Friedhof. Dort feiern wir heute nacht ein Fest. Haben Sie sich nicht gewundert, warum hier alles so festlich geschmückt ist?«

»Geschmückt?« Stillman sah ein Dorf, wie es Dutzende in Eng-land gab, aber er sah nicht den geringsten Schmuck, genausowenig jedenfalls wie diese Miß Norma: Er konnte nichts von alledem ent-decken.

Und da kam ein Mann im Priestergewand. Stillmans Herz blieb stehen. Dann schlug es voller Hoffnung wei-

ter: Vielleicht die Rettung? »Ja«, freute sich der Mann im Priestergewand, »heute ist doch die

Gräbernacht.« Ein echter Pfarrer! dachte Stillman. Der wird mir gegen diesen

Spuk helfen. »Gräbernacht?« echote Stillman. »Ja. Früher haben wir das nicht so oft gefeiert. Aber inzwischen

macht uns das soviel Spaß, daß wir gar nicht genug davon kriegen können. Und Sie sind dabei unser besonderer Gast, denn Sie sind der Gast von Miß Norma!«

Es klang geheimnisvoll, rätselhaft. »Was – was ist das eigentlich für ein Fest?« stotterte Fred Still-

man. Seine Hoffnungen schwanden. Er glaubte nicht mehr daran, daß der Priester echt war. »Ich – ich meine: Was macht man dabei?«

»Na, wir graben unsere Toten aus!« erklärte der Mann mit einem satanischen Grinsen.

Und Norma fügte hinzu: »Sie, Mr. Stillman, trifft dabei eine ganz

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besondere Ehre. Schließlich bin ich gegen Ihren Wagen gefahren und muß mich erkenntlich zeigen: Sie dürfen mich höchst persön-lich ausgraben!«

*

Seit drei Tagen und drei Nächten war ich unterwegs. Genauer ge-sagt, seit der honorige Geschäftsmann Fred Stillman auf einer drin-genden Geschäftsreise nach Schottland spurlos verschwand.

Es war nicht der erste Verschwundene! Die polizeilichen Nachforschungen hatten ergeben, daß sich alle

auf dem Weg nach Norden anscheinend in Luft aufgelöst hatten. Anders konnte man es nicht nennen.

Es war übrigens das einzige Ergebnis der polizeilichen Bemühun-gen.

Deshalb war ich eingeschaltet worden. Als Mitglied des Secret Service – des englischen Geheimdienstes – war ich sozusagen Agent für besondere Fälle. Ich hatte sogar meine eigene Spezialab-teilung, nur verantwortlich dem höchsten Chef des Geheimdienstes Sir Horatio Merriman.

Im wesentlichen eine Einmannabteilung. Und hier war ich unterwegs, weil ich einen besonderen Sinn für

das Ungewöhnliche hatte. Ich nannte es ›Die Gabe‹, obwohl es manchmal zu einer Art Fluch ausarten konnte. Vor allem dann, wenn sie mich in Situationen brachte, in denen ich mich mit den finstersten Geschöpfen der Hölle herumschlagen mußte.

Ich spürte, daß ich auf der richtigen Fährte war und nur Geduld zu üben brauchte. Es war ein ungewisses, unbeschreibliches Ge-fühl, und doch wußte ich, daß darauf hundertprozentig Verlaß war. Ich brauchte nur immer dieselbe Strecke zu fahren, auf der die Leute verschwunden waren. Selbst wenn das noch Wochen dauern sollte.

Ein Blick auf die Borduhr meines kleinen MG: Mitternacht. Ein Kribbeln war in meinem Bauch. Mein Atem ging unwillkür-

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lich schneller. Ich sah wieder nach vorn. Verdammt, was war das? Irgendwie erschien die Umgebung ver-

ändert. Ich war nun schon so oft diese Strecke gefahren – nur unter-brochen von Schlafpausen am Tag –, daß ich mich gut auskannte. Jetzt war alles anders, auf eine unerklärliche Weise.

Angst beschlich mich. ›Die Gabe‹ mahnte mich, sofort umzukeh-ren. Und doch fuhr ich weiter.

Weiter vorn tauchte ein Dorf auf, das auf dieser Strecke über-haupt nichts verloren hatte.

Das Ortseingangsschild verriet den Namen: »HELL«. »Hölle!« murmelte ich vor mich hin. Ich war überzeugt davon,

genau den Ort gefunden zu haben, wo all die anderen verschwun-den waren.

Ein magischer Zwang brachte mich dazu, immer weiter zu fah-ren, in das Dorf hinein.

Meine ›Gabe‹ machte mich nicht nur auf Gefahren aufmerksam, sondern ermöglichte es mir auch, mich bis zu einem gewissen Grad gegen Magie zur Wehr zu setzen. Ich steuerte den Wagen in einen schmalen Seitenweg und hielt an.

Sekundenlang blieb ich sitzen. Ich konzentrierte mich auf den stummen Befehl, der mich in das Dorf zwingen wollte.

Es gelang mir, ihn zu neutralisieren. Ein Blick hinüber. Das Dorf war noch da. Aber ich wußte genau,

daß es verschwinden würde, sobald ich ihm den Rücken kehrte. Nachdenklich nagte ich an der Unterlippe. Es war mir nicht möglich, jetzt zurückzufahren und Verstärkung

anzufordern. Ich würde das Dorf sicherlich nie mehr finden. »Es ist eine magische Falle, wie auch immer geartet. Ich muß das

Geheimnis allein ergründen.« Und wenn ich versuchte, per Funk Verstärkung anzufordern? Ich hatte ein Handsprechgerät mit großer Reichweite bei mir. Die

Techniker des Geheimdienstes hatten mir das mitgegeben – für alle Fälle.

Skeptisch betrachtete ich es. Ich schaltete es ein.

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Keine Reaktion. Ich überprüfte die Akkus. Nein, daran lag es nicht. Es war, wie ich schon befürchtet hatte: Im Bereich des Dorfes

funktionierte das Funkgerät nicht. Eine geheimnisvolle Macht ver-hinderte es. Dieselbe Macht, die für das plötzliche Erscheinen des Dorfes verantwortlich war?

Das Dorf namens Hölle! Ich stieg aus und drückte die Tür ins Schloß. Alles sträubte sich in mir zwar dagegen, aber ich hatte keine

Wahl. Natürlich betrat ich das Dorf nicht über die hellerleuchtete

Hauptstraße, wie die unsichtbare Macht von mir verlangt hatte, sondern ging erst einmal außen herum.

Nichts geschah. Eigentlich wirkte das Dorf ganz normal, bis auf ein paar unbewohnte Häuser, die mehr aussahen wie Ruinen.

Ich näherte mich einem solchen Haus. Das blasse Mondlicht ließ mich einen rostigen Gartenzaun erkennen, der zum Teil eingestürzt war. Vorsichtig stieg ich über den Maschendraht, der unter meinen Füßen zu Roststaub zerkrümelte.

Sperrige Güter standen und lagen herum wie auf einem Müll-platz. Es stank gotterbärmlich.

Ich erreichte das Haus. Die Läden waren entweder geschlossen oder hingen windschief in den Angeln. Ein paar Fenster waren von innen zugenagelt.

Eine Ratte quietschte unter meinen Füßen. Sie suchte schnell das Weite, als ich nach ihr trat.

Ich konnte Ratten nicht ausstehen. Anscheinend waren sie die einzigen, die sich in der Nähe dieses Hauses wohl fühlten. Andere Tiere gab es keine.

Ich wollte in das Haus hinein, weil ich von innen besser die Straße beobachten konnte. Ich wollte wissen, was in diesem Dorf lief, das es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen.

Kurz rüttelte ich an der Tür. Sie war abgeschlossen. Im nächsten Augenblick löste sie sich aus

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den Angeln und kam mir entgegen. Ich konnte sie gerade noch rechtzeitig abfangen und zu Boden gleiten lassen.

Im Haus war es stockfinster. Ich konnte nichts sehen. Ich stieg über die Tür hinweg und betrat den dunklen Gang. In

meinem Innern schrillte eine Art Alarm, aber ich hörte nicht darauf und tat noch einen Schritt weiter.

Tausende von schwarzen Käfern prasselten auf mich herab!

*

Das Vorgehen des Spezialagenten Mac Kinsey vom britischen Se-cret Service war nicht unbeobachtet geblieben: Die Polizei fahndet noch immer nach den Verschwundenen, namentlich auch nach Fred Stillman, der ihnen offenbar ganz besonders am Herzen lag.

Sie waren nicht über die Tatsache informiert, daß der Geheim-dienst eingeschaltet war. Es war nicht üblich, das den Polizisten mitzuteilen. Deshalb meldeten sie Mac Kinsey als einen Verdächti-gen: »Mit dem stimmt etwas nicht. Der fährt immer auf und ab. Wir haben ihn gestern schon gesehen!«

Beide Polizisten waren in Zivil: Ein Sergeant, der die Meldung über Funk gemacht hatte, und ein Inspektor, der ausnahmsweise hinter dem Steuer saß, weil es ihm als Beifahrer langweilig gewor-den war.

Die Funkleitstelle gab keine Antwort. Anhand des Kennzeichens wurde jetzt erst einmal der Name des Fahrzeughalters ermittelt. Dann würde man weitersehen.

In der Zwischenzeit wurde der kleine MG verfolgt. Wenn Mac Kinsey es gewollt hätte, wäre er einfach schneller gefahren und hät-te die beiden Polizisten abgehängt, aber der Geheimagent hatte zu diesem Zeitpunkt anderes im Kopf, als auf etwaige Verfolger zu achten.

»He!« rief der Sergeant aus und deutete nach vorn. Mit kaum verminderter Geschwindigkeit bog der Flitzer des

Agenten in einen dunklen Seitenweg ab und tauchte zwischen den

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dichtstehenden Waldbäumen unter. »So schnell hängst du uns nicht ab, Freund!« schwor der Inspek-

tor und riß das Steuer herum. Er folgte dem Flitzer, während der Sergeant per Funk meldete: »Jetzt versucht er, uns abzuhängen!«

Die Leitstelle gab zurück: »Name des Halters inzwischen festge-stellt: Mac Kinsey! Beruf: Regierungsbeamter!«

»Regierungsbeamter?« wunderte sich der Inspektor. Aber er ver-folgte weiter. Und er hatte auch eine Erklärung: »Sitzt wahrschein-lich gar nicht selber hinter dem Steuer. Vielleicht hat man ihm das Auto geklaut?«

Der Sergeant fragte per Funk. »Nichts bekannt!« gab die Leitstelle zurück. »Außerdem: Warum

sollte der Dieb denn die ganze Zeit über diese Strecke auf und ab fahren? Damit er besonders auffällt?«

Und da fiel dem Inspektor noch eine Erklärung ein, die ihm prompt eine Gänsehaut bescherte: »Vielleicht ist dieser Mac Kinsey einer der Verschwundenen, und die Kidnapper haben sein Auto…«

Er brach ab, denn die Konsequenz seines Gedankens war: Das Auto fuhr auf und ab, um die Polizei ebenfalls in die Falle zu lo-cken.

Schon stand der Inspektor auf der Bremse. Aber da leuchteten auch die Bremslichter des MG auf. Er war nur zehn Yards vor ih-nen, höchstens fünfzehn.

Der mußte doch die Verfolger sehen, oder? Der MG bog in einen weiteren Seitenweg ab, offensichtlich um

dort zu parken. Die Polizisten wußten nicht, was sie tun sollten. Sie saßen stock-

steif in ihrem Auto und stierten in die Nacht. Die Scheinwerfer des Dienstfahrzeugs stachen ins Leere. Da war

nur Wald, der sich weiter vorn zu einer großen Lichtung verbreiter-te. Dieser Seitenweg hier wurde nicht oft benutzt, denn teilweise hatte ihn Unkraut überwuchert.

Der Sergeant bewies bessere Nerven als sein Streifenführer: Er griff an dem Inspektor vorbei und löschte das Licht.

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Es dauerte Sekunden, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit ge-wöhnt hatten.

Jemand verließ den MG, nachdem auch dort das Licht gelöscht worden war.

Die runde Scheibe des Vollmondes hing über dem Wald. Ein we-nig von seinem blassen Licht kam zu ihnen herunter. So sahen sie den Schatten des Mannes, der die Stelle verließ, wo der MG stand, sich kurz orientierte und sich dann in die Büsche schlug.

»Der tut gerade so, als wären wir Luft!« murmelte der Sergeant. »Vielleicht eine Aufforderung, ihm zu folgen?« vermutete der In-

spektor. »In die eigentliche Falle?« Sie starrten in die Nacht. Entschlossen drückte der Sergeant den Rufknopf des Funkgerä-

tes, auch wenn dadurch die Kontrolleuchte glomm und sie in der Dunkelheit verriet.

»Leitstelle, von Sondereinsatz, bitte kommen!« Das Funkgerät blieb tot. Der Sergeant löste die Rauschsperre. Nicht einmal das vertraute Rauschen klang auf. Aber die Kontrol-

lampe brannte. Also war das Funkgerät in Ordnung. Irgend etwas verhinderte die Verbindung mit der Leitstelle.

Irgend etwas? Die beiden bekamen eine dicke Gänsehaut. Die Hände des In-

spektors schwitzten. Er umklammerte das Lenkrad wie einen Ret-tungsanker.

»Besser, wir verschwinden schleunigst von hier!« schlag der Ser-geant mit zittriger Stimme vor.

»Und was erzählen wir den anderen? Daß wir Angst gehabt ha-ben?« hielt ihm der Inspektor vor.

»Wenn's doch stimmt!« Aber der Sergeant wußte genausogut wie sein Schichtführer, daß

es ein Unding war. Sie waren Polizisten und einer wichtigen Sache auf der Spur. Ob nun die Funkverbindung klappte oder nicht, das durfte sie nicht schrecken.

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Und weil sie im Spezialeinsatz waren, hatten sie auch Waffen da-bei.

Der Inspektor zog seine Pistole und stieg aus. Der Sergeant folgte nach kurzem Zögern.

Sie lauschten in die Nacht. Nicht weit von ihnen entfernt bahnte sich der Unbekannte einen

Weg durch den Wald. Er tat es so geschickt, daß man bald nichts mehr von ihm hörte.

Die beiden Beamten folgten ihm nicht direkt, sondern schritten rechts und links des vergammelten Weges entlang, aufmerksam die Umgebung beobachtend. Inzwischen hatten sich ihre Augen genü-gend an das dürftige Mondlicht gewöhnt. Ihnen entging nichts mehr.

Wind rauschte in den Bäumen, Laub raschelte zu ihren Füßen. Das war alles. Sonst war nichts zu hören.

Sie gingen weiter. Und da tauchte praktisch aus dem Nichts eine Gestalt auf, mitten

auf dem Weg: mehr ein dunkler Schatten, der sich wie zum Sprung duckte.

Der Sergeant verlor die Nerven und schoß. Die Kugel ging einfach durch die Gestalt hindurch, wirkungslos.

Oder hatte er nur vorbeigezielt? »Inspektor!« ächzte der Sergeant, aber den konnte er nicht mehr

sehen. Als hätte er sich in Luft aufgelöst. Die Gestalt lachte heiser, richtete sich auf und schlurfte näher,

müde wie ein alter Mann. Der Sergeant zielte jetzt ganz genau. »Halt, stehenbleiben!« Die Gestalt kicherte schadenfroh. Ein verirrter Lichtstrahl erhellte

kurz ihr Gesicht: Die Augen fehlten. An ihrer Stelle klafften zwei leere Löcher.

Die Gestalt warf den Kopf in den Nacken und lachte schaurig. Der Mund war ebenfalls nur ein rundes, schwarzes Loch.

Der Sergeant schrie voller Grauen und leerte sein ganzes Maga-

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zin. Es nutzte ihm nichts. Die Gestalt trat auf ihn zu und nahm ihn in

ihre eisigen Arme.

*

Ich brachte mich mit einem Satz in Sicherheit. Im Nu hatten mich die schwarzen Käfer bedeckt, krabbelten auf mir herum und such-ten nach nackter Haut, um zuzubeißen.

Ich klopfte sie mit beiden Händen von mir ab und wich weiter von dem unheimlichen Haus zurück.

Sobald die Käfer von mir abfielen, flohen sie ins Haus. Das war auch mein Glück. Hätten sie mich weiterhin angegriffen,

hätte ich gegen ihre Übermacht keine Chance gehabt. Ich schüttelte mich angewidert, ordnete meine Kleider und ging

zur Hausecke. Dort war eine breite Ausfahrt. Wenn ich schon das Haus nicht betreten konnte, dann mußte ich auf diese Weise versu-chen, die Straße vor dem Haus zu beobachten.

Bevor ich die Ausfahrt betrat, warf ich noch einen letzten Blick zurück.

Es war im Mondlicht deutlich zu sehen, daß die Hintertür wieder zu war! Obwohl ich sie aus den Angeln gerissen und zu Boden ge-lassen hatte!

Ich schluckte schwer und ging rasch weiter. Die Straße lag im hellen Licht. Ich blieb im Schatten der Ausfahrt

und riskierte einen Blick. Zwei Mädchen, modern gekleidet, fröhlich miteinander plau-

dernd. Sie kamen genau auf mich zu, über den Bürgersteig, und sie paßten in diese unheimliche Umgebung wie die berühmte Faust auf das Auge.

Die beiden hatten Miniröcke an, wie sie kürzer gar nicht mehr hätten sein dürfen. Sonst wären sie keine Röcke mehr gewesen.

Ich war so überrascht, daß ich vergaß, mich sofort wieder zurück-zuziehen. Deshalb entdeckten sie mich.

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Die beiden lachten über meinen verdutzten Gesichtsausdruck. Zwei wirklich entzückende Geschöpfe. Sie erreichten mich, lachten mich an, in ihrer fröhlichen, ausgelas-

senen Art, und gingen weiter. Sofort steckten sie die Köpfe zusam-men und tuschelten über mich. Das schien sehr lustig zu sein, denn sie lachten darüber noch lauter.

Verärgert richtete ich mich auf. Ein Auto kam vorbei. Der Fahrer beachtete mich nicht. Er hatte

nur Augen für die beiden Mädchen. Sie winkten ihm zu. Er winkte zurück.

Ich strich mir über die Stirn, weil ich nicht glauben wollte, was ich soeben erlebt hatte. Es paßte absolut nicht ins Bild. Und deshalb steckte mich die ausgelassene Fröhlichkeit auch keineswegs an, sondern erzeugte im Gegenteil in mir ein Gefühl des Grauens.

Und auch meine ›Gabe‹ sagte mir, daß ich mich in höchster Ge-fahr befand, auch wenn es im Augenblick nicht so erschien.

Noch ein Auto kam vorbei, gerade als ich die Deckung verließ. Aber der Fahrer achtete nicht auf mich. Mit starrer Miene fuhr er vorbei.

Mein Blick fiel auf das Kennzeichen: London! Einer der Verschwundenen? Meine Hand fuhr schon zum Notizblock in der Innentasche mei-

nes Jacketts, aber ich ließ sie stoppen. Nein, ich würde der Richtung folgen, in die anscheinend alle gin-

gen. Die Mädchen hatten einigen Abstand zu mir gewonnen. Sie schie-

nen sich jetzt zu beeilen. Für Sekundenbruchteile spürte ich ein schmerzhaftes Tasten in

meinem Schädel. Gleichzeitig ging ein eisiger Hauch durch die Straße.

Automatisch blockte ich das Tasten ab. Es half: Es verschwand augenblicklich. Erbleichend sah ich mich um. Viele Menschen strömten die Straße

entlang. Sie kamen auf mich zu, fröhlich und ausgelassen wie die

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Minimädchen. Worüber freuten sie sich? Und spürten sie nicht auch den eisigen Hauch, der durch die Straße wehte?

Ich schüttelte den Alpdruck ab und knirschte mit den Zähnen. Dann schritt ich weiter.

Noch einmal war das Tasten da, aber nur als flüchtige Berührung. Als würde es nach etwas suchen, was es nicht fand. Ich schien das Gesuchte nicht zu sein. Oder schützte mich meine ›Gabe‹?

Jetzt war ich überzeugt davon, daß es sich um die unbekannte Macht handelte, die dieses Dorf hier beherrschte.

Hatte sie gar das Dorf erst geschaffen? Weiter vorn befand sich eine Sargschreinerei. Die vielen Men-

schen in meinem Rücken machten mich nervös. Es würde besser sein, sie an mir vorübergehen zu lassen.

Deshalb blieb ich bei der Sargschreinerei stehen. Man fertigte auch Kleinmöbel an, die ich im winzigen Schaufens-

ter bewundern konnte. Der Sarg, der mit geöffnetem Deckel dane-benstand, wirkte in bezug auf die Möbel deplaziert.

Der Hintergrund des Ladens befand sich im Dunkeln. Ich konnte nichts sehen, auch nicht, ob mich jemand von dort beobachtete.

Ein unangenehmes Gefühl. Ich ging zur schmalen Einfahrt und trat ein.

Jetzt war es besser. Jetzt konnten auch die ganzen Menschen an mir vorbei.

Sie kamen, lärmend, lachend… Immer wieder fiel ein bestimmtes Wort: »Gräberfest!«

Was bedeutete es? Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Die Leuchtziffern

der Rolex waren deutlich zu sehen. »Erst eine Minute nach zwölf!« murmelte ich vor mich hin. »Das

ist doch nicht möglich!« Ich lauschte an der Uhr. Sie tickte ganz normal. Und doch schien etwas die Zeiger anzu-

halten. Ich ließ den Arm sinken. Die Menschen waren vorbei. Ich wagte

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einen Blick. Weiter unten kamen noch vereinzelt Nachzügler. Auch noch ein Auto.

In der Einfahrt stand ebenfalls ein Wagen: ein Leichentransporter, schwarz wie die Nacht, mit feierlichen Symbolen versehen. Im sau-ber geputzten Chrom spiegelte sich das Straßenlicht.

Ich lauschte. Hinter dem Haus wurde anscheinend fleißig gearbeitet. Um diese

Zeit noch? Ich ging tiefer in die Einfahrt hinein. Hinter dem Haus war Licht. Ein kleiner Hof, trübe beleuchtet. Ein paar Gerätschaften lagen

wahllos herum, als würden sie nicht mehr gebraucht werden. Die Werkstatt befand sich anschließend. Die Tür stand einen Spalt

offen. Von drinnen kamen die Geräusche und die Stimmen. Es wurde gehämmert, gesägt und gehobelt.

Sprachfetzen wurden deutlicher, als ich näher kam: »… heute nacht… Gräberfest…« Schon wieder dieses Wort! »… für die neuen Toten… Seelenschmaus…!«

Eine Maschine wurde eingeschaltet, und jetzt war überhaupt nichts mehr zu verstehen, obwohl man lauter redete.

Ich ging von der Tür weg und neben das Werkstattgebäude. Dort befanden sich drei von innen total zugestaubte Fenster.

Ich drückte gegen einen Fensterflügel, ganz vorsichtig, und hatte Glück: Er öffnete sich leicht.

Ich spähte durch den entstanden Spalt in das Innere der Werk-statt.

Die drei Schreinergesellen, die sich über ›Kunden‹ unterhielten, die sicherlich erst ›in dieser Nacht anfielen‹, beim ›Gräberfest‹ näm-lich, wo es wieder willkommene ›Gäste‹ gab… Die drei Burschen wirkten eigentlich ganz normal, wie sie so arbeiteten und sich lauthals unterhielten.

Im Hintergrund sah ich eine Frau. Sie wandte mir den Rücken zu. War gerade dabei, einen offenen Sarg auszukleiden. Dabei ging sie sehr geschickt vor.

Jetzt wandte sie sich um, So daß ich ihr Gesicht sehen konnte.

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Es fehlte die Hälfte!�

*�

Plötzlich sah sich der Inspektor auf dem nächtlichen Waldweg al-lein – von einem Augenblick zum anderen.

Erschrocken blieb er stehen. Er wandte den Kopf. Sogar ihr Dienstfahrzeug konnte er nicht mehr sehen. Dafür lag

ein gespenstisches Leuchten in der Luft, das alles gut beschien. Er blickte wieder geradeaus. Ein Dorf! Er wollte es nicht glauben und doch war es so. Die Waffe krampfhaft in der rechten Faust, tappte er auf das Dorf

zu. Als hätte ihn eine unsichtbare Macht in eine andere Welt ver-setzt. Er erreichte das Ortseingangsschild. Es glühte. Oder war es nur der Widerschein des gespenstischen Leuchtens?

›HELL‹ stand in großen Buchstaben darauf. Ein Dorf mit Namen Hölle? Der Inspektor schluckte schwer. Er blieb mit schlotternden Glie-

dern stehen. Die Angst hockte in ihm wie ein Dämon. Er kam einfach nicht da-

gegen an. Kein Wunder! Er ging weiter, an dem Ortseingangsschild vorbei, in das Dorf

hinein, geradewegs über die Hauptstraße. »Willkommen!« krächzte jemand. Er fuhr herum. Da stand ein Mann, in Zivil. Er hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit

dem Sergeanten. Er grinste. »Sie sind überrascht, Inspektor?« »Wer – wer…?« stammelte der Inspektor. »Ich bin der Bruder Ihres Sergeanten. Hat er Ihnen nicht von mir

erzählt? Wir stammen beide aus diesem Dorf.« Er lachte auf. »Lo-gisch, wenn wir Brüder sind, nicht wahr?«

»Brüder?« murmelte der Inspektor ungläubig. Mißtrauen erwach-te in ihm.

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Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen, zugegeben, aber trotzdem… Die Umgebung war unwirklich, geheimnisvoll, beängs-tigend…

Der Inspektor schaute sich rasch um. Jetzt wirkte das Licht nicht mehr gespenstisch, sondern ganz nor-

mal: Straßenlaternen! »Sie sind spät dran, Inspektor, sehr spät!« »Wieso?« entfuhr es ihm. Der Mann deutete die Straße entlang. »Wir warten alle schon auf

Sie.« »Auf mich? Wer denn?« »Na, alle! Wir fangen mit dem Gräberfest nicht eher an, bis Sie da

sind.« Der Inspektor wollte sich erinnern, wieso er hier war, wieso er

überhaupt eine Waffe in der Faust hielt. Es klappte nicht. Aber die Waffe blieb. Er hielt sie ganz fest, den Finger stets am Abzug. Ein Rest von Mißtrauen war noch in ihm wach.

Hier stimmt was nicht! hämmerten seine Gedanken. Auch wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, was überhaupt passiert war.

