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DEUTSCHLAND & EUROPA · Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942 Deutsch,...

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Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942 Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA Bürgerbeteiligung in Deutschland und Europa Heft 65 2013 2013 Politisch beteiligen!
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Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942

Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft

DEUTSCHLAND & EUROPA

Bürgerbeteiligung in Deutschland und Europa

Heft 65 – 2013

2013Po l i t i s c h b e t e i l i g en !

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DEUTSCHLAND & EUROPA

Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch,Geographie, Kunst und Wirtschaft

Erweiterungs- und Austrittsdiskussionen in der Europäischen Union

THEMA IM FOLGEHEFT 66 (NOVEMBER 2013)

HEFT 65–2013

»Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben.

DIREKTOR DER LANDESZENTRALELothar Frick

REDAKTIONJürgen Kalb, [email protected]

REDAKTIONSASSISTENZSylvia Rösch, [email protected]

BEIRATGünter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH, StuttgartRenzo Costantino, Ministerialrat, Ministerium für Kul-tus, Jugend und SportProf. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität KonstanzDietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., FilderstadtLothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Semi-nar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen/NeckarDr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studien haus WiesneckDr. Georg Weinmann, Studiendirektor, Dietrich- Bonhoeffer-Gymnasium WertheimLothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische BildungJürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für politische Bildung

ANSCHRIFT DER REDAKTIONStafflenbergstraße 38, 70184 StuttgartTelefon: 0711.16 40 99-45 oder -43; Fax: 0711.16 40 99-77

SATZSchwabenverlag Media der Schwabenverlag AGSenefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-RuitTelefon: 0711.44 06-0, Fax: 0711.44 06-179

DRUCKSüddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH89079 Ulm

Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr. Preis der Einzelnummer: 3,– EURJahresbezugspreis: 6,– EURAuflage 17.000

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wie-der. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport sowie der Heidehof Stiftung.

Die Teilnehmer des »Filderdialogs« am Samstag, den 16.06.2012 in Leinfelden-Echterdingen. Beim Filderdialog berieten Bürgerinnen und Bürger sowie Experten/-innen über mögliche alter-native Stuttgart-21-Trassenvarianten rund um den Landesflughafen in Leinfelden-Echterdingen. Während die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg diese Form der Bürgerbeteili-gung positiv bewertete, beurteilte z.B. die Bürgerinitiative »Schutzgemeinschaft Filder« oder der »BUND« diese überwiegend kritisch. © Franziska Kraufmann dpa/lsw

Kontroverse Diskussion um den »Filderdialog«:Stellungnahme der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeiteiligung der baden- württembergischen Landesregierung, Gisela Erler: www.stm.baden-wuerttemberg.de/de/ Meldungen/ 285478.html?referer=225359&template=min_meldung_html&_min=_stm

Stellungnahme der »Schutzgemeinschaft Filder« und des »BUND«: www.schutzgemeinschaft- filder.de/presse/presse-anzeige/article/schutzgemeinschaft-und-bund-empoert-ueber-umgang-mit-filderdialog-votum-beide-erklaeren-austritt-a/

Weiterführende Informationen auf der Website des »Filderdialogs 21«www.filderdialog-s21.de

Bürgerbeteiligung in Deutschland und EuropaVorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

1 . Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen Jürgen Kalb 3

2 . Auf dem Weg zur Mitmachdemokratie: Gemeinsam gestalten – Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen Gisela Erler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

3 . Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa Patrizia Nanz | Jan-Hendrik Kamlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

4 . Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit: Zwei Prinzipien im Spannungs feld von Utopie und Wirklichkeit am Beispiel Deutschland Oscar W. Gabriel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

5 . Die europäische Bürgerinitiative und die Möglichkeiten und Grenzen der Bürgerbeteiligung in der EU Franz Thedieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

6 . Mehr Demokratie? Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa von 1945–1990 Andreas Grießinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

7 . Soziale Medien und das Partizipationsparadox Jan-Hinrik Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . 46

8 . Wahlalter 16? »Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst« D&E-Interview mit Prof. Dr. Klaus Hurrelmann zum »Wahlalter mit 16« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

9 . »Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit? D&E-Interview mit Dr. Jan Kercher, Universität Stuttgart-Hohenheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

10 . »Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur Jeannette Behringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

DEUTScHlAND & EUrOPA INTErN

D&E – Autorinnen und Autoren – Heft 65 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

D&E

Inhalt Inhalt

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I n h a l tHeft 65 · 2013

Jürgen Kalb, LpB,

Chefredakteur von»Deutschland & Europa«

Lothar FrickDirektor der Landeszentralefür politische Bildungin Baden-Württemberg

Renzo CostantinoMinisterium für Kultus, Jugend und Sportin Baden-Württemberg

Unser repräsentativ-demokratisches System befindet sich, so scheint es jedenfalls im Moment, in einem tiefgreifenden Wandel. Auf der einen Seite verlieren insbesondere die politischen Par-teien zunehmend an Vertrauen und an Mitgliedern, auf der ande-ren Seite werden von großen Teilen der Bevölkerung direkte Formen der Demokratie wie z.B. Bürgerbegehren oder Volksent-scheide, zumindest aber eine stärkere »Bürgerbeteiligung« ein-gefordert.Nach einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahre 2011 wünschen sich 81 Prozent der befragten Bür-ger mehr Beteiligungs- und Mitsprachemöglichkeiten im politi-schen Prozess. Gefragt nach der grundsätzlichen Bereitschaft, sich über Wahlen hinaus z.B. an Diskussionsforen, Bürgerbegeh-ren oder Anhörungen zu beteiligen, zeigten sich 60 Prozent be-reit, sich stärker einzubringen. 85 Prozent der Bürger in Deutsch-land stimmten der Aussage zu, dass politische Entscheidungen durch mehr Bürgerbeteiligung eine höhere Akzeptanz in der Be-völkerung fänden. Schließlich sagten 76 Prozent der Befragten, Deutschland würde durch mehr Bürgerbeteiligung gerechter.Empirische Untersuchungen zeigen allerdings auch, dass sich bil-dungsferne Gruppen keineswegs von allen Bürgerbeteiligungs-möglichkeiten über demokratische Wahlen hinaus in gleichem Maße angesprochen fühlen wie etwa die Bürgerinnen und Bürger mit höherer formaler Bildung. Die Forderung nach »mehr Bürger-beteiligung« könnte deshalb sogar zu Verzerrungen bei der Erhe-bung des Volkswillens im demokratischen Meinungs- und Wil-lensbildungsprozess führen. Gleichzeitig wächst in einer modernen Industriegesellschaft fast täglich die Notwendigkeit, etwa durch die Erneuerung der Infra-struktur im Energie-, Verkehrs- oder Schulwesen, in den Alltag der Menschen einzugreifen. Deshalb reift auch bei den gewählten Repräsentanten die Ein-sicht: Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger merken, dass sie frühzeitig informiert, offen angehört und ihre Argumente ver-standen werden, lässt sich eine höhere Identifikation, wenn nicht sogar die Verantwortungsübernahme zumal der jungen Bürgerin-nen und Bürger für das Gemeinwohl erreichen. Voraussetzung und Grundlage für eine, wenn man so will, »Parti-zipationskompetenz« der Bürgerinnen und Bürger ist dabei stets eine sachliche, die kontroversen Standpunkte der Beteiligten be-rücksichtigende politische Bildung. 15. März 2013

Lediglich 42 % der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind der Meinung, dass ihre Stimme in der Union zählt. Und nur die Hälfte aller EU-Bürgerinnen und -Bürger sind mit der Art und Weise, wie Demokratie auf europäischer Ebene aktuell funk-tioniert, zufrieden (Eurobarometer 77.4, 2012). Diese Ergebnisse sind bedenklich und signalisieren deutlich Handlungsbedarf, um das Vertrauen der Menschen in die Leistungs- und Zukunftsfähig-keit der Europäischen Union zu stärken.

Richtig ist aber auch: Bürgerinnen und Bürger engagieren sich mehr denn je und suchen nach neuen Wegen der Mitwirkung und der politischen Partizipation. Die Europäische Union hat das Jahr 2013 zum »Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger« erklärt und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass der wichtigste Baustein einer modernen Demokratie die Beteiligung von Bürge-rinnen und Bürgern an politischen Willensbildungs- und Ent-scheidungsprozessen ist. Die Bürgerbeteiligung gibt Menschen unterschiedlichster Herkunft und politischer Überzeugung die Möglichkeit, Politik zu erleben und mitzugestalten. Eine leben-dige Gesellschaft braucht aktive Bürgerinnen und Bürger, die das Zusammenleben gestalten wollen, das Wort ergreifen, sich ver-antwortlich zeigen und sich einbringen. Dies gilt auf Ebene der Einzelstaaten, und dies hat auch für das Zusammenleben in Eu-ropa Gültigkeit.

Die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa« gibt einen ge-lungenen Einblick in die verschiedenen Möglichkeiten der Bürger-beteiligung im europäischen System und beleuchtet das Thema aus vielfältigen Blickwinkeln. Die Bandbreite reicht von einer his-torischen Betrachtung der zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Deutschland und Europa bis hin zur aktuellen Diskussion zur Ab-senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Damit bietet das Heft eine ideale Grundlage für eine differenzierte Auseinandersetzung mit einem für die Zukunft Europas entscheidend wichtigen Themen-komplex.

Geleitwort des Ministeriums

Vorwortdes Herausgebers

V o r w o r t & G e l e i t w o r t

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Heft 65 · 2013D&E

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

1. Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen

JÜRGEN KALB

Die Europäische Union hat das Jahr 2013 zum »Europäischen Jahr der Bürgerin-

nen und Bürger« erklärt. Verbunden damit ist die Aufforderung, sich über die Zukunft der EU, die »EU 2020«, auf allen exekutiven und legislativen Ebenen, aber auch in der Zivilgesellschaft und in der Geschäftswelt öffentlich auszutauschen. Zudem werden, so heißt es, die Bürgerinnen und Bürger auf den nationalen, regionalen oder loka-len Ebenen aufgefordert, sich zu artikulie-ren und sich zu beteiligen, sollen neue Wege der Bürgerbeteiligung gesucht, aus-probiert und etabliert werden. Dies geht einher mit Bestrebungen in einzelnen Bun-desländern, wie z. B. Baden-Württemberg, und Kommunen, mehr »Bürgerbeteiligung zu wagen«. Doch was ist substantiell an dieser »Wende hin zu den Bürgerinnen und Bürgern«? Sind es gar nur Alibianhörungen in einem zu erstarren drohenden reprä-sentativ-demokratischen »europäischen Mehr ebenensystem«, das nicht selten als fernes »bürokratisches Monster Brüssel« karikiert wird? Das Ansehen der demokratisch gewählten Ver-treterinnen und Vertreter ist jedenfalls, das zeigen nahezu alle nationalen sowie europaweiten Befragungen, auf einem Tiefpunkt angelangt. Ob sich durch mehr Bürgerbeteiligung eine Trendwende einleiten ließe, bleibt bislang sicher eine of-fene Frage. Optimisten sehen in der Etablierung von »formel-len und informellen Formen der direkten Partizipation« be-reits Alternativen bzw. Ergänzungen zum parlamentarischen System. Skeptiker warnen dagegen vor allzu viel Euphorie, ja sehen darin sogar die Gefahr, dass formelle und informelle Anhörungen der Bürgerinnen und Bürger das parlamentari-sche System und die Verantwortlichkeit der demokratisch le-gitimierten Repräsentanten aushöhlen und letzten Endes, fänden die Befragungen dann doch wenig Gehör, zu noch mehr Frustration und Misstrauen führen könnten. Letztlich sei die Partizipationsbereitschaft auch keineswegs auf alle Bevölkerungsgruppen gleichmäßig verteilt, was zu extremen Verzerrungen in der politischen Meinungs- und Willensbil-dung führen müsse. Andererseits sind sich alle Beteiligten schnell darin einig, dass ohne die Zustimmung seiner Bürge-rinnen und Bürger ein so komplexes System wie das transnati-onale Mehrebenensystem der Europäischen Union auf Dauer nicht funktionieren kann. Das Anwachsen von Kräften, die sich für eine Renationalisierung einsetzen, lässt sich heute bereits in manchen Mitgliedstaaten beobachten.

