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Didaktische Matrix des Faches Deutsch (ohne Primarstufe) · Paderborn: Schöningh, 2016. S. 190ff....

Date post: 18-Oct-2020
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StR Dr. phil. Carsten Bothmer Didaktische Matrix des Faches Deutsch (ohne Primarstufe) Das Fach Deutsch unterrichten zu lernen ist schwer. Ein Gegenbeispiel voran: Fragte man einen Lateinstudenten, worum es später in seinem Schulunterricht schwerpunktmäßig gehen, was also Hauptaktivität der SuS in seinem Unterricht sein werde, so würde er mit Sicherheit antworten: Es geht die meiste Zeit um das Übersetzen lateinischer Texte ins Deutsche. Ohne jetzt auf dieser Seite noch weitere Detailbetrachtungen und Differenzierungen vornehmen zu wollen, muss gesagt werden: Eine derart klare Antwort kann der angehende Deutschlehrer kaum geben, weil im modernen Deutschunterricht eben diese eine klare didaktische Grundlinie fehlt. Mit Müller-Michaels gesprochen: „Man stelle jeweils drei Lehrenden und Studierenden die Frage nach den drei wichtigsten Aufgaben des Deutschunterrichts und man wird sechs verschiedene Antworten bekommen.“ Dem Routinier im Lehrberuf mag diese „Offenheit des Gegenstandsfeldes“ 1 wohl entgegenkommen, dem Novizen ist sie eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Diese Unsicherheit bei der Gegenstandsbestimmung korrespondiert nicht selten mit einer verbreiteten Unsicherheit bei der Methodenwahl und -anwendung. So konnte ich im Rahmen von Unterrichtsbesuchen wiederholt beobachten, wie StudentInnen bspw. versuchten, eine denkbare Grundaussage einer kürzeren Erzählung in Form eines Merksatzes festzuhalten. Zweifellos ist es durchaus so, dass es im DU Merksätze gibt sogar nicht wenige. Jedoch gilt nach dem aktuellen Stand des didaktischen Diskurses ganz radikal mit Enzensberger gesprochen „die Lektüre [als] anarchischer Akt [–] nicht determiniert und nicht determinierbar“. 2 Daraus folgt für den Unterricht, dass der Sinn von Literatur bis zuletzt verhandelbar bleiben muss, damit also ein von Kontroversität geprägtes „literarisches Gespräch“ 3 im Plenum weitaus geeigneter ist als das Hineinzwängen der gegebenen Mehrdeutigkeit in einen fixen Merksatz von vermeintlich allgemeingültigem Anspruch. Nun könnten sich kritische Stimmen melden und beklagen, besagte StudentInnen hätte ihre Aufgaben nicht gemacht / ihre Lektion nicht verstanden. Dies mag im Einzelfall vielleicht auch nicht von der Hand zu weisen sein. Es muss aber auch eingestanden werden, dass das Aufspüren der einen Autorenintention 4 , und zwar auf dem Wege der Analyse, bis in die jüngere schulische Vergangenheit hinein durchaus didaktisch legitim war und vermutlich bis in die Schulzeit heutiger Studenten nachgewirkt hat: „Und was will uns der Dichter damit sagen?“ – meiner Einschätzung nach hatte dieser didaktische Impuls mindestens bis in die 80er Jahre Konjunktur. Somit gesellt sich zu der genannten „Profillosigkeit“ 5 eine, vor allem bei Novizen, verbreitete Orientierungslosigkeit. Bedauernswerterweise ist es so, dass auch das durch die CV verbindliche Kompetenzmodell für das Fach Deutsch keine nennenswerte Hilfe für den nach Orientierung Suchenden bieten kann: Bekanntermaßen sind grundsätzlich vier übergeordnete Kompetenzbereiche zu unterscheiden: 1. Sprache und Sprachgebrauch untersuchen, 2. Sprechen und Zuhören, 3. Schreiben, 4. Lesen mit 1 Müller-Michaels: Grundkurs Lehramt Deutsch. Stuttgart: Klett, 2009, S. 54. 2 Zit. nach Vogt, Jochen: Einladung zur Literaturwissenschaft. München: Fink, 2002, S. 54. 3 Hochstadt, Christiane u.a.: Deutschdidaktik. Konzeptionen für die Praxis. Tübingen: Francke, 2013, S. 127f. spricht vom „literarischen Unterrichtsgespräch“, das besonders geeignet sei, dem breiten Deutungsangebote literarischer Texte zu entsprechen. 4 Enzensberger (zit. nach Vogt: Einladung, S. 53) protestiert gegen die „Wahnvorstellung der richtigen Interpretation“. 5 Müller-Michaels: Grundkurs, S. 56, spricht weiter auch von einer bedauernswerten „Zerfransung“ des Faches Deutsch, der mit einer konsequenten „Verteidigung des Kerns“ begegnet werden müsse.
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Page 1: Didaktische Matrix des Faches Deutsch (ohne Primarstufe) · Paderborn: Schöningh, 2016. S. 190ff. Entwurf: Th. Hoffmann (2000) Phasierung II: Produktionsorientierung Der handlungs-

StR Dr. phil. Carsten Bothmer

Didaktische Matrix des Faches Deutsch (ohne Primarstufe)

Das Fach Deutsch unterrichten zu lernen ist schwer. Ein Gegenbeispiel voran: Fragte man einen

Lateinstudenten, worum es später in seinem Schulunterricht schwerpunktmäßig gehen, was also

Hauptaktivität der SuS in seinem Unterricht sein werde, so würde er mit Sicherheit antworten: Es

geht die meiste Zeit um das Übersetzen lateinischer Texte ins Deutsche. Ohne jetzt auf dieser Seite

noch weitere Detailbetrachtungen und Differenzierungen vornehmen zu wollen, muss gesagt

werden: Eine derart klare Antwort kann der angehende Deutschlehrer kaum geben, weil im

modernen Deutschunterricht eben diese eine klare didaktische Grundlinie fehlt. Mit Müller-Michaels

gesprochen: „Man stelle jeweils drei Lehrenden und Studierenden die Frage nach den drei

wichtigsten Aufgaben des Deutschunterrichts und man wird sechs verschiedene Antworten

bekommen.“ Dem Routinier im Lehrberuf mag diese „Offenheit des Gegenstandsfeldes“ 1 wohl

entgegenkommen, dem Novizen ist sie eine nicht zu unterschätzende Herausforderung.

Diese Unsicherheit bei der Gegenstandsbestimmung korrespondiert nicht selten mit einer

verbreiteten Unsicherheit bei der Methodenwahl und -anwendung. So konnte ich im Rahmen von

Unterrichtsbesuchen wiederholt beobachten, wie StudentInnen bspw. versuchten, eine denkbare

Grundaussage einer kürzeren Erzählung in Form eines Merksatzes festzuhalten. Zweifellos ist es

durchaus so, dass es im DU Merksätze gibt – sogar nicht wenige. Jedoch gilt nach dem aktuellen

Stand des didaktischen Diskurses – ganz radikal mit Enzensberger gesprochen – „die Lektüre [als]

anarchischer Akt [–] nicht determiniert und nicht determinierbar“.2 Daraus folgt für den Unterricht,

dass der Sinn von Literatur bis zuletzt verhandelbar bleiben muss, damit also ein von Kontroversität

geprägtes „literarisches Gespräch“3 im Plenum weitaus geeigneter ist als das Hineinzwängen der

gegebenen Mehrdeutigkeit in einen fixen Merksatz von vermeintlich allgemeingültigem Anspruch.

Nun könnten sich kritische Stimmen melden und beklagen, besagte StudentInnen hätte ihre

Aufgaben nicht gemacht / ihre Lektion nicht verstanden. Dies mag im Einzelfall vielleicht auch nicht

von der Hand zu weisen sein. Es muss aber auch eingestanden werden, dass das Aufspüren der einen

Autorenintention4, und zwar auf dem Wege der Analyse, bis in die jüngere schulische Vergangenheit

hinein durchaus didaktisch legitim war und vermutlich bis in die Schulzeit heutiger Studenten

nachgewirkt hat: „Und was will uns der Dichter damit sagen?“ – meiner Einschätzung nach hatte

dieser didaktische Impuls mindestens bis in die 80er Jahre Konjunktur.

Somit gesellt sich zu der genannten „Profillosigkeit“5 eine, vor allem bei Novizen, verbreitete

Orientierungslosigkeit. Bedauernswerterweise ist es so, dass auch das durch die CV verbindliche

Kompetenzmodell für das Fach Deutsch keine nennenswerte Hilfe für den nach Orientierung

Suchenden bieten kann:

Bekanntermaßen sind grundsätzlich vier übergeordnete Kompetenzbereiche zu unterscheiden: 1.

Sprache und Sprachgebrauch untersuchen, 2. Sprechen und Zuhören, 3. Schreiben, 4. Lesen – mit

1 Müller-Michaels: Grundkurs Lehramt Deutsch. Stuttgart: Klett, 2009, S. 54. 2 Zit. nach Vogt, Jochen: Einladung zur Literaturwissenschaft. München: Fink, 2002, S. 54. 3 Hochstadt, Christiane u.a.: Deutschdidaktik. Konzeptionen für die Praxis. Tübingen: Francke, 2013, S. 127f. spricht vom „literarischen Unterrichtsgespräch“, das besonders geeignet sei, dem breiten Deutungsangebote literarischer Texte zu entsprechen. 4 Enzensberger (zit. nach Vogt: Einladung, S. 53) protestiert gegen die „Wahnvorstellung der richtigen Interpretation“. 5 Müller-Michaels: Grundkurs, S. 56, spricht weiter auch von einer bedauernswerten „Zerfransung“ des Faches Deutsch, der mit einer konsequenten „Verteidigung des Kerns“ begegnet werden müsse.

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Texten und Medien umgehen.6 Der nach fachlicher Orientierung Strebende muss an dieser Stelle

wohl anmerken: Jeden Tag – unabhängig davon, was im DU behandelt wird - wird doch wohl

gesprochen und zugehört. Auch vergeht wohl keine Deutschstunde, in der nicht irgendetwas gelesen

oder geschrieben wird. Was damit zum Ausdruck kommen soll, ist, dass zumindest auf der obersten

Ebene der Kompetenzbereiche so etwas wie eine didaktische Grundlinie (oder besser: Trennlinie)

dessen, was im Unterricht zu vermitteln sei, de facto nicht gegeben ist. Michael Kämper-van den

Boogaart hat sehr früh schon die Vernetzung (bekanntermaßen vom MK so gewollt!) und Inhaltsleere

o.g. Kompetenzformulierungen kritisiert, in deren Folge sogar ein Unterricht ohne nennenswerte

Lernprogression denkbar sei.7

Da seit Pisa eben nicht mehr der „Stoff in seiner disziplinären Ordnung“, sondern vornehmlich die

„Aktivitäten der Lerner“8, genannt Kompetenzen, die Bezugsebene darstellen, nach der Unterricht

gestaltet und durchgeführt werden soll, befindet sich die Lehramtsausbildung in einer Art Dilemma-

Situation, die dringend eine Art Nachbesserung, oder besser: Ergänzung erfordert – zur

Vergegenständlichung und Systematisierung dessen, was im DU trennscharf und greifbar geschehen

soll. In Anlehnung an Harro Müller-Michaels9 sollen drei Lernbereiche (nicht zu verwechseln mit

Kompetenzbereichen!) unterschieden werden:

Poetik (rezeptiver und produktiver Umgang mit literarischen Texten), die Grammatik

(Rechtschreibung, Zeichensetzung, Syntax etc.), die Rhetorik (rezeptiver und produktiver Umgang mit

argumentierenden Texten). Jeder dieser drei „Lernbereiche“ verlangt aufgrund seiner Eigenartigkeit

oder besser: Nichtvergleichbarkeit mit den anderen Lernbereichen eine eigene didaktische

Herangehensweise. Diese wird, wo immer möglich, begründet durch die dazugehörigen

Lerngegenstände und -produkte des jeweiligen Lernbereichs. Denn durch eine bewusste

Textsortenbasierung, der Orientierung an der Textsorte, die zur Bearbeitung vorliegt, und an der

Textsorte/Aufsatzform, die als Zielformat unterrichtlichen Handelns gelten kann, erhöht sich die

Verbindlichkeit bei der Unterrichtsplanung. 10

I. Poetik

Im Mittelpunkt des DU stehen literarische Texte. Bevor diese bearbeitet werden können, sollten sie –

dies liegt auf der Hand – gelesen werden. Dies geschieht im Regelfall laut im Plenum,

erfahrungsgemäß werden unmittelbar danach evtl. Verständnisprobleme ausgeräumt. Anschließend

wird der Text in der sog. Erarbeitungsphase unter einer bestimmten Aufgabenstellung bearbeitet.

Dass die Schülerergebnisse anschließend gesichert werden müssen, um vergleichend Fehler zu

6 Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium. Schuljahrgänge 5-10. S. 12ff. (http://db2.nibis.de/1db/ cuvo/ausgabe/). 7 Kämper-van den Boogaart (Hrsg.): Deutschdidaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen Scriptor, 2003, S. 30/31: „Die Grenzen des Verfahrens zeigen sich […], wenn jede Aktivität im Unterricht als Beitrag zu den Kompetenzdimensionen legitimiert wird. […] Oder wie Kenner sagen: Etwas geht immer …“; zur weiteren Kritik an der Kompetenzorientierung vgl. auch Liessmann, Konrad Paul: Geisterstunde – Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien: Zsolnay, 2014. 8 Kämper-van den Boogaart (Hrsg.): Deutschdidaktik. S. 30. 9 Müller-Michaels: Grundkurs, S. 57ff. 10 Beese, Melanie / Roll, Heike: Textsorten im Fach – zur Förderung von Literalität im Sachfach in Schule und Lehrerbildung, in: Benholz, Claudia (Hrsg. u.a.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart: Klett, 2015, S. 51: Die Autoren propagieren die These, „dass insbesondere die Ermittlung von fachlichen Textsorten und den zugehörigen sprachlichen Handlungen als eine Art didaktischer Hebel […] fungiert“.

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korrigieren und Lücken zu schließen, versteht sich von selbst. Damit sind die ersten Schritte eines

noch weiter zu entwickelnden Stundenmodells schon gesetzt: Text lesen, Text bearbeiten, Ergebnisse

sichern.

Was will LU? – Kurz gesagt: es geht zu einem Gutteil um die Identitätsbildung des Schülers auf dem

Wege des „Lernens durch Literatur“ (Fritzsche). Das funktioniert vereinfacht gesprochen so: Zunächst

bietet die konkrete Lektüre bspw. durch einen Helden dem Leser die Möglichkeit der Identifikation.

Diesem kann der Schüler quasi lesend über die Schulter schauen. Literatur ermöglicht dem Leser ein

gedankliches „Probehandeln in der Bewältigung fiktiver Situationen, das nicht mit dem Risiko des

persönlichen Scheiterns verbunden ist.“ (Kämper-van den Boogart) Wie hätte ich gehandelt? Müsste

man nicht mutiger sein? Das ist ungerecht! – Dies sind Fragen und Erkenntnisse, die den Leser

bewegen und sein Denken erweitern können.

Die fiktive Welt fordert also zum Erkennen, Bewerten und Urteilen heraus. Was es wert ist, im

Unterricht thematisiert und bearbeitet zu werden, hat Klafki „Schlüsselprobleme“ genannt (z.B. die

Friedensfrage, das Geschlechterverhältnis, gesellschaftliche Ungleichheit etc.11). Damit ist ein weiter

thematischer Rahmen abgesteckt, die Lernzielformulierung wird allerdings erst konkret, wenn sie mit

einem sog. Operator12 versehen worden ist: „Die SuS beurteilen, inwiefern …“. Operatoren sind

handlungsanweisende Verben (beschreibe, nenne, analysiere etc.), die nicht nur bei der

vorbereitenden Lernzielformulierung, sondern auch in der Lehrer-Schüler-Interaktion zum Einsatz

kommen, und zwar bei der Aufgabenformulierung. Sie geben grundsätzlich Auskunft über das Niveau

der jeweiligen gedanklichen Operation und sind in drei aufeinander aufbauende Anforderungs-

bereiche unterteilt: Reproduktion, Transfer, „die eigene Meinung“.

Nun ist es so, dass das, was Literatur dem Leser mitteilen kann (nennen wir es Grundaussage) sich

nicht allein auf inhaltlicher Ebene entfalten lässt und erst recht nicht nach einmaligem Mitlesen/-

hören im Plenum. Was ist Literatur? – Didaktisch betrachtet ein komplexes Zusammenspiel aus

Inhalt und Form (Bsp.: Inhalt: Liebesgedicht; Form: mit Herzsymbolik und Paarreimen). Beide Pfeiler

tragen die sog. Grundaussage, also das, womit sich der Rezipient auseinandersetzen soll, woran er

wachsen kann. Demnach muss sich die Auseinandersetzung mit Literatur in drei Schritten vollziehen:

1. Rekonstruktion des Inhalts, 2. Analyse der formalen Gestaltungsmittel, 3. Deutung der

Grundaussage (und ggf. Stellungnahme).

Dabei muss die Rekonstruktion des Inhalts nicht zwingend Teil einer schriftlichen Erarbeitung sein,

sondern kann ggf. auch mdl. bspw. im Plenum am OHP oder im UG erfolgen. Die Analyse kann – je

nach Lerngegenstand - sich auch nur auf einen Teil der formalen Gestaltungsaspekte z.B. eines

Gedichts beziehen (je nach Hauptlernziel). Da eine Grundaussage im Sinne der Rezeptionsästhetik -

„Kunst entsteht im Auge des Betrachters“ - niemals hundertprozentig objektivierbar sein kann oder

anders: die eine Autorenintention nicht abgeleitet werden kann, ist eine Schülerdeutung richtig,

sofern sie nachvollziehbar begründet und am Text belegt werden kann. Meinungsbildung braucht

Dialog/Streitgespräch, sodass letztgenannter Schritt gut in einer mdl. Abschlussdiskussion umgesetzt

werden kann. Diese drei Schritte in ihrer Reihenfolge zu verändern oder bspw. den Mittelschritt

(Analyse) entfallen zu lassen, verbietet sich aus der Logik der Sache heraus.

Phasierung I: Hermeneutik

11 Vgl. Zierer, Klaus: Leitfaden Schulpraktikum. Baltmannsweiler: Schneider, 2014, S. 35. 12 http://www.nibis.de/nibis.php?menid=3615.

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Einleitung – Hauptteil – Schluss sind die Gliederungsabschnitte eines Schulaufsatzes, Einstieg –

Erarbeitung – Sicherung sind die Hauptphasen einer gedachten 45-Minutenstunde. Der Einstieg ist

als Leerfolie zu betrachten. Ob nun aufwendige Problematisierung anhand widersprüchlicher

Einstiegsmaterialien oder informierende Hinführung durch den Lehrer: Die Hauptfunktion des

Einstiegs besteht darin, zum Stundenthema zu führen.

Eine im LU verbreitete Einstiegsfigur besteht darin, den Titel bspw. eines Gedichts isoliert an die Tafel

zu schreiben und die Vorerwartungen der SuS festzuhalten. Wenn aber die Fokussierung des Titels

im in Orientierung an dem anvisierten Lernziel eher ungeeignet erscheint, wäre alternativ ein

Brainstorming zu einem vom Lehrer ausgewählten Begriff, Zitat oder Bild denkbar. Grundregel: Je

enger am (literarischen) Lerngegenstand, desto besser. Die anschließende Formulierung des

Stundenthemas kommt idealerweise aus dem Schülermunde – wenn nicht, muss der Lehrer durch

Zusatzimpulse das Thema ausschärfen und zur Erarbeitungsphase überleiten.

Die Erarbeitungsphase ist der Kern jeder Unterrichtsstunde. Hier findet die Lernprogression statt. Sie

ist in aller Regel bestimmt durch eine konkrete Aufgabenstellung ( Operator) und eine

vorgegebene Sozialform (EA, PA, GA etc.). Sind es mehrere Aufgaben, so bauen sie i.d.R. aufeinander

auf (Anforderungsbereiche). Nur selten ist es möglich, im Rahmen einer einzelnen

Erarbeitungsphase ein ganzes Gedicht oder eine ganze Kurzgeschichte komplett zu interpretieren. So

muss jede Stunde als Teilstück eines größeren Interpretationsprozesses gesehen werden; mehrere

Stunden zu bspw. einem Gedicht bilden dann eine Sequenz.

Die Sicherungsphase ist gewissermaßen die „Ernte“ der einzelnen Lernerträge. Die Präsentation

eines Schülerergebnisses bietet den anderen die Vergleichsmöglichkeit. Es folgen Nachfragen,

Korrekturen, Ergänzungen. Visualisierung ist wichtig, denn das gesprochene Wort ist flüchtig!

Stunden, die sich schwerpunktmäßig in den AFBs I und II ( Inhalt, Analyse d. Form) bewegen,

enden i.d.R. mit der hier beschriebenen Absicherung des richtigen Ergebnisses. Sind stattdessen

mehrere Lösungswege und voneinander abweichende Ergebnisse denkbar, kommt es nach der

Präsentation der Arbeitsergebnisse zu einem abschließenden Beurteilungs-/Bewertungsgespräch

(AFB III). Dies geschieht z.B. immer dann, wenn aus der Einstiegsphase die Stundenfrage noch zu

beantworten bzw. eine aufgeworfene Hypothese noch zu überprüfen ist. Diese oben skizzierte

Unterrichtsphasierung folgt – wie gesehen – mehr oder minder deutlich den Prinzipien der

literarischen Hermeneutik.13

13 Dawidowski, Christian: Literaturdidaktik Deutsch (= UTB, Bd. 4419). Paderborn: Schöningh, 2016. S. 190ff.

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Entwurf: Th. Hoffmann (2000)

Phasierung II: Produktionsorientierung

Der handlungs- und produktionsorientierte14 Unterricht hingegen manifestiert sich in einer anderen

Phasierung, eben weil er ein anderes Erkenntnisverfahren darstellt.

Im Gegensatz zur Hermeneutik haben wir es bei der Produktionsorientierung15 mit einem „Kind“ der

Fachdidaktik zu tun, das Bezüge zur Rezeptionsästhetik und Reformpädagogik aufweist, etwa Mitte

der 1970er Jahre das erste Mal auf der didaktischen Bühne auftauchte und schließlich Anfang der

1990er Eingang in die CV gefunden hat. Die Produktionsorientierung versteht sich als produktive

Hermeneutik, das heißt, auch hier geht es in letzter Konsequenz um literarisches Verstehen. Die

unterrichtliche Haupthandlung besteht darin, einen eigenen (literarischen) Text zum Ausgangstext zu

schreiben. Was und wie geschrieben wird, ist nicht beliebig (und damit keinesfalls zu verwechseln mit

dem Kreativen Schreiben!). Durch Ausfüllen gegebener (oder vom Lehrer geschaffener) literarischer

„Leerstellen“16 legt der Schüler sein Verständnis der literarischen Situation und ihrer Formgestalt dar.

Wenn die Schüler bspw. zu einer literarischen Figur, deren Außensicht wir Leser lediglich haben,

einen inneren Monolog schreiben sollen, so liegen die Orientierungspunkte sowohl auf der

inhaltlichen Ebene (bisherige Handlungsschritte, Charakter der mithandelnden Figuren etc.), als auch

auf der Ebene der Formgestalt, denn selbstredend müssen Sprachstil, Wortwahl etc. zur Vorlage

passen. Ferner muss der Charakter der Figur berücksichtigt werden und die Stimmung, in der sie sich

befindet. Zu guter Letzt kann auch hier der AFB III erreicht werden, indem man bspw. durch die

Aufgabe vorgibt, dass die im inneren Monolog zu entfaltenden Gedanken der Figur sich auch /

schwerpunktmäßig (alles nur ein Beispiel!) um die Frage der Gerechtigkeit drehen soll. Ganz

grundsätzlich kann man sagen, dass die Orientierungspunkte einer produktionsorientierten

Schreibleistung aus der Aufgabenstellung, der Ziel-Textsorte (innerer Monolog, Antwortbrief), der

konkreten literarischen Situation (in der sich bspw. Figur X befindet) und ggf. noch dem größeren

Kontext (bspw. der Novelle) erwachsen.

14 Haas, Gerhard (u.a.): Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch 123, 1994. 15 Von nun an ohne Handlungsorientierung, weil denselben Prinzipien folgend wie die Produktionsorientierung, aber im schriftlichen Unterricht ohne Relevanz 16 Vogt: Einladung, S. 238: „Roman Ingarden, ein polnischer Ästhetiker, untersuchte 1931 die Seinsweise des literarischen Kunstwerks und kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass jedes Werk so genannte Leer- und Unbestimmtheitsstellen, gewisse Lücken enthält, die aber die individuelle Lektüre nicht behindern, sondern erst gelingen lassen, weil nämlich der Leser bei der Lektüre und der ästhetischen Erfahrung des Werkes gewöhnlich über das rein textmäßig Vorhandene hinausgeht und das Dargestellte ergänzt.“

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Für die Phasierung einer (oder zwei!) gedachten Unterrichtsstunde folgt daraus: Ähnlich wie beim

hermeneutischen Vorgehen wird es hier nach erster Textbegegnung (gemeinsam lesen,

Verständnisfragen klären) darum gehen, eine Problemfrage aufzuwerfen / eine Hypothese

aufzustellen / ein Thema zu finden. Nur geht es im dritten Schritt nun aber nicht darum, die sog.

„hermeneutischen Differenz“ auf textanalytischem Wege „einzuebnen“, sondern einen eigenen Text

zu schreiben, der die persönliche Sicht der Dinge vergegenständlicht. Zumeist sind die

Schülerprodukte umfangreicher (als beim hermeneutischen Vorgehen), sodass es schon allein unter

pädagogischen Gesichtspunkten angemessen erscheint, mehrere Schüler ihren ganzen Text

präsentieren zu lassen (ggf. vorher noch in Kleingruppen eine Vorauswahl treffen). Diese Texte

werden – auch wenn sie denselben Orientierungspunkten folgen, spürbare Unterschiede aufweisen,

worin sich die Polyvalenz der Textvorlage und die damit verbundene individuelle Sichtweise des

einzelnen Schülers widerspiegelt.

Die in dieser Vergleichssituation herbeigeführte „Differenzerfahrung“ (Waldmann) ist die didaktische

Schlüsselsituation einer produktionsorientieren Sequenz: „Warum“ – so ist jetzt zu fragen – „hat

Rebecca ihren Text so gestaltet und Paul doch ganz anders (und beide scheinen schlüssig – oder?)“.

Auch die Frage nach dem besseren / besten Text liegt quasi auf der Hand, muss manchmal vom

Lehrer gar nicht extra formuliert werden, denn die Andersartigkeit der Ergebnisse bringt nach

Schülerverständnis sowohl die Frage nach der richtigen Lösung, als auch die Frage nach dem besten

Text mit sich. Die Antworten auf diese Fragen können nur unter Rekurrieren auf den Ausgangstext

gefunden werden: „Ich habe Frau Kuppisch als ängstliche Person dargestellt, weil dies zuvor

wiederholt an verschiedenen Textstellen deutlich geworden ist.“ Oder: „Ich habe das Gedicht im

Kreuzreim fortgesetzt, weil dies auch in der Vorlage so ist.“ Das heißt: „Die produktive Textrezeption

kommt nicht ohne Kognitivierungsphasen aus, in denen eine Verbalisierung der Ergebnisse aus dem

Produktionsschritt und ein analytisch-vergleichender Rückbezug auf den Originaltext sowie eine

Sicherung der Erkenntnisse zum literarischen Original erfolgen müssen.“17

Somit gestaltet sich ein (idealtypisches) Phasierungsmodell einer produktionsorientierten Stunde wie

folgt:

„worauf beim Schreiben achten?“

„was beim Schreiben schwierig?“

17 www.einecke-fachdidaktik.de Produktionsorientierung mit Vorsicht.

TEXTBEGEGNUNG

TEXTPRODUKTION

PRÄSENTATION

Analyse

Kriterien

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„was besser und warum?“

Dabei lässt sich – wie zu sehen ist – an verschiedenen Stellen des Phasenmodells die

Kriterienreflexion integrieren, die – immer wenn Sie fehlt – zu unbrauchbaren Ergebnissen führt.

Schüler interpretieren die Aufgabenstellung generell recht frei, schreiben, was sie wollen, und finden

am Ende alles Präsentierte entweder „och ja, geht so irgendwie“ oder „voll gut, hat irgendwie gute

Wörter gefunden“. DAS IST UNBRAUCHBAR!

Ein zweiter, weit verbreiteter Kardinalfehler ist, die Schreibzeit wie die Präsentationszeit zu

unterschätzen. Eine Stunde, in der nur geschrieben worden ist, ist didaktisch nichtssagend. Im Alltag

gibt es solche Stunden, eine Prüfungsstunde hingegen sollte die Ergebnisse fokussieren.

II. Rhetorik

Wer an Rhetorik denkt, der denkt an (politische) Reden, vielleicht gleich an Cicero, an Überzeugen

statt Überreden, an Stringenz und Kohärenz. Ähnlich wie im Bereich der Poetik können wir auch hier

ganz grundsätzlich zwischen Rezeption (gemeint: analytischer Umgang mit gegebenen Sachtexten)

und Produktion (dem Schreiben eigener argumentierender Sachtexte) unterscheiden. Und wie schon

zuvor gesehen, folgen auch hier beide Herangehensweisen unterschiedlichen didaktischen (ferner

auch methodischen) Mustern. Da jüngere Schülerinnen und Schüler – das kann man verallgemeinern

– bspw. im Jahrgang 6 kognitiv noch nicht in der Lage sind, abstrakte Begriffe der Analyse

(Erzählsituation, lyrisches Ich, Hypothese, These, Antithese etc.) zu erfassen, sind die unteren

Jahrgänge weitgehend der Produktion / Produktionsorientierung, die oberen Jahrgänge dem

analytischen Zugriff vorbehalten – dies gilt für die Poetik wie für die Rhetorik gleichermaßen.

Phasierung I: produktiv

Worum geht es also im Kern? – um die Entwicklung einer eigenen Position zu einer kontroversen

Streitfrage und Verfechtung der „eigenen Meinung“ auf argumentativem Wege. Dabei beziehen sich

die in den Lehrwerken angebotenen Streitfragen („Schuluniform – ja oder nein?“; „Veganes Essen in

der Schulmensa – eine gute Idee?“) fast ausschließlich auf den alltäglichen Erfahrungshorizont und

BEWERTUNG

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sind damit eben nicht deutschspezifisch.18 Darin spiegelt sich zunächst, dass es hier in erster Linie um

die Anbahnung einer Kompetenz, genannt argumentieren und erörtern geht, da die Inhalte hingegen,

wie gesehen, austauschbar sind. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass bspw. eine

Diskussion über den Sinn der Rechtschreibreform oder das Aussterben der Dialekte Achtklässler

überfordern würde. Hier könnten sie kaum aus eigener Erfahrung sprechen, müssten sich stattdessen

viel unverständliche Theorie aneignen und was vor allem nicht stattfände: die sog. „thematische

Inkubation“ (Fritzsche). Es gäbe keine Empörung oder hitzige Diskussionen (vielleicht sogar über den

Unterricht hinaus), einfach weil – Schülerperspektive – ein solches Thema kaum etwas mit ihnen zu

tun hätte.

Die Minimalstruktur einer solchen Sequenz würde sich wie folgt ausnehmen: Am Anfang stünde die

Einbringung eines entsprechenden Themas / einer entsprechenden Streitfrage. Diese sollte, das

könnte im Rahmen einer offenen Auftaktdiskussion im Plenum geprüft werden, tatsächlich

kontrovers sein. Überspitzt formuliert: Wenn alle einer Meinung sind, braucht man am Ende keine

Podiumsdiskussion zu veranstalten. Und per Rollenkarte jemandem eine Meinung „aufzudrücken“,

die er/sie gar nicht vertritt, ist didaktisch hochfragwürdig.

Der zweite Schritt bestünde in der gemeinsamen Anlegung und Vervollständigung einer Pro-/ Contra-

Tabelle. Hier werden die im ersten Schritt bereits genannten „Argumente“ gesichert, sie werden

weiter ergänzt (Ergebnisse einer Erarbeitungsphase) und werden schließlich allen zugänglich

gemacht (Visualisierung an Tafel, Folie o.Ä.).

Schritt drei müsste nun darin bestehen, die SuS darauf aufmerksam zu machen, dass die sog.

„Argumente“ der Tabelle (z.B. „Veganes Essen ist gesünder.“) in Wahrheit nur Thesen/Behauptungen

sind, die es mit entsprechenden Begründungen und/oder Beispielen (z.B. „weil veganes Essen

weniger tierisches Fett enthält.“) zu belegen gilt. Diese Theorie-Elemente müssen deduktiv durch das

Lehrbuch eingeführt werden, wobei kritisch angemerkt werden muss, dass in punkto Begriff und

Definition zwischen den einzelnen Lehrwerken keine Deckungsgleichheit besteht. Die Konstruktion

eigener Argumentblöcke nach dem Muster These – Begründung – Beispiel als vorentlastender Schritt

für die folgende Schreibarbeit hat sich als durchaus fruchtbar herausgestellt. Diese Vorarbeit hat

gewissermaßen die Funktion eines Schreibplans.

Ob nun eine Stellungnahme, ein Leserbrief oder eine Erörterung das Zielformat sein soll, für die

schriftliche Niederlegung (Schritt 4) empfiehlt es sich erfahrungsgemäß, den Schreibern kleine

Wortspeicher anzubieten, die einen Pool der benötigten Konjunktionen (aufzählend, kausal etc.)

bereithalten. Bei schwächeren Lerngruppen empfiehlt sich ein deduktives Vorgehen: Vorgabe und

Transfer in den eigenen Text; bei stärkeren Lerngruppen ein induktives: erst Produktion, dann

Extrahierung „gebräuchlicher Wörter und Formulierungen“, dann Überarbeitung des eigenen Textes.

Besteht das Zielformat in einer traditionellen Aufsatzform (freie Erörterung, textgebundene

Erörterung) muss an gegebener Stelle der Sequenz die besondere Bauform des Aufsatzes19

thematisiert werden. Auch wenn die Gefahr des Aufsatzformalismus20 nicht von der Hand zu weisen

ist, wird doch die Kenntnis um den formalen Aufbau verlangt, sodass wir unseren SuS diese

Informationen ganz einfach schuldig sind.

Der letzte Schritt besteht nun sachlogisch in einer Präsentation der Schreibprodukte. Diese findet

nicht nur aus pädagogischen Gründen (Würdigung des Schülerfleißes) statt; sie dient allen auch als

18 Melenk, Hartmut: Sachtexte im Deutschunterricht – ein historische Skizze, in: Fix, Martin (Hrsg. u.a.): Sachtexte im Deutschunterricht (= Diskussionsforum Deutsch, Bd. 19). Baltmannsweiler: Schneider, 2013, S. 13: „… Medizin, Gesundheit, Naturwissenschaft und Technik, Geschichte […]. Der Deutschunterricht wildert also, wenn er sich solcher Themen annimmt, im Gebiet anderer Fächer.“ 19 Thalheim, Peter: Unterrichtspraxis Aufsatz. Handbuch für die Sekundarstufe I. München: Oldenbourg, 1998; Scheidhammer, Franz-Josef: So geht das! Aufsatzkorrekturen fair und transparent. Mühlheim: Verlag an der Ruhr, 2008. 20 Fritzsche, Joachim: Zur Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts, Band 2: Schriftliches Arbeiten. Stuttgart: Klett, 2006, S. 29ff.

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Vergewisserung, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um einen guten Text verfasst zu haben.

Zunächst bedarf es einer didaktischen Reduktion aufgrund der Einsicht, dass SuS mit den Begriffen

Stringenz und Kohärenz nichts anfangen können. Für sie ist etwas logisch oder unlogisch, macht Sinn

oder macht keinen Sinn. Somit könnten sich die Kriterienformulierungen, die an die SuS ausgegeben

oder gar mit ihnen gemeinsam aufgestellt worden sind, wie folgt ausnehmen:

- Erstens sollte darauf geachtet werden, dass die Argumentblöcke mustergültig aufgebaut

sind, dass zumindest keine These „nackt“ stehenbleibt.

- Zweitens sollte darauf geachtet werden, dass die Beispiele und Begründungen inhaltlich zur

übergeordneten These passen – andernfalls ist eben etwas „unlogisch“.

- Drittens sollte überprüft werden, inwiefern auch der Argumentationsgang als ganzer

(Eingangshypothese – alle Argumentblöcke – Argumentationsziel) ohne logische Brüche

auskommt.

- Viertens sollte überprüft werden, ob die ausgewählten Konjunktionen an den Satzanfängen

und inmitten von Satzreihen und –gefügen den beabsichtigten Sinn treffen (und ihn nicht

etwa eleminieren: Wer für ein obwohl ein und benutzt, verwirrt seinen Leser!).

Weitere Kriterien erwachsen bspw. aus der Aufsatzform (Einleitungssatz komplett, Wendepunkt gut

konstruiert etc.) oder aus allgemeinsprachlichen Anforderungen (Ausdrucksfähigkeit, Beherrschung

des Konjunktivs etc.).

Phasierung II: rezeptiv

Bei der Analyse einer (politischen) Rede hingegen, wird ein vorgegebener Kriterienkatalog auf einen

vorgegebenen Text angewendet. Da es sich im Gegensatz zu einem literarischen Text um eine Realie

handelt, einst gehalten an einem realen Ort vor einem realen Publikum, lassen sich im Vergleich zur

Analyse / Interpretation eines literarischen Textes doch deutliche Unterschiede feststellen. Natürlich

geht es auch hier darum, Inhalte zu klären und die formalen Gestaltungsmittel (z.B. rhetor. Mittel

nebst deren Wirkung) zu bestimmen. Anders jedoch als bei der Analyse eines literarischen Text geht

es hier auch darum, die einstige Kommunikationssituation (Anlass, Adressaten etc.) zu

rekonstruieren. Auch muss gesehen werden, dass argumentierende/appellierende Sachtext nicht der

Literaturtheorie unterliegen. Somit gehen wir nicht davon aus, dass die Rede (als Sachtext) ein

polyvalentes Sinnangebot eröffnet, die Sinnfindung damit eine individuelle Konstruktionsleistung des

Rezipienten ist. Bei Reden gibt es keinen Erzähler, kein lyrisches Ich als Zwischeninstanz, sodass wir

hier direkt nach der Intention des Autors/Redners fragen, diese also nach einschlägiger Analysearbeit

aus dem Text herausarbeiten und bestimmen dürfen. Eine abschließende Bewertung der Hauptthese

des Redners – und zwar vor dem Hintergrund heutiger Wertmaßstäbe – ist prinzipiell möglich, aber

nicht in jedem Fall angebracht; hier steht die Analysearbeit bis hin zu Ableitung der Intention im

Vordergrund.

Das Oberstufenbuch TTS untergliedert die Analyse einer politischen Rede in vier Grobschritte:

1. Leitfragen zur Redesituation

2. Leitfragen zu Inhalt und Argumentationsaufbau

3. Leitfragen zu Redeabsicht und Argumentationsweise

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4. Leitfragen zu rhetorischen Mitteln und sprachlichen Besonderheiten.

Insgesamt handelt es sich um 31 Einzelfragen, die unter dem Dach der obigen Leitfragen

subsummiert sind. Andere Schulbücher verfahren ähnlich, aber nie deckungsgleich! Es ist wohl

beinahe müßig, zu erwähnen, dass die Internalisierung eines solchen Analyse-Apparats nicht „auf

einen Schlag“ stattfinden kann; stattdessen muss hier die langfristige Perspektive des

Spiralcurriculums eingenommen werden. Im Klartext: Derartiges Wissen (z.B. über 20 rhetorische

Mittel er/kennen), aber auch die Kompetenz, den eigenen Analyseprozess zielgerichtet und nach

funktionalem Ermessen durchführen zu können, muss über die Jahre schrittweise angebahnt

werden! Diese Anbahnung folgt zunächst hauptsächlich produktiven Mustern, die mit aufsteigender

Schulstufe allmählich durch rezeptive/analytische Anteile ersetzt werden. Dabei ist dieser Prozess

keineswegs als antagonistisches Gegenspiel zu sehen. Es ist stattdessen ein Ineinandergreifen, denn

klar ist, dass, dass derjenige, der in der Lage ist, einen argumentierenden Text „nach allen Regeln der

Kunst“ zu produzieren, natürlich auch in der Lage sein sollte, einen solchen Text „nach allen Regeln

der Kunst“ zu analysieren.21

Kontextualisierungen und Ergänzungen

Der Umgang mit argumentierenden Sachtexten – ob nun produktiv oder rezeptiv – ist nicht der

einzige Umgang mit Sachtexten im Unterricht überhaupt. Schlägt man in den Schulbüchern der

unteren und mittleren Sekundarstufe I nach, so sind verbreitet Kapitel zu finden, die z.B. Titel tragen

wie „Heldenhaft? – In Referaten, Protokollen und Texten informieren“22. Auch hier handelt es sich

um nicht-fachspezifische Themen, wohl aber um lebensnahe Themen, die – und hierin besteht ihre

Eigenheit – nicht strittig bzw. kontrovers sind, also nicht diskutiert/erörtert werden können. Die

Kompetenzen, die stattdessen mit derartigen Lerngegenständen anzubahnen sind, zielen auf

Informationsbeschaffung und -aufbereitung und Präsentation ab. Da alle drei hier genannten Phasen

ein hohes Maß an Eigenständigkeit der SuS voraussetzen, es also notwendig machen, den Unterricht

zu öffnen, um die notwendigen Freiheiten des (Zusammen-)Arbeitens zu ermöglichen, rücken in der

Vorbereitung des Unterrichts erfahrungsgemäß methodische Überlegungen in den Vordergrund: Wer

kann mit wem zusammenarbeiten? Wie groß dürfen die Lerngruppen sein? Steht uns der

Computerraum permanent zur Verfügung? Lernplakate oder PowerPoint-Präsentation?

Es bedarf wohl eigentlich keiner besonderen Bemerkung, dass der Umgang mit informierenden

Sachtexten didaktisch gesehen nicht isoliert betrachtet werden kann. So wie die Inhaltsangabe als

Vorübung und Teil eines Interpretationsprozesses gesehen werden muss, muss das Recherchieren

und Aufbereiten von Informationen als Vorübung und Teil einer Argumentation gedacht werden. Die

(neuerdings auch abiturrelevante!) Aufsatzform des sog. ‚materialgestützten Schreibens‘23 verbindet

diese beiden Kompetenzcluster in eben genannter Weise.

III. Grammatik 21 Sitta, Horst: Sachtexte im Deutschunterricht? Wozu? Welche? Ein Plädoyer für stärkere Berücksichtigung argumentativer Texte im gymnasialen Unterricht, in: Fix, Martin (Hrsg. u.a.): Sachtexte, S. 151: Der Autor spricht sich dafür aus, „Schüler dazu zu befähigen, kohärente argumentative Texte zu schreiben. Diese Zielsetzung impliziert, solche Texte zu lesen.“ 22 Deutschbuch 8. Sprach- und Lesebuch. Gymnasium Niedersachsen, hrsg. v. Schurf, Bernd (u.a.). Berlin: Cornelsen, 2014, S. 16ff. 23 Praxis Deutsch Nr. 251/2015: Themenheft „Materialgestütztes Schreiben“.

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Keine Schülerin, kein Schüler kommt heute noch mit einem Sprachbuch und einem Lesebuch zur

Schule. Dies rührt daher, dass heutzutage der Primat der integrierten Grammatik24 herrscht, wonach

Grammatik – wo immer möglich – in funktionalen Zusammenhängen zu unterrichten ist.25 Hierin

manifestiert sich der theoriegeleitete Versuch, den heutigen Grammatikunterricht eben nicht mehr

als normatives Regelsystem deklarativen Wissens stattfinden zu lassen, sondern das blanke Wissen

„einzubetten“ in eine umfassende Reflexion über Sprache. Zu eben diesem Zwecke sind in den

vergangenen Jahrzehnten weitere innovative Unterrichtskonzepte (situative Grammatik,

Grammatikwerkstatt, funktionaler Grammatikunterricht etc.)26 ins Feld geführt worden, ohne dass

dieser theoretische Diskurs bis heute einen verbindlichen Endpunkt erreicht hätte.27 Ein Blick in

heutige Schulbücher jedoch führt schnell zu der Gewissheit, dass der traditionelle systemische Ansatz

der Grammatikvermittlung – erweitert, ergänzt, ummantelt – nach wie vor vorhanden und didaktisch

richtungweisend ist. Auch wenn „neuerdings“ in Lyrikkapiteln hier und da nach sog. „sprachlichen

Besonderheiten“ und deren Wirkung gefragt wird, so muss doch festgestellt werden, dass nach wie

vor „reine“ Grammatikkapitel28 existieren, die Im Verlauf der Schuljahre der Sekundarstufe I eine

systematische Erschließung des grammatischen Systems anstreben. Erklärt werden kann dieses

Phänomen mit Abraham, der darauf hinweist, dass die angestrebte Kompetenz der Sprachreflexion

nur dann erreicht werden kann, wenn zuvor deklaratives Sprachwissen aufgebaut worden ist. Danach

fungiert der althergebrachte, traditionelle Grammatikunterricht nicht als emanzipatorischer

Reibungspunkt, sondern avanciert zur Grundvoraussetzung für darauf aufbauende Kompetenzen des

Nachdenkens über Sprache.

Perspektivwechsel: In der Praxis liegt der neuralgische/charakteristische Punkt des Grammatik-

unterrichts (verglichen mit Poetik und Rhetorik) in dem besonders hohen Grad der Verbindlichkeit –

oder anders ausgedrückt: Im Grammatikunterricht werden keine Standbilder gebaut. Sie können

nicht gebaut werden, weil es im Grammatikunterricht keine subjektive Sicht der Dinge gibt, die in

einem Standbild, das eben den Zweck hat, individuelle Lesarten zu visualisieren, zum Ausdruck

gebracht werden könnte. Was es stattdessen im Grammatikunterricht gibt, sind Regeln in Form von

Merksätzen, die grammatikalische Zusammenhänge wiedergeben. Diese sind zum allergrößten Teil

objektivierbar, selten jedoch diskutierbar. Es geht also hier in erster Linie um die Frage nach dem

Richtig oder Falsch. Dies verlangt dem Neuling hinterm Lehrerpult dann oftmals auch Sätze ab wie:

„Nein, Larissa, das ist falsch! Schau dir nochmal den Merksatz an!“ – für vorsichtige, zurückhaltende

Menschen vielleicht eine kleine Herausforderung.

Damit ist das fixe grammatische Regelwerk feste Bezugsebene allen Handelns im Rechtschreib- und

Grammatikunterricht. Die nun folgenden didaktischen Kernentscheidungen, die der Lehrkörper zu

treffen hat, liegen erstens im Bereich der didaktischen Reduktion. Da das fixe grammatische

Regelwissen ein sehr umfangreiches und komplexes, weil aufeinander bezogenes ist, muss ein für die

24 Peyer, Ann: Grammatikunterricht, in: Lange, Günter (Hrsg. u.a.): Grundlagen der Deutschdidaktik. Sprachdidaktik, Mediendidaktik, Literaturdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider, 2010, S. 78ff.; Klotz, Peter: Integrativer Deutschunterricht, in: Kämper-van den Boogaart: Deutsch-Didaktik, S. 51ff. 25 In den Bildungsstandards für die Sek. I ist zu lesen, dass „grammatische Kategorien und ihre Leistungen in situativen und funktionalen Zusammenhängen“ zu unterrichten seien. (http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/bs_ms_kmk_deutsch.pdf) 26 Peyer, Ann: Grammatikunterricht, in: Lange, Günter (Hrsg. u.a.): Grundlagen S. 77ff.; Schuster, Karl: Einführung in die Fachdidaktik Deutsch. Baltmannsweiler: Schneider, 2003, S. 158ff. 27 Dieser Eindruck entsteht bei Vergleich der einschlägigen Didaktiken (v. Brand, Schuster, Lange (u.a.), Abraham u.a., Kämper-van den Boogaart), da ein Konsens nicht recht ablesbar ist. 28 Als Beispiel: Deutschbuch 8. Sprach- und Lesebuch. Neue Grundausgabe, hrsg. v. Schurf, Bernd (u.a.). Berlin: Cornelsen, 2009: Hier spricht das Inhaltsverzeichnis ab S. 183 von „Grammatiktraining: 1. Wörter und Wortarten, 2. Konjunktiv und Modalverben, 3. Satzglieder und Sätze“.

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SuS „überschaubarer“ Ausschnitt gewählt werden, der den Anschein von Geschlossenheit und

gedanklicher Durchdringbarkeit macht (bspw. Kommasetzung bei Gliedsätzen). Überdies ist darauf zu

achten, dass in den Unterrichtsarrangements die Regelkonformität und damit Verlässlichkeit in den

Vordergrund gekehrt wird (und nicht etwa mit den wenigen Sonderfällen und Ausnahmen begonnen

wird). Eine denkbare didaktische Reduktion könnte auch darin bestehen, bestehende Kann-Regeln in

Muss-Regeln umzudeklarieren, damit der Eindruck der Verlässlichkeit erhöht und das Gefühl der

Beliebigkeit auf ein Minimum reduziert wird. Hieran schließt sich die artverwandte Empfehlung,

„vom Einfachen zum Komplexen“29 vorzugehen und ggf. zu frühe, bereits auf die höchste

Komplexitätsstufe abzielende Schülerfragen freundlich zurückzuweisen: „Das ist eine sehr

interessante, wichtige Frage, die wie jetzt noch nicht /erst später beantworten können.“

Die zweite nun folgende (und nicht zu umgehende) didaktische Kernentscheidung ist die des

wahlweise induktiven oder deduktiven Vorgehens, wobei meines Erachtens die deduktive

Verfahrensweise immer, die induktive nicht immer möglich ist. Zur Erklärung: Es sollte didaktisch

immer möglich sein, den SuS anhand eines Tafel-Beispiels eine grammatische Verhältnismäßigkeit zu

erklären, um dann - eben deduktiv - einen dazugehörigen Merksatz „hereinzureichen“, der dann

Orientierungspunkt für die nachfolgende Übung ist – eine Transferleistung also, die dem AFB II

zuzuordnen ist. Was folgt, ist die Sicherungsphase, in der die Ergebnisse unter der Frage „richtig oder

falsch?“ verglichen, berichtigt und ergänzt werden.

Beim induktiven30 Vorgehen muss der Lerngegenstand (nicht nur) der Einstiegsphase so geartet sein,

dass er sein Thema quasi mitbringt, besser gesagt: die SuS „berührt“ und „abholt, wo sie stehen“.

Idealerweise formulieren sie nach erstmaliger Begegnung mit dem besagten Material eine eigene

Fragestellung und würden dann das grammatische Phänomen im Textzusammenhang untersuchen

und zu guter Letzt eigenständig einen Merksatz aufstellen (AFB III), der das Phänomen und seine

Funktionsweise konkretisiert. Die weitere Transferleistung zur Anwendung / Überprüfung des

gemeinsam aufgestellten Merksatzes würde sich dann den Erkenntnisprozess abschließen – vielleicht

auch erst in der Folgestunde.

Es ist unschwer zu ermessen, dass die induktive Vorgehensweise als nachhaltiger gilt, weil keine

gedanklichen Versatzstücke vorgegeben werden, stattdessen die Erkenntnisse überwiegend selbst

gemacht werden. Dies ist nachvollziehbarerweise didaktisch aufwändiger und zeitintensiver und

muss bei der Unterrichtsplanung berücksichtigt werden.

29 Abraham, Ulf (u.a.): Praxis des Deutschunterrichts. Arbeitsfelder, Tätigkeiten, Methoden. Donauwörth 2005, S. 48. 30 Müller-Michaels: Grundkurs, macht sich in Form eines „Merksatzes“ für das induktive Prinzip stark (S. 73).


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