Der Mann setzte sich in Bewegung. »Sie trauen mir nicht?« Er lächelte entwaffnend. »Also gut, ich

gehe voraus. Mein Bruder wartet ebenfalls.« »Auf was?« »Na, das sagte ich doch schon, Inspektor. Was ist bloß los mit Ih-

nen? Was ist mit Ihrem Gedächtnis? Sie haben doch sonst so einen scharfen Verstand, nicht wahr?«

Ihn schwindelte. Er fuhr sich kurz über die Augen. Als er sie wie-der öffnete, sah er die Straße hinunter eine Frau. Sie stand da mit hängenden Armen und schaute herüber. Irgendwie wirkte sie ver-loren.

Die ist ja splitternackt! dachte der Inspektor und blinzelte. Nein! berichtigte er sich sogleich, die hat nur ein enges Trikot an.

Wie beim Ballett. »Norma«, sagte der Mann, der so gut dem Sergeanten glich. »Oh,

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sie hat gut und gern getanzt, unsere Norma. Vielleicht wäre sie ei-nes Tages eine große Ballerina geworden?«

»Was – was ist mit ihr? fragte der Inspektor brüchig, immer noch die Waffe im Anschlag.

»Sie ist tot. Damit ist es aus mit der Karriere.« »Tot?« rief der Inspektor ungläubig, denn diese Norma begann,

ihnen zuzuwinken. Jetzt drehte sie sich ab und ging voraus. »Kommen Sie endlich, Inspektor. Oder wollen Sie die anderen

noch länger warten lassen?« »Was für ein Gräberfest?« fragte der Inspektor stur und blieb ste-

hen. »Norma zu Ehren!« erklärte der Mann und grinste schief. »Uns al-

len dabei zur Freude.« Der Inspektor ahnte, daß die Freude nicht auf seiner Seite sein

würde. »Ich gehe jetzt wieder!« sagte er fest. »Sie wollen uns einen Korb geben?« fragte der Fremde ungläubig. Jetzt war der Inspektor überzeugt davon, seinen Sergeanten per-

sönlich vor sich zu haben. Was war mit dem Kerl los? Wieso be-nahm er sich so komisch?

Eine Falle! schoß es ihm durch den Kopf. Er warf einen gehetzten Blick in die Runde. Schon kamen sie auf ihn zu: Mehrere Männer und Frauen. Sie lä-

chelten zwar freundlich, aber dabei streckten sie die Arme vor, als wollten sie ihn in Stücke reißen.

»Ich – ich muß funken«, stammelte der Inspektor; »Ich – ich muß Alarm schlagen, muß allen Bescheid sagen…«

»Das tun wir schon für Sie«, sagte der Sergeant beruhigend. »Sie lügen!« »Nicht doch, Inspektor.« »Was habt ihr mit mir vor?« »Sie sind unser Gast, genauso wie die anderen.« Wie die Verschwundenen! dachte der Inspektor. Und auf einmal

konnte er sich erinnern.

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Und er schoß! Die erste Kugel traf den Sergeanten genau in die Brust. Der In-

spektor sah das kleine Loch. Der Sergeant stöhnte laut und griff sich an die Wunde. Er sank in

die Knie. Ein Schatten senkte sich über die Szene, als der Inspektor zum

zweitenmal abdrückte. Als hätte jemand die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet. Der Inspektor hob den Kopf, hielt nach den anderen Menschen

Ausschau. Da war niemand mehr. Er stand mit dem Sergeant auf der Lich-

tung. »Inspektor«, murmelte der Sergeant und schaute ungläubig auf

das Blut in seiner Hand. »Warum – warum haben Sie denn das ge-tan?«

»Nein!« brüllte der Inspektor entsetzt. Der Sergeant fiel vornüber, auf das Gesicht. Der Inspektor drehte

ihn herum und starrte in die toten Augen. »Nein!« brüllte der Inspektor erneut. Da griffen die eisigen, unerbittlichen Hände des Todes aus dem

Unsichtbaren auch nach ihm…

*

Ich hörte Schüsse, während ich in das grauenvolle Gesicht schaute. Als wäre irgendwo im Dorf eine wilde Schießerei im Gang. Oder waren das nur Fehlzündungen?

Ich konnte den Blick einfach nicht abwenden. Ja, es fehlte die Hälfte des Gesichtes. Als wäre die Frau in die

Kreissäge gefallen, die einen Schritt von ihr entfernt sirrte. Gerade setzte der Geselle dort ein Brett an. Das Sägeblatt fraß sich

gierig hinein. Das halbe Gesicht der Frau war blutleer. Doch die Frau tat so, als

würde sie das in keiner Weise behindern.

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Sie nahm sich frischen Stoff und Polstermasse und setzte ihre kunstvolle Arbeit wieder fort.

Zwar war sie mit ihren Händen äußerst geschickt, aber nicht so sehr mit ihren Füßen. Außerdem war sie unordentlich und ließ den Abfall einfach auf den Boden fallen.

So kam es, daß sie stolperte, als sie sich von ihrem Arbeitsplatz wegbewegte.

»Paß doch auf!« herrschte sie der Geselle an der Kreissäge an. »Willst wohl wieder mit dem Gesicht in die Säge fallen, wie?«

Da hatte ich meine Bestätigung. Es war grauenvoll. Die ist tot! dachte ich bestürzt. Ja, anders konnte es nicht sein.

Kein Mensch konnte eine so schreckliche Verletzung überleben. Und die Gesellen? Endlich konnte ich den Blick von ihr lösen. Die Burschen wirkten völlig normal. Jetzt ein wenig mürrisch.

Aber das konnte auch daher rühren, daß sie mitten in der Nacht noch schwer arbeiten mußten.

Ich zog mich würgend zurück. Das Gesicht ging mir einfach nicht aus dem Sinn. Ich hatte schon

viel erlebt und gesehen, hatte eigentlich gedacht, abgebrüht zu sein. Und jetzt war mir speiübel.

Ich taumelte davon, vorn an der Tür vorbei, die einen Spaltbreit offenstand.

Die Frau ist tot! Das ging mir nicht mehr aus dem Schädel, genau-sowenig wie der grausige Anblick.

Ich lief weiter, an dem Leichenwagen vorbei. Kurz zögerte ich. Ein Blick in den Wagen hinein. Durch die Scheibe sah ich einen Sarg. Er war so gestellt, daß da-

neben noch für einen weiteren Sarg Platz blieb. Insgesamt gingen also zwei normale Särge nebeneinander hinein.

Einen hatten die in der Werkstatt schon fertig und in den Wagen gestellt. Der zweite würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

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Mit hämmerndem Herzen öffnete ich die hintere Tür und griff nach dem Sarg.

Ich schöpfte erst mal tief Luft. Dann hob ich den Deckel an. Er war nicht festgeschraubt. Es ging einwandfrei. Ich überwand

mich und warf einen Blick in den Sarg. Noch war er leer! Ja, noch! dachte ich bestürzt, schloß Sarg und Wagen wieder und

trat auf die Straße hinaus. Der Betrieb hatte abgenommen. Es gab nur noch vereinzelt Men-

schen, die die Straße entlanghasteten, einem mir unbekannten Ziel entgegen.

Ich folgte ihnen mit kurzem Abstand. Die Menschen begrüßten sich gutgelaunt. Sie lachten und scherz-

ten miteinander. Auf mich achtete dabei überhaupt niemand. Da spürte ich wieder das eigenartige Tasten in meinem Kopf. Wie

von einem Blinden, der sich orientieren wollte. Ich blockte sofort mit meiner ›Gabe‹ ab. Das war, als würde ich dem Tasten auswei-chen.

Selbst die Menschen, die mir ganz nahe kamen, taten so, als wäre ich nicht vorhanden.

Seltsam. Ich mußte ihnen ausweichen, sonst rempelten sie mich über den Haufen, weil sie mich nicht sahen. Ihre Blicke gingen ein-fach durch mich hindurch.

Ich gelangte zum Dorfplatz. Und dort traf ich jemanden, den ich kannte.

Nicht, daß ich ihm schon mal persönlich begegnet wäre: Ich hatte ihn in der Vermißtenkartei gesehen.

Es handelte sich um niemand anderes als um den zuletzt Ver-schwundenen: Fred Stillman!

Unwillkürlich eilte ich auf ihn zu. Aber auch sein Blick ging durch mich hindurch. Er redete zu je-

mandem, obwohl ich niemanden bei ihm sah. Anscheinend eine angenehme Plauderei, aber ich hörte nur seine eigene Stimme, sonst keine.

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Als wäre Fred Stillman wahnsinnig geworden. So wahnsinnig wie das ganze Dorf? Ich hielt mich vorsorglich zurück und zückte meinen Notizblock.

Der Dorfplatz war vollgestellt mit Fahrzeugen. Ihre Kennzeichen interessierten mich.

Tatsächlich, hier hatte ich sie fast alle: Die verschwundenen Au-tos! Der Vergleich mit den notierten Kennzeichen in meinem Notiz-block brachte den Beweis.

Ich steckte den Block wieder weg. Auch viele der Verschwundenen waren da. Ich sah sie zwischen

den anderen Menschen, die über den Dorfplatz strömten, in eine bestimmte Richtung.

Wo lag ihr gemeinsames Ziel? Ich konnte mir die Frage selbst beantworten: Ein Fest wird vorbe-

reitet und durchgeführt. Alle nehmen teil. Das sogenannte Gräberfest, und es hatte etwas mit Toten zu tun.

Soviel wußte ich bereits. Ich hielt nach Kindern Ausschau. Keine. Wenigstens nicht hier auf der Straße. Waren sie vom Grä-

berfest ausgeschlossen? Gab es hier überhaupt – Kinder? Ich spürte eine Gänsehaut. Es folgte das seltsame Kribbeln der

Bauchdecke. Irgendwie hatte ich den Drang, das nächstbeste Haus zu betreten.

Ich wußte auf einmal, daß mich das der Lösung des Rätsels ein Stückchen näherbringen würde.

Ich öffnete die Haustür. Das Innere lag in totaler Finsternis. Ich konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Das Licht, das von draußen hereinfiel, genügte gerade, um zwei Schritte weit etwas zu erkennen: gekachelter Boden, gekachelte Wände. Links führte eine Treppe in den ersten Stock. Ich sah die untersten beiden Stufen.

Verdammt, was ging in diesem Dorf vor? Ich hatte eine unbestimmbare Angst. Sie hockte in meinem Innern

wie eine lauernde Bestie, die jederzeit zuschnappen konnte. Es war die Angst vor etwas, was ich nicht kannte. Es war die

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Angst vorm Bösen, das dieses Dorf beherrschte. Und vor seiner Macht.

Dabei mußte ich immer wieder an das unangenehme Tasten den-ken, das ich in meinem Kopf verspürt hatte. Ich suchte nach einem Lichtschalter. Ergebnislos. Als gab es gar keinen. Mit vorgestreck-ten Armen und viel Mut ging ich in die Finsternis hinein. Ich hatte einmal bereits schlechte Erfahrungen gemacht, als ich einfach ein Haus betreten hatte. Die Sache mit den Käfern steckte mir noch in den Knochen.

Knarrend schwang die Tür hinter mir ins Schloß, wie von Geister-hand bewegt. Sie schlug dumpf zu.

Ich stand in der absoluten Finsternis. Kein Geräusch drang an mein Ohr, außer meinem eigenen Atem. Meine Hände tasteten um-her. Als wäre das Innere des Hauses nur mit Leere angefüllt, mit sonst nichts. Meine Hände stießen gegen keinen Wiederstand.

Dennoch machte ich noch einen Schritt voran. Etwas stieß gegen mein Gesicht, das von oben herabbaumelte. Ich begriff es mit beiden Händen, befühlte, was es war: Die Füße

eines Menschen!

*

Alle Rufe der Funkleitstelle waren erfolglos geblieben. Der zustän-dige Konstabler wartete nicht mehr lange: Er gab Alarm.

In England hatte die Polizei von jeher einen Sonderstatus. Es war das einzige Land, wo die uniformierten Polizisten unbewaffnet her-umliefen. In anderen Ländern wäre das gar nicht denkbar gewesen. Waffen wurden nur auf Sondereinsätzen ausgeteilt.

Wie zum Beispiel jetzt. Vor allem, weil etwas gegen Polizisten vorgefallen war. Das war

offensichtlich. Denn sonst hätten sich die beiden gewiß wieder ge-meldet.

Parallel zur Alarmaktion, zu der auch die Bereitschaftspolizei hin-zugezogen wurde, überprüfte man noch einmal die Person Mac

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Kinsey. Denn das einzig Konkrete, das die beiden Beamten vor ih-rem Verschwinden gemeldet hatten, das war das Kennzeichen sei-nes Wagens.

Seltsam, man kam mit den Ermittlungen nicht weit. Als wären die Informationen über die Person Mac Kinsey blockiert.

Für ein paar Übereifrige bei der Kripo ein eindeutiger Beweis da-für, daß Mac Kinsey etwas mit den Verschwundenen zu tun hatte. Einer versteifte sich in die Ansicht: »Dieser Mac Kinsey, sicherlich ein falscher Name, denn bei der Regierung ist er nicht bekannt, also stimmt die Berufsbezeichnung ebenfalls nicht… Also, dieser Mac Kinsey ist eine Art Lockvogel. Er lockt die Opfer in die Falle. Und zufällig sind unsere beiden Polizisten darauf gestoßen. Er hat be-merkt, daß man ihn verfolgte. Deshalb hat er die beiden ebenfalls in die Falle gelockt.«

»Und warum die anderen?« hielt man ihm entgegen. »Es waren stets Einzelreisende, die verschwanden. Ausnahmslos. Stillman war der reichste unter ihnen. Aber es gibt keine Lösegeldforderun-gen, nichts. Das Ganze ist ohne Motiv, mein Lieber. Das ist es, was mich stört.«

Auch beim Geheimdienst hörte man natürlich von der Sache. Es drang vor bis zu Sir Horatio Merriman.

Er wußte dadurch: Sein Spezialagent war in höchster Gefahr, denn von ihm fehlte genauso jede Spur wie von den beiden Polizis-ten.

Er überlegte, ob er weitere Agenten auf den Fall ansetzen sollte. Nachdenklich strich er über seinen sorgfältig gepflegten Schnurr-

bart. Mit einer entschlossenen Bewegung rückte er die Brille zurecht:

Er hatte sich entschieden, sich erst einmal aus dem Fall herauszu-halten. Denn auf seinen Mac Kinsey war Verlaß. Das wußte er. Es war nicht sein erster ungewöhnlicher Fall. Außerdem waren in die-ser Nacht schon viele Leute unterwegs. Vor allem Polizisten. Zu-sätzlich noch Geheimagenten? Nein, das würde eher die Verwir-rung vergrößern, aber für Mac Kinsey keinerlei Vorteil bringen.

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Sir Horatio Merriman lehnte sich zurück. Aber er konnte sich nicht entspannen.

Er blieb auch in seinem Büro. Diese Nacht machte er sozusagen freiwillig Nachtschicht, denn er sorgte sich sehr um den Spezial-agenten Mac Kinsey.

Sir Horatio Merriman war ein erfahrener Mann. Er wußte, wann die Gefahr für seine Leute am größten war.

Und er dachte an die Polizei, die im Moment eine Großaktion startete. Überall schwärmten Streifenwagen aus. Sie fuhren die Hauptstraße nach Norden hinauf.

Ein paar fanden die Stelle, wo der kleine MG abgebogen war. Hier waren auch der Inspektor und sein Sergeant abgebogen. Die Beschreibung paßte hundertprozentig.

Die mit Waffen ausgerüsteten Beamten gingen sehr vorsichtig zu Werk. Sie fuhren von der Hauptstraße ab. Erst einmal ein Mann-schaftswagen. Seine Scheinwerfer stachen in die Nacht.

Da, ein Auto! Es war eindeutig der verlassene Streifenwagen der beiden ver-

schwundenen Polizisten. Beide Türen standen offen. Als wären die beiden Männer eben erst ausgestiegen.

Die anderen Wagen, vollbesetzt mit nervösen Polizisten, folgten. Sie schwärmten aus, durchkämmten das Gelände.

Auf Anhieb fanden sie den MG. Er war ebenfalls verlassen. Auf dem Fahrersitz lag ein Funkgerät, eingeschaltet. Einer der Beamten betätigte die Sprechtaste.

Nichts geschah. Das Gerät schien defekt zu sein. Bald fanden sie heraus, daß auch das Funkgerät im Streifenwagen

nicht funktionierte. Von den Verschwundenen fehlte jegliche Spur. Und jeder der Po-

lizisten spürte die Angst in seinem Innern hämmern. Keiner von ihnen hätte es jemals zugegeben. Deshalb blieb es

beim Bericht auch unerwähnt. Dort hieß es lediglich, daß sich die Verschwundenen anscheinend

in Luft aufgelöst hatten.

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Keiner mochte mehr daran glauben, daß der Regierungsbeamte Mac Kinsey mit der Sache zu tun hatte. Man nahm vielmehr an, daß er genauso Opfer geworden war wie die anderen Verschwun-den auch.

Die Polizisten behaupteten, alles sorgfältig durchsucht zu haben. Aber ganz stimmte es nicht. Denn sie waren froh, als sie der Sache den Rücken kehren konnten.

Sogar die beiden Fahrzeuge wollten sie stehenlassen. Der Einsatzleiter kam darauf, daß das nicht ging. Er sorgte dafür,

daß wenigstens zwei seiner Polizisten das Dienstfahrzeug übernah-men.

Einer sagte zum anderen: »Ein Geisterfahrzeug!« »Bist du verrückt?« herrschte ihn der andere an. »Mich so zu er-

schrecken!« Aber er spürte es selber: Hier lauerte etwas. Es war besser, schleu-

nigst zu verschwinden. Das Abrücken der Polizei kam einer Flucht gleich. Sir Horatio Merriman erfuhr davon. Es befreite ihn keineswegs von seinen Sorgen, daß man den MG

gefunden hatte. Der große Mann vom britischen Geheimdienst, der normalerwei-

se überhaupt keine Zeit hatte, sich um das Schicksal eines einzelnen Agenten im Einsatz zu kümmern, murmelte vor sich hin: »Viel Glück, Mac Kinsey!«

Es hörte niemand – leider…

*

Ein Erhängter! Licht flammte auf und stach mir schmerzhaft in die weit aufgeris-

senen Augen. Ich schreckte zurück und kniff fest die Augen zu. Tausend Sterne tanzten vor mir einen Höllenreigen. Ich war total

geblendet.

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Als ich die Augen wieder aufriß, sah ich nur den Schatten des Er-hängten. Er schwang leicht hin und her. Das Seil knarrte.

Ein weiterer Schatten näherte sich. Eine Frau, denn ihre Kleider raschelten.

Sie trug etwas in beiden Händen. Eine Waffe, um nach mir zu schlagen? Ich wich noch einen Schritt zurück, blinzelte ein paarmal. Endlich gewöhnten sich meine Augen an die ungewohnte Hellig-

keit. Die Frau hatte einen Stuhl in beiden Händen. Sie stellte ihn zu den Füßen des Erhängten nieder und kletterte ungeschickt darauf. Dann griff sie in ihren Mantel und zog ein scharfes, langes Küchen-messer.

»Das haben wir gleich«, murmelte sie mit kratziger Stimme, wie eine Gießkanne. »Nur Geduld. Ich schneide dich ab.«

Das Gesicht des Gehenkten war verzerrt. Die Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Die Zunge hing heraus. Ein grauenvoller Anblick. Dabei schienen mich die toten Augen die ganze Zeit schon zu beobachten.

Die Frau drehte den Gehenkten so, daß sie mit dem Messer gut an den Strick herankam.

Der Strick war an einem Haken befestigt. Früher mußte an diesem Haken eine schwere Lampe gehangen haben. Jetzt gab es eine Ne-onröhre daneben.

War der Mann ein Selbstmörder? Wie hatte er es gemacht? Eben-falls mit dem Stuhl? Wie lange war er schon tot?

Die Frau schien mich gar nicht zu bemerken, obwohl ich nur zwei Schritte entfernt stand. Sie tat ganz so, als wäre sie mit dem Toten allein.

Sie säbelte an dem Strick herum. »Herrje, ist das Zeug zäh. Hättest auch einen anderen Strick neh-

men können. Ich habe einfach nicht mehr so die Kraft. Warum machst du mir solche Umstände?«

Ja, die Frau wirkte irgendwie krank, näher betrachtet. Ihr Blick war leer, ihre Gesichtszüge streng, das Gesicht bleich und eingefal-

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len. Endlich hatte sie es geschafft. Der Strick barst, die Leiche fiel her-

ab, gegen den Stuhl und gegen die Beine der Frau. Der Stuhl kippte um. Ich wollte hinzuspringen, um die Frau aufzufangen, aber ich war

zu langsam. Die Frau fiel ebenfalls zu Boden. Eigentlich hätte sie sich bei diesem Sturz mindestens einen Arm

brechen müssen, aber sie stand sofort wieder auf und widmete sich dem Toten. Erst einmal nahm sie den Strick von seinem Hals.

»Na, komm schon, steh auf! Oder soll ich dich vielleicht zum Friedhof tragen? Mich trägt auch keiner, und ich bin schließlich ge-nauso tot wie du!«

Ich schluckte unwillkürlich. Was war das gewesen? War denn die Frau nicht mehr bei Ver-

stand? Ja, so benahm sie sich. Anscheinend machte es ihr über-haupt nichts aus, daß ihr Mann sich erhängt hatte.

»Los, los!« schimpfte sie wieder mit ihm und rüttelte an der Schulter des Toten.

Er grunzte laut vernehmlich und bewegte ein wenig den Kopf: Es krachte laut in seinem Genick. Deshalb stoppte er die Bewegung.

»Endlich!« rief die Frau aus und lachte erfreut. Sie trat zurück. Der Tote bewegte sich ungelenk. Er stand auf. »Sind wir schon spät?« grollte er. Die Frau krächzte: »Gewiß! Wie immer. Du mußt ja immer der

letzte sein. So warst du als Lebender und so bist du als Toter!« Sie hängte sich bei ihm ein. Die beiden gingen genau auf mich zu. Das personifizierte Grauen. Ich drückte mich fest an die Gangwand. Kurz war mir, als würden sie mich erstaunt mustern, aber sie

zeigten kein Erkennen und verließen das Haus. Das Licht blieb brennen.

Draußen unterhielten sie sich lautstark miteinander. Ihre Laune wurde von Sekunde zu Sekunde besser.

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Ich fühlte mich wie betäubt. Sollte ich ihnen folgen? Ich beschloß etwas anderes: Ich stieg die Treppe hinauf in den

ersten Stock. Meine Knie waren butterweich. Ich hatte schon viel erlebt, aber das hier… Auch oben brannte das Licht. Die tote Frau hatte offenbar den

Zentralschalter betätigt – für das ganze Treppenhaus. Die Wände waren fleckig. Sie hätten einen neuen Anstrich ge-

braucht. Auf dem Gang stand ein Spielzeugauto. Ein Rad fehlte. Der Kipper bestand aus zwei noch lose zusammenhängenden Tei-len. Am Ende des Ganges lagen ein Haufen Papierschnipsel und eine bunte Kollektion von Malstiften.

Das deutete einwandfrei auf Kinder hin. Ich öffnete die erste Tür, leise, um niemanden zu wecken. Falls

überhaupt jemand da war. Hoffentlich Lebende! dachte ich zerknirscht. Zwei Leichen hatten auf eigenen Beinen das Haus verlassen. Ich

war Zeuge davon geworden, wie die Frau ihren erhängten Mann abgeschnitten hatte, wie er zu einem unnatürlichen Leben erwacht war.

Hier mußte ich mit allem rechnen! Es fiel zuwenig Licht in den Raum dahinter, um genug erkennen

zu können. Ich suchte den Lichtschalter. Diesmal fand ich ihn auf Anhieb. Ich ließ das Licht aufflammen. Das hätte ich besser nicht getan! Die beiden Kinder lebten nicht mehr: grausam im Schlaf ermor-

det!

*

Zwei ermordete Kinder, ja, und die ebenfalls toten Eltern waren auf dem Weg zum Friedhof, um das Gräberfest zu feiern. Noch maka-berer war es kaum denkbar.

Wer hatte dies hier getan? Es war ein so greulicher Anblick, daß es mir den Magen hob.

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Der Vater selbst, ehe er sich erhängte? War die Frau als erste ge-storben? Hatte der Mann keinen anderen Ausweg mehr gewußt?

Meine Gedanken jagten, daß es mir schwindelte. Und da schlug eines der Kinder die Augen auf: tote Augen! Es lä-

chelte mich an. Aber das war eher eine starre Horrormaske. Ich konnte es nicht mehr ertragen und schlug die Tür zu. Sekundenlang stand ich im Treppenhaus. Ich hatte Mühe, meine

Gedanken zu ordnen. Ich hatte keine Angst vor den beiden, aber ich befürchtete, sie noch einmal sehen zu müssen. Vielleicht stan-den sie auf und kamen heraus?

Der Schlüssel steckte von außen. Ich drehte ihn zweimal im Schloß, um ganz sicher zu gehen.

Drinnen tat sich nichts mehr. Doch, jetzt knackte der Lichtschalter! Drinnen wurde es wieder

dunkel. Kein weiteres Geräusch. Mit hämmerndem Herzen ging ich zur nächsten Tür und riß sie

auf. Das kostete mich viel Überwindung. Es war nur die Besenkammer. Noch eine Tür: Das Elternschlafzimmer. Die Betten waren zer-

wühlt. Medikamente überfüllten den einen Nachttisch so, daß sie teilweise auf den Boden gefallen waren.

Eindeutig die Lagerstätte einer Todkranken. Also lag ich mit meiner Theorie über die Vorgänge in diesem

Haus richtig? Ein Einzelfall in diesem wahrhaft höllischen Dorf? Ich hatte hier nichts mehr verloren. Deshalb stieg ich die Treppe

hinunter und verließ das Haus. Auf dem Dorfplatz war es ruhig geworden. Es fehlten auch ein

paar Autos, als hätten nicht alle den Weg zum Friedhof zu Fuß ge-macht.

Ich würde jetzt ebenfalls zum Friedhof gehen. Als ich den Dorfplatz überquerte, hörte ich Schritte hinter mir. Ich

schaute zurück: niemand zu sehen. Ich ging weiter, aber da waren die Schritte wieder. Ein Unsichtba-

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rer! Ich ging schneller. Doch das nutzte mir nichts. Einmal war mir,

als würde ich eisigen Atem in meinem Nacken spüren. Doch ich erreichte unbehelligt den im blassen Mondschein liegen-

den Friedhof. Dort fand genau das Gegenteil von einer ordentlichen Beerdigung

statt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Bei einer ordentlichen Beerdi-gung verharrte die Gemeinde in stummer Trauer. Es werden sogar Tränen vergossen. Der verehrte Leichnam wird in die Erde hinab-gelassen.

Hier war es umgekehrt. Alles lief haargenau anders: Eine laute, fröhliche, ausgelassene Menschenherde ersetzte die Trauergemein-de. Außerdem wurde der verehrte Leichnam nicht etwa begraben, sondern im Gegenteil ausgebuddelt!

Ich sah es mit eigenen Augen. Die Totengräber schaufelten, bis der Sarg freigelegt war. Ein alter Sarg. Sie mußten vorsichtig sein, damit das verfaulte Holz nicht brach und Erde in das Innere ge-langte.

Mit vereinten Kräften hoben sie den Sarg mitsamt Inhalt herauf. Viele hilfreiche Hände machten die Arbeit leicht. Sie stellten den Sarg neben das geöffnete Grab.

Es war ähnlich wie bei einer Exhumierung, wenn sie von den Leuten vom Gericht vorgenommen wurde. Nur ging es bei denen nicht so fröhlich zu.

Der Deckel wurde entfernt. Lachen und Scherzen. Einer erzählte einen deftigen Witz. Mir stellten sich dabei unwillkürlich die Nackenhaare. Es war die

grausigste Szene, die ich jemals erlebt hatte. Der Tote lachte jetzt auch: Grollend drang es aus dem geöffneten

Sarg. Er richtete sich in seinem Sarg auf. Ein grauenvoller Anblick, denn dieser Tote hatte gewiß schon ei-

nige Jahre unter der Erde gelegen. Außerdem stank es gotterbärm-lich.

Abermals das grollende Lachen.

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Die Dörfler quittierten das mit einem begeisterten Applaus. Es war das erstemal seit meinem Hiersein, daß ich nach dem Ta-

lisman griff, den ich mir vorsorglich eingesteckt hatte, das eiserne keltische Henkelkreuz, weil Sir Horatio immer noch meinen Krif von unseren Laborknechten untersuchen ließ.

Bis jetzt hatte es keinen direkten Grund gegeben, das Kreuz aus der Tasche zu holen. Ich war niemals direkt angegriffen worden, außer von den Käfern.

Aber jetzt war es mit meiner Beherrschung vorbei: Ich würde die-ses Spiel nicht mehr länger mitspielen. Ich würde etwas dagegen tun.

Das Henkelkreuz war uralt und äußerst wirkungsvoll in der Ma-gie, vor allem, wenn man gelernt hatte, damit umzugehen. Ich hatte es gelernt! Fest umklammerte ich den eisernen Gegenstand mit der linken Hand. Ich betrachtete ihn kurz und konzentrierte mich auf die magischen Formeln, die vielleicht dazu paßten.

Es waren Formeln aus der längst vergangen Sprache der Druiden. Man sagte den Druiden nach, daß sie einst das Böse völlig verbannt hatten. Aber dann verschwanden sie selbst, und das Böse konnte nach und nach wieder zurückkehren.

Ich war bereit und löste mich aus der Deckung. Langsam ging ich auf die wahnsinnige Feiergemeinde zu.

Der Leichnam war vollends seinem Sarg entstiegen. Die anderen umringten ihn und fragten verdrehterweise nach seinem ›Wohlbe-finden‹.

Angeblich hatte er sich noch niemals besser gefühlt! Gleich war ich bei ihm. Ich hatte mir vorgenommen, ihn die äu-

ßerst unangenehme Bekanntschaft mit dem Kreuz machen zu las-sen.

Erst als ich den Ring um den vermoderten Toten erreichte, wurde man aufmerksam auf mich. Sie machten mir bereitwillig Platz.

Das hätte mir eine Warnung sein müssen. Aber für mich gab es kein Zurück mehr.

Ich erreichte den Toten und sagte die mächtigen Formeln auf. Sie

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wirkten gegen das Böse. Ich wußte es aus guter Erfahrung. Ich hielt dem Untoten auch das Kreuz entgegen. Grollend betrachtete er es. Er schien sich zu wundern, sofern man

in einem halbverfaulten Gesicht lesen konnte. Grollend griff er danach. Freiwillig! Meine Beschwörungsformeln ignorierte er einfach. Er grunzte zufrieden, als er das Henkelkreuz in der Hand hielt.

Von allen Seiten betrachtete er es. Abermals das widerliche Grunzen. Der Ring der Umstehenden schloß sich wieder. Ich warf mich herum. Lauter lachende, hämisch lachende Gesichter. Schwer legte sich die Hand des Toten auf meine Schulter.

*

»Danke!« grollte es hinter mir. »Du bist der einzige, der mir so ein schönes Geschenk zur Wiedererweckung brachte!«

Das war der absolute Wahnsinn: Ich hatte mit dem Henkelkreuz den Untoten erledigen wollen, und er hielt es seinerseits für ein brüderliches Geschenk.

Der Talisman hatte nicht die geringste Wirkung auf ihn! Genauso-wenig wie die Beschwörungen.

Die Umstehenden brachen in einen unbeschreiblichen Jubel aus. Sie feierten mich wie einen besonderen Gönner.

Unter ihnen sah ich auch den Erhängten mit seiner toten Frau. Ich gesellte mich zu ihnen. Niemand hatte etwas dagegen.

»Was ist mit euren Kindern?« fragte ich zerknirscht. Die Frau lächelte verklärt. Sie schaute zu ihrem Mann auf, der mit

verrenktem Genick neben ihr stand. »Es geht ihnen gut, seit er sie vom Leben befreite.« Das Krächzen

ihrer Stimme ging mir durch und durch. »Uns allen hier geht es gut, nicht wahr?«

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Der Erhängte brummte zustimmend. Seine hervorquellenden Au-gen stierten in meine Richtung.

Tote Augen, wie Glasmurmeln, nicht die Augen eines lebenden Menschen!

Ich wich unwillkürlich zurück. Da bewegte sich die Erde unter meinem Fuß. Etwas brach aus

dem Boden herauf, und ich behinderte es. Schleunigst zog ich den Fuß zurück. Dieses Etwas grub sich aus, wie ein Maulwurf, der zur Oberfläche

stieß. Aber es war kein Maulwurf, sondern eine – menschliche Hand!

Sie war halb verwest. »Ah!« riefen die Umstehenden erfreut und sahen der halbverwes-

ten Hand zu. Sie grub emsig. Zwei Totengräber eilten hinzu und halfen der Hand, indem sie

die Erde beiseite schaufelten. Bald hatten sie den Arm befreit. Ein dumpfer Laut drang aus dem

Boden. Sie befreiten den Rumpf des Leichnams. Der Kopf fehlte! Und das dumpfe Rufen kam von weiter unter-

halb. Die Totengräber taten ihr Bestes und fanden auch den Kopf. Bevor der Leichnam sein feuchtes Grab verließ, nahm er den Kopf

in beide Hände und setzte ihn sich selbst auf. Das Volk klatschte anerkennend. Man zog den vermoderten

Leichnam ganz ins Freie. Dies alles war erst der Anfang. Auch andere hatten sich mit

Werkzeug bewaffnet und begannen jetzt zu graben. Sie gruben ihre Toten aus. Das war ihr Gräberfest. Und sie sangen fröhliche Lieder dabei. Einige tanzten ausgelassen zwischen den geöffneten Gräbern herum.

Ich betrachtete all diese fröhlichen Menschen. Waren es denn wirklich – Menschen? Waren es nicht vielmehr

auch – Untote?

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Tote, zu unnatürlichem Leben erwacht? Ihr Lachen war maskenhaft. Einige waren darunter, die grausige

Verletzungen aufwiesen. Wie die Frau aus der Sargschreinerei. Ein Paradies der Untoten, aber für jeden Lebenden die reinste

Hölle. Alle Verschwundenen waren von der unheimlichen Macht hergelockt worden. Diese Macht inszenierte dies alles.

Ich konnte mir nicht vorstellen, daß auch nur ein einziger der Verschwundenen das Spiel der Untoten überlebt hatte. Ich schaffte das auch nur, weil ich meine ›Gabe‹ einsetzte. Auf mich wirkte das Grauen an sich, aber nicht die unheimliche Macht, die hinter allem steckte. Es war ihr nicht gelungen, Gewalt über mich zu erhalten. Bis jetzt jedenfalls nicht.

Wäre ich jetzt einfach davongelaufen, hätte das niemandem etwas genutzt. Das war mir klar. Das Dorf wäre hinter mir verschwun-den, und in der Zukunft wären noch weitere Unschuldige in diese grauenvolle Falle gelockt worden.

Immer nur Einzelpersonen, wie ich wußte. Ich schüttelte erschüttert den Kopf. Immer mehr Leichen hatte man inzwischen ausgegraben. Die Lei-

chen waren selber sehr aktiv, denn sie halfen ihren Befreiern. Eine hatte schon ziemlich lange unter der Erde gelegen, wie mir

schien. Man fand nur Einzelteile, und damit hatte man einige Mühe. Das eine paßte nicht so recht zum anderen.

Immer wieder beratschlagten die Totengräber. Endlich fanden sie den Kopf, und der konnte ihnen die entschei-

denen Ratschläge geben… Das war der Zeitpunkt, an dem ich sozusagen durchdrehte. An-

ders kann man es nicht mehr nennen. Ich war zu dem Schluß ge-kommen, daß die Macht auf mich bis jetzt keinen Einfluß ausübte. Auf der anderen Seite jedoch hatte ich genausowenig eine Chance, etwas gegen das zu tun, was hier vorging.

Eine Pattsituation, ein Unentschieden. Ich würde alles erleben, was in diesem Dorf vorging, aber ich

konnte überhaupt nichts dagegen tun. Die Gefahr würde bestehen-

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bleiben, ob ich nun dabei war oder nicht. Deshalb wollte ich es zwingen! Mit lauter Stimme betete ich eine lateinische Litanei, geschickt

verwoben mit goritischen Begriffen des Guten. Ich wollte das Böse, das hier offensichtlich wirkte, ganz direkt bekämpfen, mitten unter den Untoten, den geöffneten Gräbern und den schaurigsten Sze-nen, die sich ein Mensch denken konnte.

Es war die einzige Möglichkeit, die mir noch blieb. Ich lief umher und brüllte den Untoten Formeln in die Fratzen. Einer der Untoten stellte sich vor mich hin und machte: »Na, na!«

Er drohte mit dem sauber von Würmern abgenagten Zeigefinger und tadelte: »Wer wird sich denn so schlecht benehmen?«

Ich stand vor ihm, mit hängenden Schultern, schwankend wie ein Schilfhalm im Wind.

Der helle Wahnsinn, das war das hier. Jetzt würde es mich genau-so erwischen wie all die anderen. Ich glaubte es nicht, sondern ich wußte es! Meine ›Gabe‹ sagte es mir.

Ich hatte den Bogen überspannt und war daher aus meiner Neu-tralität entlassen.

Schließlich hatte ich alles dafür getan. Jetzt bekam ich die Quit-tung präsentiert.

Ich stierte auf den halbfertigen Untoten, an dem sie immer noch verschiedene faulige Einzelteile anprobierten.

»Na, na!« tadelte auch dieser mit erhobenem Zeigefinger. Der lös-te sich prompt und fiel zu Boden.

Einer der Totengräber schüttelte den Kopf. »Er hat ganz recht, Fremder: Du störst! Merkst du das eigentlich nicht selber? Der arme Kerl hat lange genug unter der Erde gelegen. Schließlich wol-len wir alle zusammen noch feiern, wie?«

Ringsum stimmte man ihm zu. Eine Frau schrie schrill: »Immer diese Lebenden. Die reinsten

Spielverderber. Sie verstehen es einfach nicht, die Feste zu feiern, wie sie kommen. Ein Greuel ist es mit ihnen.«

Einem anderen kam anscheinend die Erleuchtung: »Man könnte

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dem sehr rasch abhelfen!« »Abhelfen?« fragten sie ihn im Chor. Ich ahnte, was gemeint war, und schaute mich mit gespreiztem

Nackenhaar um. Nicht, daß sie jetzt eine drohende Front gegen mich gebildet hät-

ten. Ganz im Gegenteil: Sie gaben sich überaus nett, freundlich, lachten mich an, auch wenn manchmal Augen und Zähne fehlten…

Sie freuten sich auf mich, wie auf jemanden, den man lange ent-behrt hatte und der jetzt endlich zu ihnen gehören würde. .

Ja, als einer der Ihrigen. Als ein Toter nämlich! Mir stockte der Atem. Sie rückten näher. Einer hatte lange Fingernägel, die er jetzt wie

Krallen wirken ließ. Er fletschte die scharfen Zähne. »Richtig«, knurrte er. »Machen wir eben aus einem ängstlichen

Lebenden einen fröhlichen Toten, nicht wahr?« Alle schrien begeistert. Ich und ängstlich? Ganz im Gegenteil: Das nackte Grauen hockte

mir im Nacken! »Auf ihn!« grollte der Tote, der immer noch nicht ›fertig‹ war. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Ich sprintete los, einfach mitten hinein in die Menge, schlug wie

ein Wahnsinniger um mich, traf mit den Fäusten verfaulte Gesich-ter, hieb sie beiseite…

Eine Lücke entstand. Tatsächlich! Ich rannte hindurch. Anscheinend war der Überraschungseffekt ganz auf meiner Seite? Schon glaubte ich mich erfolgreich, noch bevor die Hatz auf mich

überhaupt begonnen hatte. Das Lachen und Grölen der Menge hätte mich stutzig machen sol-

len. Denn sie dirigierten meine Richtung, ohne daß ich es zunächst merkte. Sie ließen mich freiwillig hindurch, und ich tappte haarge-nau in ihre Falle.

Als ich schon glaubte, den stinkenden Haufen hinter mir zu ha-ben, fiel ich haargenau in ein frisch geschaufeltes Grab.

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Das hieß, eigentlich war es ein altes, das man wieder geöffnet hat-te.

Der Leichnam war noch da. Er hockte in seinem zusammengebro-chenen Sarg und befreite sich vorsichtig von Erdkrumen, die seine Wurmlöcher verstopften.

Ich fiel auf ihn drauf. Kameradschaftlich grollend nahm er mich in seine modrigen

Arme und drückte mich mit aller Kraft an seine tote Brust…

*

Ich wollte mich gegen die tödliche Umarmung wehren und stram-pelte verzweifelt.

Der Untote hatte übermenschliche Kräfte. Dagegen konnte ich nicht das geringste ausrichten.

Mein Gesicht war an seinem Gesicht. Sterne tanzten vor meinen Augen. Die Luft ging mir aus.

Das war ein Griff wie ein riesiger Schraubstock. Mir wurde raben-schwarz vor den Augen.

Es war aus mit mir. Daran zweifelte ich nicht mehr. Und dann war der Druck weg, von einem Augenblick zum ande-

ren. Der Tote grollte enttäuscht. Seine Arme glitten von mir ab. Was war geschehen? Es dauerte Sekunden, bis ich die Situation begriff – und was mich

gerettet hatte. Tief saugte ich die Luft in meine Lungen. Ich sprang auf. Alles

drehte sich um mich. Der Tote hockte vor mir: Beide Arme hatten sich aus den Schul-

tergelenken gelöst. Er war schon viel zu lange tot gewesen. Diese Anstrengung hatte er nicht mehr verkraften können.

Mein Glück. Wenn man überhaupt von Glück reden konnte, so umringt von

lauter Untoten, denen es ein Vergnügen bereitete, mich zu Ihres-

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gleichen zu befördern, nämlich vom Leben zum Tode! Aber ich hatte jetzt wirklich den Überraschungseffekt auf meiner

Seite. Mit einer solchen Wende hatte niemand gerechnet. Einer hatte Erbarmen mit dem Untoten und paßte ihm wieder die

abgerissenen Arme an. Beruhigend tätschelte er die vermoderten Schultern. Das hätte er allerdings besser nicht getan, denn es löste sich dabei ein Stück.

Ich bekam das nur am Rande mit, denn mit einem einzigen Satz hechtete ich aus dem Grab, das beinahe das meinige geworden wäre, und hetzte davon.

Viele Hände griffen nach mir, um mich doch noch aufzuhalten. Aber sie schafften es nicht. Ich war schneller als sie.

Und dann hatte ich die ganze Menge hinter mir. Sie schrien begeistert durcheinander. Jetzt vergaßen sie sogar ihr

Gräberfest, denn sie schrien nach meinem Blut und nach meinem Leben. Es bereitete ihnen unbändiges Vergnügen, auf mich Jagd zu machen.

Ich rannte buchstäblich um mein Leben. Die Meute war sehr dicht hinter mir.

Ich stolperte und wäre beinahe hingefallen. Im letzten Moment fing ich mich. Schon waren sie heran und griffen nach mir. Knapp entschlüpfte ich ihnen und rannte weiter. Über die Dorfstraße ging die Jagd. Eine Seitenstraße. Ich bog ab. Die Meute johlte laut. Sie teilte sich. Es waren genügend. Sie konnten es sich leisten, sich zu teilen und

zu versuchen, mich in die Zange zu nehmen. Noch eine Seitenstraße. Ich bog abermals ab. Mein Pech, daß ich mich so schlecht in dem höllischen Dorf aus-

kannte, denn jetzt kam mir ein Teil der Verfolger entgegen! An-scheinend hatten sie eine Abkürzung gefunden.

»Verdammt!« fluchte ich und stieß die nächstbeste Haustür auf. Gottlob war sie nicht abgeschlossen gewesen.

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Ich hetzte durch einen dunklen Gang und stolperte über ein Bün-del, das am Boden lag.

Ich hatte keine Ahnung, was es war. Es interessierte mich auch gar nicht. Hauptsache, es packte nicht nach mir. Ich konnte weiter, bis zu einer Tür.

Ich wollte auch sie aufstoßen. Ging nicht! Verzweifelt rüttelte ich am Türknauf. Da kam sie mir entgegen! Ich mußte sie aufziehen, denn sie ließ

sich nur in meine Richtung öffnen! Schon war ich hindurch. Irrte ich mich, oder war das schreckliche Gejohle auch hinter dem

Haus? Vor dem Haus waren sie jedenfalls schon. Die ersten hatten die

Haustür erreicht, als ich durch die Küche rannte. Keine Hintertür. Ich saß in der Falle. Es gab zwei Fenster. Beide waren verschlossen. Es blieb mir keine Wahl. Es ging um mein Leben. Deshalb nahm

ich ordentlich Anlauf und sprang mit eingezogenem Kopf gegen die Scheibe.

Sie zerbarst in tausend Scherben. Wer hätte das gedacht, daß es auch tatsächlich funktionierte? Die Scherben, die im Rahmen steckenblieben, schlitzten meinen

teuren Anzug auf. Aber der war sowieso längst verdorben. Wenigs-tens blieb ich ansonsten heil.

Ich krümmte mich vor dem unvermeidbaren Aufprall draußen zusammen. Ich wußte nicht, was mich erwartete.

Harter Steinboden nahm mich auf. Ich machte eine Rolle vorwärts und sprang auf die Beine.

Das Licht war sehr dürftig. Es kam zu wenig von der Parallelstra-ße zu mir herüber.

Dafür um so mehr Gejohle. Das war es, was ich drinnen gehört hatte. Sie suchten noch einen Weg, um zu mir zu gelangen.

Ich lief über den Hof, bemüht, mir durch das herumliegende Ge-

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rumpel nicht das Genick zu brechen. Eine halbhohe Mauer. Ich sprang hinauf, mit einem einzigen Satz,

und wollte auf der anderen Seite wieder hinunter. Zwei standen schon bereit. Sie streckten die Arme aus. »Na los, Kumpel, spring ruhig!« Darauf fiel ich nicht rein. Ich wußte genau, wie sie es meinten. Sie

gehörten zu den anderen. Ja, ich kam zu ihnen hinunter, aber ganz anders, als sie es sich

vorgestellt hatten: Dem einen landete ich genau auf dem Schädel. Der brach unter mir zusammen.

Der andere wollte nach mir greifen. Ich hämmerte ihm meine Faust an die Kinnspitze und entwischte

ihm. Groß wurde mein Vorsprung allerdings nicht. Die verdammten

Untoten konnten ordentlich etwas einstecken. Mit lautem Gelächter folgten sie mir.

»He, der ist ganz schön schnell, was?« rief einer dem anderen fröhlich zu.

»Das ist vielleicht ein Spaß!« behauptete der zweite. Das konnte ich nun wirklich nicht teilen! »So etwas hatten wir hier noch nie!« Glaubte ich ihm aufs Wort. Schließlich war ich das erstemal im

Dorf! Da ging es lang, zur Straße. Dort sah ich im Moment niemanden.

Deshalb hetzte ich hin. Ich blieb abrupt stehen. Das hatten meine beiden Verfolger nicht

erwartet. Sie liefen auf. Ich packte sie und gab ihnen einen kräftigen Stoß.

Beide taumelten auf die Straße hinaus. Ich rannte ein Stückchen zurück, zum Garagentor. Es stand einen

Spaltbreit offen, wie ich vorher bemerkt hatte. Von überall liefen die Untoten herbei. Von beiden Seiten der Stra-

ße und auch von drüben, von der Parallelstraße. Man hatte ein Loch gefunden. Die ersten kletterten bereits über die Mauer.

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Ich saß hoffnungslos in der Falle. Aber ich gab nicht auf. Ich riß die Garagentür ganz auf. Da stand es: ein Auto! Ich hatte mich nicht getäuscht. Ich lief zur Fahrertür und öffnete. Meine beiden Verfolger standen immer noch auf der Straße und

schlugen sich kreischend vor Vergnügen auf die Schenkel. Alle amüsierten sich köstlich, außer mir, um dessen Leben es ging.

Sie folgten mir aber nicht in die Garage. Vielleicht hätte es mich mißtrauisch machen sollen? Einer deutete hinein: »Da drinnen ist er, hahaha!« Eine Frau kam in mein Blickfeld, als ich mich hinter das Steuer

klemmte. »Der ist vielleicht dumm!« Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

»Wieso wehrt er sich eigentlich mit aller Kraft?« »Vielleicht, weil ihm das Spiel genauso Spaß macht wie uns?«

vermutete jemand. Die Front schloß sich vollends. Die Garage war umstellt, die Aus-

fahrt vorn total geschlossen. Ich fand den Zündschlüssel und drehte ihn. Ganz schön leichtsinnig, seinen Wagen hier so stehenzulassen!

dachte ich unwillkürlich. Andererseits: Wer sollte im Höllendorf ein Auto stehlen? »Ich!« knurrte ich mißmutig. Der Motor kam auf Anhieb! Es war das schönste Geräusch seit

langem. »Ich komme, ihr verdammten Untoten!« Ich legte den ersten Gang ein und gab Vollgas. Gleichzeitig ließ

ich die Kupplung schnellen. Der schwere Wagen machte einen mächtigen Satz nach vorn,

schoß wie eine Rakete aus der Garage, direkt auf die Front aus Un-toten zu.

Keiner wich auch nur um einen Zoll. Schon wollte ich den Fuß wieder vom Gaspedal nehmen, eine

ganz automatische Reaktion. Niemand bringt es fertig, einfach auf

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eine Menschenfront zuzurasen. Aber das waren keine Menschen, sondern Höllenbestien! Recht-

zeitig entsann ich mich dessen. Und auch, daß sie mich umbringen wollten, mit vereinten Kräften.

Damit ich genauso eine Bestie wurde! Der Wagen krachte mitten in die geschlossene Front hinein. Die hörten gar nicht auf, sich zu freuen. Sie wirbelten im hohen Bogen durch die Luft. Die Karosserie vorn

schob sich zusammen. Der Motor gab ein eigenartiges Bullern von sich, funktionierte aber immer noch und trieb das Fahrzeug weiter an.

Schlitternd kam der schwere Wagen frei. Ich hatte es kaum zu erhoffen gewagt und doch war es gelungen:

Mit schreienden Pneus raste ich in die Nacht hinein. Die Untoten waren hinter mir. Ich hatte ihre tödliche Falle verlassen.

»Frei!« brüllte ich aus Leibeskräften. »Ich bin frei!« Doch die Untoten rappelten sich unbeschadet auf und hüpften

vergnügt umher. Das paßte einfach nicht ins Bild. Schließlich war ich ihnen doch

entronnen, oder? Ich raste weiter, bog mit kreischenden Reifen in eine Kurve. Im-

mer weiter, weg von dem Ort des Schreckens. Ja, wieso freuten die sich so? Wieso ärgerten sie sich nicht dar-

über, daß ich entwischt war? Ich schaute in den Rückspiegel. Keiner machte Anstalten, die Ver-

folgung aufzunehmen. Weder zu Fuß noch mit einem anderen Auto. Und Autos hatten die doch noch genug, nicht wahr?

Ich dachte wieder an den Zündschlüssel. Hatte griffbereit ge-steckt.

Nicht nur, daß der Wagen total startbereit da gestanden hatte… Reiner Zufall?

Daran glaubte man nicht. In meinem Beruf jedenfalls nicht! Ge-hetzt schaute ich umher. Nichts und niemand zu sehen. Scheinbar

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hatte ich wirklich alles hinter mir gelassen? Kein Untoter mehr auf der Straße. Ich raste wie ein Wahnsinniger durch das Dorf. Ich lauschte.

Nur das Donnern des Motors. Wahrscheinlich war die Auspuff-anlage abgerissen. Die Motorhaube stand so hoch, daß sie die Sicht behinderte.

Trotzdem, ich würde es auch so schaffen, das Höllendorf zu ver-lassen.

Noch mehr Gas, daß ich gerade noch mit Mühe und Not die nächste Kurve schaffte.

Verdammt, das Dorf war doch größer, als ich ursprünglich ange-nommen hatte.

Der Dorfplatz. Die Autos der Verschwundenen. Jedenfalls ein Teil davon. Auch

hier niemand zu sehen. Kein Untoter, nichts. Und in diesem Au-genblick legte sich mir von hinten die eiskalte Hand auf die Schul-ter!

*

»Klasse, wie du fahren kannst!« sagte eine weibliche Stimme. Sie schnalzte mit der Zunge. »Kann man glatt vor Neid

erblassen!« Ich wagte es nicht, den Kopf zu wenden, nicht einmal, in den

Rückspiegel zu sehen, um mich zu vergewissern, daß außer dem Mädchen keiner da war.

Leider vergaß ich in meinem Schrecken auch, ein wenig vom Gas herunterzugehen oder wenigstens zu bremsen, denn für die nächs-te Kurve war ich einfach zu schnell.

Ich raste hinein. Die Pneus kreischten, daß es in den Ohren schmerzte. Der Wagen brach seitlich aus. Es zerrte im Steuer. Ich hatte Mühe, es zu halten.