Warum ein »Europäisches Jahr der Bürgerinnen und Bürger«?

Europakritische Stimmen melden sich nicht nur in den Medien und an den Stammtischen in zunehmendem Ausmaße. In zahl-

reiche Mitgliedstaaten sitzen heute bereits europakritische Par-teien in den Parlamenten. Dies sollte auch in Deutschland nicht bagatellisiert werden, auch wenn es hierzulande (noch) keine ex-plizit populistisch-europakritische Partei in den Parlamenten gibt. Schon in Großbritannien sieht es anders aus. So kündigte zu Beginn des Jahres 2013 der britische Premierminister David Ca-meron an, im Jahre 2017 ein Referendum über die weitere Mit-gliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU durchführen zu lassen. Und Meinungsforscher sehen im Moment sogar eine Mehrheit bei jenen Briten, die einen Austritt aus der EU befürwor-ten. In den Niederlanden, in Finnland, in Österreich, um nur ei-nige Länder zu nennen, eroberten europakritische Parteien längst enorme Prozentpunkte bei Parlamentswahlen.Insbesondere nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise sowie in der Folge der Staatsschuldenkrise in den PIIGS-Staaten (Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien), oft auch ab-gekürzt »Euro-Krise« genannt, scheinen jene Recht zu bekom-men, die schon längst behaupten, dass die Problemlösungskapa-zität der Europäischen Union nicht ausreiche, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen. Als Krisenbewältiger erschei-nen in den Medien und damit auch in den Augen der meisten Bür-gerinnen und Bürger dabei auch in erster Linie die Staats- und Regierungschefs der großen EU-Mitgliedstaaten, die in nächte-langen Konferenzen um Kompromisse ringen. Als weiterer Agent neben dem Europäischen Rat erscheinen in den Medien höchs-tens noch die Vertreter der Europäischen Kommission. Vom Euro-paparlament war dagegen in diesen Krisenmonaten wenig zu le-sen, zu hören oder zu sehen. Schon ist die Rede vom weiteren »Legitimationsverlust« der EU. Die »Effektivität« der beschlosse-nen Kompromisse wird schon länger angezweifelt.Umstrittene EU-Richtlinien aus den Reihen der EU-Kommission erzeugen zudem den Eindruck einer Regelungswut aus Brüssel, die an den Bedürfnissen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger

Abb. 1 »Ist das nicht das Bürokratie-Monster? …« © Gerhard Mester, 20.1.2013

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Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und GrenzenHeft 65 · 2013D&E

vor Ort vollkommen vorbei gehe. Als Beispiel sei hier nur die sog. »Wasser-Richtlinie« ge-nannt, die inzwischen durch öffentlichen Druck wieder zurück genommen wurde. Un-ter der Überschrift des »Europäischen Se-mesters« sind es dann wiederum der »Rat« und die Kommission, die die Mitgliedstaaten zur Einhaltung der nationalen Haushaltsdis-ziplin bzw. des Fiskalpaktes drängen. Vor al-lem in den Krisenstaaten entsteht der Ein-druck, aus »Brüssel« oder »Berlin« werde eine Austeritäts- oder Sparpolitik diktiert, die den Bedürfnissen dieser Staaten keineswegs ge-recht werde. Und Jugendarbeitslosigkeitsra-ten in den Krisenstaaten von nahe an oder über 50 % lassen in der Tat europaweit auf-horchen. Andererseits wehren sich zuneh-mend Menschen in den nördlichen EU-Mit-gliedstaaten dagegen, »Zahlmeister der EU« zu werden. Bürgernähe erzeugt beides nicht.Zwar hat der Lissaboner Vertrag, der seit 2009 als Grundlagen vertrag der EU gilt, die Rechte des Europaparlaments deutlich aus-geweitet, dessen Medienpräsenz und damit öffentliche Beachtung erscheint aber nach wie vor zumindest bei der Krisenbewältigung peripher. Selbst dem interessierten Beobach-ter des Europaparlaments fällt es schwer ein-zuschätzen, welches Gewicht das Europapar-lament im Brüsseler Gesetzgebungsprozess denn nun wirklich spielt. 2014 stehen erneut Europawahlen an. Und bereits 2009 war die Wahlbeteiligung mit europaweit rund 43 % keineswegs überzeu-gend.Mit dem »Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger« im Jahr 2013 möchten die Europäische Kommission und die Europaparla-mentarier deshalb rechtzeitig damit beginnen, Wählerinnen und Wähler für die Europawahlen zu mobilisieren.Die Europäische Kommission hat dazu neben einer Öffentlich-keitskampagne mit verschiedenen Webportalen (z. B. http://europa.eu/ citizens-2013/de/home) zudem »Eurobarometer« damit beauftragt herauszufinden, ob die Bürgerinnen und Bürger in der EU denn genügend über ihre Rechte als Unionsbürger informiert seien (Flash Eurobarometer 365 vom Februar 2013, Erhebung November 2012). Das insgesamt positive Ergebnis kann aber sicher nicht darüber hinweg täuschen, dass die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger mit ihren Mitwirkungsrechten auf der europäischen Ebene kei-neswegs zufrieden sind. Bundespräsident Joachim Gauck hat in seiner Rede vom 22.2.2013 einige der seit langem zu hörenden Kritikpunkte an der EU aufge-listet: »den Verdruss über die sogenannten Brüsseler Technokraten und ihre Regelungswut, die Klage über mangelnde Transparenz der Entschei-dungen, das Misstrauen gegenüber einem unübersichtlichen Netz von In-stitutionen und nicht zuletzt den Unwillen über die wachsende Bedeutung des Europäischen Rates und die dominierende Rolle des deutsch-französi-schen Tandems«. (Joachim Gauck, Europa: Vertrauen erneuern – Verbind-lichkeit stärken, S. 2f., www.bundespraesident.de) Der Bundespräsident kommt zu dem Schluss, »zu viele Bürger lässt die Europäische Union in einem Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit zurück« (S. 2) und weiter unten heißt es: »Die Krise hat mehr als nur eine ökonomische Dimension. Sie ist auch eine Krise des Vertrauens in das politische Projekt Europas.«Gleichzeitig betont Gauck aber auch, dass es, anders noch als im 19. Jahrhundert bei der Nationalstaatenbildung, heute »starke Zi-vilgesellschaften« gebe. »Ohne die Zustimmung der Bürger könnte keine europäische Nation, kann kein Europa wachsen. Takt und Tiefe der europäischen Integration, sie werden letztlich von den europäischen Bür-gerinnen und Bürgern bestimmt« (ebenda, S. 9).

Sein Wunschbild für Europa heißt für ihn, »mehr europäische Bürger-gesellschaft« (S. 12). Darunter versteht Gauck auch »eine europäische Agora, ein gemeinsamer Diskussionsraum für das demokratische Mitein-ander« (S. 11). Direkt an die anwesenden Schülerinnen und Schüler gewandt führt er aus:»Wir brauchen heute ein erweitertes Modell. Vielleicht könnten ja unsere Medienmenschen, könnte unsere Medienlandschaft so eine Art europaför-dernde Innovation hervorbringen, vielleicht so etwas wie »Arte für alle« (»Arte« ist ein deutsch-französischer TV-Sender mit kulturellem Anspruch: J. K.), ein Multikanal mit Internetanbindung, für mindestens 27 Staaten, 28 natürlich, für Junge und Erfahrene, Onliner, Offliner, für Pro-Europäer und Europa-Skeptiker. Dort müsste mehr gesendet werden als der Eurovi-sion Song Contest oder ein europäischer Tatort. Es müsste zum Beispiel Reportagen geben über Firmengründer in Polen, junge Arbeitslose in Spa-nien oder Familienförderung in Dänemark. Es müsste Diskussionsrunden geben, die uns die Befindlichkeiten der Nachbarn vor Augen führten und verständlich machten, warum sie dasselbe Ereignis unter Umständen ganz anders beurteilen als wir. Und in der großen Politik würden dann nach einem Krisengipfel die Türen aufgehen und die Kamera würde nicht nur ein Gesicht suchen, sondern die gesamte Runde am Verhandlungstisch einblenden. Ja, ob nun mit oder ohne einen solchen TV-Kanal: Wir brau-chen eine Agora. Sie würde Wissen vermitteln, europäischen Bürgersinn entwickeln helfen und auch Korrektiv sein, wenn nationale Medien in na-tionalistische Töne verfallen, ohne Sensibilität oder Sachkenntnis, über den Nachbarn berichten und Vorurteile fördern. Ich weiß, dass viele Medi-enkonzerne die europäische Öffentlichkeit schon zu stimulieren versu-chen, mit Beilagen aus anderen Ländern, mit Schwerpunktthemen zu Eu-ropa und vielen guten Ideen. Ich weiß das. Aber bitte mehr davon – mehr Berichterstattung über und mehr Kommunikation mit Europa!Wir sprechen gerade über Kommunikation. Kommunikation ist für mich kein Nebenthema des Politischen. Eine ausreichende Erläuterung der The-men und Probleme, sie ist vielmehr selbst Politik. Eine Politik, die mit der Mündigkeit der Akteure auf der Agora rechnet und sie nicht als untertä-nig, desinteressiert und unverständig abtut. Mehr Europa heißt für mich:

Abb. 2 »Wie hoch ist Ihr Vertrauen in folgende Berufsgruppen?« © Change, Das Magazin der Bertelsmann Stiftung, Sonderheft 2009; S. 19

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen

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Heft 65 · 2013

JÜRG

EN K

ALB

D&E

mehr europäische Bürgergesellschaft. Ich freue mich daher, dass 2013 das Europäi-sche Jahr der Bürgerinnen und Bürger ist.« (ebenda, S. 12)Gauck weist dabei in seiner Rede aus-drücklich auf das von Ulrich Beck und Daniel Cohn-Bendit initiierte Mani-fest »Wir sind Europa! Manifest zur Neu-gründung Europas von unten.« (http://ma-nifest-europa.eu/allgemein/wir-sind-europa?lang=de) hin, wenn er auch nicht allen aufgestellten Forde-rungen zustimmen möchte. Im Mani-fest heißt es:»Wir, die Erstunterzeichnenden, möchten der europäischen Bürgergesellschaft eine Stimme geben. Wir fordern deshalb die Europäische Kommission und die nationa-len Regierungen, das Europäische Parla-ment und die nationalen Parlamente dazu auf, ein Europa der tätigen Bürger zu schaffen und sowohl die finanziellen wie auch rechtlichen Voraussetzungen für ein Freiwilliges Europäisches Jahr für alle be-reitzustellen – als Gegenmodell zum Eu-ropa von oben, dem bisher vorherrschen-den Europa der Eliten und Technokraten. Europa droht zu scheitern an der unausgesprochenen Maxime der Europapolitik, das Glück des europäi-schen Bürgers notfalls auch gegen seinen Willen zu schmieden. Es geht darum, die nationalen Demokratien europäisch zu demokratisieren und auf diese Weise Europa neu zu begründen. Nach dem Motto: Frage nicht, was Europa für dich tun kann, frage vielmehr, was du für Europa tun kannst – Doing Europe!«Wenn auch der deutsche Bundespräsident sich nicht gleich der Forderung des Manifests nach einem »von der EU finanzierten eu-ropäischen Freiwilligendienst« anschließen möchte, so hegt er doch Sympathien für die Forderungen nach einer »EU von unten«, nach der Unterstützung und Organisation von mehr Bürgerbetei-ligung in Europa, auf allen Ebenen.

Das Instrument der »Europäischen Bürgerinitiative«

Bürgerbeteiligung lässt sich im transnationalen europäischen Mehrebenensystem sicher nur sehr unterschiedlich für die politi-sche Willensbildung nutzbar machen. Am häufigsten werden die unterschiedlichen Modelle der »formellen oder informellen Bür-gerbeteiligung« sicher auf regionaler oder lokaler Ebene organi-siert und praktiziert. Professorin Dr. Patrizia Nanz und Dr. Jan-Hendrik Kamlage haben dazu in der vorliegenden Ausgabe von D&E in ihrem Beitrag »Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa« einige anschauliche Beispiele vorgestellt. Im sich an-schließenden Materialteil wird zudem mit Zeitungsberichten zu Praxisbeispielen aus Süddeutschland das durchaus unterschiedli-che Presseecho auf solche Bürgerbeteiligungsformen deutlich. Zuvor beschreibt die »Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürger-beteiligung« der baden-württembergischen Landesregierung, Gisela Erler, in ihrem Beitrag: »Auf dem Weg zur Mitmachdemokratie: Gemeinsam gestalten – Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen« die diesbezüglichen Vorhaben der grün-roten Landesregierung. Für die Landesregierung soll die verstärkte Bürgerbeteiligung gar zu einem zentralen Vorgehen in ihrer Regierungsarbeit werden.Professor em. Dr. Oscar W. Gabriel von der Universität Stuttgart sieht die Bürgerbeteiligungsprojekte, wozu er auch z. B. Volksab-stimmungen rechnet, in einem Zielkonflikt: »Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit: Zwei Prinzipien im Spannungsfeld von Utopie und Wirklichkeit.« Am Beispiel Deutschlands zeigt er, auf empirische Daten gestützt, welche Personengruppen sich bislang noch we-

nig durch partizipative Bürgerbeteiligungsformen angezogen fühlen: Es sind dies vor allem die weniger Gebildeten und die Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch tendenziell die jungen Menschen.Auf europäischer Ebene sieht der Lissaboner Vertrag übrigens auch ein diesbezügliches Instrument vor, das seit April 2012 auch aktiv gestartet wurde. Es ist die sogenannte »Europäische Bürger-initiative«, die durch transnationale Unterschriftensamm lungen von mehr als einer Million in mindestens sieben EU- Mitgliedstaaten die EU-Kommission, die bislang allein das Gesetztesinitiativrecht besitzt, zwingen kann, sich mit der jeweiligen Initiative (erneut) zu befassen.Prof. Dr. Franz Thedieck von der Hochschule Kehl stellt in dieser Ausgabe von D&E dieses transnationale Instrument einer Mit-wirkung von Bürgerinnen und Bürger der EU auf den Gesetzge-bungsprozess anhand der konkreten Bestimmungen, anhand der Interviews und beispielhafter Initiativen vor: »Die Europäische Bür-gerinitiative und die Möglichkeiten und Grenzen der Bürgerbeteiligung in der EU.«Und tatsächlich hat bereits mindestens eine erste Europäische Bürgerinitiative, so wurde noch im Februar 2013 in der Presse ge-meldet, das notwendige Quorum erreicht. Es handelt sich dabei um die Initiative »Right2Water«, die sich gegen eine EU-Richtlinie zur geplanten Pflicht der öffentlichen Ausschreibung der Wasser-versorgung richtet. Zumindest in Deutschland war der Wider-stand dagegen groß, befindet sich hier doch noch immer ein Großteil der Wasserversorgung in kommunaler Hand. Kritiker se-hen in dieser Initiative der EU-Kommission ein Plädoyer für die Privatisierung eines öffentlichen Gutes. Wenn auch der – in dieser Ausgabe von D&E dokumentierte – Weg der Initiative noch nicht beendet ist, so hat doch der zuständige EU-Kommissar Michel Barnier bereits angekündigt, die geplante EU-Richtlinie nicht wei-ter – zumindest im ursprünglich geplanten Umfang – zu verfol-gen. Dabei ist die EU-Bürgerinitiative gegen die Wasserprivatisie-rung nicht die einzige initiierte Unterschriftensammlung. Ein eigenes Webportal der EU sorgt hier für die nötige Transparenz.

Transparenz und Partizipation – neue Möglichkeiten mit Hilfe des Internets

Jan-Hinrik Schmidt beschreibt in seinem Beitrag: »Soziale Medien und das Partizipationsparadox«, welche Möglichkeiten, aber auch

Abb. 3 »In welchen Bereichen würden Sie die Europäische Bürgerinitiative am ehesten nutzen?« © EU-Kommission: Standard Eurobarometer 78/Herbst 2012 – TNS Opinion & Social

Nationaler Bericht - Deutschland

3. DIE EUROPÄISCHE BÜRGERINITIATIVE (EBI)

38%

24%

22%

22%

20%

20%

19%

Arbeits- und Beschä�igungspoli�k

Bildungsfragen

Altersversorgung

Grundrechte der EU-Bürger

Steuerfragen

Verbraucherschutz

Umweltpoli�k

QD8: In welchen Bereichen würden sie die Europäische Bürgerinitiative am ehesten nutzen ? / EU

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen

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Heft 65 · 2013D&E

Gefahren neue Kommunikationstechnolo-gien für die Bürgerbeteiligung bieten. Nicht wenige, vor allem junge Menschen, verstehen sich als sogenannte »Digital Natives«, als nach Transparenz und Beteiligung gierende Staatsbürgerinnen und Bürger. Gleichzeitig gilt vielen von ihnen das tradierte repräsen-tative System als zu starr, wenn nicht als gänzlich überholt. Unter »politischem Enga-gement« und »Bürgerbeteiligung« wird in dieser Gruppe unter Umständen etwas ande-res verstanden: Diskussionen mit möglichst allen Beteiligten unter »Twitter«, persönliche Portale bei z. B. »Facebook« und individuali-sierte »Blogs« mit Kommentaren von den je-weiligen »Followern«. Max Winde hat mit sei-nem Blog »Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen« diesem Milieu eine sprechende Stimme gegeben. Zeitweise schien es auch so, als ob dieses Milieu durch die »Piratenpartei« sich nicht nur politisch organisieren, sondern auch breitere Kreise der vor allem jungen Bevölkerung in ihren Bann ziehen könnte. Bei regionalen Wahlen erzielten die »Piraten« Achtungserfolge und zogen gleich in drei Länderparlamente ein. Die erste Strahlkraft der »Piraten«, so zeigen es jedenfalls die demoskopischen Umfragen, scheint jedoch inzwi schen wieder etwas verblasst. An der radikalen Forderung nach »umfassender Transparenz« scheinen die inhaltlichen De-batten und programmatischen Findungsprozess ebenso wie wichtige personelle Entscheidungen derzeit in Mitleidenschaft zu geraten. Dennoch bleibt spannend zu beobachten, ob die »Digital Natives« politisch eine »Heimat« finden werden und wie sich solch eine Organisation zum etablierten repräsentativen politi-schen System stellen wird (| Abb. 4 |).

»Mobilisierung der Jugendlichen durch ein Wahlalter mit 16«?

Nicht erst die Untersuchungen der »Bertelsmann Stiftung« (2011) sowie der »Stiftung für Zukunftsfragen« (2012), auch bereits die Shellstudien (2002, 2006, 2010) belegen, dass das Vertrauen in Politiker und insbesondere in die Parteien besorgniserregend schwindet. Rückläufige Mitgliederzahlen bei den etablierten Volksparteien sprechen hier eine deutliche Sprache. Aber auch die anderen Parteien, vielleicht immer noch mit Ausnahme der »Piraten«, klagen über Nachwuchssorgen. Insbesondere von Seiten der SPD und den Grünen wird deshalb versucht, Jugendliche für die Politik dadurch zu interessieren, dass man ihnen ein aktives Wahlrecht bereits ab 16 zugesteht. Be-denkenträger dazu äußern sich insbesondere aus den Reihen der Union. D&E hat zu dieser Thematik für die vorliegende Ausgabe zwei re-nommierte Fachleute befragt: Professor Dr. Klaus Hurrelmann und Dr. Jan Kercher von der Universität Stuttgart-Hohenheim. In Baden-Württemberg erhält diese Thematik dadurch Brisanz, da die grün-rote Landesregierung für die anstehenden Kommunal-wahlen im Mai 2014 ein Wahlrecht ab 16 angekündigt hat. Für die 2016 in Baden-Württemberg wieder anstehenden Landtagswah-len wäre allerdings eine Verfassungsänderung notwendig, was ohne die Zustimmung der CDU nicht möglich ist. Die öffentliche Diskussion über das Thema »Wahlalter 16« steht demnach noch bevor. In Bremen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen ist eine solche Wahlrechtsreform dagegen bereits beschlossen und umgesetzt worden, ebenso wie z. B. in Österreich. Der Kommuni-kations- und Politikwissenschaftler Dr. Jan Kercher geht in sei-nem Interview: »Wahlalter 16 – eine Chance zur Überwindung der Poli-

tikverdrossenheit?« ausführlich auf die unterschiedlichen Argumente pro und contra »Wahlalter 16« ein. Dabei kann er sich auch auf eigene Untersuchungen und Befragungen Jugendlicher sowie die Wahlergebnisse mit dem Wahlalter 16 beziehen.Bereits seit Mitte der neunziger Jahre führte der international re-nommierte Bildungsforscher Professor Dr. Klaus Hurrelmann zahlreiche Jugendstudien, darunter die bekannten Shell-Studien, durch. In seinem Interview mit dem Redakteur von D&E: »Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst.« bezieht er sich zunächst auch auf seine Untersuchungen zum Reifeprozess junger Menschen im 21. Jahrhundert. Hurrelmann plädiert dabei für die Vorverlegung des Wahlalters, obwohl er in seinen Studien immer wieder fest-stellen konnte, dass eine knappe Mehrheit der Jugendlichen selbst durchaus Skepsis gegenüber dieser Regelung hegt. Hurrel-mann möchte aber nicht nur am Wahlalter ansetzen, sondern die Bildungspolitik insgesamt zu mehr politischer Bildung, aber auch zur Erprobung eines demokratischen Miteinanders im Schulalltag ermutigen. Davon, so Hurrelmann, hänge im Wesentlichen die Stabilität und Akzeptanz des politischen Systems insgesamt auf Dauer ab. Mehr Partizipation, d. h. mehr Bürgerbeteiligung, müsse früh eingeübt und als selbstverständliche Realität erlernt werden. In Zeiten horrender Jugendarbeitslosigkeitszahlen in den südlichen Mitgliedstaaten der EU, teilweise nahe an oder bereits über 50 % einer Generation, seien die politischen Beteiligungs-chancen gerade der Jugendlichen essenziell für ein Gemeinwesen. Ob nun Spanien oder Griechenland, nicht selten wird heute be-reits von einer »verlorenen Generation« (»Lost Generation«) ge-sprochen und geschrieben. Landesweite Jugendprotestbewegun-gen wie in Spanien, »Echte Demokratie Jetzt!« (»M-15«), oder in Griechenland, Italien oder Frankreich belegen bereits heute ein-drucksvoll, sowie transnationale NGOs wie die »Occupy-Bewe-gung«, dass die Gefahr einer vom herrschenden parlamentari-schen System zutiefst frustrierten »Lost Generation« immer weniger von der Hand zu weisen ist.

Die historische Perspektive: Zivilgesellschaftliche Bewegungen nach dem II. Weltkrieg

Dr. Andreas Grießinger hat in seinem Beitrag: »Mehr Demokratie? Zivilgesellschaftliche Bewegungen in Deutschland und Europa von 1945–

Abb. 4 »Nirgendwohin! Aber schnell!« (Die »5-Sterne-Bewegung« von Beppo Grillo hatte bei den italie-nischen Parlamentswahlen in Italien rund 25 % der Stimmen erzielt. Grillos Partei gilt als »netzaffin« und kritisch gegenüber dem parlamentarisch-repräsentativen System.) © Gerhard Mester, 27.2.2013

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1990« eine Bilanz ganz unterschiedli-cher Demokratiebewegungen gezo-gen. Dabei gelingt ihm nicht nur eine eindrucksvolle Analyse ausgewählter zivilgesellschaftlicher Demokratie-bewegungen, sein ausführlicher Ma-terialteil dokumentiert auch die je-weils unterschiedliche Stoß- und Ausrichtung dieser Strömungen. Ein moderner Geschichtsunterricht täte gut daran, diese aktuelle »Geschichte von unten« in Deutschland und Eu-ropa in Beziehung zu setzen zu den durch die Regierungen und Parla-mente vereinbarten staatlichen Ab-kommen und Verträgen nach 1945 bis in die Gegenwart. Dabei zeigt sich, dass die zentrale Frage und Forde-rungen nach »Mehr Demokratie« kei-neswegs immer so einfach zu beant-worten ist. »Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit« stehen eben in ei-nem Spannungsverhältnis, wie Oscar W. Gabriel in seinem Bei-trag für das aktuelle Deutschland ja bereits empirisch untersucht hat.Dr. Jeannette Behringer stellt schließlich ein wesentlich von ihr mit betreutes und von der LpB Baden-Württemberg initiiertes tri-nationales Projekt vor. Ihr Beitrag: »Grenzen-Los! Trinationale Zu-sammenarbeit für eine Engagementkultur« beschreibt und dokumen-tiert die durchaus unterschiedlichen Ansätze von freiwilligem bzw. bürgerschaftlichem Engagement in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mehrere Konferenzen zeigten, dass bürger-schaftliches Engagement in allen drei Ländern eine auch volks-wirtschaftlich beeindruckende Rolle spielt, dass die Rolle staatli-cher Institutionen und Repräsentanten dabei aber durchaus unterschiedlich gesehen wird. Auffallend ist auch, dass Projekte, die sich der politischen Beteiligung oder Bildung im engeren Sinne widmen, in allen untersuchten Ländern eher eine periphere Rolle spielen. Sollten staatliche Verwaltungen und gewählte Re-präsentanten nicht doch mehr dazu betragen, Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit zu geben, sich politisch zu beteiligen?

Was bedeutet Bürgerbeteiligung?

Bürgerbeteiligung kann man in Abgrenzung zu Bürgerentschei-den (z. B. »Wahlen« oder »Volksabstimmungen«, vgl. auch GG Art 20) als »Mitsprache« oder »Teilhabe« (»Partizipation«) der Bür-gerinnen und Bürger an politischen Planungsprozessen sowie Entscheidungen definieren.Die stärksten Formen der Bürgerbeteiligung sind dabei, wenn man so will, direktdemokratische Verfahren wie z. B. die Bürger-entscheide oder Volksabstimmungen, die mit zum Teil recht un-terschiedlichen Quoren auf lokaler, regionaler, (in Deutschland kaum auf) nationaler und bisher gar nicht auf europäischer Ebene praktiziert werden. Einzelheiten, Vor- und Nachteile der direkt-demokratischen Modelle hat D&E in seiner Ausgabe »Politische Partizi pation in Europa«, Heft 62, vom November 2011 ausführlich untersucht. Insbesondere Dr. Otmar Jung hat umfassend die je-weils unterschiedlichen Regelungen, ihre Vor- und Nachteile in Deutschland und der Schweiz analysiert und bewertet: »Erfahrun-gen mit direkter Demokratie in Deutschland und der Schweiz.« Er plä-dierte dabei für die Ergänzung der repräsentativen Demokratie um direktdemokratische Elemente, wie es die Schweiz seit lan-gem kennt. Demgegenüber betonen z. B. Patrizia Nanz und Miriam Fritsche in ihrem »Handbuch Bürgerbeteiligung. Verfahren und Akteure, Chancen und Grenzen« (Bonn 2012) ausdrücklich, dass die dort sachlich be-schriebenen Bürgerbeteiligungsformate keineswegs zu einer

»Schwächung der repräsentativen Demokratie« führen sollten. Sie sind der Überzeugung, dass diese Verfahren den gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertretern allerdings helfen könn-ten, eine »verantwortungsbewusste Politik jenseits von Parteidis-ziplin und kurzfristigen Wahlkampfinteressen« (S. 133) durchzu-setzen. Ihr Handbuch bietet demgemäß neben einer Darstellung vielfältiger Bürgerbeteiligungsformate insbesondere auch die grundsätzliche Reflexion über Chancen und Grenzen von Bürger-beteiligung. Bezüglich der Verbindlichkeit der Bürgerbeteiligung werden da-bei zwei unterschiedliche Beteiligungsverfahren unterschieden: die gesetzlich vorgeschriebenen oder »formellen Beteiligungs-verfahren« sowie die »freiwillige Bürgerbeteiligung«, entweder organisiert durch die gewählten Repräsentanten (»Top-down-Verfahren«) oder durch Initiativen der Bürgerinnen und Bürger selbst (»Bottom-up-Verfahren«). Im Handbuch zur Bürgerbeteili-gung werden die zuerst genannten, also die formellen Beteili-gungsverfahren nicht näher analysiert, also weder Informations-veranstaltungen mit partizipativem Anstrich noch Verfahren unter Beteiligung von Interessengruppen, Lobbyistinnen und Lobbyisten oder professionellen Expertinnen und Experten. Im Mittelpunkt der analysierten Formate stehen »deliberative bzw. dialogorientierte Verfahren«, also der Austausch von Argu-menten mit dem Ziel einer gemeinschaftlichen Willensbildung und idealerweise einer anschließenden konsensualen Entschei-dungsfindung. In organisierten Diskussionen sollen die Beteilig-ten alternative Positionen abwägen unter der Prämisse, andere Standpunkte zu berücksichtigen. Diese zumeist sehr komplexen Verfahren durchlaufen dabei oft mehrere Runden und sind ange-wiesen auf die Unterstützung von Moderatorinnen und Modera-toren sowie Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Pra-xis. Eine erste Unterscheidung könnte dabei die Dauer (| Abb. 5 |), die Anzahl der Teilnehmenden an den Präsenzverfahren, die Rek-rutierung und Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (| Abb. 6 |, | Abb. 7 |) sowie die Funktionen der Bürgerbeteili-gungsverfahren (| Abb. 8 |) betreffen.Häufig komme es jedoch vor, so die Erfahrungen der beiden Auto-rinnen Nanz und Fritsche, dass die Teilnehmerinnen und Teilneh-mer bei Bürgerbeteiligungsformaten mit sehr unterschiedlichen Erwartungen und Interessen aufeinanderträfen, um sich auch noch über unklar definierte Themen auszutauschen und zu Er-gebnissen zu gelangen, deren Gültigkeitsbereich und Reichweite nicht vorab festgelegt wurden.

Abb. 5 Bürgerbeteiligung und die Dauer von Präsenzverfahren © Nanz/Fritsche, S. 108

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Voraussetzungen erfolgreicher Bürgerbeteiligung

Nach Nanz/Fritsche ließen sich folgende Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bürgerbeteiligung formulieren:(1) Beteiligungsverfahren sind angewiesen auf die freiwillige und

in der Regel unentgeltliche Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürgern. Sie engagieren sich in ihrer Freizeit, aus Überzeu-gung und mit dem Ziel, einen politischen Entscheidungspro-zess zu beeinflussen. Wenn bei den Teilnehmenden der Ein-druck entsteht, dass ein Verfahren folgenlos bleibt, werden sie sich rasch enttäuscht abwenden und nicht erneut einbrin-gen. Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, müssen Bürgerinnen und Bürger von der Relevanz und Sinnhaftig-keit der konkreten demokratischen Teilhabe überzeugt sein.

(2) Echte Bürgerbeteiligung setzt zudem voraus, dass politische Mandatsträgerinnen und -träger sich von einer reinen Top-down-Politik verabschieden und die Bereitschaft für einen souveränen Umgang mit offenen Austausch- und Mitwir-kungsprozessen aufbringen.

(3) Dem Beteiligungsverfahren muss ein klar definiertes Ziel zu-grunde liegen: Soll die demokratische Bildung der Bürgerin-nen und Bürger gestärkt oder die öffentliche Debatte ange-stoßen werden? Geht es um eine Beratung von Politik und Verwaltung oder sollen politische Entscheidungen direkt von Bürgerinnen und Bürgern beeinflusst werden?

(4) Alle Informationen zum Thema müssen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Verfahrens frei und umstandslos zugäng-lich sein.

(5) Zugleich müssen sich auch Au-ßenstehende jederzeit über Ziele, Auftraggeberinnen und Auftraggeber, Teilnehmende, de-ren Interessen und den Stand des jeweiligen Verfahrens informie-ren können. Eine solche Transpa-renz dient einerseits als Möglich-keit zur Kontrolle, sie schafft andererseits auch eine breite Vertrauensbasis.

(6) Die Grenzen der Mitwirkung und die Frage, in welchen Hän-den die Entscheidungshoheit letztendlich liegt, müssen von Anfang an feststehen und deut-lich kommuniziert werden.

(7) Initiatorinnen und Initiatoren müs-sen dafür Sorge tragen, dass die an einem Verfahren Teilnehmenden ein verlässliches Feedback erhal-ten, das heißt, es ist öffentlich zu begründen, welche Ergebnisse des Beteiligungsverfahrens im weite-ren Entscheidungsprozess berück-sichtigt wur den – und welche nicht und warum.

(8) Sowohl innerhalb eines Verfah-rens als auch in seiner Außendar-stellung muss Klarheit über die Rollenaufteilung und die Zu-ständigkeiten aller Beteiligten herrschen (so z. B. Auftraggeber/innen, Projektleiter/innen, Dienst-leister/innen, wissenschaftliche Berater/innen, Moderator/innen und technische Begleiter/innen).

(9) Eine professionelle Durchführung und Moderation des Be-teiligungsprozesses muss gewährleistet sein.

(10) Bürgerinnen und Bürger müssen während des gesamten Pro-zesses ernst genommen werden. Die Kommunikation sollte mit gegenseitiger Wertschätzung und auf Augenhöhe erfol-gen. Es ist sicherzustellen, dass alle vorgetragenen Stand-punkte berücksichtigt und in den weiteren Entscheidungspro-zess einbezogen werden. (nach: Nanz/Fritsche, S. 130f.)

Unter diesen Voraussetzungen geht es bei Bürgerbeteiligung um »(…) Partizipation durch Artikulation und Einmischung und damit letzt-lich um Emanzipation. (…) Sie kann einerseits auf die Erzeugung rationa-ler Politikerzeugnisse zielen, sich aber auf der anderen Seite auch der Ver-ringerung des Abstands zwischen Herrschern und Beherrschten widmen.« (ebenda, S. 126)

»Fallstricke« und »Stolpersteine« der Bürgerbeteiligung

Den Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung bestätigte jüngst auch eine wissenschaftliche Untersuchung der Universität Leipzig (Vgl Literaturhinweise), die zeigt, dass von den Bürgerinnen und Bür-gern eine stärkere Einbindung insbesondere bei Infrastruktur-maßnahmen wie dem Bau von Straßen, Behörden, Flugplätzen oder Stromleitungen gefordert wird. Im Gegensatz zu den eben-falls befragten Vertretern von Kommunen bemängelten die Bür-

Abb. 6 Bürgerbeteiligungsformate und die Rekrutierung und Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer © Nanz/Fritsche, S. 115Abb. 7 Ansätze zur Auswahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an BürgerbeteiligungsverfahrenSelbstselektion: Der Zugang zum Verfahren ist offen für alle. Die Teilnahme ist eine freiwillige Entscheidung. Selbstselektion führt häufig zur Überrepräsentation »beteiligungsaffiner Milieus«: bildungsnahe Angehörige der Mittelschicht und Menschen, die über vergleichsweise viel Zeit verfügen wie zum Beispiel Studierende, Seniorinnen und Senioren. Dieser Ansatz bringt es deshalb häufig mit sich, dass die am stärksten vom Regelungsgegenstand betroffenen Personen sich auch am stärksten beteiligen. Beispiele: Open-Space, Bürgerhaushalt, Zukunftswerkstatt.

Zufällige Auswahl: Dieser Ansatz kann – theoretisch – die Repräsentativität erhöhen und damit die Dominanz von Partikularinteressen senken. Doch auch hier besteht die Gefahr überproportionaler Teilnahme beteiligungsaffi-ner Gruppen. Durch eine große Stichprobe und gezielte Nachrekrutierung (z. B. anhand demographischer Merkmale) kann diesem Effekt begegnet werden. Beispiele: Bürgergutachten, Konsensuskonferenzen, Deliberative Poll.

Gezielte Auswahl: Der Verfahrenszugang ist offen, jedoch wird zum Erreichen möglichst hoher Repräsentativität gezielt versucht, Einzelpersonen oder Vertreterinnen und Vertreter bestimmter Gruppen zu rekrutieren. Dies kann durch gezielte Ansprache, aber auch durch Anreize (z. B. Aufwandsentschädigung) geschehen. Beispiele: Szenario-Workshops, Zukunftskonferenzen, Mediationsverfahren. © Nanz/Kamlage, D&E, Heft 65, 2013 (Vgl. deren Beitrag in dieser Ausgabe von D&E)

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gerinnen und Bürger insbesondere, dass die bislang gesetzlich geregel-ten Verfahren der Bürgerbeteiligung (»Bauleitplanungen«) nicht ausreich-ten. Bürgeranliegen würden in der Regel zu spät erfragt und zu wenig bis gar nicht berücksichtigt. Andererseits ergab die Studie auch, dass die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger die bereits bestehenden Angebote kaum wahrnehme. Ein Großteil der befragten Haushalte gab offen an, meist nur bei direkter persönlicher Betroffenheit aktiv zu werden. Zudem erwiesen sich solche Verfahren allzu oft als enorm zeitauf-wändig und kostspielig, klagten ins-besondere die Vertreter der Kommu-nen und der Unternehmen.

Bürgerbeteiligungsmodelle drohen somit vor allem dann zu scheitern, wenn …(1) … die Unterstützung seitens der

Entscheidungsträgerinnen und -träger fehlt und diese zu Recht oder Unrecht eine Einschränkung ihrer Ent schei dungs-macht und Verantwortung fürchten;

(2) … kein tatsächlicher Gestaltungsspielraum zur Verfügung steht, die wesentlichen Entscheidungen bereits im Vorfeld des Verfahrens feststehen oder Bürgerinnen und Bürger schlicht-weg zu spät eingebunden werden;

(3) … Bürgerinnen und Bürger das Partizipationsangebot nicht annehmen wollen – weil sie z. B. in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht haben oder sich ihnen Mög-lichkeiten eröffnen, ihre Interessen auf anderen Wegen effizi-enter durchzusetzen;

(4) … soziale Ungleichheiten zwischen den Teilnehmenden ei-nes Verfahrens weder in der Zusammensetzung noch in der konkreten Durchführung ausgeglichen, sondern vielmehr ze-mentiert werden. (Vgl. Nanz/Fritsche, S. 107ff.)

Zusätzlich sollten angekündigte Bürgerbeteiligungsprojekte mit den notwendigen materiellen und personellen Ressourcen, d. h. auch mit dem notwendigen Know-how sowie der Expertise unab-hängiger Expertinnen und Experten ausgestattet werden. Das gilt auch und gerade für Online-Formate, die sogenannten Beteili-gungsportale. Allein schon die notwendigen Feed-Back-Prozesse dürften dabei sicherlich ressourcenintensiv werden.»Bürgerbeteiligungs-Politik« braucht besonders die Bereitschaft der Verantwortlichen, umfassende Transparenz zu ermöglichen. Angesichts der Reaktionen einer kritisch-investigativen Öffent-lichkeit und zahlreicher juristischer Widerspruchsmöglichkeiten im Rechtsstaat stellt dies sicher eine große Herausforderung dar. Mit Recht verweisen Nanz/Fritsche zusätzlich noch auf die Not-wendigkeit einer sachlichen, auf empirischen Untersuchungen basierenden wissenschaftlichen Begleitung von Bürgerbeteili-gung am konkreten Beispiel und Format. Sollte dies gelingen, dürfte sich jedoch so nach und nach verloren gegangenes Vertrauen in den politischen Prozess wiederherstel-len lassen. Die Einbeziehung junger Menschen scheint dabei von ganz besonderer Bedeutung, exemplarisch etwa bei der gerade anstehenden »Bildungsplanreform 2015« in Baden-Württemberg.

Literaturhinweise

Bertelsmann Stiftung (2011): Bundesbürger möchten sich politisch beteili-gen, vor allem aber mitentscheiden. www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-CEF28043-B3F7F3BF/bst/xcms_bst_dms_34119_34120_2.pdf

Bertelsmann Stiftung (2009): Deutschland 2020 – Blick nach vorn! In: Change. Das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Sonderheft. www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-BB97FD61-E8299D21/bst/xcms_bst_dms_29851_29852_2.pdf

Bertelsmann Stiftung (2012): Politik beleben, Bürger beteiligen, Charakteris-tika neuer Beteiligungsmodelle, Gütersloh, www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-26D3BB55-C9EC3B10/bst/xcms_bst_dms_ 31298_ 31299_ 2.pdf

Deutschand&Europa, Heft 62 (2011): Politische Partizipation in Europa. Stuttgart. www.deutschlandundeuropa.de

Fritsche, Miriam/Nanz, Patrizia (2012): Handbuch Bürgerbeteiligung: Verfah-ren und Akteure, Chancen und Grenzen, Schriftenreihe Band 1200, Bundes-zentrale für politische Bildung, Bonn. (vergriffen), kostenloser download unter: www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Handbuch_Buerger beteiligung.pdf

Jung, Otmar (2011): Erfahrungen mit direkter Demokratie in Deutschland und der Schweiz. in: D&E, Heft 62, S. 18–27

Kompetenzzentrum Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseins-vorsorge der Universität Leipzig, u. a. (2013): »Optionen moderner Bürger-beteiligung auf Basis von Erfahrungen und Einstellungen von Bürgern, Kommu nen und Unternehmern«, www.wifa.uni-leipzig.de/ fileadmin/user_upload/KOZE/Downloads/Optionen_moderner_ Bürgerbeteiligungen_bei_ Infrastrukturprojekten_.pdf

Internethinweise

www.buergerbeteiligung.lpb-bw.de (Portal der LpB Ba-Wü)

www.b-b-e.de (Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement)

www.buerger-beteiligung.org (Portal der Bertelsmann Stiftung mit zahl-reichen Beispielen von Formaten gelungener Bürgerbeteiligung

www.buergergesellschaft.de dort insbesondere: Modelle und Methoden der Bürgerbeteiligung: www.buergergesellschaft.de/politische- teilhabe/modelle-und-methoden-der-buergerbeteiligung/modelle-und- methoden-von-a-bis-z/106120/ – eine Infoseite der Stiftung Mitarbeit: www.mitarbeit.de

www.politische-bildung.de/buergerbeteiligung_demokratie.html (Umfang reiches Literaturverzeichnis)

Abb. 8 Bürgerbeteiligungsformate und ihre Funktionen © Nanz/Fritsche, S. 121

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BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

2. Gemeinsam gestalten – Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen

GISELA ERLER

Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung sind in aller Munde: Menschen wollen mitreden. Menschen wollen teil-

haben und beteiligt sein. Alle reden davon, meinen aber oft nicht dasselbe: Bürger verbinden damit oft paradiesische Zu-stände. Politik befürchtet Machtverlust und die Verwaltungen sagen, dass sie auch ohne die Bürger schon sehr beschäftigt seien. Der Wunsch nach einem Mehr an gesellschaftlicher Teil-habe der Menschen liegt im Wesentlichen an den Veränderun-gen der gesellschaftlichen Milieus. Mit einer Politik des »Gehört werdens« will die baden-württembergische Landes-regierung dem wachsenden Mitwirkungsbedürfnis dieser en-gagierten Zivilgesellschaft gerecht werden und verloren ge-gangenes Vertrauen in die Politik wieder zurückgewinnen. Unser Ziel ist eine Mitmachdemokratie. Als Landesregierung haben wir aus diesem Grund Strategien und Formate entwi-ckelt, die eine Mitwirkung der Bürgergesellschaft auf Augen-höhe mit der Politik ermöglichen. Wir wollen nicht nur dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger politische Entscheidun-gen besser nachvollziehen können und Transparenz herge-stellt wird, sondern auch, dass das Wissen und die Kompetenz der Zivilgesellschaft künftig besser genutzt werden. Denn wir sind davon überzeugt: Wenn sich die Politik dem Einfluss und den Ideen aus der Bürgergesellschaft öffnet, erhöht das auch die Chancen auf gute politische Ergebnisse und trägt so nicht zuletzt zu einer spürbaren Qualitätsverbesserung von Politik bei. Gerade in Baden-Württemberg sind die Voraussetzungen besonders gut, das Verhältnis von Staat, Markt und Bürgerge-sellschaft auf zukunftsweisende Art neu zu justieren, denn nirgendwo sonst sind die Menschen stärker bürgerschaftlich engagiert.

Mitmachen – davon lebt Bürgerbeteiligung

Damit ist eine wichtige Grundvoraussetzung geschaffen, denn Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen. Eine moderne, eine le-bendige und starke Demokratie lebt vom Einspruch und von der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Nicht wo die Menschen sich einmischen ist die Demokratie bedroht, sondern dort, wo sie sich abwenden von den öffentlichen Angelegenheiten, von den res publica. Die Landesregierung möchte deshalb die demokrati-schen Spielregeln in Baden-Württemberg ändern: Neben der Re-form von Bürgerentscheiden und Volksabstimmungen werden ein verbindlicher Planungsleitfaden und neue Fachgesetze mehr Be-teiligung in Planungsprozessen ermöglichen. Mit mehr direkter Demokratie schaffen wir einen Hebel, mit dem die Bürgerschaft ihr Veto einlegen kann. Die Politik muss deshalb frühzeitiger be-teiligen, um eben dieses Veto zu verhindern. Ich möchte meine Arbeit aber nicht auf rechtliche Veränderungen begrenzt sehen. Es gibt auch »weiche« Strategien, mehr Bürgerbeteiligung zu er-reichen, auf die ich hier eingehender erläutern möchte.

Für eine Pädagogik der Beteiligung

Ich war schon immer der Überzeugung, dass Bürgerbeteiligung gelernt werden kann. Sie ist viel mehr als Methoden und Formate und bedarf jenseits von gesetzlicher Verankerung einer persönli-chen, ermöglichenden Haltung. Solche Haltungen ergeben sich

nicht von selbst. Sie müssen von Bürgern, Verwaltung und Politik gleichermaßen erarbeitet und erlernt werden. Die Qualifizierung zur Beteiligung voranzubringen ist deshalb für mich ein zentraler Punkt. Was haben wir dafür getan und woran arbeiten wir noch? Gemeinsam mit der Führungsakademie Baden-Württemberg und den Hochschulen für öffentliche Verwaltung in Kehl und Ludwigs-burg haben wir ein Curriculum zum Thema Bürgerbeteiligung er-arbeitet. Daraus wurde innerhalb kürzester Zeit ein Kontaktstudi-engang mit 15 Modulen, die sich vor allem an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Ministerien, Regierungspräsidien und Kom-munalverwaltungen richten. Zentrale Inhalte sind die gesell-schaftliche Entwicklung von Bürgerbeteiligung, Kommunikation in Beteiligungsprozessen, E-Partizipation, Methoden und Instru-mente und der kontinuierlicher Erfahrungsaustausch.

Beteiligungsportal – das Internet nutzen

Mit dem Beteiligungsportal (www.baden-wuerttemberg.de/de/beteili-gungsportal-info), welches ab dem Frühjahr 2013 online gehen wird, beschreiten wir neue Wege in Sachen Mitwirkung durch die Bür-gerschaft. Das Beteiligungsportal umfasst drei Säulen. Auf der Informationssäule werden die Aktivitäten der Landesregierung im Bereich Bürgerbeteiligung präsentiert. Somit werden die in den Ressorts durchgeführten Beteiligungsprojekte an einer zent-ralen Stelle kommuniziert. In der Kommentierungssäule des Be-teiligungsportals werden Gesetzentwürfe, die sich im Anhö-rungsverfahren befinden, online veröffentlicht und können von Nutzerinnen und Nutzern kommentiert werden. In der Mitmach-säule wird den Ministerien eine Infrastruktur angeboten, die sie für die Durchführung umfassender Online-Beteiligungsverfahren verwenden können. Ich empfehle den Ressorts, wichtige politi-sche Vorhaben mit Bürgerbeteiligung zu realisieren. Dabei sollte ein Mix aus Online- und Offline-Beteiligung angewandt werden. Das Beteiligungsportal ermöglicht es, einen kompletten Beteili-gungsprozess darzustellen, und bietet die technischen Möglich-keiten, eine Online-Konsultation durchzuführen.

Abb. 1 Staatsrätin Gisela Erler bei der Eröffnung des Workshops »Europäisches Netzwerk zur Bürgerbeteiligung«, 6.12.2012 © Staatsministerium Baden-Württemberg

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D&EG e m e i n s a m g e s t a l t e n – B ü r g e r b e t e i l i g u n g l e b t v o m M i t m a c h e n Heft 65 · 2013

Allianz für Beteiligung – im Netzwerk handeln

Vor einem Jahr habe ich die Initiative für eine »Allianz für Beteiligung« angestoßen. Im Mai 2012 fand dazu eine Auftaktkonferenz mit über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit 90 Initiativen aus ganz Baden-Württem-berg statt. Zentrale Aufgabe der Allianz ist die Entwicklung einer regionalen Hilfs- und Unterstützungsstruktur im Sinne einer »Peer to Peer Beratung«. Darin soll die Nutzung von Fähigkeiten und Talenten aus der Bürger-schaft zum Thema Bürgerbeteiligung akti-viert und vernetzt werden. Grundvorausset-zung, dass dies gelingt, ist die Entwicklung der Allianz im bottom-up Verfahren, also durch die Menschen und Initiativen selber und nicht von staatlicher Seite. Inzwischen wurde der Verein »Allianz für Beteiligung« zum Aufbau und Stärkung einer Beteili-gungskultur in Baden-Württemberg, vor al-lem aber zur organisatorischen Abwicklung, gegründet. Finanziell erfährt die Allianz eine Förderung durch die Baden-Württemberg Stiftung, die Robert Bosch Stiftung und die Breuninger Stiftung. Damit kann eine Grund-ausstattung für eine Geschäftsstelle gewährleistet werden und die Allianz kann starten. Im Laufe dieses Jahres wird die Allianz mit einem eigenständigen Veranstaltungsformat in allen vier Re-gierungsbezirken in unserm Land aktiv und sichtbar.

Demokratietheater, Lernlabor und Demokratie-Monitoring

Es ist bekannt, dass komplexe Sachverhalte am einfachsten spie-lerisch vermittelt werden können. Dieser pädagogischen Erkennt-nis tragen wir durch eine Theaterproduktion mit dem Titel »Bür-gerbeteiligung – ein Lustspiel« Rechnung. Im Rahmen des Landesjubiläums 2012 habe ich die Produktion in Auftrag gege-ben. Das Stück befasst sich fernab von Runden Tischen, Pla-nungswerkstätten und Bürgerhaushalten sehr kreativ mit dem Thema Demokratie und Beteiligung und ist in sich selbst partizi-pativ und generationsübergreifend mit 20 ganz normalen Bür-gern zwischen 7 und 70 Jahren angelegt. Gespielt wird es immer an einschlägigen Demokratieorten in Rathäusern, Landratsäm-tern und sogar im Plenarsaal des Landtags in Stuttgart. Das Pro-jekt wird textlich, fotografisch und filmisch dokumentiert. Geplant ist eine »Spielkiste« mit methodischen Tipps zu Beteili-gungs-Theater-Ideen für interessierte Kommunen und Theater-gruppen.Ein weiterer Schwerpunkt, wenn es um eine Pädagogik der Betei-ligung geht, sind die Qualifizierungsangebote für junge Bürgerin-nen und Bürger. Mit ganz spezifischen Formaten wie Onlinespie-len, Planspielen und Programmen wie etwa »Jugend bewegt«, soll ein demokratisches Lernlabor für die junge Generation eröffnet werden. Ob und wie all unsere Bestrebungen in Sachen Beteili-gung bei den Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ankom-men, wollen wir mit einem regelmäßigen »Demokratie-Monito-ring« herausfinden, das erstmalig im Sommer 2013 Ergebnisse zu Tage förderDass es in Baden-Württemberg schon viele gute Beispiele für die Beteiligung und Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger gibt zei-gen wir mit einem gemeinsamen Wettbewerb des Staatsanzei-gers und der kommunalen Spitzenverbände. Über 130 Beiträge sind dazu beim Staatsanzeiger eingegangen und zeigen eindrück-lich, dass in den Gemeinden und Kommunen schon eine ganz hervorragenden Arbeit geleistet wird. Dachten wir zunächst an

vierzig oder fünfzig Beiträge, so würden wir und vor allem auch der Staatsanzeiger völlig überrascht. Die außerordentlich erfreu-liche Konsequenz, dass bis in den Sommer hinein, alle Wettbe-werbsbeiträge veröffentlicht werden. Danach sind die Leserinnen und Leser des Staatsanzeiger für eine Vorauswahl gefragt um dann diese schließlich und endlich von einer »Bürgerjury« bewer-tet werden.

Europäisches Netzwerk zur Bürgerbeteiligung

Das Thema Bürgerbeteiligung und die verschiedenen Methoden zur Anwendung beschränken sich aber natürlich nicht nur auf Deutschland. Die Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen der ver-schiedenen Akteure und vom Wissensaustausch untereinander. Und da viele Fragen, die die Demokratie bzw. die gelebte politi-sche Praxis betreffend, heute in vielerlei Form mit Europa und der EU zusammenhängen, kommt der europäischen Komponente der Beteiligung eine besondere Bedeutung zu.Genau aus diesem Grunde habe ich im Dezember letzten Jahres in Stuttgart einen internationalen Workshop zur Bürgerbeteiligung organisiert. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen kamen aus den verschiedensten Ländern Europas und der ganzen Welt. Akademi-sche Koryphäen führten in Ihren Vorträgen in den aktuellen For-schungsstand zu Demokratie und Demokratieentwicklung ein. Neben dieser theoretischen Grundlage kamen aber auch in den Vorträgen schon Anwendungsbeispiele aus verschiedenen Län-dern, so zum Beispiel zu den verschiedenen Beteiligungsnetzwer-ken in den USA oder einem speziellen, sogenannten Sunset-Law, Gesetz zur Beteiligung in der Toskana.Neben den Inputs aus Vorträgen wurde danach in verschiedenen Arbeitsgruppen von Vertretern aus den jeweiligen Ländern über Ihre Erfahrungen mit der Beteiligung und den von Ihnen gewähl-ten Methoden ausgetauscht. Am Ende des zweitätigen Work-shops stand für alle Beteiligten die Notwendigkeit einer engeren Kooperation zwischen den Ländern und Regionen, vor allem Eu-ropas, zum Thema Bürgerbeteiligung fest. Daher haben wir ein europäisches Netzwerk gegründet, dessen Ziel es ist, durch re-gelmäßig stattfindende Treffen und den Austausch untereinan-der weiter voneinander zu lernen und die Bürgerbeteiligung im europäischen Kontext zu stärken.

Abb. 2 Werbung des Staatsministeriums für das »Bürgerbeteiligungsportal« der baden-württembergi-schen Landesregierung: (www.baden-wuerttemberg.de/de/beteiligungsportal-info) © Staatsministerium Baden-Württemberg

G e m e i n s a m g e s t a l t e n – B ü r g e r b e t e i l i g u n g l e b t v o m M i t m a c h e n

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BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

3. Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa

PATRIZIA NANZ | JAN-HENDRIK KAMLAGE*

Die Demokratien in Europa unterliegen einem merklichen Wandel. Zum einen

gibt es in Europa eine immer größer wer-dende Zahl an direktdemokratische Ver-fahren wie Referenden, Volksbegehren und Bürgerbegehren (vgl. APuZ 2006). Von den weltweit seit 1793 gezählten 1.405 nationa-len Referenden entfallen alleine 62 Prozent auf die europäischen Länder. Ungefähr die Hälfte davon fanden seit 1989 statt (Pállin-ger, Kaufmann, Marxer & Schiller 2007: 9). Zum anderen finden auch die sogenannten deliberativen oder dialogorientierten Ver-fahren der Bürgerbeteiligung wie Bürger-haushalte, Bürgerinnenräte, Zukunftskon-ferenzen und Planungszellen in den letzten zwei Jahrzenten zunehmende Verbreitung in Europa. Durch wissenschaftliche For-schung belegte Zahlen liegen hier aller-dings bisher nicht vor, weder zum Umfang dieses Trends insgesamt noch zur Vertei-lung der verschiedenen dialogorientierten Beteiligungsformate in den europäischen Ländern.

Die Krise der repräsentativen Demokratie

Die direktdemokratischen wie dialogorientierten Formen der Bürgerbeteiligung erfreuen sich vor allem deshalb wachsender Beliebtheit, weil sie im Ruf stehen, die immer größer werdende Kluft zu den gewählten Politikern, die weniger als Volksvertreter und -vertreterinnen denn als politische Klasse wahrgenommen werden, zu verringern. Schwindende Wahlbeteiligung, abneh-mende Mitgliederzahlen der Parteien, sinkendes Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit der Regierenden – die Diag-nose der Krise der repräsentativen Demokratie ist vielfältig. So stimmen beispielsweise nur fünf Prozent der Deutschen in einer repräsentativen Studie der Stiftung für Zukunftsfragen der Aus-sage zu: »Die Politiker bereiten mein Heimatland gut auf die Zu-kunft vor«. In anderen Ländern sieht es nicht viel besser aus: In Frankreich stimmen zwölf Prozent und in Spanien sieben Prozent dieser Aussage zu (Europauntersuchung der BAT-Stiftung für Zukunfts-fragen, 2012). Gleichzeitig ist der Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach unmittelbarer Mitwirkung und Beteiligung an politi-schen Entscheidungen so groß wie nie. Nach Angaben einer re-präsentativen Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2011 wünschen sich 78 Prozent der Deutschen mehr Möglichkeiten über politische Fragen durch Volksentscheide und Bürgerbegeh-ren direkt mitentscheiden zu können. 68 Prozent würden gerne bei großen Infrastrukturprojekten mitentscheiden und 47 Pro-zent an Bürgerhaushalten mitwirken. Generell sprechen sich 81 Prozent für mehr politische Beteiligungs- und Mitwirkungsmög-lichkeiten aus (Bertelsmann Stiftung, 2011, www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/bst/hs.xsl/nachrichten_107591.htm).

Dialogorientierte Formen der Bürgerbeteiligung in Europa

Im Folgenden wollen wir augenfällige Entwicklungen der partizi-pativen Demokratie in Europa in groben Zügen darstellen. Dabei geht es ausschließlich um dialogorientierte Formen der Bürger-beteiligung. Zunächst: Was bedeutet dialogorientierte Bürgerbe-teiligung? In solchen Verfahren werden Bürgerinnen und Bürger, zivilgesellschaftliche Akteure und Entscheidungsträgerinnen und -träger frühzeitig im politischen Prozess zusammengebracht. Im Mittelpunkt der Beratungen steht der Austausch von Argumenten mit dem Ziel einer gemeinschaftlichen Willensbildung und idea-lerweise einer anschließenden konsensualen Entscheidungsfin-dung. In Diskussionen wägen die Beteiligten alternative Positio-nen ab unter der Prämisse, andere Standpunkte zu berücksichtigen (Fung, 2003, S. 340). Diese teilweise komplexen Verfahren durch-laufen oft mehrere Runden und sind angewiesen auf die Unter-stützung von Moderatorinnen und Moderatoren sowie Expertin-nen und Experten aus Wissenschaft und Praxis. Sie werden oft als »informell« bezeichnet in Abgrenzung zu gesetzlich vorgeschrie-benen »formellen« Beteiligungsmöglichkeiten wie zum Beispiel den Anhörungen im Rahmen der deutschen Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren bei öffentlichen Bauvorhaben. Erwei-ternd und ergänzend stehen bei dialogorientierten Beteiligungs-prozessen immer öfter auch internetgestützte Werkzeuge und Technologien zur Verfügung, die einer größeren Menge von Bür-gerinnen und Bürger die Mitwirkung ermöglichen. Dialogorientierte Bürgerbeteiligung ist eingebettet in spezifi-sche politische Kulturen und Systeme, die sich je nach Ländern und Regionen, und manchmal auch nach Städten und Gemeinden unterscheiden. Vergleicht man Europa mit den USA, so ist auffäl-lig, dass in den Vereinigten Staaten die Beteiligungsprozesse in aller Regel auf der lokalen Ebene und kaum auf zentralstaatlicher Ebene stattfinden. Durchgeführt und getragen werden Beteili-gungsprozesse wie »Citizens Juries« und »National Issue Forums« * | Hinweis: Der Beitrag ist unter der Zuarbeit von Ivo Gruner entstanden.

Die Bereitschaft zu mehr politischer Beteiligung Angaben in Prozent

Ja Nein Weiß nicht, keine Angabe

Quelle: Bertelsmann Stiftung / Umfrage TNS-Emnid.

Wünschen Sie sich mehr politische Beteiligungsmöglichkeiten für die

Bürger?

Wären Sie bereit, sich über Wahlen hinaus an politischen Prozessen zu

beteiligen?

Glauben Sie, dass die Politiker

grundsätzlich mehr Mitbestimmung durch die Bürger wollen?

Ja Nein

0 20 40 60 80 100

81 16

60 39

22 76

Abb. 1 »Die Bereitschaft zu mehr politischer Beteiligung« © Bertelsmann Stiftung (2011): Bundesbürger möchten sich politisch beteiligen, vor allem aber mitentscheiden, www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-CEF28043-B3F7F3BF/bst/xcms_bst_dms_34119_34120_2.pdf

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sowie vor allem Großformate wie zum Beispiel »Deliberative Pollings« und »Town Hall Meetings« (500 bzw. bis zu 5000 Teilnehmende) vornehmlich durch zivilgesellschaftliche Organi-sationen (Bertelsmann Stiftung, im Er-scheinen). In Europa findet Bürgerbeteiligung vorwiegend sowohl auf lokaler als auch auf regionaler Ebene statt, und in manchen Ländern auch auf natio-naler Ebene. Je nach politischer Kul-tur lassen sich verschiedene Muster der Beteiligung in den einzelnen Län-dern und Regionen finden. In Frank-reich zum Beispiel gibt es die »Com-mission Nationale du Débat Public«, eine unabhängige vom Staat finan-zierte Organisation auf der zentral-staatlichen Ebene, die öffentliche Debatten und Beteiligung zu großen Infrastrukturvorhaben wie beispiels-weise U-Bahnen, Autobahnen und Bahnhöfen organisiert. Diese Be tei li-gungs formen sind eher »spontan« und auf die Einflussnahme von Öf-fentlichkeit und Gesellschaft gerich-tet im Vergleich zu deutschen Verfahren, denen meist ein recht klares Regelwerk zugrunde liegt und die oft das Ziel verfolgen, Entscheidungsträgerinnen und – träger zu beraten. In Frankreich wie auch in Deutschland haben Mandatsträger und -trägerinnen sowie Verwaltungsmitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine domi-nante Rolle in der Vorbereitung und Durchführung der Verfahren, während die britische Regierung Bürgerbeteiligung vornehmlich auf lokaler Ebene einfordert, aber deren Ausführung dem priva-ten und Non-Profit-Sektor überlässt. In Großbritannien ist seit 2003 die gemeinnützige Organisation »Involve« aktiv, welche die Zusammenarbeit vieler an Partizipation beteiligter Akteure opti-miert, sowohl aus dem öffentlichen, als auch aus dem privaten und dem freiwilligen Sektor. In Italien wiederum gibt es zahlrei-che kleine Initiativen auf lokaler und regionaler Ebene. Die Re-gion Toskana hat im Jahr 2007 ein in Europa bislang einzigartiges Gesetz erlassen, das es Bürgerinnen und Bürgern und dort wohn-haften Personen ermöglicht, Beteiligung einzufordern und selber zu initiieren, wenn das geplante Großvorhaben einen signifikan-ten Einfluss auf die Bevölkerung hat. Mit dem Gesetz wurde darü-ber hinaus eine zentrale staatliche Anlauf- und Beratungsstelle zur Verbreitung, Förderung und Evaluation der Beteiligungspraxis etabliert, die jährlich Berichte über den Verlauf der Praxis veröf-fentlicht (Regione Toscana, 2007).Länderübergreifende und vergleichende wissenschaftliche For-schung, die die verschiedenen Partizipationskulturen in Europa sowie die unterschiedliche Verbreitung bzw. Ausprägung einzel-ner Beteiligungsformate erfasst, gibt es allerdings bislang nicht. Mit einer Ausnahme: die Erforschung der »Bürgerhaushalte« in verschiedenen europäischen Ländern. Der Bürgerhaushalt ist das weltweit bekannteste und verbreitetste dialogorientierte Verfah-ren (Cabannes, 2006). Entstanden sind Bürgerhaushalte Ende der 1980er Jahre in der brasilianischen Millionenstadt Porto Alegre und im neuseeländischen Christchurch. Das in Porto Alegre ent-wickelte Modell ist als Beispiel einer »Demokratisierung der De-mokratie« bekannt geworden. Die Bürgerinnen und Bürger kön-nen auf kommunaler Ebene an der Gestaltung politischer und budgetärer Angelegenheiten, deren Konsultation und Prioritä-tensetzung mitwirken und sogar mitentscheiden. Die Entstehung des Beteiligungsverfahrens in Porto Alegre stand unter den Vor-zeichen von sozialer Gerechtigkeit, Bekämpfung von Korruption und Ausweitung der Basisdemokratie. Erwähnenswert ist, dass sich hier verstärkt auch ärmere und bildungsferne Bevölkerungs-

schichten beteiligen (Baiocchi, 2005). Der Bürgerhaushalt von Christchurch hingegen gilt als Vorbild für eine erfolgreiche Ver-waltungsmodernisierung durch bürgerschaftliche Konsultatio-nen (Holtkamp, 2012). Er soll vornehmlich die Akzeptanz erhöhen und Legitimierung fiskalpolitischer Maßnahmen in der Bevölke-rung steigern. Diese beiden Modelle haben in den europäischen Ländern und Regionen unterschiedliche Verbreitung gefunden (Herzberg, Sintomer, et al., 2010). In Deutschland beispielsweise werden Bürgerhaushalte wie in Berlin-Lichtenberg, Esslingen, Köln und Freiburg überwiegend als Mittel zur Verwaltungsmodernisierung angewendet, also nach dem neuseeländischen Vorbild. Sie zielen ab auf eine Verbesse-rung der Informationsgrundlage der Stadt- und Gemeinderäte bei der Beschlussfassung über den Haushaltsplan. In Spanien und anderen Ländern Südeuropas hingegen stehen bei Bürgerhaus-halten nach dem brasilianischen Modell eher Fragen der sozialen Gerechtigkeit im Mittelpunkt wie zum Beispiel in Cordoba, Sevilla und Albacete (Sintomer, Herzberg, et al., 2008). Mit Blick auf die Bürgerhaushalte lässt sich festhalten: Die Gestaltung und Umset-zung eines Beteiligungsformats hängt stark von den jeweiligen Beteiligungskulturen und Traditionen sowie den Strukturen des politischen Systems der jeweiligen Länder und Regionen ab.Neben den Bürgerhaushalten gibt es heute rund 16 weitere gän-gige Verfahren und Methoden dialogorientierter Bürgerbeteili-gung, die in den europäischen Ländern und Regionen Verbrei-tung gefunden haben – ergänzt um eine zunehmende Zahl von online- und internetgestützten Beteiligungsverfahren (siehe im Überblick Fritsche & Nanz, 2012). Die verschiedenen Formate un-terscheiden sich hinsichtlich ihrer Dauer (ein Tag bis mehrere Mo-nate), ihrer Teilnehmerzahl (von zehn bis mehreren Tausenden) sowie der Rekrutierung und Auswahl der beteiligten Bürgerinnen und Bürger (Selbstselektion, zufällige oder gezielte Auswahl, vgl. | Abb. 7 |, S. 8). In Europa dienen Beteiligungsprozesse vornehm-lich der Einflussnahme von Öffentlichkeit und Gesellschaft sowie der Beratung von Entscheidungsträgerinnen und -trägern. Un-mittelbare Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger sind in den meisten dialogorientierten Verfahren nicht vorgesehen, so-dass kollektiv bindende Beschlüsse nach wie vor durch Parla-mente, Stadträte und Verwaltungen gefällt werden. Allein im Rah-men von Bürgerhaushalten sind auch Mit-Entscheidungen von Bürgerinnen und Bürgern möglich, wobei in Deutschland auch

Abb. 2 Europaweite Befragung: »Die Politiker bereiten mein Heimatland gut auf die Zukunft vor.« © Europauntersuchung der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen, www.stiftungfuerzukunftsfragen.de/uploads/media/Forschung-Aktuell-241-Politikervertrauen-in-Krisenzeiten_01.pdf

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hier das Entscheidungsrecht weiterhin ausschließlich in den Hän-den von Politik und Verwaltung liegt. In den europäischen Ländern haben sich die verschiedenen Betei-ligungsformate nicht nur unterschiedlich ausgeprägt, wie das Beispiel der Bürgerhaushalte zeigt, sondern sie sind auch unter-schiedlich weit verbreitet. In Deutschland wird schon seit den 1970er Jahren die »Planungszelle« angewendet. Planungszelle ist ein organisatorisch aufwendiges Kleinformat, das komplexe Fra-gestellungen von wenigen, zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern erarbeiten lässt und auf dieser Basis Empfehlungen (sogenannte »Bürgergutachten«) erstellt. Diese dienen dann Stadträten, Verwaltungen und Parlamenten als Entscheidungs-grundlage, beispielsweise für die Kommunal- und Verwaltungsre-form in Rheinland-Pfalz (vgl. Dienel, 2011) oder für die Entwick-lung der Neusser Innenstadt (vgl. Ortwein, 2001).

Europaweit: Bürgerbeteiligung im Fokus der Öffentlichkeit

Nicht zuletzt als Antwort auf die neue Protestwelle in den letzten Jahren (u. a. Stuttgart 21) und auf die Konflikte im Kontext der Energiewende ist Bürgerbeteiligung in Deutschland (wieder) stark in den Fokus der politischen Öffentlichkeit gerückt. An vie-len Orten in der Republik, sei es auf kommunaler, regionaler oder zentralstaatlicher Ebene, werden gegenwärtig verschiedenste Beteiligungsverfahren erprobt. In Österreich, und hier vorwiegend im westösterreichischen Bun-desland Vorarlberg, hat das im Vergleich zur Planungszelle einfa-che Format der Bürgerinnenräte weite Verbreitung gefunden, das in den USA entwickelt wurde und dort »Wisdom Council« genannt wird. Ziel ist es, die Ideen und Vorschläge von rund zehn zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger an wenigen Tagen zu erar-beiten und auf diesem Weg zu einer kreativen und gemeinschaft-lichen Problemlösung zu gelangen. Die daraus entstehenden Empfehlungen dienen als Diskussionsgrundlage sowohl für die lokale Öffentlichkeit als auch für Entscheidungsträgerinnen und -träger, z. B. im Gemeinderat (Strele, Nanz, et al., 2012). Aufgrund der positiven Erfahrungen mit den Bürgerinnenräten wird erst-mals in Europa im Jahr 2013 die partizipative Demokratie in der Landesverfassung von Vorarlberg verankert – ein Trend, dem höchstwahrscheinlich auch andere Regionen in Bälde folgen wer-den. In Großbritannien wird neben vielen anderen häufig das Beteili-gungsverfahren »Planning for Real« angewendet, mit dem Ziel, die Lebensqualität an konkreten Orten (Stadtplätze, Quartiere, Stadtparks etc.) zu verbessern. Es ist offen für alle Interessierten. Die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist nicht begrenzt. In Dänemark wiederum werden seit den frühen 1990er Jahren er-folgreich »Konsensuskonferenzen« mit Bürgern durchgeführt, deren Ergebnisse dem Parlament überreicht werden. Die Däni-sche Behörde für Technikfolgenabschätzung bringt dazu Exper-tinnen und Experten zusammen mit 10–30 zufällig ausgewählten Laien hinsichtlich eines zu diskutierenden Themas. Das Themen-spektrum der Konferenzen reicht von der Strahlenbelastung von Lebensmitteln über die Behandlung von Unfruchtbarkeit bis hin zu Chancen und Schwierigkeiten von Verkehrsmauten. Wie sieht es nun auf der europäischen Ebene mit der Erprobung von »dialogorientierten Verfahren der Bürgerbeteiligung« aus? Die Europäische Kommission hat seit 2001 eine Vielzahl von Pro-jekten unterstützt, um zu testen, welche Verfahren und Metho-den für transnationale und mehrsprachige Bürgerbeteiligung ge-eignet sind (Nanz & Kies, im Erscheinen). Das größte und vielschichtigste Projekt dieser Art waren bislang die »Europäi-schen Bürgerkonferenzen«, die erstmals zwischen Oktober 2006 und Mai 2007 stattfanden. An diesem grenzüberschreitenden Großverfahren nahmen etwa 1.800 nach demographischen Krite-rien zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern aus 27 EU-Mitgliedstaaten teil und berieten über die Zukunft Europas. Die

Europäischen Bürgerkonferenzen waren nach der Auftaktveran-staltung in Brüssel als ein dreistufiges Verfahren organisiert: Im ersten Schritt wurden zentrale Bürgerkonferenzen mit Online-Elementen in den einzelnen Mitgliedstaaten durchgeführt. Im zweiten Schritt wurden ergänzend in verschiedenen Städten der Mitgliedstaaten »regionale Bürgerforen« veranstaltet, um in ei-nem letzten Schritt die Ergebnisse aus den Mitgliedstaaten auf der europäischen Ebene zusammenzutragen und dort mit Vertre-tern der Europäischen Kommission auf einer Abschlussveranstal-tung zu diskutieren (Baumann, Felten, et al., 2009). Im Anschluss an die ersten Europäischen Bürgerkonferenzen gab es bis heute verschiedene Folgeprozesse, die die Ergebnisse des Verfahrens in die Mitgliedstaaten zurück kommuniziert haben. Im Jahr 2009 wurden erneut Europäische Bürgerkonferenzen veranstaltet, um so eine erste reguläre transnationale Beteiligungspraxis der Bür-gerinnen und Bürger in Europa zu etablieren.

Erste Ergebnisse

Die vielfältigen Entwicklungen im Feld der dialogorientierten Ver-fahren in Europa haben dazu geführt, dass sowohl Politik und Verwaltungen einiger Länder, Regionen und Kommunen als auch die wachsende Anzahl an Dienstleistern und Anbietern von Bür-gerbeteiligungsverfahren ein gesteigertes Interesse an Qualitäts-normen, Standards und Leitlinien für die Umsetzung der Beteili-gungsverfahren entwickelt haben. In den letzten Jahren sind daher in verschiedenen Ländern Europas Qualitätsgrundsätze und Standards der Bürger- und Öffentlichkeitsbeteiligung ent-standen. So hat die »Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik« (ÖGUT), die Mitte der 1980er Jahre als überparteiliche Plattform für Umwelt, Wirtschaft und Verwaltung zur Förderung von Beteiligungsprozessen vor allem im Bereich der Umweltpoli-tik gegründet wurde, »Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung« veröffentlicht. Die Entwicklung der Standards und Praxisleitfäden wurde vom österreichischen Ministerrat am 2. