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Die Relativitätstheorie Einsteins || Einleitung

Date post: 11-Dec-2016
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Einleitung Die Entwicklung der Naturwissenschaft ist im allgemeinen ein gleichförmiger, stetiger Vorgang. Gleichwohl sind darin bestimmte Perioden unterscheidbar, die sich durch hervorragende experimentelle Entdeckungen oder neue theoretische Gedanken abheben. Ein solcher Wendepunkt lag um das Jahr 1600 und knüpft sich an den Namen GALILEO GA LI LJ::lS, der die Grundlagen der empirischen Forschungs- methode durch seine Untersuchungen mechanischer Vorgänge schuf und außerdem überzeugende Beweise des fünfzig Jahre vorher aufgestellten Kopernikanischen Weltsystems erbrachte. Das bedeutete das Ende der scholastismen Naturphilosophie, die sich auf die Lehre des Aristoteles stützte, und den Anfang der modernen Naturwissenschaft. Ein anderer Wendepunkt kam um das Jahr 1900 durch eine Flut experimenteller Entdeckungen ..--:. Röntgenstrahlen, Radioaktivität, Elektron u. a. - und durch zwei neue grundlegende Theorien - Quantentheorie und Relativitätstheorie. Die Quantentheorie wurde gen au an der Jahrhundertwende geboren, als MAX PLANCK seinen revolutionären Begriff der Energieatome oder "Quanten" verkündete. Das war ein für die Entwicklung der Naturwissenschaft so entscheiden- des Ergebnis, daß es gewöhnlich als die Grenze zwischen "klassischer Physik" und "moderner" oder "Quantenphysik" angesehen wird. Die Relativitätstheorie sollte streng genommen nicht mit einem bestimmten Datum und einem bestimmten Namen verbunden werden. Sie lag um 1900 sozusagen in der Luft, und mehrere große Mathematiker und Physiker - um nur einige Namen zu nennen: LARMoR, FITZ- GERALD, LORENTz, POINCARE - waren im Besitze von wichtigen Ergebnissen. Im Jahre 1905 gab EINSTEIN eine neue Begründung der Theorie mit Hilfe sehr allgemeiner, philosophischer Prinzipien, und einige Jahre später entwickelte HERMANN MINKOWSKI ihre end- gültige logische und mathematische Darstellung. Der Grund dafür, daß gewöhnlich EINSTEINS Name allein mit der Relativitätstheorie verbunden wird, ist die weitere Entwicklung: seine Arbeit vom Jahre 1905 war nur der erste Schritt zu einer noch tiefer dringenden "allgemeinen Relativitätstheorie", die eine neue Theorie der Gravitation einschloß und unsere Vorstellungen vom Aufbau des Universums auf eine völlig neue Basis stellte. Die "spezielle" Relativitätstheorie vom Jahre 1905 kann mit glei- chem Rechte als das Ende der klassischen Periode oder als der Beginn eines neuen Zeitalters der Physik angesehen werden. Denn sie ge- M. Born. Die Relativitätstheorie Einsteins, DOI 10.1007/978-3-642-55459-9_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2003
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Page 1: Die Relativitätstheorie Einsteins || Einleitung

Einleitung

Die Entwicklung der Naturwissenschaft ist im allgemeinen ein gleichförmiger, stetiger Vorgang. Gleichwohl sind darin bestimmte Perioden unterscheidbar, die sich durch hervorragende experimentelle Entdeckungen oder neue theoretische Gedanken abheben. Ein solcher Wendepunkt lag um das Jahr 1600 und knüpft sich an den Namen GALILEO GA LI LJ::lS, der die Grundlagen der empirischen Forschungs­methode durch seine Untersuchungen mechanischer Vorgänge schuf und außerdem überzeugende Beweise des fünfzig Jahre vorher aufgestellten Kopernikanischen Weltsystems erbrachte. Das bedeutete das Ende der scholastismen Naturphilosophie, die sich auf die Lehre des Aristoteles stützte, und den Anfang der modernen Naturwissenschaft.

Ein anderer Wendepunkt kam um das Jahr 1900 durch eine Flut experimenteller Entdeckungen ..--:. Röntgenstrahlen, Radioaktivität, Elektron u. a. - und durch zwei neue grundlegende Theorien -Quantentheorie und Relativitätstheorie. Die Quantentheorie wurde gen au an der Jahrhundertwende geboren, als MAX PLANCK seinen revolutionären Begriff der Energieatome oder "Quanten" verkündete. Das war ein für die Entwicklung der Naturwissenschaft so entscheiden­des Ergebnis, daß es gewöhnlich als die Grenze zwischen "klassischer Physik" und "moderner" oder "Quantenphysik" angesehen wird. Die Relativitätstheorie sollte streng genommen nicht mit einem bestimmten Datum und einem bestimmten Namen verbunden werden. Sie lag um 1900 sozusagen in der Luft, und mehrere große Mathematiker und Physiker - um nur einige Namen zu nennen: LARMoR, FITZ­GERALD, LORENTz, POINCARE - waren im Besitze von wichtigen Ergebnissen. Im Jahre 1905 gab EINSTEIN eine neue Begründung der Theorie mit Hilfe sehr allgemeiner, philosophischer Prinzipien, und einige Jahre später entwickelte HERMANN MINKOWSKI ihre end­gültige logische und mathematische Darstellung.

Der Grund dafür, daß gewöhnlich EINSTEINS Name allein mit der Relativitätstheorie verbunden wird, ist die weitere Entwicklung: seine Arbeit vom Jahre 1905 war nur der erste Schritt zu einer noch tiefer dringenden "allgemeinen Relativitätstheorie", die eine neue Theorie der Gravitation einschloß und unsere Vorstellungen vom Aufbau des Universums auf eine völlig neue Basis stellte.

Die "spezielle" Relativitätstheorie vom Jahre 1905 kann mit glei­chem Rechte als das Ende der klassischen Periode oder als der Beginn eines neuen Zeitalters der Physik angesehen werden. Denn sie ge-

M. Born. Die Relativitätstheorie Einsteins, DOI 10.1007/978-3-642-55459-9_1,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2003

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2 Einleitung

braucht die wohlbegründeten klassischen Vorstellungen von der kon­tinuierlich in Raum und Zeit verbreiteten Materie und von kausalen ""C'"7

oder genauer: deterministischen Naturgesetzen. Aber sie unterwirft" die .von NEWTON aufgestellten Axiome über Raum und Zeit einer scharfen Kritik und ersetzt sie durch neue, revolutionäre Begriffe . . $0 hat EINSTEINS Begründung der Relativitätstheorie neue Wege für das Dffilken über Naturerscheinungen gewiesen. Heute sehen wir dies als EINSTEINS hervorragendste Leistung an, durch die sich sein Bei­trag von den Arbeiten seiner Vorgänger unterscheidet und moderne Naturforschung von der älteren, klassischen.

Schon vor EINSTEIN hatte die Erforschung der physikalischen Welt dazu geführt, die Grenzen menschlicher Sinneswahrnehmungen zu überschreiten. Die Physiker kannten unsichtbares (ultraviolettes, infrarotes) Licht, unhörbare Töne; sie operierten mit elektromagne­tischen Feldern im leeren Rauril, die für die Sinnesorgane nicht wahr­nehmbar sind und nur indirekt durch ihre Wirkungen auf Materie sich bemerkbar machen; und vieles andere dieser Art. Diese Verallgemeine­rungen waren möglich und wurden notwendig, als man an die Grenzen der unmittelbaren Sinneseindrücke gelangte. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Die Empfindung von heiß und kalt war nicht präzis genug, um darauf eine Wärmetheorie aufzubauen; man ging darum zur Benutzung von Thermometern über, bei denen ein Unterschied des Warmseins an der Länge eines Quecksilberfadens (oder einer anderen Vorrichtung) abgelesen werden konnte. In zahllosen Fällen wurde eines der Sinnesorgane ersetzt, oder wenigstens kontrolliert durch den Ge­brauch eines anderen Sinnesorgans. Tatsächlich ist die ganze Natur­wissenschaft ein Netzwerk solcher sich überkreuzenden Verbindungen, und dabei werden die rein geometrischen, durch Gesicht oder Tast­gefühl gegebenen Aussagen vorgezogen, weil sie am zuverlässigsten sind. Das ist das Wesen des Verfahrens, das wir "Objektivierung" nennen, und das den Zweck hat, die Beobachtungen soweit wie mög­lich vom Individuum unabhängig zu machen. Auf diese Weise konnte man z. B. elektromagnetisdle Felder, die den menschlichen Sinnen un­mittelbar nidlt zugänglidl sind, durdl Zurück führung auf mechanische, in Raum und Zeit meßbare Größen definieren.

Ein anderes Merkmal naturwissenschaftlicher Begriffsbildung ist das Prinzip der "Relativierung". Ein berühmtes Beispiel dafür hängt mit der Emdeckung der Kugelgestalt der Erde zusammen. Solange man glaubte, die Erde sei eine fladle Scheibe, war die Ridltung "oben-+ unten", die Vertikale, an jedem Punkt der Erde etwas Absolutes. Als man feststellte, die Erde sei eine Kugel, wurde die Vertikale die Richtung nach dem Mittelpunkt hin und daher verschieden für jeden Punkt der Erdoberfläche, also "relativ" zum Standpunkt des Beob­achters . Die entsprechende allgemeine Frage hinsichtlich eines Punktes odcr eincr Ridnung im R:lUm, oder eines Zeitpunktes im Ablauf der

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Einleitung 3

Zeit wurde für die Naturwissensmaft von NEWTON formuliert und in seinen berühmten Axiomen beantwortet. Ihr Wortlaut läßt keinen ZV:;eifel, daß er diese Begriffe für etwas Absolutes hielt. Aber seine 13ewegungsgleimungen widerspremen dem in gewissem Grade: Es gibt v'ersmied~ne, äquivalente Bezugssysteme, die sim gegeneinander relativ bewegen und von denen dom jedes mit gleimem Remt als absolut ruhend betramtet werden kann. NEWTONS Raum ist also nur in einem eingesmränkten Sinne absolut. Spätere Untersumungen, beson­ders von elektromagnetismen und optismen Vorgängen, bramten an­dere, ernstere Smwierigkeiten der Newtonschen Annahmen ans Limt.

EINSTEIN durmbrach diese Hindernisse durm eine kritische Untersuchung der geläufigen Vorstellungen von Raum und Zeit. Er fand diese unbefriedigend und ersetzte sie durch bessere. Dabei ließ er sich durm die genannten Prinzipien naturwissensmaftlimer For­schung, Objektivierung und Relativierung, leiten und benutzte außer­dem ein anderes Prinzip, das simerlich vorher bekannt gewesen, aber kaum für neuen Gedankenbau benutzt worden war, sondern als Mit­tel zur logischen Kritik - z. B. von ERNST MACH, dem bekannten Physiker und Philosophen, dessen Smriften auf EINSTEIN einen star­ken Eindruck gemacht hatten. Dieses Prinzip besagt, daß Begriffe und Aussagen, die keine empirisme Verifikation zulassen, aus der theoreti­schen Physik ausgemerzt werden sollten. EINSTEIN analysierte die Idee der Gleimzeitigkeit von Ereignissen an versmiedenen Stellen des Raumes und fand, daß dies ein solmer nicht verifizierbarer Begriff sei . Diese Ent­deckung führte ihn im Jahre 1905 zu einer neuen Formulierung der Grundsätze von Raum und Zeit. Etwa 10 Jahre später wandte er das­selbe Prinzip auf die Bewegungen unter der Wirkung der Gravitation an und kam so zur Aufstellung seiner allgemeinen Relativitätstheorie.

Das Prinzip der Elimination des Unbeobamtbaren wurde der Gegenstand vieler philosophismer Diskussionen. Man bezeimnete es als positivistisch, und es ist nicht zu leugnen, daß es ausgerimtet ist nach jener Philosophie, unter deren hervorragendsten Vertretern MACH er­scheint. Aber der strenge Positivismus läßt nur die unmittelbaren Sinnes­eindrücke als wirklich gelten und faßt alles andere als Konstruktion des menschlichen Geistes auf; er führt so zu einer skeptischen Haltung gegen­über der Existenz der Außenwelt. Nichts lag EINSTEIN ferner als dies; in seinen späteren Jahren hat er den Positivismus ausdrücklich abgelehnt.

Man sollte diese, von EINSTEIN in der Relativitätstheorie so erfolg­reich angewandte Methode als ein heuristisches Prinzip ansehen, das er­laubt, schwache, empirisch unbelegte Punkte der traditionellen Lehre auf­zuspüren und zu korrigieren. Tatsächlich ist dieses Prinzip eine kraftvolle Methode der modernen theoretischen Physik und hat sich z. B. in der Ent­wicklung der Quantenmemanik (HEISENBERG) bewährt. Darum kann man sagen, daß EINSTEINs Denkweise nicht nur die klassische Physik zum Gipfel geführt, sondern ein neues Zeitalter der Physik eröffnet hat.


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