Die linken Räder krachten gegen die Bordsteinkante. Für einen Sekundenbruchteil sah es so aus, als würde sich das Auto über-

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schlagen. Der Wagen tat einen Satz und landete auf dem Bürgersteig. Er

raste gegen die Hausfassade, schrammte daran vorbei. Ein Höllen-lärm entstand.

Das Auto bekam eine neue Richtung und prallte auf die Straße zurück.

»Yeah!« rief das Mädchen begeistert – wie ein amerikanischer Cowboy beim Rodeo: »Yeah!«

Es schien ihr unbändiges Vergnügen zu bereiten. Ich hatte das Auto wieder einigermaßen im Griff, aber die Räder

hatten einen gehörigen Schlag weg. Genauso die Achsen. Es kreischte und krachte, als ich weiterfuhr.

Trotzdem gab ich wieder Gas, denn da vorn war das Dorf zu Ende!

Nur raus aus dem Ort. Nur weg von hier. Dies allein zählte noch für mich. Ich hatte allein keine Chance gegen die Übermacht der Untoten.

Mir war egal, wie das Auto aussah. Wenn auch der Qualm von den Rädern aufstieg.

Das Mädchen hieb mir kräftig auf die Schulter und versicherte immer wieder; »Du bist ein wahrer Wahnsinnsknochen, Mann!«

Eine erfrischende Ausdrucksweise zwar, aber es ließ mich kalt: Ich hatte kapiert, daß mich das Mädchen nicht aufhalten wollte. Wer es auch war und was immer sie in diesem Auto zu suchen hat-te: Ich hatte beinahe mit meinem Leben abgeschlossen, und jetzt gab es anscheinend keine Probleme mehr.

Ich mußte nur weiterfahren, über die Grenze des Dorfes hinaus und dann nichts wie weg…

Ich knirschte mit den Zähnen. »Du willst also mit mir abhauen?« »Ja, das tu' ich, Fremder!« »Wie bist du hergekommen? Was hast du im Dorf zu suchen?« »Ich bin ein Opfer, genauso wie du. Deshalb bin ich froh, daß du

mich mitnimmst.« »Was weißt du?«

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»Viel!« erklärte sie einsilbig. Und dann, lachend: »Schließlich bin ich Norma!«

Mit donnerndem, kreischendem und qualmendem Fahrzeug er-reichte ich den Ortsausgang. Es sah so aus, als würde das Auto je-den Augenblick in die Luft gehen.

Das Risiko mußte ich eingehen! Die Geschwindigkeit, die der Wa-gen noch entwickelte, reichte jedenfalls aus. Ich wäre bei jeder Ver-kehrskontrolle aufgefallen. Ich gab Vollgas. Der Motor gab alles her, was er konnte.

Der Ortsausgang. Ich konnte es kaum glauben. Hier ging's in die Freiheit. Das Auto schoß mit unverminderter Geschwindigkeit über die

Ortsgrenze hinweg und stieß in unsichtbare Watte. Ich wurde nach vorn gerissen. Da ich nicht angeschnallt war,

krachte ich beinahe mit dem Kopf durch die Scheibe. Ich begriff zunächst gar nicht, wie mir geschah. Das Auto wurde abgebremst, ganz gehörig sogar. Wie war das

möglich? Blockierten nur die Räder, jetzt endgültig? Das war es nicht. Und Norma hinter mir kicherte. Wie bitte?

Klang das etwa schadenfroh? Wieso eigentlich? Ich machte Bleifuß. Der Motor röhrte. Die Räder radierten über

den Asphalt. Ein schriller Laut, der mich halbtaub machte. Doch es ging nicht weiter vorwärts, sondern eher rückwärts. Die

unsichtbare Wattemauer war nicht zu überwinden. »Verdammt!« fluchte ich wiederholt, obwohl das normalerweise

gar nicht mal meine Art war. Rückwärtsgang, Wagen zurücksetzen, wenden. Der Wagen schlitterte über den Asphalt und raste ins Dorf zu-

rück. Gut, vielleicht war das unsichtbare Hindernis nur an dieser einen Stelle? Vielleicht gab es noch einen anderen Ausweg?

Die nächste Seitenstraße hinein, wieder geradeaus, und Vollgas. Bald würde ich wieder am Ortsausgang sein, an anderer Stelle. Norma lachte schallend. Sie hieb vor Vergnügen auf der Rücken-

lehne des Beifahrersitzes herum.

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Ich beachtete es gar nicht, schaute nur nach vorn. Bald würde ich wissen, ob es einen anderen Ausweg gab, ja, bald!

Nur Vollgas geben und geradeaus. Und da lösten sich die beiden linken Räder: Vorderrad und Hin-

terrad. Sie rollten ohne uns weiter. Der Wagen krachte herunter und rutschte funkensprühend über den Asphalt. Das bremste ihn einseitig ab. Der Wagen begann, sich um sich selbst zu drehen, und verlor die Richtung.

Eine halbe Umdrehung. Dann krachte das Auto mit voller Wucht gegen ein Haus. Ich war einfach zu schnell gefahren.

Das konnte nicht gut gehen. Der Verputz platzte in großer Fläche ab. Auf meiner Seite klemm-

te die Tür. Dampf und Rauch zischten empor. Es knisterte verdäch-tig. Feuer?

»Schnell weg hier!« brüllte ich. Das Auto würde explodieren!

*

Keuchend arbeitete ich mich aus dem Autowrack. Ich wandte kurz den Kopf. Eine bleiche Hand streckte sich mir hilfesuchend entge-gen. Ich ergriff sie. Die Hand fühlte sich kalt an.

»Laß mich nicht im Stich!« flehte das Mädchen. Ich zog sie aus dem Wrack zu mir hin. Sie unterstützte es, gelang-

te ins Freie. Hand in Hand rannten wir vom Autowrack weg. Keine Sekunde zu früh. Kaum waren wir zehn Schritte entfernt,

als das Auto in einer donnernden Detonation verging. Eine Stich-flamme fauchte empor. Uns flogen im wahrsten Sinne des Wortes die Fetzen um die Ohren.

Die Druckwelle schleuderte uns zu Boden und donnerte über uns hinweg. Ich preßte fest die Hände gegen die Ohren und riß den Mund weit auf, um nicht für immer das Gehör zu verlieren.

Danach dröhnte es im Schädel, als hätte ich ihn in eine Kirchen-

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glocke gehalten. Unmöglicher Vergleich! dachte ich zerknirscht. Ausgerechnet eine

Kirchenglocke – in einer solchen Umgebung! In der Tat: Eine Kirche hatte ich hier nirgendwo entdeckt. Ein

Hinweis darauf, daß die hier herrschende Macht von Grund auf ne-gativ war? Und warum hatten meine Beschwörungen nichts ge-nutzt? Und der Talisman?

Meine Glieder schmerzten, als hätte man mich gerädert. Ich stand auf und klopfte Staub aus dem Anzug. Hoffnungslos! Das Ding war für alle Zeiten hin!

Ich hielt nach Verfolgern Ausschau, während in der Nähe das Feuer knisterte: Der Wagen brannte lichterloh – besser gesagt das, was davon übriggeblieben war.

Das Gejohle der Untoten war weit weg. Die Straße war leer, außer uns beiden: Norma und mir.

Zum erstenmal betrachtete ich sie. Norma sah ungewöhnlich gut aus. Sie war schlank und wirkte

durchtrainiert, als hätte sie Frauen-Bodybuilding gemacht und au-ßerdem Tanzunterricht genossen.

Sie lächelte mich an. Geradewegs, als würde ich ihr genauso gut gefallen.

Es verwirrte mich ein wenig, zugegeben. Nicht, daß es bei mir an Selbstbewußtsein fehlte, aber nach allem, was bereits hinter mir lag, machte ich nicht gerade einen positiven Eindruck – als Mann jeden-falls nicht.

Sie legte den Kopf leicht schräg. Dadurch wirkte ihr Lächeln spitzbübisch.

Am liebsten hätte ich sie in die Arme genommen und geküßt, aber rechtzeitig rief ich mich zur Ordnung. Es paßte einfach nicht in diese wahnsinnige Umgebung.

»Norma, eh?« »Genau die bin ich!« hauchte sie. Ja, sie legte es regelrecht darauf an, daß ich sie in die Arme nahm

und…

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Ich tat ihr den Gefallen nicht. Vielleicht war sie nur froh, daß ich sie rechtzeitig aus dem Wrack befreit hatte? Sie wäre jetzt sicherlich tot.

Nein, ein Gentleman nutzt niemals die Situation aus. Ich wäre mir schäbig vorgekommen, hätte ich mich anders als kühl gegeben.

»Ich bin Mac.« »Mac?« »Ja, einfach so, schlicht und ergreifend. Gefällt es dir nicht?« Es

klang härter, als es gemeint war. Verdammt, ich wollte der Kleinen nicht zeigen, wie sehr sie mir

wirklich gefiel. »Doch, Mac, warum nicht? Es gibt schließlich Schlimmeres, nicht

wahr?« Jetzt mußte ich lachen. Seit wie lange mal wieder? »Ich komme von außerhalb!« betonte sie. »Was ist mit dir, Mac?

Ich habe dich am Friedhof gesehen.« »Was war dort?« »Die haben Leichen ausgegraben. Es war entsetzlich.« Ein Fla-

ckern trat in ihren Blick. Sie schlug die Augen nieder. Ihre Stimme zitterte. »Es – es war schrecklich. Ich dachte, den Verstand zu ver-lieren. Aber ich sah dich, und irgend etwas ging von dir aus, das mir half…«

»Und dann?« »Ich suchte ein Auto, um abzuhauen.« Norma sah wieder auf.

»Das Auto, mit dem du zu fliehen versucht hast.« Es klang einleuchtend, aber ich war auf einmal mißtrauisch. »Wieso hast du nicht hinter dem Steuer gesessen?« »Als deine Verfolger kamen, versteckte ich mich hinter den Vor-

dersitzen.« »Bist du denn zu Fuß ins Dorf gekommen?« »Ich – ich bin eine schlechte Autofahrerin. Ich habe mich verfah-

ren. Als plötzlich das Dorf vor mir auftauchte, wo ich überhaupt kein Dorf erwartete, und als ich den Namen des Dorfes las, drehte ich durch. Ich machte eine Vollbremsung. Das Auto landete direkt

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an einem Baum. Total im Eimer!« Gewiß, an dem, was sie sagte, war nichts zu deuteln. Trotzdem…

Meine ›Gabe‹ hatte sich gemeldet, und der vertraute ich mehr als einem schönen Mädchen.

Ich streckte die Hände aus und berührte sie an den Schultern. Sanft drückte ich sie.

Ihre Haltung entspannte sich. Sie lächelte wieder. »Ich habe draußen einen roten MG gesehen.« »Der war mein. Du hast doch nicht etwa…?« »Nein, er ist noch heil.« Sie lachte glockenhell. »Ich kam ins Dorf.

Was hätte ich sonst tun sollen? Da war kein Mensch. Ich folgte dem Lärm und gelangte zum Friedhof. Den Rest weißt du.«

Ich versuchte die ganze Zeit schon, in die Gedanken des Mäd-chens einzudringen. Manchmal gelang es mir mit meiner ›Gabe‹. Leider nicht immer. Jetzt auch nicht. Es gab nicht die geringste Re-sonanz. Als wäre ich völlig allein. Als würde es das Mädchen da vor mir überhaupt nicht geben. Aber ich hielt ihre Schultern, spürte sie deutlich, nicht wahr?

»Wenn wir es schaffen, uns zu meinem MG durchzuschlagen, wird alles wieder gut«, sagte ich sanft.

»Alles?« Sie bedachte mich mit einem seltsamen Blick, irgendwie voller Skepsis. Als wüßte sie Dinge, von denen ich nicht einmal et-was ahnte.

Dinge, die das Dorf und seinen geheimnisvollen Fluch betrafen. Das spürte ich.

»Zu Fuß?« Ich nickte ihr zu, schaute über ihre Schulter hinweg zum Ortsausgang. »Komm!«

Hand in Hand liefen wir los. Ihre Hand war immer noch eiskalt. Aber es war mir egal. Ich konzentrierte mich jetzt nur noch auf den Ortsausgang.

Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Ob ich es diesmal schaffte? War es überhaupt möglich zu schaffen?

Ich quetschte Normas Hand so fest, daß sie aufschrie. »Au!« Unwillkürlich ließ ich die Hand los.

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Da war die Ortsgrenze. Ich rannte dagegen an. Die Straße war eine Sackgasse. Hier war ein Stückchen Wiese. Da-

nach folgten Büsche und noch weiter weg begann der Wald. Die Ortsgrenze bildete kein Hindernis. Schon schnappte ich erleichtert nach Luft. Norma war neben mir.

Ihr Gesicht war kreidebleich. Mir war auf einmal, als würden ihre Augen von innen heraus glühen.

Das Buschwerk. Immer noch kein Hindernis. Ich sprang über die Büsche einfach hinweg. Norma mußte außen

herum. Sie war ein sehr schnelles Mädchen. Der Waldrand. Verdammt! Unsichtbare Kräfte packten mich. Ich schrie auf und kämpfte

mich weiter voran. Die unsichtbaren Kräfte waren viel stärker als ich. Sie hatten so-

gar das Auto aufhalten können. Ich spie Beschwörungsformeln aus. Aber es schien nichts zu geben, was gegen die unsichtbare Macht

half. Nichts, absolut gar nichts. Ich war ihr total ausgeliefert. Selbst als ich gotterbärmlich zu fluchen begann, nutzte es nichts. Ganz im Gegenteil: Die unsichtbaren Kräfte waren jetzt wie Hände, die mich zwickten und versuchten, mir das Fleisch von den Knochen zu rei-ßen.

Ich fiel rücklings zu Boden. Wahnsinnige Schmerzen durchrasten meinen Körper.

Die unsichtbaren Hände waren noch da. Und dann ließen sie wie-der von mir ab.

Ich wußte im Moment nicht, ob das meiner ›Gabe‹ zu verdanken war, die ich unbewußt eingesetzt hatte, oder ob ich einfach nur au-ßer der Reichweite gelangte.

Ich drehte mich auf den Bauch und stemmte mich hoch. Ich schüttelte den Kopf wie ein begossener Pudel.

Norma war neben mir. Sie weinte herzerweichend.

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Ich wandte mich ihr zu, nahm sie in die Arme. Tröstend streichel-te ich ihren Kopf.

»O Mac!« schluchzte sie. Doch dann beruhigte sie sich allmählich. Noch ein tiefer Atem-

zug, ein Seufzer und: »Danke, Mac!« »Ja, ruhig Blut, Mädchen. Wir schaffen das schon. Solange man

lebt, hat man eine Chance.« »Solange man lebt?« Wie eigenartig sie das betonte! Ich lauschte in die Nacht. Im Dorf war es totenstill. Kein Laut au-

ßer dem Säuseln des Windes und dem Knistern des Feuers: das Au-towrack brannte immer noch.

Wieso war es so verdammt still? Was war mit den Untoten los? Wollten sie mich nicht mehr verfolgen?

Ich wollte es nicht glauben. Norma beobachtete mich aufmerksam. Ich ignorierte es und warf

eine»Blick auf meine Armbanduhr: Immer noch eine Minute nach Mitternacht! Die teure Rolex tickte ganz normal, aber die Zeiger wollten nicht mehr weiterrücken.

Als würde die unsichtbare Macht hier die Zeit anhalten! Ich ging ein paar Schritte die Straße hinein, wo das brennende

Wrack stand. Was soll ich nun tun? Das Dorf wirkte ausgestorben, als wären selbst die Untoten spur-

los verschwunden. Ich konnte es nicht begreifen. Es ergab keinerlei Sinn. Oder doch?

Norma trat neben mich und nahm meinen Oberarm. Sie drückte ihn fest.

»Sieht so aus, als hätten die Verfolger aufgegeben?« sagte sie. Wie zur Antwort erhob sich ein unheimliches Heulen über das

Dorf. Es erschien noch weit weg. Wie kam es zustande? Stammte es aus den Kehlen der Untoten? Wo lauerten sie?

»Ich glaube nicht daran«, gab ich kopfschüttelnd zurück. »Keinerlei Zuversicht?« »Nein, Norma.« Ich sah sie an. Ihr Gesicht wirkte angespannt.

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Ihre Augen glühten jetzt tatsächlich. »Ich nehme eher an, die haben eine neue Teufelei vor. Sie spielen mit uns, aus welchem Grund auch immer.«

»Vielleicht, weil du anders bist als alle anderen, die in diese Falle gingen?«

»Das kann sein, Norma. Ich spürte anfangs mehrmals ein Tasten in meinem Kopf. Es war, als würde die unbekannte Macht, die das Dorf beherrscht, zwar meine Anwesenheit spüren…«

»Aber?« »Sie konnte nicht erkennen, wo ich mich befand. Jedenfalls nicht

genau. Das mußte sie verunsichert haben.« »Und dann?« Norma wirkte jetzt ganz ruhig. Sie belauerte mich regelrecht.

Warum waren die Antworten so wichtig für sie? Ich sah keinen Sinn darin, nicht zu antworten: »Durch mein Vor-

gehen machte ich die Macht auf mich aufmerksam. Aber sie wußte nichts mit mir anzufangen. Auf dem Friedhof hat sie schließlich versucht, mich von den Untoten umbringen zu lassen. Die Verfol-gung begann – und endete in meiner Flucht. Und jetzt…«

Ich brach ab. Norma echote: »Ja, und jetzt?« »Die unbekannte Macht weiß genau, was los ist. Aber sie kennt

meine Gedanken nicht und weiß nicht, wer oder was ich bin. Ich bin für sie ein Unsicherheitsfaktor. Sie hat nur sehr wenig Macht über mich. Dazu gehört, daß sie mich zwingen kann, im Dorf zu bleiben. Aber sie kann mich nicht vernichten. Jetzt könnte sie wie-der die Verfolger auf mich hetzen. Das tut sie nicht. Sie will erst wissen, was es mit mir auf sich hat. Sie fühlt sich stark. Sie fühlt sich überlegen, und sie glaubt, sich Zeit lassen zu können.«

Ich packte Norma an beiden Schultern und schüttelte sie leicht. »Sag mir, was du weißt! Was hast du mit dieser unheimlichen Macht zu schaffen, Norma?«

Sie schrie schmerzerfüllt auf. »Was verbindet dich mit der unheimlichen Macht, Norma?

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Sprich!« »Au, du tust mir weh!« Ihre Augen wirkten jetzt wieder normal. Auch ihr Gesicht: eben

voller Schmerz. Ich ließ sie los und beobachtete sie weiter. Norma wich vor mir zurück, als hätte sie plötzlich Angst vor mir.

Aber dann schien sie sich zu erinnern, daß das Dorf größere Gefah-ren barg als ich.

Was ist mit ihr los? fragte ich mich. Selber Opfer? Mißbrauchte die Macht sie, um mich genauestens beobachten zu können, bei al-lem, was ich tat?

Ich war unschlüssig. Es ging nicht an, daß ich Norma sich selbst überließ, nur weil ich einen Verdacht hatte. Wenn sie nun unschul-dig war? Was dann? Machte ich mich dann nicht zum Mörder an ihr?

Sie rieb ihre offenbar immer noch schmerzenden Schultern. »Vielleicht hätte ich eine Möglichkeit?« Sofort flackerte mein Mißtrauen wieder auf. »Die wäre?« »Mein Onkel hat im Dorf ein Haus.« »Was denn, in diesem Dorf hier? Dein Onkel?« Ich war ehrlich verblüfft. Was sollte das? »Ja, er hat hier ein Haus!« sagte sie trotzig. »Das weiß ich genau.

Schließlich habe ich ihn manchmal besucht.« Ich schüttelte den Kopf. »Moment mal, Norma. Ich dachte, das Dorf mit diesem Namen,

an einer Stelle, wo es eigentlich gar kein Dorf geben dürfte, hätte dich so erschreckt, daß du sogar gegen einen Baum gefahren bist? Wie vereinbart sich das damit, daß dein Onkel im selbigen Dorf ein Haus besitzt?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist, wie ich es sage.« Norma schaute zu Boden. »Auch wenn

du mir nicht glauben willst.« Sie sah wieder auf. »Warum vertraust du mir nicht mehr? Was

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habe ich denn getan?« Es klang weinerlich. Beinahe wäre mein Herz butterweich geworden. Ja, nur beinahe. »Tu etwas gegen mein Mißtrauen!« verlangte ich. Tränen schwammen in ihren Augen. »Ich wußte doch gar nicht, daß es dasselbe Dorf ist, in dem mein

Onkel wohnte. Ich war seit meiner Kindheit nicht hier. Außerdem hieß das Dorf früher ganz anders. Vielleicht bin ich auf der Haupt-straße ganz unbewußt abgebogen und deshalb hier gelandet? Ich war müde und wahrscheinlich auch unkonzentriert. Was weiß denn ich?«

Ich winkte mit beiden Händen ab. »All right, Norma. Und wo ist das Haus?« Sie deutete mit dem ausgestreckten Arm in eine bestimmte Rich-

tung. Ich setzte mich in Bewegung. »Wohin?« rief sie erschrocken. »Zum Haus deines Onkels.« »Aber du weißt doch gar nicht genau, wo es ist!« »Nun, ich nehme an, daß du es mir bald zeigst, nicht wahr?« Sie ging mir nach, holte mich rasch ein. Zögernd hakte sie sich bei

mir unter. »Wir – wir müssen da vorn rechts abbiegen. Es liegt – steht am

Rande des Dorfes, das Haus meines Onkels. Es ist verlassen, sehr alt. Mein Onkel lebt seit Jahren nicht mehr.«

»Dann paßt er recht gut in dieses Dorf nicht wahr? Hast du ihn beim Friedhof gesehen?«

Es sollte eine Art Scherz sein, aber der kam nicht an. Norma be-gann zu zittern, wie Espenlaub.

Ich kam nicht dagegen an: Beruhigend legte ich den Arm um sie. Norma drängte sich mit ihrem kalten Körper an mich, wie schutz-suchend. Ihr Zittern ebbte ab.

Unterwegs geschah nichts. Wir sprachen auch kein Wort mehr. Fast wollte mich gefährliche Zuversicht einlullen, weil es anschei-

nend keine Gefahren mehr gab. Doch dann konzentrierte ich mich auf das verlassene Haus des angeblichen Onkels.

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Hatte es ihn jemals gegeben? Oder war es nur eine Falle der un-heimlichen Macht, die vielleicht Norma in ihrem Griff hatte, ohne daß Norma etwas davon ahnte?

Trotzdem ging ich weiter. Mir blieb nichts anderes übrig. Und dann waren wir angelangt: Das Haus stand genau am Ende

einer Sackgasse. Die schmale Straße endete direkt an der Haustür. Es gab keine direkten Nachbarn: Verwildertes Gartengelände trennte das Haus von den umliegenden Grundstücken.

Früher hatte es in dem Garten gewiß Rosensträucher gegeben. Heute war das dornige Gestrüpp so dicht, daß es kaum möglich war, mit heiler Haut durchzukommen.

Ein guter Gärtner hätte Wochen gebraucht, um den Garten wie-der einigermaßen auf Vordermann zu bringen.

Das Haus lag im Dunkeln. Das wenige Straßenlicht, das über den Vorgarten bis zur Fassade schien, ließ das Gebäude nur noch un-heimlicher wirken.

Einst war es groß und herrschaftlich gewesen. Das war, ehe man vergessen hatte, es wenigstens ab und zu von Handwerkern bear-beiten zu lassen.

Je näher wir kamen, desto deutlicher wurde das Gefühl, genau beobachtet zu werden.

Norma blieb auf einmal stehen. »Was ist los?« erkundigte ich mich. »Ich – ich habe entsetzliche Angst, Mac!« gestand sie. »Angst?« Sie sah mich mit großen Unschuldsaugen an. »Vor – vor dem Haus, Mac. Als würde uns das Haus beobachten.

Blicke, die uns durchdringen, tief auf den Grund unserer Seele schauen.«

Ich lachte heiser und ging einfach weiter. Ein paar Atemzüge lang blieb Norma zurück. Dann rannte sie

hinterher, klammerte sich an mir fest. »Laß mich nicht allein, Mac!« »Dann komm mit!«

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»Warum, Mac?« »Weil wir keine andere Wahl haben. Wenn die unsichtbare Macht

nicht zu uns kommt, dann kommen wir zu ihr.« »Aber was für einen Sinn hat das?« Ich blieb stehen. »Aha, dann glaubst auch du, daß im Haus deines

Onkels das Geheimnis dieses Dorfes verborgen liegt?« Sie zuckte erschrocken zusammen. Ihre Augen weiteten sich. »Du meinst, mein Onkel hätte etwas damit zu tun?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt.« Ich wandte mich ab und lief weiter. Norma blieb dicht hinter mir.

Sie bettelte, daß wir von hier weggingen. Als das nichts half, flehte sie mich laut an.

Bis zur Haustür. Sie war zu. Ich zögerte kurz. Dann legte ich die Hand auf die Tür-

klinke und schob die Tür auf. Ein eisiger Hauch wehte mir entgegen. Als hätte ich den Mund ei-

nes Toten geöffnet. Norma behinderte mich sehr, wie sie sich so an mich klammerte.

Es war nicht leicht, trotz der Behinderung das Haus zu betreten. Wind raunte im Gebälk hoch über mir. Irgendwo schlug ein Fens-

terladen. Es hallte laut wider, daß man jedesmal zusammenfuhr. Es war sehr zugig. Der Wind pfiff mir um die Ohren. Es rauschte,

als wollte er mir etwas zuflüstern. Noch einen Schritt. Die Haustür fiel krachend ins Schloß. Es war dunkel im Treppenhaus, aber durch die geborstenen Fens-

ter sickerte ein wenig Licht. Meine Augen gewöhnten sich daran. Ein dünnes Heulen ertönte. Das hatte ich schon einmal gehört. Es

hatte weit entfernt geklungen. Jetzt war es ganz nahe: im Treppen-haus. Obwohl nichts zu sehen war. Nicht einmal ein Schatten, der auf der Treppe lauerte.

Ich ging weiter, schleppte die zitternde Norma mit. Es sah so aus, als könnte sie jeden Augenblick vor Angst das Bewußtsein verlie-ren. Aber ich konnte keine Rücksicht auf sie nehmen.

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Die Treppe knarrte, als wären Schritte darauf. Unsichtbare Augen schienen mich eingehend zu mustern. Ich

spürte Blicke auf meiner Haut, als wäre ich nackt. War da nicht ein hämisches Kichern? Waren da nicht heftige Atemzüge, ein gieriges Knurren? Vor mir stand eine schwarze Gestalt, nur drei Schritte entfernt.

Kein Gesicht, nur Umrisse in der Düsterheit. Ich blieb stehen. Norma klapperte mit den Zähnen. Das arme

Mädchen. Jetzt meldeten sich doch Gewissensbisse bei mir. Mit einem einzigen Ruck befreite ich mich von ihr und sprang

vorwärts, auf die Gestalt zu. Ich wollte sie packen und zu Boden ringen, aber meine Hände

fuhren durch leere Luft. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden.

Sofort federte ich wieder empor: Von einer Gestalt war nichts zu sehen.

Nur Norma, die mitten im Gang stand, unfähig, sich noch von der Stelle zu rühren.

»Dein Onkel?« fragte ich laut. »Steckt er hinter allem?« Keine Antwort von ihr. Es wurde ganz still im Haus. Als hätte der Wind den Atem ange-

halten. Ich hörte auch nicht mehr das angstvolle Schnaufen Nor-mas.

»War etwas mit deinem Onkel, Norma? Was weißt du?« Norma stand da, nur noch ein Schatten. Ich konnte in dem diffu-

sen Licht keine Einzelheiten erkennen. In diesem Augenblick versuchte jemand, gewaltsam in mein Den-

ken einzudringen. Ganz unvermutet. Mit aller Gewalt, daß es mich zu Boden schleuderte.

Die Gestalt von Norma war ganz still. Sie atmete nicht einmal. Auch im Haus war es still, nach wie vor.

Dafür kreischte in meinem Schädel das Inferno. Es marterte mein Gehirn, schleuderte meine Gedanken in einen schwarzen Abgrund und wollte mich folgen lassen.

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Verzweifelt bäumte ich mich auf. Ich ging gegen diese gnadenlose Gewalt an.

Irrte ich mich oder glühten jetzt Normas Augen wie zwei Kohle-stücke?

Hinter ihr schien eine zweite Gestalt zu stehen, wie ein Nebelge-bilde.

Aus dem Nebelgebilde schälte sich ein Gesicht: bärtig, uralt. »Manu!« murmelte das Gesicht. »Manu ist die Macht.« Es war Manu, der in meinem Innern war. Der Name kam mir ir-

gendwie bekannt vor. Aus welchem Zusammenhang? Manu wollte mich besiegen, und die Augen Normas glühten tat-

sächlich. Ich irrte mich nicht. Ein letztesmal nahm ich alle Kraft zusammen und bäumte mich

auf. Mit Erfolg! Das Bohren war in meinem Schädel, aber es marterte mich nicht

mehr. Es zwang mich auch nicht mehr zu Boden. Ich sprang auf, rannte an Norma vorbei. Die andere Gestalt war noch da. Sie schwebte knapp über dem

Boden. Doch der Abstand zwischen ihr und mir veränderte sich nicht.

Das Gesicht verwandelte sich. Ein anderes Gesicht schob sich für Sekundenbruchteile darüber: Das Gesicht eines jungen Mannes. Die Augen waren geschlossen. Das Gesicht drückte unsägliches Leid aus.

Dann löste sich die Gestalt in Nichts auf. Ich erreichte den untersten Treppenabsatz. Die Haustür flog auf. Sie krachte so fest gegen die Wand, daß der

Verputz rieselte. Ich sah die Masse der Untoten, die das Haus umstellt hatten. Sie

stürmten herein, um mich zu packen!

*

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Sie taten es diesmal wortlos, ohne das übliche Lachen, mit starren Gesichtern.

Sie waren Vollstrecker. Das war deutlich. Die unbekannte Macht hatte es nicht vermocht, mich zu beherrschen oder mich gar zu ver-nichten. Ich war ein Unsicherheitsfaktor gewesen, den es zu erfor-schen galt. Und jetzt war ich zu einer Gefahr geworden, unbe-stimmbar und unbeherrschbar.

Deshalb sollte ich vernichtet werden, unwiderruflich. Ich entwischte knapp auf die Treppe und hetzte empor, immer

drei Stufen auf einmal nehmend. Die Zombies nahmen sofort die Verfolgung auf. Der erste hatte

die letzten Jahre unter der Erde verbracht. Entsprechend sah er aus. Er war auch nicht so schnell wie die anderen. Deshalb wurde er einfach über das Treppengeländer gestoßen. Dumpf kam er unten auf.

Wortlos machte er sich wieder an die Verfolgung. Die anderen waren mir dicht auf den Fersen. Bis in den ersten Stock. Blitzschnell drehte ich mich herum, hielt mich mit beiden Händen

am Treppengeländer fest und trat mit beiden Füßen zu – so fest ich konnte.

Ich traf zwei Zombies vor der Brust. Darauf waren sie nicht gefaßt gewesen. Sie fielen rückwärts die

Treppe hinunter, rissen andere mit. Ich hatte einen kleinen Vorsprung herausschinden können und

hetzte weiter. Gut, daß ich nie beim Dienstsport fehlte und auch ansonsten alles

tat, um stets fit zu sein! dachte ich zerknirscht. Immer topfit zu sein, das war in meinem Job eine wichtige Lebensversicherung.

Jetzt kam es mir wieder zugute. Gegen Zombies, die niemals müde wurden. Die man nicht einmal verletzen konnte.

Weil sie bereits tot waren! Oben war eine Dachluke, die auf den Speicher führte. Sie war na-

türlich zu. Es gab auch keine Leiter.

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Aus dem vollen Lauf heraus sprang ich empor, ballte beide Hän-de zu Fäusten und stieß sie gegen die Luke.

Das Schloß barst durch den Aufprall entzwei. Die Luke hob sich zwei Zoll hoch und krachte wieder zu.

Ich landete auf beiden Füßen, kauerte mich leicht zusammen, während die Zombies die Treppe heraufhetzten und bereits gierig die Hände nach mir ausstreckten, und sprang zum zweitenmal.

Diesmal flog die Luke ganz auf und blieb auch offen. Eine schwarze Öffnung gähnte mir entgegen. Die Zombies waren da. Sie stürzten sich auf mich. Ich sprang zum drittenmal. Ihre Hände behinderten mich. Ganz knapp nur erreichte ich die

Kante oben. Mit einem einzigen Ruck zog ich mich hoch. Ich schwang meine Beine über den Rand und war oben.

Die Zombies knurrten enttäuscht. Sie sprangen ebenfalls empor. Nur einer erreichte die Kante mit

seinen Händen. Ich trat seine Hände weg. Er plumpste zurück, auf die anderen drauf.

Gehetzt schaute ich umher. An verschiedenen Stellen war das Dach geborsten. Ich lief zu ei-

nem der Löcher hin und stolperte prompt über herumliegendes Zeug. Der ganze Dachboden war voll von Gerumpel. Ich mußte vorsichtig sein, daß ich mir nicht das Genick brach oder mich zu-mindest verletzte.

Mit hämmerndem Herzen arbeitete ich mich vorwärts. Wieder versuchte es einer der Zombies. Jetzt war keiner mehr an

der offenen Dachluke, der es verhinderte: Der Zombie kletterte em-por.

Gerade als ich das eine Loch im Dach erreichte. Kurz entschlossen schwang ich mich hinaus. Im gleichen Moment klang von unten ein furchtbarer Schrei. Er

drang durch das Treppenhaus zu mir herauf. Es war ein Schrei von höchster Not.

Norma!

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Aber ich konnte ihr nicht helfen. Es ging um mein eigenes Leben. Ich saß auf dem Dach. Die Zombies rumorten bereits auf dem Dachboden herum. Sie hatten weniger Schwierigkeiten mit dem Gerumpel als ich, denn die unsichtbare Macht schien sie zu führen.

Jetzt waren sie genau unter mir und schlugen gegen die Ziegel. Die lösten sich prompt, und ich verlor den Halt.

*

Die Zombies waren unten zu Massen versammelt. Jetzt grölten und tobten sie. Einige hoben Steine auf und schleuderten sie zielsicher herauf.

Im entscheidenden Moment warf ich mich zur Seite. Ich rutschte auf dem steilen Dach zwar ein Stück abwärts, konnte mich aber fangen. Auch die Steine verfehlten mich. Dafür trafen sie die Köpfe der Zombies, die in dem neugeschaffenen Loch erschienen.

Die Ziegel fielen wie im Zeitlupentempo nach unten. Beinahe wäre ich mit ihnen auf die Reise gegangen! Ich wäre mausetot un-ten angelangt.

Die Zombies auf dem Dachboden schlugen abermals von innen gegen die Ziegel, damit ich keine Chance mehr hatte, vielleicht so-gar weiter hinaufzuklettern.

Die nächsten Steine kamen. Auf allen vieren krabbelte ich seitlich weg und machte mich dann doch an den Aufstieg.

Ich kam an der Stelle vorbei, wo die Untoten ein neues Loch schu-fen. Sie wollten nach mir greifen, verfehlten mich jedoch. Ich war schneller.

Mit dem Knie brach ich in das morsche Dach ein. Rasch zog ich mein Bein wieder heraus und krabbelte weiter hin-

auf. Rechts und links prasselten Steine auf das Dach. Ein Stein er-wischte mich am verlängerten Rückgrat. Gottlob ist der Mensch dort ausreichend gepolstert! dachte ich in einem Anflug von Gal-genhumor.

Weiter ging's. Bis zum First. Ich hockte mich darauf.

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Es wurden keine neuen Steine mehr geworfen. Dafür kletterten aus allen Löchern Zombies aufs Dach.

An verschiedenen Stellen war es dem Gewicht der Zombies nicht gewachsen. Die Untoten brachen ein und platschten auf den Dach-boden.

Es machte ihnen nichts aus. Es kamen immer mehr. Selbst wenn das ganze Dach einstürzte.

Ich würde mit untergehen! Deshalb schwang ich mich auf. Es blieb nur noch eine ganz winzi-

ge Chance. Der Gedanke, diese Chance wahrzunehmen, war in der schieren Verzweiflung geboren. Unter normalen Umständen hätte ich es niemals gewagt.

Jetzt mußte ich es sogar. Und ich durfte keinen Augenblick zögern damit, denn wer wuß-

te, wie lange das Dach noch hielt? Außerdem hatten mich die ers-ten Zombies wieder beinahe erreicht.

Ich verließ den First und rannte auf der anderen Seite des Daches bergab.

Dort drüben war der Waldrand. Nicht sehr weit entfernt, aber vielleicht doch zu weit?

Und ich wußte aus Erfahrung, daß dort die unsichtbare Wand war, die mich am Verlassen des Dorfes hinderte.

Selbst das Auto hatte die unsichtbare Wand aufgehalten, wie mit Watte!

Darauf baute ich. Ein wahnsinniger Versuch, zugegeben, aber es war der berühmte Strohhalm, nach dem jeder Ertrinkende griff.

Ich sauste abwärts wie ein Skispringer. Das Dach dröhnte unter meinen schnellen Schritten. Einige, Ziegel zerkrümelten unter mei-nen Schuhen.

Aber ich erreichte die Dachrinne und stieß mich mit aller Kraft ab. Dabei hatte ich das Gefühl, jemand würde mir mit einer Eisen-

stange in die Beine schlagen. Der Fahrtwind riß mir die Luft weg. Ich flog im hohen Bogen vom Dach. Tief unter mir der Boden. Ein tödlicher Abgrund. Hinter mir die Grunzlaute der Zombies.

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Ich schwebte für Sekundenbruchteile zwischen Himmel und Erde. Reichte es, um bis zum Waldrand zu kommen?

Ich streckte weit die Arme vor. Ja, der Waldrand. Gab es die unsichtbare Mauer auch in dieser Höhe? Wenn nicht, mußte ich genau in die Baumkrone hinein. Ich sah

auch schon den dicken Ast, den ich treffen mußte, und strampelte unwillkürlich, um es auch wirklich zu schaffen.

Aber es war aussichtslos. Die unsichtbare Wand war auch hier oben, und sie wirkte voll. Sie

nahm mich auf wie mit Wattehänden. Aber sie ließ mich nicht etwa sanft zu Boden gleiten, sondern sie verhinderte nur, daß ich die Grenze des Dorfes verließ.

Dann rutschte ich an ihr hinab wie im Sausewind. Geistesgegenwärtig krümmte ich mich zusammen, obwohl es

fraglich blieb, ob das noch etwas nutzte…

*

Die Polizei hatte zwar den Ort verlassen, wo Mac Kinseys MG stand, aber sie war nach wie vor voll in Bereitschaft.

Und Sir Horatio Merriman war informiert über die ganze Ent-wicklung. Er wunderte sich nicht schlecht darüber, daß die Polizei es anscheinend nicht für notwendig hielt, den Ort weiterhin zu überwachen, ganz direkt. Zumindest hätte man die ganze Nacht über nach Spuren von Mac Kinsey suchen müssen. Der MG war ein wichtiger Anhaltspunkt.

Sir Horatio Merriman wertete es richtig: Da war eine unheimliche Macht, die den wackeren Polizisten Angst einjagte und sie vertrieb. Es konnte nur dieselbe Macht sein, der alle Verschwundenen und letztlich sogar Mac Kinsey zum Opfer gefallen waren.

Sir Horatio Merriman legte Beschwerde ein – an oberster Stelle. Und wenn der Chef des britischen Geheimdienstes sich bei der Po-lizei beschwerte, dann ging es im wahrsten Sinne des Wortes rund.

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Das konnte die Polizei nicht auf sich sitzen lassen: Beamte, die Angst hatten und deshalb ihren Dienst nicht richtig versehen konn-ten?

Ein Mannschaftstransportwagen bog weisungsgemäß auf den Sei-tenweg ab und fuhr mit Volldampf weiter, in Richtung Lichtung. Er kam an dem MG von Mac Kinsey vorbei, aber der Fahrer achtete nicht darauf.

Die Polizisten waren schon einmal dagewesen. Sie hatten viel da-mit zu tun, ihre Angst zu unterdrücken. Aber sie blieben tapfer. Vor allem hatten sie beschlossen, aufs Ganze zu gehen. Es war ih-nen klar, daß hier jemand versuchte, die Polizei zu beeinflussen und fernzuhalten.

Sicherlich nicht ohne Grund. Außerdem hatte jeder von ihnen schon mal etwas von Hypnose

gehört. Das war ihre Erklärung dafür, was hier vorging. Der Mannschaftstransportwagen raste auf die Lichtung hinaus. Ein greller Schein entstand mitten auf der Lichtung. Unwillkürlich trat der Fahrer auf die Bremse. Der Wagen hielt

schlitternd an. Über das Bild der Lichtung schob sich ein anderes Bild, durch-

sichtig zwar, aber doch deutlich erkennbar. Es war das Bild eines Dorfes. Demnach stand der Mannschaftstransportwagen jetzt mit-ten auf dem Dorfplatz.

Die Bobbys ließen sich selbst davon nicht beeindrucken. Sie sprangen aus dem Fahrzeug und hoben ihre Schlagstöcke.

Sie waren mit Schußwaffen ausgestattet worden. Hätte man jeden Bobby in Bereitschaft mit Schußwaffen ausrüsten wollen, wären die Magazine total überfordert gewesen: So viele Waffen gab es über-haupt nicht in den Polizeimagazinen! Schließlich dienten sie nur dem Einsatz in ganz besonderen Notfällen.

Nur die Inspektoren und Sergeanten waren ausgerüstet worden. Die Bobbys hatten ihre Schlagstöcke. Das mußte genügen.

Sie warteten auf einen Angriff, doch dieser erfolgte nicht. Da wa-ren nur die glühenden Häuser eines halb sichtbaren Dorfes, das

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wie ein Schemen über der Lichtung schwebte. Die Bobbys schwärmten aus. Eine Meisterleistung an Selbstbeherrschung für jeden einzelnen

Bobby. Das waren echte englische Polizisten, die normalerweise weder Tod noch Teufel fürchteten, wenn es darauf ankam.

Niemand begegnete ihnen. Die Szene änderte sich nicht, solange die Bobbys nach Fremden

Ausschau hielten, die möglicherweise hier hausten und auf irgend-eine verdammte Weise diesen Spuk erzeugten.

Und dann sahen sich die Bobbys gegenseitig an. Sie sahen keine Kollegen mehr, sondern an ihrer Stelle grauenvol-

le Monster: Tote, die lange unter der Erde gelegen hatten, die zum größten Teil verwest waren. Sie hatten nichts Menschliches mehr, tappten dahin, grunzten dumpf vor sich hin.

Und dann kamen sie näher. Jeder der Bobbys sah im Kollegen ein schreckliches Höllenmons-

ter, das ihm an den Kragen wollte. Es erging ihnen nicht anders als dem Inspektor und dem Sergean-

ten. Nur waren die beiden bewaffnet gewesen und hatten sich des-halb gegenseitig erschossen.

Dabei war dem Inspektor bis zuletzt gar nicht mal aufgefallen, daß sein Sergeant auf ihn geschossen hatte.

Er war gestorben und hatte dabei geglaubt, der Tod persönlich hätte seine eisigen Krallen nach ihm ausgestreckt!

Und die Bobbys fielen übereinander mit den Schlagstöcken her. Sie droschen aufeinander ein, was das Zeug hielt. Jeder in der Ein-bildung, auf ein furchtbares Monster einzuschlagen, das ihm ans Leder wollte.

Beinahe hätten sie sich gegenseitig totgeschlagen, aber dann sieg-te doch die namenlose Furcht: Die Bobbys hetzten auseinander, in der Vorstellung, von den Monstern dicht gefolgt zu werden.

Sie rannten in den Wald hinein und blieben nicht eher stehen, bis sie sicher waren, keine Verfolger mehr zu haben.

So fanden sie weit voneinander getrennt wieder in die Wirklich-

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keit zurück, und keine Macht der Welt konnte sie mehr dazu über-reden, auf diese Lichtung zurückzukehren. Auch wenn dort der Mannschaftstransportwagen stehengeblieben war.

Sie versteckten sich lieber im Wald und schämten sich dessen nicht. Lieber Angst haben als noch einmal diesen Schreckensge-schöpfen begegnen. Das war ihre Devise.

Vergeblich wartete die Funkleitstelle auf ihre Nachricht…

*

Die Erde nahm mich wieder auf, das heißt, das allgegenwärtige dichte Gestrüpp, das dick den Boden überwucherte.

Ein gutes Polster, falls man nicht an die nadelspitzen Dornen den-ken wollte.

Jedenfalls verhinderte es das Gestrüpp, daß ich mir sämtliche Knochen im Leib brach.

Ich befreite mich von den stechenden Dornen, die sich in Haut und Kleidung verhakten, und war froh, als ich den Rand des ver-wilderten Gartens erreichte.

Seltsam, die Untoten mußten doch gesehen haben, wo ich abge-blieben war? Wieso folgten sie mir nicht?

Ich lauschte. Waren da nicht Stimmen – menschliche Stimmen? Außerdem

hörte ich Motorengeräusch. Ein Fahrzeug, das nicht weit von hier stand. Ich konnte nichts sehen, denn das alte Haus verbarg mir die Sicht.

Es war mir auch egal. Hauptsache, die Verfolger wurden durch irgendeinen Umstand davon abgehalten, sofort die Verfolgung wieder aufzunehmen.

Sogar auf dem Dach konnte ich keinen mehr von ihnen sehen. Außerdem erschien das Dach völlig unbeschädigt.

Ein paar Ungereimtheiten, mit denen ich mich noch später be-schäftigen konnte. Jetzt rannte ich erst einmal davon.

Mein Anzug hing mir in Fetzen vom Leib. Das machte mich miß-

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mutig. Aber ich konnte es genausowenig ändern wie alles andere. Kaum hatte ich das alte Haus mitsamt dem verwilderten Grund-

stück hinter mir, immer schön entlang der Grenzlinie, die ich nicht zu überwinden vermochte, als ich wieder den furchtbaren Schrei von Norma hörte. Sie schrie wie am Spieß.

Was stellten die verdammten Zombies mit ihr an? Ich blieb unwillkürlich stehen und lauschte. Jetzt konnte ich sogar verstehen, was sie schrie: »Mac, bitte, so hilf

mir doch!« Es ging mir durch und durch. Ich schluckte schwer. Ich ihr helfen? Wie denn? Wenn keine Beschwörungen halfen,

wenn die Zombies unverletzbar waren, wenn ich ganz allein gegen eine solche Übermacht stand?

Ich war selbst nur ganz knapp und auch noch mit Mühe und Not ihrem Zugriff entgangen. Sie würden sich wieder auf die Suche nach mir machen. Ich konnte mich nur innerhalb des Dorfes bewe-gen. Wenn ich aufpaßte, gelang es der geheimnisvollen Macht auch nicht, mich zu orten. Aber die Zombies konnten mich suchen. Sie würden nicht lockerlassen, bis sie mich gefunden hatten.

Sie brauchten das Dorf nur systematisch zu durchkämmen. Sie schienen es zu wissen. Vielleicht kümmerten sie sich deshalb

im Moment nicht um mich? Jemand rannte genau auf mich zu. Allein! Ich ballte die Hände zu Fäusten. Komm nur, Freundchen! dachte ich unwillkürlich. Und dann machte ich große Augen: Ein Bobby! Er schwang ver-

zweifelt einen Schlagstock, hatte den charakteristischen Helm längst verloren und schien vor dem Teufel persönlich zu fliehen.

Nein, ganz allein war er nicht: Ich sah unweit noch einen daher-rennen.

Die beiden hatten es keineswegs auf mich abgesehen. Sie sausten an mir vorbei, überwanden mühelos die Grenzlinie und ver-schwanden im Wald.

Von dort hörte ich lautes Knacken und Rascheln. Nicht nur von

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den zwei Punkten ausgehend, wo sich die beiden Fliehenden be-fanden.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nichts davon, daß ich gerade Zeuge der Flucht der Polizisten geworden war, und daß dies auch der Grund war, weshalb mich die Zombies nicht sofort verfolgten…

Kopfschüttelnd setzte ich meinen Weg wieder fort. Die Schreie von Norma holten mich wieder ein. Ganz offensicht-

lich wurde sie in Richtung Friedhof verschleppt. Ich konnte nichts dafür: Ich nahm denselben Weg. Dabei gingen mir folgende Gedanken durch den Kopf: Es mußte

einen Träger der Macht geben. Einen einzigen Träger, durch dessen Wirken das Dorf hier aus dem Nichts entstand – mit allem, was in diesem Dorf geschah.

Ich mußte nur den Träger der Macht finden und diesen ausschal-ten. Dann würde das Dorf für immer verschwinden und auch keine neuen Opfer mehr anlocken.

Es klang einfacher als es war, denn erstens: Wer war der Träger? Zweitens: Was konnte ich gegen ihn tun, wo er doch so übermäch-tig war? Drittens: Wie würde ich ihn finden? Viertens: Welchem Zweck diente dieses Wahnsinnsdorf? Das hieß: Warum tat der Trä-ger der Macht dies alles?

Hatte er es nur auf die Seelen der Opfer abgesehen? Nun, ich wußte, daß er nur Einzelpersonen in diesen Wahnsinn

locken konnte. Gelangten mehrere Personen hier an, jagte er sie wieder davon.

Ich brachte die fliehenden Polizisten damit in Zusammenhang! Die Einzelpersonen, deren Lebensenergien, gaben niemals soviel

Kräfte an den Mächtigen ab, daß er etwas damit hätte anfangen können. Mit anderen Worten: Die Falle verbrauchte wesentlich mehr magische Energien, als sie letztlich hergab!

Aus Erfahrung wußte ich ganz genau, daß ein Magier oder auch ein Dämon immer den leichtesten Weg ging. Das hieß, er wollte mit möglichst geringem Einsatz den größtmöglichen Erfolg. Dabei wa-

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ren diese Ausgeburten der Hölle äußerst feige. Sonst hätten sie sich nämlich zusammengetan und im Nu die ganze Welt überrollt. Die Menschen hätten gegen sie keine Chance gehabt.

So aber kochte jeder sein eigenes Süppchen, wachte eifersüchtig darüber, daß ihm keiner den Erfolg streitig machte, und war sehr vorsichtig, ging nicht das geringste Risiko ein.

Was ich hier erlebt hatte, widersprach dem entschieden. Vielleicht funktionierte deshalb keine Beschwörungsformel und

mußte sogar die gnostische Gemme versagen? Weil kein Magier und kein Dämon dahinterstand, sondern etwas

– anderes? Aber was, um alles in der Welt? Und mit welchen Motiv? Mir kam der Name in den Sinn: MANU! Irgendwo hatte ich schon darüber gelesen. Das wußte ich in die-

sem Augenblick. Nicht viel. Nur so eine Randnotiz. Manu hatte keine Bedeutung, deshalb hatte ich es mir nicht besonders gemerkt. Aber ich hatte ein sogenanntes eidetisches Gedächtnis. Das hieß, ich vergaß niemals etwas.

Nur ging es manchmal verschütt unter all dem anderen, was ich im Kopf mit mir herumtrug.

Mir würde es noch einfallen. Hoffentlich rechtzeitig! Vielleicht kam ich über den Namen MANU dem Geheimnis näher?

Ich war inzwischen dem Friedhof so nahe, daß ich Norma wieder deutlicher hörte. Sie weinte, schrie und flehte. Immer wieder rief sie meinen Namen und: »Bitte, Mac, rette mich! Wir gehören doch zusammen. Wir wollten doch zusammen fliehen. Ich wußte nichts von der Falle im Haus meines Onkels. Ich habe dich sogar davor gewarnt.«

Das stimmte. Ich konnte es nicht leugnen. Deshalb knirschte ich mit den Zähnen und versuchte zu überlegen.

Konnte ich etwas für Norma tun? Ich schaute auf die Uhr – und hielt überrascht den Atem an: Es

war halb eins! Eine halbe Stunde nach Mitternacht! Es war ganz real Zeit vergangen, seit ich das letztemal auf die

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Uhr geschaut hatte. Sogar recht viel Zeit. Es war genau die Zeit gewesen, die ich gemeinsam mit Norma

verbracht hatte, bis zur Szenerie im Haus, also bis zu meiner Flucht, die besser gelungen war, als ich es in meinen kühnsten Träumen gehofft hätte.

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Was suchte ich hier? Warum lauschte ich dem Flehen von

Norma? Wo ich doch nichts tun konnte? Aber konnte ich wirklich nicht? Ich mußte damit rechnen, daß die

Zombies nach mir bereits suchten. Gewiß waren sie überall ausge-schwärmt.

Bedeutete es nicht auch, daß bei Norma entsprechend weniger Untote wachten?

Vielleicht war das die winzige Chance, die Norma brauchte? Ich schlich mich näher heran, bis ich alles gut sehen konnte, ohne

selber entdeckt zu werden. Die Zombies gaben sich wieder gut gelaunt. Sie schleppten Nor-

ma mitten auf den Friedhof. Ein paar hatten Schaufeln dabei. Damit begannen sie, ein Loch zu graben.

Was hatten sie vor? Mein Herz schlug mir schier bis zum Hals. Ich ahnte etwas. Und dann hatte ich die Bestätigung: Kaum war das Loch tief ge-

nug, als man die sich heftig wehrende Norma einfach hineinwarf. Sie schrie und weinte immer noch, obwohl schon total heiser ge-

worden: »Mac, du bist doch mein Freund! Bitte, bitte, hilf mir! Sie graben mich lebendig ein!«

Sie hatte mal wieder recht: Die verdammten Untoten begannen, das Loch, in das sie Norma geworfen hatten, von oben zuzuschau-feln. Sie warfen die Erde einfach über das flehende Mädchen.

»Mac!« scholl ihr Ruf herüber. Im nächsten Moment wurde ihre Stimme von dem Dreck erstickt. Sie würde elendiglich ersticken! Ich hielt es nicht mehr aus. Es wären nicht viele Zombies. Viel-

leicht hatte ich wirklich die Möglichkeit, Norma zu befreien? Dann

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waren wir zu zweit. Zugegeben, ein wahnwitziger Gedanke, aber sollte ich denn ein-

fach zusehen, wie sie das Mädchen lebendig begruben? War ich denn ein verfluchter Schweinehund, der das einfach zuließ?

Ich konnte wirklich nichts dafür: Ich verließ meine Deckung und rannte hinüber. Meine Gefühle triumphierten über meinen Ver-stand, sogar über ›Die Gabe‹, die mich ebenfalls vor dieser Unüber-legtheit warnte.

Ich raste auf die Zombies zu: ein halbes Dutzend gegen mich al-lein. Das konnte eigentlich nicht gutgehen.

Und es ging auch nicht gut! Ich stürzte mich todesmutig auf sie, verteilte wuchtige Fausthie-

be. Den einen erwischte es so hart, daß er sich rückwärts über-schlug.

Dem Zombie machte das nichts aus. Auch die anderen zeigten sich wenig beeindruckt. Sie fletschten lachend die Zähne und grif-fen mich an.

Ich trat sie mit den Füßen zurück. Sie griffen um so heftiger an. Noch einmal ein paar genau gezielte Fausthiebe in die lachenden

Monsterfratzen. Es gelang mir, sie vom offenen Grab wegzutreiben. Tatsächlich! Vielleicht war es für Norma doch noch nicht zu spät? Vielleicht

lebte sie noch? Aus der lockeren Erde ragte ihr Arm. Ich ergriff ihre Hand und

wollte Norma emporziehen. Es ging nicht: Ganz im Gegenteil: Norma zog jetzt ihrerseits kräf-

tig: Mit einem einzigen Ruck zog sie mich von den Beinen und zu sich hinab in das feuchte Grab.

Unter der locker aufgeschütteten Erde hörte ich ihr dumpfes, schadenfrohes Gelächter!

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Mehrere Privatfahrzeuge befuhren in dieser Nacht und zu dieser Zeit noch die Hauptstraße nach Norden. Die Polizei kontrollierte unauffällig, wie sie meinte. Aber so viele Polizisten unterwegs, das fiel natürlich auf.

Auch Terrill Borb machte sich Gedanken darüber. Er schob die Taxifahrermütze in den Nacken, die bei ihm unentbehrlich war wie die Frisur, und wunderte sich: »He, was machen die Bobbys? Sieht aus wie ein Großeinsatz oder was?«

Ein Blick in den Rückspiegel: Im Fond des Kleintransporters hatte er sieben total besoffene Jungbauern gestapelt. Sie schnarchten um die Wette.

»Na, wenigstens bin ich nüchtern!« brummte Terrill Borb. Er schüttelte den Kopf. »Wieso saufen die eigentlich nicht daheim, wie es sich gehört?

Wenigstens im eigenen Dorf? Aber nein, die große Sause muß nach London verlegt werden. Als wenn's da nicht schon teuer genug wäre.«

Sie taten das jedes Jahr. Immer dann, wenn es wieder an der Zeit war, ihre Kegelkasse auf den Kopf zu hauen.

In London, weil sie irgendwann einmal etwas von der holden Londoner Weiblichkeit gehört hatten, die allzu willig sein sollte. Davon hatten sie all die Jahre über zwar nichts bemerkt, aber aus der jährlichen Sause war längst Tradition geworden. Und sie schüt-teten sich so voll mit Alkohol, daß sie wie tot im Taxi hingen. Nur das Schnarchen, als würde jemand einen ganzen Wald zersägen, zeugte davon, daß sie noch durchaus zu den Lebenden zählten.

»Außer zu Alkoholleichen haben die es bis jetzt zu nichts ge-bracht!« brummte Terrill Borb gehässig.

Er verdiente zwar jedes Jahr an der Sause nicht schlecht, aber er haßte Verschwendung, und was die sieben da taten, das rangierte bei ihm halt eben unter der gleichen Rubrik: Verschwendung!

Er beugte sich überrascht vor und murmelte: »He, was ist denn das?«

Die Umgebung hatte sich anscheinend schlagartig verändert.

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Eben war er noch auf der Hauptstraße gewesen, hatte einen Strei-fenwagen gesehen – und jetzt? Er schluckte schwer. »Verfahren?« Er konnte es kaum glauben. War er nicht schon seit über zwanzig Jahren Taxifahrer? Fuhr er nicht schon seit über zwanzig Jahren diese Strecke? Er kannte sie wie seine Westentasche. Und jetzt so etwas…

Einer der Betrunkenen schmatzte laut und drehte sich auf die Sei-te. Dabei kollidierte seine Nase mit der Faust eines seiner Kumpels.

Er fuhr erschrocken auf. »Was – was ist los?« lallte er. »Penn weiter, Mann!« empfahl ihm Terrill Borb barsch. Das fehlte noch, daß man überall herumerzählte, daß sich der Ta-

xiunternehmer Terrill Borb gern verfuhr! Der Betrunkene gehorchte gottlob, ließ sich wieder zurücksinken

und war auf der Stelle wieder eingeschlafen. Weiter vorn tauchte ein Dorf auf. Rechts war ein Ortseingangs-

schild: »HELL«. »Nie gehört!« kommentierte der Taxiunternehmer laut. »Dabei

war ich überzeugt davon, die ganze Umgebung zu kennen.« Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte erbärmliche Angst,

auch wenn er den Grund nicht kannte. »Es – es ist unmöglich!« murmelte er. Die Angst schnürte ihm die

Kehle zu, aber er hätte sie niemals zugegeben, auch vor sich selbst nicht.

Es gab auch Dörfler. Überhaupt schien das ein recht fröhliches Dorf zu sein. Als wäre man mitten in einem herrlichen Fest.

Er fuhr zum Straßenrand und kurbelte das Fenster herunter. »Eh, Entschuldigung!« Niemand beachtete ihn. Eine Frau stand in der Nähe, keine zwei Schritte entfernt. Sie lä-

chelte selig. »Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich mich hier befinde?« rief

Terrill Borb ihr zu. Sie reagierte überhaupt nicht. Als wäre er nicht vorhanden.

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»Herrgott, Sakrament!« fluchte der Taxiunternehmer und stieg aus. Waren das alles Irre? Ein großes Sanatorium?

Eine offene Anstalt, wie es sie heute häufiger geben sollte? Ausgerechnet in der Nähe unseres Dorfes. Das hat gerade noch

gefehlt. Er schluckte dreimal und tippte die Frau an. »Äh, ich glaube fast, ich habe mich ein bißchen verfahren. Wären

Sie vielleicht so freundlich und würden mir…?« Die Frau blinzelte überrascht. »Sieh an, ein Fremder!« entfuhr es ihr. »Kommen Sie auch zu un-

serem Fest?« »Was für ein Fest?« fragte Terrill Borb. Im stillen dachte er: Aha,

also doch alles Wahnsinnige! Sie hakte sich unter. »Ja, aber natürlich, jetzt erkenne ich Sie endlich: Sie sind doch der

berühmte Taxiunternehmer Terrill Borb, nicht wahr?« »Berühmt?« Er runzelte die Stirn. »Ja doch! Jeder kennt Sie in der ganzen Umgebung. He, das ist

vielleicht eine Überraschung. Und Sie kommen extra zu unserem wunderschönen Gräberfest her? Ich empfinde es als eine besondere Ehre, ganz ehrlich.«

Terrill Borb lächelte verkrampft. Sonst war er nicht auf den Kopf gefallen. Als Taxifahrer durfte man sich nicht so leicht unterkriegen lassen. Doch jetzt wußte er nicht, wie er sich verhalten sollte. Hieß es nicht, man sollte Verrückten immer recht geben?

»Äh, ja, klar: zum Fest bin ich hier.« »Na also, jetzt geben Sie es endlich zu.« Kameradschaftlich knuff-

te sie ihn in die Rippen. »Sie sind mein Gast, Mr. Borb. Ich werde keine Mühen scheuen, Sie in unser Ritual einzuweihen, damit sie es wirklich genießen können. Ja, gewiß, ein herrliches Fest.«

Sie schien sich bereits darauf zu freuen, denn sie lachte herzhaft. Nun, wenn Terrill Borb sie so betrachtete… Mit seiner Alten, da

lief ja schon seit Jahren nichts mehr… Und diese da: Ob verrückt oder nicht, das mußte sich halt noch herausstellen! Man sollte nie

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zu voreilig Schlüsse ziehen, stimmt's? Und was versäumte er schon, wenn er kurz mit aufs Fest ging? Ganz kurz nur, versteht sich…

Sie führte ihn vom Taxi weg und die Dorfstraße hinauf. Dabei plauderte sie fröhlich.

Einmal schaute sie in eine andere Richtung. Zum erstenmal konn-te Terrill Borb ihr Genick sehen: Es war dick geschwollen und grün und blau. Und wenn die Frau den Kopf bewegte, dann war es so, als würde der Hals aus Gummi bestehen. Der Kopf hatte gar kei-nen richtigen Halt.

»Was…?« wollte Terrill Borb fragen, aber es blieb ihm in der Keh-le stecken.

»Hm? Was ist denn, Terrill?« »Äh, hast du dich… Ich meine, hast du dich denn im Genick – äh

– verletzt?« Sie winkte lachend ab. »O ja, Terrill, Lieber. Du darfst das nicht so

ernst nehmen. Es ist weniger dramatisch, als es aussieht. Habe mir gestern nur das Genick gebrochen. Bei der Hausarbeit, weißt du? Habe feuchte Gardinen aufgehängt, turnte auf der Leiter herum, bis die Leiter umfiel. Ich bin mit dem Genick genau auf die Tisch-kante… Zack! Das hat vielleicht gekracht! Ich bin regelrecht er-schrocken.«

»Erschrocken?« ächzte Terrill Borb. »Vom Krachen?« »So war es, Terrill. Aber, ich bitte dich, wir wollen uns doch nicht

die Laune von solchen Kleinigkeiten verderben lassen!« »Was – was ist das eigentlich für ein Fest?« »Na, das Gräberfest. Du bist reichlich spät dran, Terrill. Wir müs-

sen uns beeilen. Fast sämtliche Toten sind schon ausgegraben. Aber keine Bange, ich sorge dafür, daß einer für dich übrigbleibt. Einer, der schon besonders lange begraben liegt. Freust du dich schon darauf?«

Terrill Borb wurde ganz schwindlig. Er wollte etwas sagen, aber es wurde nur ein abgrundtiefes Stöhnen daraus.

Er wollte sich losreißen, aber die Frau mit dem gebrochenen Ge-nick entwickelte übermenschliche Kräfte. Es war ihm unmöglich,

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von ihr loszukommen. Und während sie noch fröhlich auf ihn einredete, schleppte sie

ihn mit. Da half kein Sträuben: Es ging zum Friedhof!

*

Ich sprang empor, wollte aus dem feuchten Grab wieder hinaus, aber Norma packte mich. Sie legte ihre eisigen Hände um meinen Hals und drückte zu.

Ich sah ihr Gesicht. Es hing noch voller Erde, auch die Haare wa-ren voll davon.

Das Gesicht einer Toten, zu einer Fratze verzerrt. Sie würgte mich bis zur Bewußtlosigkeit. Ich hatte keine Chance

gegen sie… Als ich wieder zu mir kam, wurde ich getragen. Ich befand mich

irgendwo im Dorf. Wieso lebte ich überhaupt noch? Warum hatte man nicht die Ge-

legenheit ergriffen und mich endgültig umgebracht? Ich lauschte in mich hinein. Irgend etwas war anders geworden.

Ich kam nur nicht dahinter, was es war. Hatte sich die Atmosphäre verändert? Waren die Zombies anders

geworden? Nein, im Gegenteil, sie machten einen Höllenlärm, johlten laut,

während sie mich trugen. »Ein Neuer!« kreischte eine Frau. »Habt ihr es bemerkt? Terrill

Borb. Der Wahnsinn hält ihn bereits in seinen Krallen. Bald schon wird er sterben vor Angst und einer von uns sein! Für das Fest, Norma zu Ehren!«

Norma! Für mich war dieser Name wie ein rotes Tuch. Sie war bei mir, geiferte mich an. Jetzt zeigte sie ihr wahres Ge-

sicht: Sie war eine Untote genauso wie die anderen. Aber warum hatte sie mich so lange hingehalten?

»Was sollte das Spiel mit mir?« brüllte ich. »Du warst interessant für MANU. Er wollte wissen, wieso du ihm

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gefährlich werden könntest und wieso du anders warst als all die anderen Opfer.«

MANU? Wie Schuppen fiel es mir von den Augen: Eine winzige Textstelle in einem unbedeutenden Buch, das ich in die Gruppe der Machwerke eingeordnet hatte. Die meisten Bücher über Okkultis-mus und Magie waren von Scharlatanen, die damit leichtes Geld machen wollten. Es war oftmals sehr schwer, die Guten von den Schlechten zu unterscheiden.

Dies hier war eindeutig ein Schlechtes gewesen. Aber MANU war erwähnt worden. Also hatte es doch einen Mindestwahrheitsgehalt besessen.

MANU, der unsterbliche Magier aus vergangenen Zeiten, der Be-herrscher des Todes, der Herr über die Seelen.

Ein Magier also, der sich MANU nannte. War es derselbe, der das Dorf beherrschte?

Ich lauschte in mich hinein – und war überzeugt davon, daß MANU sich bei der Horde befand.

Ich warf einen Blick in die Runde. Jetzt konnte ich mich auch an den Rest erinnern: »MANU, der sein Reich mit seiner Magie selbst erzeugt, um darin zu herrschen, über den Tod, der bei ihm das Le-ben ist!«

Das war die Lösung des Rätsels: Das Dorf war durch MANU erst entstanden Es gab nicht wirklich Untote, auch kein Gräberfest. Al-les dies war nur durch die Magie von MANU erzeugt worden. Im gewissen Sinne eine Illusion, aber von solcher Macht, daß sie töd-lich sein konnte. Ich hatte es erlebt, und ich erlebte es immer noch.

Nur MANU war wirklich. Er befand sich in der Nähe. Das spürte ich deutlich. Er war das absolute Zentrum der Macht – ja, die Macht überhaupt.

Wer ihn besiegte, ließ den ganzen Spuk verschwinden! Was blieb, das war ein leerer Platz, dort, wo jetzt scheinbar das Dorf existierte.

Aber wie sollte ich es schaffen? Die Untoten hielten mich so fest gepackt, daß ich keinen Finger

rühren konnte.

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Welcher von ihnen war der echte MANU?�Seine ungeheure Macht reichte aus, alles real erscheinen zu lassen�

– so real, daß es gar nicht mehr realer sein könnte. Ich konnte mich dem nicht entziehen. Ich hatte es oft genug versucht.

»MANU!« brüllte ich. Die Untoten lachten mich aus. »Bringt ihn zum Haus!« befahl Norma schadenfroh. War sie etwa selber MANU? Ich konnte es nicht glauben. Ich nahm an, daß sie genauso eine

Erfindung vom mächtigen MANU war wie alles hier. »Ja, zum Haus!« geiferte Norma. »Er hat genügend Schaden ange-

richtet, dieser Mac Kinsey. Er hat alles getan, um unser schönes Gräberfest zu stören. Ein Fest mir zu Ehren. Er hat es verdorben. Dafür wird er büßen müssen.«

»Büßen müssen!« wiederholte die Menge im Chor. Es klang schaurig.

»Er paßt nicht ins Ritual, meine toten Freunde!« »Nicht ins Ritual!« wiederholte der schaurige Chor. »Deshalb wird sich MANU etwas ganz Besonderes ausdenken –

MANU, unser Herr!« »MANU, unser Herr!« »Zum Haus mit Mac Kinsey! Werft ihn in den Keller! Dort soll er

bei den Ratten modern, bis das Ritual mit dem Neuen beendet ist: Terrill Borb!«

Wir gelangten an. Ich wurde ins Haus getragen, durch den Haus-gang, in einen Raum.

»MANU!« brüllte ich. »Du hast eine eigene Sphäre geschaffen, nur kraft deines Geistes. Du bist ein Mächtiger, ein wahrhaft Mäch-tiger. Warum verschwendest du deine Kraft so? Was bezweckst du mit dem Gräberfest?«

»Schweig!« donnerte das Haus. Es erbebte in den Grundfesten. »Wer bist du wirklich, MANU? Bist du der Magier, von dem ich

gelesen habe? Warum wirkst du erst jetzt und ausgerechnet hier? Warum tust du das alles – Norma zuliebe? Ja, Norma ist der Zweck

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des ganzen Rituals, des ganzen Gräberfestes, während dem du Op-fer herbeilockst…«

Das traf MANU hart, wie es schien. Ich hörte draußen einen Sturmwind heulen.

Durch ein geborstenes Fenster konnte ich einen Teil des Dorfes sehen. Vom Sturm wurden Dächer abgedeckt.

»Norma, eine Illusion!« brüllte ich durch das Inferno. Die Zombies ließen mich fallen. Sie stürzten übereinander her, be-

gannen, sich gegenseitig in Stücke zu reißen. Norma konnte ich nirgendwo entdecken. Als hätte sie sich recht-

zeitig in Sicherheit gebracht. Nur einer der Zombies blieb ruhig stehen – breitbeinig, mit glü-

henden Augen. An Stelle eines Gesichtes war nur ein schwarzer Fleck: MANU!

Er raste. Sein Zorn entfachte draußen den Sturm und ließ die Zombies durchdrehen. Und er lähmte mich, so daß ich mich nicht bewegen konnte.

Ein Blick hinaus: Die Häuser zerflossen, als wären sie aus Butter, die zu lange der Sonne ausgesetzt war. Das Dorf begann zu ver-schwinden.

Ich bäumte mich gegen die Lähmung auf – und gewann den Kampf allmählich. Nicht mehr lange, dann würde ich mich wieder normal bewegen können. Ich würde mich auf MANU stürzen…

Zu früh gefreut: Schlagartig war der alte Zustand wiederherge-stellt: Die Zombies ergriffen mich. Das Dorf war wieder vollständig da. MANU öffnete eine Bodenluke.

Von irgendwo organisierten sie einen Strick, mit dem sie mich zu einem handlichen Paket verschnürten. Da half keine Gegenwehr. Sie arbeiteten schnell und präzise.

Kaum waren sie fertig, als sie mich zur Bodenluke trugen und kurzerhand hineinwarfen.

Für einen Sekundenbruchteil glaubte ich, in einen Abgrund zu fallen, aber dann traf ich auf einer hölzernen Stiege auf. Steil ging es abwärts.

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Um mir nicht die Knochen zu brechen, kauerte ich mich zusam-men wie zu einer Kugel.

Ich kullerte hinunter, bis zum Kellerboden. Es war feucht und modrig. Überall raschelte es. Ratten? MANU lachte gehässig. Er stand über mir. Ein großer, drohender

Schatten. »Dies ist ein altes Gasthaus, ein ehemaliges Ausflugsziel. Norma

hat dich nicht belogen. Tatsächlich gehörte das Haus ihrem alten Onkel. Jetzt ist es verwaist. Seit seinem Tode.«

Abermals das schaurige Gelächter. Er zog sich zurück. Als ich allein war, schloß sich oben donnernd die Bodenluke. Nein, MANU war nicht Normas ehemaliger Onkel. Das war mir

jetzt klar. Ich dachte an das bärtige Gesicht. Ein jüngeres Gesicht hatte sich darübergeschoben.

Was konnte das bedeuten? Und dann hatte ich keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Ich

konnte mich kaum bewegen, so fest hatten die mich mit dem Strick verschnürt.

Die Ratten schienen es zu ahnen, denn sie gaben ihre Zurückhal-tung auf und stürzten sich gierig auf mich!

*

»Mann, habe ich einen sitzen!« lallte Tom, als er zu sich kam. Alles drehte sich um ihn. Als würde er auf dem Karussell sitzen.

Er kniff fest die Augen zu und riß sie wieder auf. Das nutzte ihm nichts. Die Erde grollte. Eine mächtige Stimme erscholl. Es war die Stim-

me MANUS, der im alten Gasthaus zu Mac Kinsey sprach. Tom konnte das nicht wissen. Deshalb schwor er Stein und Bein,

daß es die Stimme seiner Alten war! Die schimpfte nämlich immer so mit ihm, wenn er betrunken heimwankte.

»Äh, Liebling?« lallte er erschrocken. Während Manu tobte und Sturmwind über das Dorf schickte,

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kletterte der betrunkene Tom beunruhigt aus dem Taxi. »Och, Liebling, verzeih mir, ich – hupps – werde niemals mehr

auch nur einen einzigen Schluck trinken. Das – hupps – schwöre ich dir bei der letzten Gallone Whisky!«

Der Sturm fegte ihn von den Beinen. Tom lag strampelnd auf dem Rücken.

»Das ist gemein von dir, Liebling!« beschwerte er sich. Er hatte alle Mühe, sich auf den Bauch zu drehen und hochzu-

stemmen. Und als das Inferno über dem Dorf verebbte, war er überzeugt davon, endlich seine Alte beruhigt zu haben.

Ich hätte sie nicht heiraten dürfen! dachte er in seinem betrunke-nen Kopf. Aber sie hatte Geld und ich keins. Da konnte sie selbst dreimal so alt sein wie ich und dreimal so bösartig wie ein Drache.

Hupps! »Alles dreht sich. Liebling, halt es fest!« Nichts geschah. »Erst stößt du mich Zu Boden. Dann läßt du mich im Stich. So et-

was nennst du Liebe?« Ihm war schrecklich schlecht. Er drehte den Kopf zur Seite und

übergab sich. Dann arbeitete er sich am Taxi empor. »Der Schrank?« lallte er. »Ich – ich muß die Toilette finden. Ins

Schlafzimmer zu spucken – nee, das gehört sich nicht!« Die Tür des Transporters stand offen. Gerade streckte Pohl seinen

Kopf heraus. »He!« rief Tom überrascht, »wie kommst du denn in meinen

Schrank?« »Quatsch! Wo steckt Terrill?« »Was'n für'n Terrill? Hat der mitgesoffen?« »Das ist doch der Taxifahrer!« »Den hat meine Alte verjagt, ehrlich!« »Ach, die hat so gebrüllt? Dachte schon, es sei mein Vater, der alte

Antialkoholiker.« »Recht hat er, dein Vater. Verdammter Alkohol. Ich hasse ihn,

hupps. Mann, ist mir schlecht!«

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Tom taumelte davon. Irgendwo mußte doch die Schlafzimmertür sein, nicht wahr? Er mußte unbedingt auf die Toilette.

»Verdammt groß kommt es mir heute vor, mein Schlafzimmer. Kein Bett und nichts. Ist meine Alte etwa ausgezogen?« lallte er alarmiert.

Ein Gesicht tauchte vor ihm auf. Allmählich schälte es sich aus dem Alkoholnebel, der Toms Verstand einhüllte.

»Terrill, der Taxifahrer?« lallte er. He, das war vielleicht ein seltsamer Bursche: Hatte den Schädel

gespalten und verdrehte Augen. Scheußlicher Anblick. »Pohl!« rief Tom. Er lachte glucksend. »Weiß du was, mein Junge:

Wir sind auf einem Maskenball gelandet! Wer hätte das gedacht? Das erstemal – hupps –, daß auf unserer Londonfahrt wirklich or-dentlich was los ist.«

Er legte dem Toten mit dem gespaltenen Schädel den Arm kame-radschaftlich auf die Schulter.

»Sind hier auch Weiber? So richtige, ich meine…?« Der Untote grunzte ihn an. Tom lachte darüber. »He, Tom, wo bist du überhaupt?« rief Pohl

verzweifelt. »Direkt neben dir! Wenn du nichts verträgst, dann sauf auch

nichts, kapiert?« »Tatsächlich, sieht aus wie ein echter Toter. Ein Meisterwerk. Der

sollte einen Preis kriegen.« Der Untote packte Tom. Der lachte noch mehr. »Paß doch auf, Kerl, ich bin kitzlig!« Da waren noch mehr Tote. Teilweise waren sie schon halbver-

west. Es stank fürchterlich. Pohl hielt sich die Nase zu. »Puh, noch nie was von Deo gehört?« Er bezog es auf die Frau, die direkt vor ihm stand, noch feuchte

Erdkrumen in den Haaren. »Willkommen zum Gräberfest«, krächzte sie. »Tom, hast du das gehört? Tatsächlich ein Maskenball. Gräberfest

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nennen sie ihn. Deshalb haben die sich auch als Tote verkleidet. Ich rufe die anderen!«

Er torkelte zum Taxi zurück. Ein Untoter stellte sich ihm in den Weg. Pohl schob ihn beiseite. Der Untote wollte sich wehren. »Ich tanze nicht!« entschuldigte Pohl sich. Und da stürzten sich die Untoten geifernd auf ihn und Tom.

*

Ich haßte Ratten, ehrlich. Vor allem, wenn sie an meinen gefessel-ten Beinen nagen wollten und mir aus reiner Lebensfreude ins Ge-sicht sprangen.

Die fühlten sich in diesem Dreckloch unter dem alten Gasthaus wohl. Typisch für Ratten!

Ich wälzte mich hin und her, sofern es mir die Fesseln erlaubten. Die Ratten flohen pfeifend.

Feige Brut! Ich muß hier raus! dachte ich verzweifelt. Aber wie sollte ich das

schaffen? Die polternden Schritte oben waren verstummt. War ich nun al-

lein im Haus? Wieder griffen die Ratten an. Ich mußte ständig in Bewegung

bleiben. Dann bestand die Gefahr, daß ich sie unter meinem Kör-pergewicht zerquetschte. Das ließ sie zurückschrecken.

Ja, feiges Pack! Ich lag mit dem Kopf an der Wand und drehte mich nun mühsam

auf den Bauch. Die Ratten wimmelten pfeifend um mich herum. Hier und da wagten sie sich zu einem schnellen Biß vor.

Kaum lag ich auf dem Bauch, zog ich die Beine an und schob mich noch näher an die Wand heran.

Das Gestein war verdammt hart. Es schrammte über meine Wan-ge und hinterließ schmerzhafte Spuren.

Besser als von den Ratten!

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Noch näher, bis meine Schulter die feucht-modrigen Kalksteine berührte und ich Halt bekam.

Ja, es klappte! Ich schaffte mich langsam hoch, bis ich aufrecht knien konnte.

Schwerstarbeit, wenn man so gefesselt war. Das mit den Ratten war bestimmt Absicht gewesen. MANU hatte

mich zusätzlich peinigen wollen, während er anderweitig beschäf-tigt war. Doch das war kein Grund für mich aufzugeben.

Wahrscheinlich waren die Ratten genauso real wie das Gasthaus hier und wie MANU selbst.

Doch es spielte keine Rolle. Das eine war so tödlich wie das ande-re, falls man keinen Ausweg fand.

Für mich war auch die Sphäre, die MANU hatte entstehen lassen, absolut real. Das war deutlich genug bewiesen. Ich glaubte auch nicht, daß es einem Menschen gelingen konnte, sich dieser Macht zu entziehen.

Mir war es trotz meiner ›Gabe‹ nur zu einem geringen Teil gelun-gen.

Ich dachte wieder an die Ratten. »Wenn ich die Biester nur dazu bringen könnte, meine Fesseln

durchzunagen.« Ein frommer Wunsch, unerfüllbar. Jedenfalls würden sie es nicht auf Befehl tun, und auch nicht in

voller Absicht. Ein scharfer Biß am Bein. Erschrocken fuhr ich zusammen. Ein unverzeihlicher Fehler, denn dadurch verlor ich das Gleichge-

wicht und kippte rücklings um. Ich konnte es nicht verhindern, so eng verschnürt wie ich. Jemand hatte noch mehr Pech als ich: der heimtückische Beißer!

Das Biest pfiff sich die Seele aus dem Leib. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich war genau daraufgefallen und zerdrückte die Rat-te unter meinen Gewicht.

Die Zähne! durchzuckte es mich. Mir wurde unwillkürlich heiß. Ein wahnwitziger Gedanke. Konn-

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te ich ihn wirklich in die Tat umsetzen? Waren da oben nicht wieder Schritte auf dem derben Dielenbo-

den? Kamen die Untoten zurück? Tatsächlich! Sie tappten hin und her. Da waren Stimmen und lau-

tes Gegröle. Hatten sie den armen Terrill Borb erledigt? Konnten sie sich jetzt

wieder meiner Person widmen? Was stand mir bevor? Sicherlich war es noch schlimmer als das Spiel mit den Ratten. Die messerscharfen Zähne der toten Ratte konnten nicht mehr zu-

beißen. Jedenfalls nicht aus eigenem Antrieb. Es galt, etwas in die-ser Richtung zu tun.

Das war der wahnwitzige Einfall. Die Ratten griffen wieder an. Ich versuchte, sie in die Flucht zu ja-

gen. Aber sie waren hartnäckiger als vorher. Anscheinend hatten die schlauen Biester erkannt, wie hilflos ich war.

Die Bodenluke wurde geöffnet. Ein schmaler Lichtstrahl fiel in den Keller herab.

Die Zombies wollten wieder zu mir kommen! Endlich hatte ich die scharfen Zähne der toten Ratte gefunden. Ich

klemmte den Kadaver ein und begann, mit den Zähnen des Tieres an meinen Fesseln zu schaben.

Ja, die Zähne waren messerscharf, aber würde ich es rechtzeitig schaffen?

Ein Zombie erschien an der offenen Luke. Er lachte schadenfroh. War auch MANU bei ihm?

Die Ratten zogen sich zurück. Gottlob. Sie scheuten die Begeg-nung mit den Zombies. Selbst sie!

Ich schabte und schabte. Die Zähne rutschten immer wieder ab. Aber sie waren scharf ge-

nug. Es war nur eine Frage der Zeit. Meine Nackenmuskeln verkrampften sich. Sie wurden steinhart

und schmerzten höllisch. Doch ich durfte nicht aufgeben. Die Zombies kamen herunter. Und ich hatte die Fesseln immer

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noch nicht durch. Du bist die nützlichste Ratte, die mir jemals begegnet ist! dachte

ich in einem Anflug von Galgenhumor. Aber nur, wenn ich es schaffe. Eher nicht.

Die Ratten waren alle geflohen, außer der einen, die dies nicht mehr konnte und mit ihren Zähnen herhalten mußte.

Die Zombies kamen bedächtig herab. Ich hörte das Kichern von MANU. Ja, er war bei ihnen. Sie hatten etwas vor mit mir. Diesmal würde es endgültig sein…

Die Zähne der toten Ratte wetzten und wetzten… Endlich fielen die Fesseln. Die Zombies waren jetzt bei mir. Ich

zog die Arme auseinander. Der Strick löste sich vollends. Ich konn-te den Körper strecken, lockerte auch den Strick, der um die Beine gewunden war.

Die Zombies waren erstaunlich geschickt vorgegangen, aber sie hatten einen Fehler gemacht. Weil sie es eilig hatten:

Ich hatte den Strick nur an einer einzigen Stelle durchschaben müssen, um wieder freizukommen!

Ich zog die Beine an und federte vom Boden hoch. Die Zombies vor mir waren nur Schatten. Ich warf mich auf sie,

wollte mich hindurchkämpfen. Aber sie reagierten schneller als erwartet und schlossen sich wie

eine Mauer, durch die es kein Entrinnen gab!

*

Pohl lachte wie über einen Schabernack. Gewiß, die Zombies woll-ten ihn zu Boden knüppeln, aber irgendwie schafften sie das nicht. Wenn sie ihn überwältigen wollten, verloren sie ihre Kräfte. Alles, was sie taten, waren untaugliche Versuche.

Da hatte Pohl gut lachen. Und auch Tom. Pohl beugte sich in den Kleintransporter hinein und rief die Na-

men seiner Freunde.

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Murrend kamen sie heraus. Sie waren alle total betrunken. Und genau das war es, was ihnen das Leben rettete! Die Macht

MANUS erreichte ihre umnebelten Gehirne nicht. Der Alkohol ent-führte den Verstand in eine andere Welt, kapselte ihn von der Wirklichkeit ab.

Betrunkene sind deshalb unberechenbar und treiben die tollsten Dinge, an die sie sich später kaum noch erinnern konnten – oder überhaupt nicht.

Die magische Macht MANUS mußte versagen. Wenigstens zum großen Teil.

Die Zombies erschienen den Betrunkenen ganz real. Aber sie lern-ten dabei keineswegs das Fürchten, weil sie sich in ihren vernebel-ten Köpfen einbildeten, es handelte sich bloß um Maskierte.

Verrückte, Schwachsinnige, Idioten und – Betrunkene – falls sie so betrunken waren wie Tom und seine Freunde – waren nahezu immun gegen Magie.

Gemeinsam mit den Zombies taumelten sie die Straße entlang in Richtung Dorfplatz.

Nur Tom tanzte einmal aus der Reihe. »Ich habe keine Lust mehr«, maulte er, legte sich hin, rollte sich

zusammen und wollte schlafen. »Mir ist schrecklich schlecht. Außerdem bin ich müde. »He!« Pohl stieß ihn mit der Fußspitze an. »Wir sind nicht zu

Hause, Kumpel. Wir sind auf einem Maskenball. Hier wird nicht geschlafen.«

Ein anderer lallte: »Wo gibt es hier was zu saufen? Du da, mit dem Gesicht hinten, kannst du mal was besorgen? Meine Kehle ist wie ausgetrocknet.«

Tom stand auf. »Ich habe wirklich keine Lust mehr, Leute. Ich will jetzt heim.«

Sie taumelten ein Stück weiter und erreichten den Dorfplatz. Hier standen einige Wagen herum.

»Werden wir bald haben«, versprach Chris. Er blinzelte ein paar-mal, weil er es nicht recht glauben wollte: Aha, es war tatsächlich

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der Parkplatz für die Gäste des Maskenballs! Er torkelte auf einen Sportflitzer zu, öffnete den Wagenschlag.

»Wie gesagt, Tom: Ich werde dich heimbringen. Ganz echt. Sogar der Schlüssel steckt.«

»Die anderen Schlüssel auch«, lallten seine Freunde. Kein Wunder, denn die Besitzer dieser Fahrzeuge brauchten ihre

Wagen nicht mehr: Sie waren allesamt längst tot! Die Betrunkenen ahnten davon nichts. Chris schwang sich hinter das Steuer. Er drehte daran herum.

»Brumm, brumm!« machte er dabei und kicherte albern. Er fand es umwerfend komisch. Zwei Zombies wollten ihn aus dem Wagen zerren, aber sie schafften es nicht. Sie hatten einfach zuwenig Ge-walt über die Betrunkenen. Chris nahm es nicht einmal wahr.

Sein trunkener Verstand faßte einen Entschluß: »Ich – hicks – soll-te doch erst eine Probefahrt machen, nicht wahr, Jungs? Bevor ich Tom heim ins Bettchen bringe, wo seine Alte schon wartet.«

Er kicherte wieder. »He, nimm mich mit!« lallte Tom. »Nee, erst die Probefahrt, alter Junge. Das ist notwendig, weißt

du? Ich – hicks – kenne nämlich dieses Auto noch nicht. Muß mich erst einmal daran gewöhnen.«

»Und wenn der Besitzer kommt?« »Ihr könnt die anderen Autos nehmen!« rief Chris großspurig.

»Mir genügt der eine hier! Wenn die das nicht haben wollten, hät-ten sie – hicks – die Schlüssel nicht steckenlassen.«

»Der hat vollkommen recht!« sagte Pohl todernst. Er hatte eine halbverweste Frau im Arm und kam sich dabei wie ein Frauenheld vor. Weil er es nicht merkte.

Chris drehte kurz entschlossen den Zündschlüssel. Georg tanzte mit einer Toten vor der Motorhaube herum. Der Motor ließ ein sattes Bullern hören. Chris winkte Georg zu: »Mach Platz, Junge, jetzt komme ich!« »Brumm, brumm!« machte er und ließ die Kupplung schnellen. Georg verfehlte er haarscharf. Die Reifen quietschten. Der Sport-

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flitzer machte einen mächtigen Satz. Die Gruppe von Untoten, auf die er zuraste, hatten weniger Glück

als Georg: Chris fuhr mitten in sie hinein. Sie flogen durch die Luft, knallten auf die Karosserie, rutschten wieder herunter.

Chris ahnte trotz seines trunkenen Gehirns, daß er was Schlim-mes angestellt hatte. Deshalb drehte er eine Ehrenrunde.

Und da sah er, daß die Untoten sich unbeschadet aufrappelten. »Die sind ja Spitzenklasse!« rief er erfreut und fuhr sie gleich wie-

der über den Haufen. Die nächste Ehrenrunde. Diesmal wichen die Untoten rechtzeitig aus. Mit verzerrten Frat-

zen starrten sie ihm nach, während die anderen Betrunkenen lal-lend auf dem Dorfplatz herumtorkelten. Zwei stimmten ein Lied an. Sie grölten den Text so falsch, daß es nur noch wie unerträgli-cher Lärm klang.

Chris hatte die Lust an dem Spiel mit den Zombies verloren. Er verließ den Dorfplatz und gab Vollgas. Der Sportflitzer beschleu-nigte mit sagenhaften Werten und kam bald auf hundert Sachen. Er raste wie eine Rakete die Dorfstraße entlang in Richtung Friedhof.

Dort waren eine Menge Untote versammelt. Sie waren beim Ritu-al mit dem toten Terrill Borb.

Erschrocken trat Chris auf die Bremse. Aber der Wagen war schon viel zu schnell. Den konnte man nicht

so schnell wieder zum Stehen bringen. Ganz im Gegenteil: Da Chris mit aller Kraft auf die Bremse stieg,

brach der Wagen aus. Er drehte sich halb um sich selbst. Der Friedhof war erreicht. Die Räder des Sportflitzers blieben in

der aufgelockerten Erde hängen. Der Sportwagen überschlug sich seitlich.

Der Überrollbügel verhinderte, daß Chris im Innern zerquetscht wurde. So wurde er nur mächtig hin und her geschleudert, als der Sportwagen über die Zombiehorde hinwegrollte und endlich wie-der zum Stehen kam. Er stand zufällig wieder auf den Rädern.

Das Seitenfenster war geborsten. Chris kletterte weinend ins

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Freie. Er hatte schon wieder Glück, sonst hätte er sich an den Scher-ben den Leib aufgeschlitzt.

Kinder und Besoffene haben meistens einen besonderen Schutz-engel!

»Das – das wollte ich nicht!« heulte er. »Wirklich! Ich – ich wollte doch nichts kaputtmachen!«

Die Zombies rappelten sich schon wieder auf. Das beruhigte den heulenden Chris. Er ließ sich in ein offenes Grab plumpsen, das sich in der Nähe

befand. Rollte sich auf der zwar feuchten, aber andererseits weichen Erde

zusammen und war im selben Augenblick eingeschlafen. Der eigentliche Besitzer des Grabes beugte sich böse grollend

über ihn…

*

MANU schleuderte mir seine geistige Macht entgegen. Ich prallte zurück und fiel zu Boden.

Er verstärkte seine Macht und wollte mich lähmen. Irgendwie erschien er mir geschwächt, denn ich schaffte es relativ

leicht, mich zu wehren. Doch ich ließ es mir nicht anmerken und wartete, bis sich die

Zombies über mich beugten, um mich wieder zu fesseln. Kaum waren sie nahe genug, als ich mit aller Kraft aufsprang. MANU bemühte sich zwar, mich mit seinen geistigen Kräften

festzuhalten, doch vergebens. Die Zombies flogen in alle Richtungen davon. Es war für sie zu überraschend gekommen. Sie wollten sofort

wieder angreifen, behinderten sich jedoch gegenseitig. Ich sprang an MANU vorbei auf die Treppe. »Reißt ihn in Stücke!« geiferte er. Ich hetzte die steile Treppe hinauf. Oben erschien das Gesicht ei-

nes Zombies. Ich hämmerte beide Fäuste hinein, sprang aus der Bo-

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denluke und rannte auf den Gang hinaus. MANU schickte mir seine geistige Macht hinterher, aber je mehr

Abstand ich zu ihm gewann, desto leichter war es für mich, ihn ab-zublocken.

»Die verdammten Betrunkenen!« schimpfte er. »Sie haben mich zuviel Kräfte gekostet!«

Betrunkene? Was meinte er damit? Ich raste durch das Treppenhaus zur Haustür. Zwei Zombies wollten mich dort aufhalten. Sie wollten mich wei-

sungsgemäß in Stücke reißen. Ich duckte mich unter ihrem Zugriff hindurch und war draußen. Von überall rannten die verdammten Zombies herbei. Ich dachte wieder an die Betrunkenen. War MANU eine Panne

passiert? Ich wünschte es ihm. Kurz stoppte ich meinen rasenden Lauf. Wohin sollte ich mich wenden? Am besten, ich hätte mich im Keller direkt um MANU geküm-

mert. Er war der Schlüssel. Ihn mußte ich besiegen, sonst nieman-den. Die Zombies waren für mich unbesiegbar.

Aber im Keller war die Übermacht einfach zu groß gewesen. Ich hatte fliehen müssen. Das war meine einzige Chance gewesen.

Ich rannte mitten in das Gestrüpp des Vorgartens hinein, kämpfte mich hindurch.

Hinter mir schloß sich das dichte Gestrüpp wieder. Auch meine Verfolger hatten ihre liebe Not damit.

Endlich hatte ich auch das geschafft. Ich rannte über ein verwil-dertes Grundstück, immer weiter, bis zur nächsten Seitenstraße, die ebenfalls eine Sackgasse war, genauso wie die Straße, die am Gast-haus endete.

Eigentlich war es bewundernswert, was MANU mit seiner magi-schen Macht schaffte: Er hatte das Dorf in allen Einzelheiten entste-hen lassen. Eine eigene Welt. Er hatte sie mit Untoten bevölkert, an-statt mit Lebenden.

Wieso eigentlich?

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Auf der Straße war jemand. Kein Zombie, jedenfalls keiner, der mich verfolgte. Jemand anderes: Norma!

Sie wirkte nicht mehr wie eine geifernde Untote, die sich darüber freute, daß es mir endlich an den Kragen ging, sondern so wie vor-her, so wie ich sie kennengelernt hatte.

Sie stand mitten auf der Straße und weinte. Langsam kam sie näher. Ich blieb stehen und wandte den Blick. Kein Verfolger war zu sehen. Warum hatten sie es aufgegeben? Ja, wie beim erstenmal: Ich war verfolgt worden, aber sobald ich

mit Norma zusammengewesen war, hatten es die Verfolger aufge-ben. Was sollte ich jetzt davon halten? Wußte MANU nicht genü-gend über mich? Warum ließ er mich nicht zu Tode hetzen? Dann hatte er doch, was er brauchte?

Oder gab es etwas, was ich noch nicht, wußte? Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie zeigte es mir, indem sie die

Hände herunternahm. Dieses Gesicht wirkte lebendig, genauso wie die Augen. Norma

wirkte überhaupt nicht wie eine Untote, sondern wie ein ganz nor-males, lebendiges Geschöpf.

»Bitte, Mac, hilf!« flehte sie mich an. »Helfen?« Was sollte nun das schon wieder? »Mac, du begreifst es nicht.« »Was gibt es zu begreifen?« »Du verkörperst das Gute, Mac. Deshalb lebst du noch.« »Ich lebe noch, weil ich alles dafür getan habe!« widersprach ich

zerknirscht. Ich dachte an die tote Ratte und daran, daß ich mit ih-ren Zähnen meine Fesseln durchgeschabt hatte. Scheußlich, zuge-geben, aber mir war nichts anderes übriggeblieben.

»Du irrst dich, Mac. Ich weiß es genau. Als du kamst, hat MANU gespürt, daß du eine Gefahr für das Böse bist. Es hat eine Weile ge-dauert, bis er es begriff. Du hast ihn auf dich aufmerksam gemacht. Da konnte er dich endlich orten. Er hätte dich auf der Stelle töten lassen können, hat es aber nicht getan.«

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»So?« »Ja, Mac, glaub mir: Weil du das Gute verkörperst! Er mußte dich

studieren, wollte wissen, was das Gute war. Er wollte wissen, wie-so du ihm zum Teil widerstehen konntest. Denn er wollte mächtig sein und alles perfekt beherrschen. Schließlich war es seine eigene Welt!«

»Ein Traum!« Sie lachte mitleidig. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen

weg. Ihre Augen waren dick verquollen vom Weinen. »Es ist so schrecklich traurig, Mac. Aber ich kann dir nicht alles

sagen.« »Wieso nicht?« »Es – es geht nicht. Die – die Umstände verhindern es.« »Was für Umstände?« »Ja, Mac, nenne es einen Traum, alles dies, was du hier siehst. Ir-

gendwie stimmt es sogar. Mehr als ein Traum ist es nicht. Ein ver-fluchter Alptraum von MANU. Und wir alle sind die Gefangenen seiner Träume – du genauso wie ich. Außer den Betrunkenen, wie es scheint. Dies ist eine ganz neue Erfahrung für MANU.«

»Wo kommen sie her?« Ich blieb zurückhaltend. Vielleicht konnte ich so Entscheidendes erfahren?

»Einer liegt sogar in einem Grab und schläft, als wäre er daheim im Bett. Sie ahnen nicht, was um sie herum vorgeht, und die Zom-bies haben genausowenig Macht über sie wie MANU. Sie sind für die Zombies unangreifbar. Und doch nehmen sie an dem Gesche-hen teil. Es geht nicht anders, weil sie sich im Einflußbereich des Traumes befinden.«

»Was ist eigentlich mit dir, Norma? Du spielst eine Hauptrolle in diesem grausigen Spiel. Um was geht es dabei?«

»Was mit mir ist?« Sie lachte wieder. Aber es war kein fröhliches Lachen: Tränen der Trauer rannen ihr dabei über die Wangen. Es war ein Lachen voller Bitterkeit.

»Ich bin der Grund für alles, verstehst du, Mac? Es geht einzig und allein um mich. Ich bin das Motiv. Deshalb ist alles so, wie es

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ist.« Sie wich vor mir zurück, als hätte sie auf einmal Angst vor mir. »Der tödliche Traum. Der Alptraum für alle, nicht nur für die Op-

fer, sondern auch für den Täter, der selber darin gefangen ist. Er schafft es nicht, die Geister zu bändigen, die er gerufen hat. Und ich bin es, derentwegen es geschieht.«

Ich folgte ihr. Sie floh um so schneller. »Was geschieht?« rief ich hinterher. Sie rief zurück: »Finde es heraus, Mac! Es ist das Geheimnis. Löse

das Rätsel vom Höllendorf und das Rätsel um Norma und MANU. Löse es! Das ist die einzige Chance.«

»Wie?« »Befreie MANU und damit dich selbst!« Ich keuchte hinterdrein und schaffte es dennoch nicht, sie einzu-

holen: Sie lief schneller, als es ein Mensch je vermocht hätte. Des-halb gab ich es auf.

Sie verschwand. Aber ich hörte aus der Ferne noch ihre Stimme: »Ich bin schuld an

allem. Ganz allein ich. Oh, verzeiht mir, alle ihr verfluchten Seelen!«

Ich rannte wieder weiter, bog um die Kurve. Da war sie. Norma stand auf der Straße, das Gesicht mir zugewandt. Sie schrie gellend auf und warf die Arme in die Luft. Dann be-

gann sie zu zerfließen, wie Butter auf dem Herd. Ich war unfähig, mich ihr zu nähern. Entsetzt schaute ich zu, was

weiter geschah. Ein paar Zombies torkelten herbei, in meine Richtung. Sie lallten

wie Betrunkene. Oder waren es die echten Betrunkenen? Ich betrachtete sie. Nein, es waren Zombies. Ein Blick zu den Häusern empor. MANU war geschwächt. Das wurde jetzt überdeutlich. In dieser

Nacht war zuviel geschehen. Bis jetzt hatte er es immer gut ge-

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schafft, hatte unschuldige Opfer in die Falle gelockt und die Rituale durchgeführt. Dabei waren die Seelen der Unglücklichen von ihm aufgenommen worden. Er hatte davon gezehrt.

Das glaubte ich. Und dann war ich gekommen, und jetzt waren auch die Betrun-

kenen durch ein Versehen MANUS ins Dorf gelangt. Ein Flimmern ging über die Häuser hinweg. Sie ächzten in ihren

Grundfesten. Norma zerfloß zu einem Nichts. Dennoch hörte ich ihr Schluchzen, das sich langsam entfernte. Allmählich verfestigten sich die Häuser wieder. Auch die Zombies waren verschwunden, als hätten sie sich in

Luft aufgelöst. Ich schüttelte den Kopf. Was war geschehen? Was hatte zum Höl-

lendorf, zu MANUS Macht geführt? Was war der Sinn dieser schrecklichen Falle?

Und wieso hatten alle Beschwörungsformeln nichts genutzt? Handelte es sich trotz allem gar nicht um Schwarze Magie? Wie

wäre das möglich gewesen? Ja, eine andere Erklärung gab es nicht dafür, daß meine magi-

schen Formeln nichts genutzt hatten und selbst die gnostische Gemme versagen mußte.

Ich sollte das Geheimnis ergründen? Ja, das würde ich tun. Etwas anderes blieb mir auch gar nicht übrig.

Ich ging weiter, ganz automatisch wieder in die Richtung, in der das alte Gasthaus lag.

Dies war der Dreh- und Angelpunkt, weil sich dort MANU be-fand.

Unterwegs begegneten mir keine Zombies mehr. MANU hatte sichtlich Schwierigkeiten, die Sphäre auch noch wei-

terhin aufrechtzuhalten. Ich spürte auch, daß er nach mir suchte – mit seiner geistigen

Macht. Immer wieder spürte ich Berührung in meinem Gehirn, aber ich tarnte mich so gut, daß er mich nicht bemerkte.

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Plötzlich sah ich mich einer Gruppe von Zombies gegenüber. Aber sie taumelten davon, ehe sie mich überhaupt entdeckt hatten.

Ich würde den Fluch von HELL nur über MANU lösen können. Das war klar. Es bestärkte mich in meinem Entschluß, den Weg fortzusetzen. Vielleicht gab es diesmal im Gasthaus eine Chance für mich? Jetzt, wo MANU offensichtlich geschwächt war?

Oder war das nur ein Trick von ihm, mich in falscher Sicherheit zu wiegen und damit zum Gasthaus zurückzulocken? Damit er kei-ne Zeit mehr mit langem Suchen verlor?

Ein Risiko, das ich eingehen mußte, denn als ich auf die Uhr schaute, war es kurz vor eins!

Es bedeutete, daß die Geisterstunde bald vorbei war. Möglicher-weise gleichzeitig auch der Einfluß MANUS!

Eine wahnsinnige Möglichkeit kam mir in den Sinn: Wenn die Geisterstunde vorbei war, verschwand das Dorf. Der ganze Spuk war weg.

Aber der Spuk würde irgendwann erneut entstehen. Es blieb frag-lich, ob mir dann eine Chance blieb, etwas gegen MANU zu unter-nehmen: Denn er würde neu gestärkt sein. Ich würde ihn niemals mehr so geschwächt wie jetzt vorfinden!

Deshalb beschleunigte ich meine Schritte. Ich bog in die Sackgasse ein, an deren Ende das alte Gasthaus stand.

Die Straße war leer. Die Haustür stand weit offen, gähnte mir dunkel entgegen – wie zur Einladung!

Vorsichtig sicherte ich nach allen Seiten. Die Häuser rechts und links erschienen leer und verlassen. Ich ging weiter. Bald hatte ich die Hälfte der Strecke hinter mir. Noch ein paar Schritte. In diesem Augenblick flogen die Türen der Nachbarhäuser auf.

Auch die Fenster. Die Zombies quollen zuhauf daraus hervor. Sie schienen überall

gleichzeitig zu sein. Also doch: Alles nur eine Falle für mich! Ich war wieder einmal

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darauf hereingefallen. Die Zombies fielen über mich her…

*

Der patrouillierenden Polizei war nicht verborgen geblieben, daß Terrill Borb mit seinem Taxi auf den berüchtigten Seitenweg abge-bogen war – ohne es zu wissen.

Inzwischen hatte man sich noch einmal dort hineingewagt, um nach den letzten Verschwundenen Ausschau zu halten.

Niemand ahnte, daß sich die Polizisten so lange im Wald ver-steckt hielten, bis sie ihre Angst überwunden hatten.

Polizisten waren auch nur Menschen! Seit der MG von Mac Kinsey in den Seitenweg abgebogen war,

war eine Menge passiert, aber es waren real nur etwa fünfundfünf-zig Minuten vergangen!

Der Streifenwagen, der sich am nächsten befand, sollte auch dem Taxi folgen.

Das taten die beiden Polizisten auch: zwei Sergeanten. Alle beide waren mit Schußwaffen ausgerüstet.

Sie fuhren so weit in den Seitenweg hinein, bis sie von der Haupt-straße her nicht mehr gesehen werden konnten.

Dann stoppten sie und schauten mit gespreizten Nackenhaaren in die Dunkelheit hinein.

»Mach das Licht aus!« empfahl der Beifahrer. Der Fahrer gehorchte. Jetzt war erst recht nichts mehr zu sehen. Die beiden lauschten. Auf der Hauptstraße kam ein Fahrzeug

vorbei. Kollegen? Das Fahrzeug fuhr weiter. Um diese Zeit war auf der Hauptstraße immer noch Verkehr, wenn auch weit weniger als noch Stunden zuvor.

Sonst war nichts zu hören. Der Beifahrer kurbelte das Fenster ein Stück herunter. Im Wald war es sehr still. Nicht einmal Tierstimmen.

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»Als würde selbst die normale Natur diesen Ort vermeiden«, murmelte der Beifahrer.

»Mit Recht!« kommentierte sein Kollege mißgelaunt. Er verbarg seine Angst vor dem Ungewissen hinter gespieltem Zorn.

»Ich frage mich, was die ganze Aktion überhaupt soll? Gut, es sind ein paar Leute verschwunden. Es ist unsere Aufgabe, der Sa-che nachzugehen. Und dann haben Kollegen den MG bemerkt. Er kam ihnen verdächtig vor. Er bog in diesen Seitenweg hier ein. Na und? Vielleicht ein Typ, der nachts nicht schlafen kann und deshalb gern spazierenfährt? Und dann ging er hierher, um sich die Füße zu vertreten.«

»Alle sind verschwunden!« erinnerte ihn sein Kollege. »Auch die beiden Kollegen, die ihm folgten…«

»Wer weiß? Vielleicht sitzen sie irgendwo und trinken einen über den Durst?«

Dem anderen kam eine Idee. »Moment mal, apropos einen trin-ken: War hier nicht einmal ein Gasthof? Ein Ausflugziel fürs Wo-chenende?«

Der Fahrer runzelte die Stirn. »Worauf willst du hinaus?« Er konnte das Gesicht des Beifahrers nur als hellen Klecks wahr-

nehmen. Obwohl sich seine Augen an die Düsterheit gewöhnt hat-ten.

»Hier gibt es nur den alten Gasthof, ein halbzerfallenes Gebäude. Niemand wollte es haben, als der alte Besitzer verstarb. Anschei-nend hat sich das Lokal nie so recht rentiert. Nur am Wochenende für Ausflügler und das auch nur, wenn entsprechend schönes Wet-ter war. Da kann man keineswegs reich werden.«

»Ich verstehe immer noch nicht…« »Na, ich glaube, daß sich dort eine Bande versteckt hält.« »Eine Bande von Kidnappern?« »So etwas Ähnliches.« »Und die hypnotisieren jeden, der sich ihnen nähert?« Der Fahrer

schüttelte den Kopf. »Nee, mein Lieber, da kann ich dir leider nicht

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folgen. Ich finde es unsinnig. Wenn du mich fragst: In dem alten Haus spukt es gewaltig, und dieser Spuk hat sich allmählich ausge-breitet und terrorisiert die ganze Umgebung.«

»Das meinst du wirklich?« »Ja, ich sage es ganz offen: Hier gehört keine Polizei her, sondern

ein richtiger Geisterbeschwörer!« »Sag das mal unseren Vorgesetzten!« »Lieber nicht. Die stecken mich sonst noch in die Klapsmühle. Ich

muß halt eben abwarten, bis die selber drauf kommen.« »Und in der Zwischenzeit?« »Halten wir uns möglichst raus! Probier mal, ob das Funkgerät

funktioniert.« Der Sergeant probierte: mit Erfolg! »Taxi verschwunden!« meldete er der Leitstelle. »Als hätte es sich

in Luft aufgelöst.« »Genau wie die anderen!« sagte der auf der Leitstelle erschro-

cken. »Vorläufig Ende!« »Was hat das denn wieder zu bedeuten?« fragte der Sergeant. Die Leitstelle meldete sich wieder: »Order von oben: Das Waldge-

biet ist zu umstellen. Die Verschwundenen müssen sich in diesem Gebiet befinden. Bleiben Sie dort!«

»Verdammt!« entfuhr es dem Fahrer. Er schaute durch die Wind-schutzscheibe hinaus. Ihm war, als lauerten dort vorn Monsterfrat-zen. Sie lockten.

Er schrie unwillkürlich auf.

*

Ich kämpfte um mein Leben. MANU hatte seinen Zombies befoh-len, mich in Stücke zu reißen. Sie würden es tun!

Zwei mähte ich mit Fausthieben um. Andere stiegen über sie hinweg. Es waren einfach zu viele. Ich kämpfte mit Fäusten und auch mit

Fußtritten.

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Gegen Zombies war alles hoffnungslos. Selbst wenn es weniger waren. Man konnte sie nicht kampfunfähig machen. Höchstens mit einem Flammenwerfer, und den hatte ich nicht.

Sie knüppelten mich brutal zu Boden. Aus der offenen Haustür kam das Triumphgeheul MANUS. »Bringt ihn mir!« kreischte er. »Aber paßt auf, daß er mir nicht zu

nahe kommt.« Aha, das hatte er also auch schon selbst erkannt! Sie schleppten mich näher. Ich sah, daß MANU vor die Tür trat.

Er war ein schwarzer Schatten, mehr nicht. Kein Gesicht war zu se-hen, nur seine glühenden Augen. Wie zwei Kohlestücke.

Norma war auch da. Sie stand ein wenig abseits, mit verweintem Gesicht, wie ich sie zuletzt gesehen hatte.

»Mac!« rief sie mir zu und streckte die Arme aus, als sollte ich zu ihr hinfliehen.

Die Zombies hielten mich eisern fest. Ich mußte die Zähne fest zu-sammenbeißen, um nicht vor Schmerzen laut aufzuschreien, denn die Zombies gingen nicht gerade zimperlich mit mir um.

»Laß mich endlich töten, MANU!« rief ich. »Worauf wartest du noch? Ich denke, deine Untoten sollen mich in Stücke reißen?«

»Du bist in meiner Gewalt!« kreischte er. »Langsam wirst du ster-ben. Wie du es verdient hast.«

»Wo soll das Ereignis denn stattfinden? Hier, vor den Augen Nor-mas? Oder im Keller, bei den Ratten?«

»Ja, genau hier!« kreischte er. »Beginnt an seinen Beinen: Reißt das Fleisch in kleinen Stücken von seinen Knochen. Laßt euch Zeit damit. Ich will ihn leiden sehen.«

Ich lachte schallend. »Du Narr! Du willst es wirklich wagen – vor Norma?« »Wieso nicht?« »Siehst du nicht, wie sie jetzt schon leidet? Nicht mir tust du et-

was an, sondern ihr. Alles dies hast du ihretwegen geschaffen. Aber sie nimmt das Geschenk nicht an. Sie erträgt es kaum. Es quält, es martert sie. Und jetzt willst du den Rest von Zuneigung

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vernichten, die sie noch für dich empfindet?« »Was redest du da?« »Was hast du aus der armen, unschuldigen Norma gemacht? Was

wurde aus dir selbst, MANU?« »Aufhören!« befahl er, daß es über das ganze Dorf hallte. »Sofort

aufhören!« Er preßte die Hände auf die Ohren. »Befiel deinen Zombies, mich ganz langsam in Stücke zu reißen,

mich auf grausige Art zu töten. Du bist ein Scheusal. Nur eine grausame Bestie wie du bringt solches fertig. Ja, was ist aus dir ge-worden? Was aus deiner Liebe zu Norma?«

Jetzt war es heraus. Es war nicht mehr als nur ein vager Verdacht meinerseits, worauf sich meine Taktik stützte. Wenn ich den ge-ringsten Fehler machte, war es aus mit mir…

Die Sekunden tickten dahin. In der Tat: Die Sekunden tickten! Die Zeit verstrich, als hätte

MANU keinen direkten Einfluß mehr darauf. »Verfluchter!« schrie MANU, aber es klang nicht mehr so mäch-

tig. Es klang nicht einmal bösartig. »Du widerst sie an!« brüllte ich. »Wie könnte sie dich noch lieben?

Du bist ein Monster.« Die Zombies drückten mich grunzend zu Boden, daß ich kaum

noch Luft bekam. »Norma!« kreischte MANU. »Stimmt es, was er sagt?« »Natürlich stimmt es!« mischte ich mich ein, bevor die weinende

Norma noch etwas sagen konnte. »Ein so schönes Mädchen und so ein Scheusal wie du. Siehst du nicht, wem sie eher zugeneigt ist? Sie bangt um mich! Deshalb weint sie. Am liebsten würde sie mir helfen, sogar gegen die Übermacht deiner Zombies. Sie liebt mich ungleich viel mehr als sie dich noch lieben könnte.«

»Das ist nicht wahr!« »Dann schau sie dir an, MANU. In welche Richtung sieht sie? In

deine oder in meine? Schau, wie sie leidet – meinetwegen, nicht deinetwegen!«

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MANU stimmte ein schreckliches Gezeter an. »Du verlierst sie!« bohrte ich weiter. »Für immer!« »Nein!« kreischte er. »Es darf nicht sein!« MANU fiel auf die Knie. Seine Augen glühten stärker als vorher. Was war zwischen ihm und Norma vorgefallen? Wie war es zu

allem gekommen? Hatte MANU sie an den – Tod verloren? Deshalb das Gräberfest,

bei dem die Toten zu neuem Leben erweckt wurden? Es war die einzige Möglichkeit. Deshalb war ich so vorgegangen. War es wirklich gelungen? »Wer bist du wirklich, MANU? Du bist unmöglich der alte Ma-

gier aus der Vergangenheit. Er war ein Scharlatan, sonst hätte ich mehr von ihm gehört als nur eine Notiz in einem schlechten Buch.«

Der Sekundenzeiger meiner Rolex bewegte sich nicht mehr. MANU schien die Zeit wieder in den Griff zu bekommen.

Er lachte grausam. »Also gut, Mac Kinsey, du hast deinen Spaß gehabt. Jetzt bin ich

wieder am Zug. Ich muß sagen, du bist geschickt vorgegangen. Bei-nahe wäre es dir gelungen, mich aus dem Gleichgewicht zu brin-gen. Aber nur beinahe.«

»Du hast nur wegen Norma gezögert, mich gleich umzubringen, als du mich geortet hast!« So schnell gab ich nicht auf! »Nicht nur aus Neugierde, um mein wahres Wesen zu ergründen. Das Gute und das Böse hielten sich hier immer die Waage. Das Böse tötete all die unschuldigen Opfer, aber das Gute, das war Motiv für alles. Wäre es nicht so gewesen, hätten meine Beschwörungsformeln ge-nutzt. Aber die Untoten, die hier deine unschuldigen Opfer emp-fingen, wollten tatsächlich niemanden etwas Böses tun. Sie wollten die Lebenden vom Leben befreien. In dem Irrglauben, der Tod sei für sie besser. Ich weiß es. Und jetzt ist mir klar, warum all meine Maßnahmen versagen mußten.

Du verkörperst das Böse, MANU, aber Norma ist das Gute! Sie ist eine Projektion deines Ichs. Sie ist die eine Hälfte von dir, die positi-ve. Das andere ist MANU, das schreckliche Scheusal, die Ausge-

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burt der Hölle!« »Hört, hört!« höhnte MANU. Ich werde Zeit gewinnen! hämmerten meine Gedanken. Es muß

noch eine Chance geben. Es muß einfach. Dies hier darf nicht so bleiben. Die Polizei wird sich zwar bemühen, die Gefahr zu beseiti-gen, aber sie ist machtlos. MANU wird über alle triumphieren. Si-cherlich wird er beim nächstenmal noch stärker sein. Seine Macht wird wachsen. Wohin soll das noch führen?

Ich hob den Kopf. Ja, Zeit gewinnen. Die Betrunkenen sind ein wesentlicher Störfaktor. Es kann sein, daß sie das Zünglein an der Waage sind, damit der Zeiger zu meinen Gunsten ausschlägt!

Es war ein Wunsch von mir, die einzige Hoffnung. Aber ich hörte die Betrunkenen nicht kommen, sondern hörte nur

das kreischende Gelächter MANUS und das Weinen Normas. Gut und Böse in dieser Sphäre. Das Böse überwog im Moment –

und die Zombies machten sich daran, mir ihre Krallen in die Beine zu schlagen, um endlich den Befehl auszuführen: mir das Fleisch von den Knochen zu schälen!

*

Tom und Pohl lagen sich johlend in den Armen und taumelten die Straße entlang.

»He, ist da nicht 'ne Versammlung?« Pohl war zu betrunken, um etwas zu sehen. »Tatsächlich?« lallte er. »Ja, doch! Ich glaube, dort gibt es endlich was zu trinken. Lahme

Feste feiern die hier. Ich bin echt enttäuscht. Hätte mir mehr erwar-tet von einem Maskenball.«

»Ich mir auch!« Johlend näherten sie sich der Versammlung. »Mir ist schon wieder schlecht!« maulte Tom. »Ich will zu meiner

Alten. Auch wenn sie immer mit mir schimpft.« »Ich will auch nach Hause!« Pohl weinte auf einmal. »Ich mag

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den Maskenball nicht mehr.« »Sieh dir diese Kerle an. Keinen Sinn für Humor. Aber gute Mas-

ken haben sie. Das muß ihnen der Neid lassen.« »Ja, das stimmt!« bestätigte Pohl mit schwerer Zunge. »Komm mit, mein Junge. Entweder die geben uns was zu saufen,

oder sie bringen uns auf der Stelle heim. Das verlange ich von ih-nen. Und wenn nicht…«

»Wenn nicht?« »Ich schlag' sie windelweich!« »Ich sie auch!« freute sich Pohl. Und da sah Tom trotz seines vernebelten Verstandes, daß die

Zombies jemanden zu Boden gezwungen hatten. Jetzt waren sie ge-rade dabei, ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen.

»Schlägerei!« lallte er ungläubig. Er ließ von Pohl ab und zupfte seine Ärmel hoch. »Alle gegen einen. Das kann ich nicht leiden.« »Ich auch nicht«, bestätigte Pohl und hob die Fäuste. »Wo – wo

findet denn der Kampf statt?« Tom winkte ihm zu. »Alle Mann mir folgen! Attacke!« Die Zombies waren abgelenkt und ließen von ihrem Opfer ab. Sie

wandten sich den Betrunkenen zu. Weiter hinten kamen auch noch andere: Kameraden von Tom

und Pohl. Alle wollten noch etwas zu trinken haben. Keiner von ihnen ahnte, was für ein Glück sie hatten, daß sie be-

reits gehörig einen in der Krone hatten. Tom und Pohl ließen die Zombies kommen. Mit ungezielten

Fausthieben schickten sie die Zombies in die Flucht. Die Untoten hatten einfach keine Chance gegen sie. Die anderen Betrunkenen eilten herbei, um ihren Freunden zu

helfen – so schnell es eben ging. Unterwegs stolperten sie ein paar-mal.

Eine Massenschlägerei entstand. Sie war sehr ungleich.

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*�

Normas Erscheinung schwankte. Sie wurde teilweise durchschei-nend.

Endlich! Ich hatte MANU also doch noch lange genug hinhalten können. Die Betrunkenen waren da, und sie brachten erwartungs-gemäß alles durcheinander.

Hoffentlich erinnerten die sich später niemals mehr an diese Nacht! Sonst würden sie im nachhinein noch verrückt!

Norma löste sich weiter auf. Ich verstand: Das Gute, das sie ver-körperte, vermischte sich wieder mit dem Bösen von MANU!

Mit einem einzigen Ruck machte ich mich frei. Ich sprang auf und sprintete zu MANU hinüber.

Alles mußte blitzschnell gehen. Sonst gab es keinen Erfolg. Ich erreichte MANU. Abwehrend riß er die Arme hoch. Es nutzte ihm nichts. Mit einem gezielten Fausthieb trieb ich ihn

in den Hausgang hinein. Die Zombies rannten herbei. Ich packte einen Arm von MANU und drehte ihn auf den

Rücken. Der Arm fühlte sich ganz normal an: Der Arm eines leben-den Menschen!

»Pfeif sie zurück!« befahl ich und drehte weiter, daß es in der Schulter MANUS knackte.

Die Zombies stoppten tatsächlich vor der Tür, auch ohne klaren Befehl.

»Wer bist du wirklich?« fragte ich hart. »Wie – wie meinst du das?« stöhnte MANU. »Du bist nicht der alte Magier. Du hast nur sein Erbe beschworen.

Du warst mit Norma verbunden. Was ist passiert?« »Ich – ich heiße Samuel Steinfeld!« keuchte der junge Bursche. Ich

konnte jetzt deutlich sein Gesicht sehen. »Lassen – lassen Sie mich los!« Diesen Gefallen tat ich ihm keineswegs. »Ich will wissen, wie es zu all dem kam!«

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»Ich – ich habe mich schon immer für Magie interessiert, Mr. Kin-sey, brennend sogar. In meinem Besitz befanden sich einige sehr kostbare Werke, unter anderem das Werk von MANU. Komplett. Kein Wunder, denn MANU war einer meiner Vorfahren.«

»Du hast seine Lehren aufgenommen und angewendet?« »Ja, Mr. Kinsey. Ich sah keinen anderen Ausweg mehr. Aber ich

weckte Geister, die ich nicht zu beherrschen vermochte. Genauso wie mein Vorfahr. Er verstrickte sich wie ich in seiner eigenen Sphäre und konnte nicht mehr zwischen der schrecklichen Illusion und der Wirklichkeit unterscheiden.

Jahrelang ging das bei ihm so, bis er eines Tages eines natürlichen Todes starb. Er war damals schon ein alter Mann gewesen. Sein Körper hatte sich immer in der Wirklichkeit befunden und war des-halb wenigstens teilweise den realen Gesetzmäßigkeiten unterwor-fen. So beherrschte er den Tod in seiner vollkommenen Art nur in der Sphäre, aber nicht in der Realität.«

»Warum hast du es getan?« »Das Werk enthielt eine deutliche Warnung. Aber ich hörte nicht

mehr darauf, nachdem…« Er brach ab. »Was war?« drängte ich. »Norma« weinte er. »Sie – sie war ein großartiges Mädchen. Nie-

mals habe ich eine gekannt, die auch nur so ähnlich war. Sie war das Licht, die Sonne in dieser tristen Welt.«

»Was widerfuhr ihr?« »Sie war eine schlechte Autofahrerin. Niemand weiß, wie es wirk-

lich geschah. Es gibt nur eine Theorie darüber: Sie wich mit dem Auto einem Wild aus und kam dabei von der Straße ab. Sie raste in den Wald.

Schwer verletzt schleppte sie sich zur Straße zurück. Sie lag am Straßenrand, in ihrem Blut. Stundenlang, fast die ganze Nacht. Sie winkte vorbeifahrenden Autos zu, flehte um Hilfe. Begreifst du, Mac Kinsey? Keiner der Autofahrer hielt an. Sie fuhren allesamt vorbei. Diese verdammten Schweine. Sie hatten keine Zeit für Nor-

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ma. Bis sie gegen Morgen von der Polizei gefunden wurde. Da war sie

nicht mehr zu retten!« Ich spürte eine Gänsehaut auf dem Rücken. Wirklich, eine furcht-

bare Geschichte! »Sie hatte eine echte Chance zu überleben, Mac! Doch alle ließen

sie liegen. Dafür sollten sie bezahlen. Sie sollten büßen für ihre Missetat.

Ich studierte noch einmal die Lehren von MANU. Ich wurde sel-ber zu MANU. Die Sphäre entstand. Ich hockte im verlassenen Haus von Normas Onkel.

HELL wurde geboren, die Hölle auf Erden. Hier sollten die Schweine alle sterben. Norma zu Ehren.

Ich lockte sie herbei. Nur die Toten waren fröhlich. Norma ent-stand in der Sphäre wieder. Meine Norma! Sie durfte nicht leiden. Es sollte alles wie ein Fest sein.«

Ich hob den Kopf und schaute hinaus. Freies Feld, vom Mond beschienen. Kein Dorf mehr. Der Spuk war vorbei. Nur die Betrunkenen torkelten noch umher. Allmählich kamen

sie zur Ruhe, ließen sich einfach zu Boden sinken und begannen zu schnarchen.

Sie waren glücklich dran. Ich hoffte noch einmal, daß sie sich nie-mals erinnern würden, wenn sie wieder nüchtern waren!

Samuel Steinfeld hing schlaff in meinen Armen. Ich ließ ihn vor-sichtig zu Boden gleiten.

»Ich – ich habe keine Kraft mehr, bin total ausgelaugt«, stöhnte er. »Ich werde sterben, Mac Kinsey, hörst du? Jetzt, da du alles erfah-ren hast, da die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Du hast mich aus meiner eigenen Alptraumwelt befreit und gleichzeitig dich selbst.«

Er klammerte sich an mir fest. »Mac, eines mußt du mir noch versprechen!« »Ja?« fragte ich mitleidig.

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»Du mußt das Buch von MANU verbrennen! Es darf niemals mehr geschehen, was geschehen ist. Versprichst du es mir? Obwohl ich nichts bereue.«

»Es waren Unschuldige, die du in den Tod gelockt hast!« warf ich ihm vor.

»Glaubst du wirklich?« hauchte er sterbend. »Allein daß so etwas mit Norma geschehen konnte, diese Gleichgültigkeit, die unsere Zeit beherrscht… Das ist doch Schuld genug! Jeder muß eines Ta-ges bezahlen, Mac. Ich glaube daran. Die Gerechtigkeit macht vor keinem halt. Auch vor mir nicht, wie du siehst!«

»Wo ist das Buch von MANU?« Ich richtete mich auf. Samuel Steinfeld lag zu meinen Füßen. Er hörte auf zu atmen. Samuel Steinfeld, alias MANU, war tot. Er konnte nicht mehr ant-

worten. Ich trat vor das Haus. Ja, ich werde das Buch vernichten. Wie ich es versprochen habe. Es ist besser so! Langsam ging ich über die große Lichtung. Die Wagen der Ver-

schwundenen standen herum. Ich sah auch ihre Leichen. Ein grau-siger Anblick.

Über den alten Weg, der einst nur zum Gasthof geführt hatte, brausten Polizeifahrzeuge heran.

Ich blieb stehen, bis sie mich erreichten. Zwei Zivilisten vertraten mir den Weg. Sie bedrohten mich mit

Schußwaffen. »Wer sind Sie?« »Ich heiße Mac Kinsey!« sagte ich unschuldig. Sie tauschten Blicke aus, die beiden. Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wo bin ich überhaupt?

Wie bin ich hergekommen? Ich kann mich an nichts erinnern!« Das war wohl das beste. Ich wollte jetzt nur noch schlafen. Ich wußte, daß Sir Horatio Mer-

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riman seine Beziehungen spielen lassen würde. Bald war ich wie-der auf freiem Fuß.

Jetzt war ich den Polizisten sogar dankbar, daß sie mich festnah-men.

Ich hatte mir den Schlaf redlich verdient. Und ich war nicht wäh-lerisch. Ich nahm auch mit einer Zelle vorlieb. Hauptsache, ich hat-te meine Ruhe…

ENDE

In vierzehn Tagen erhalten Sie den packenden Mac Kinsey-Grusel-Thriller Nr. 16 Jake Ross hat ihn geschrieben. Er heißt:

Der Unheimliche von der Themse�

Hier eine kleine Kostprobe: Jemand wollte mir an den Kragen.

Ich spürte einen heftigen Stoß zwischen den Schulterblättern, se-gelte aus der Warteschlange an der Haltestelle nahe der Portobello Road und stürzte trotz rudernder Armbewegungen vor einen roten Doppeldeckerbus der 41. Linie.

Jetzt ist es aus mit dir! war mein einziger Gedanke. Doch so schnell stirbt es sich nicht mal mittags um zwölf im Lon-

doner Verkehrsgewimmel. Ich fiel auf Knie und Hände, hörte Menschen entsetzt schreien

und mechanische Bremsen und radierende Gummiräder durch-dringend kreischen, und wie eine gigantische rote Wand sah ich die Front des Busses über mir auftauchen.

Dann kriegte ich was an die Birne und tauchte butterweich in schwarze Watte.

Aber tot war ich nicht.

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Ich hörte nämlich immer noch Lärm. In einem eigenartigen Zustand aus Benommenheit, Schreck,

Schmerz und Ergebenheit ins Unabänderliche erwartete ich den letzten harten Anprall. Den durch die Busreifen nämlich, die mich plattwalzten.

Der Stoß kam nicht. Dafür hörte ich heftiges Trappeln genau über meinem Kopf. So langsam kriegte ich meine fünf Sinne wieder zusammen. Äch-

zend rollte ich mich herum. Das seltsame Dämmerlicht rührte davon her, daß ich unter dem

Bus lag. Nicht sehr weit, aber es reichte. Der dicke linke Vorderrei-fen war weniger als eine Armlänge von meinem Brustkorb entfernt.

Immerhin rollte der Reifen nicht mehr. Das war schon eine Menge wert. Dafür roch es durchdringend nach verbranntem Gummi.

Ein sagenhaftes Gefühl der Erleichterung überkam mich. Wie es aussah, hatte der Fahrer das Kunststück geschafft, im allerletzten Moment den Bus zu stoppen.

Darum auch das wilde Trappeln über meinem Kopf. Das jähe Ab-bremsen hatte die Fahrgäste durch den Bus purzeln lassen, sie kämpften immer noch ums Gleichgewicht.

In meinem begrenzten Blickfeld zwischen Busunterkante und Straße sah ich eine Parade der unterschiedlichsten Beine. Einige noch auf dem Gehsteig, die meisten aber schon dicht beim Bus. Und dann tauchten in dem Spalt zwischen Bus und Straße Gesich-ter auf.

Soweit die Leseprobe aus dem neuen Mac Kinsey-Grusel-Thriller den Sie in vierzehn Tagen erhalten. Dann ist wieder Kinsey-Time!

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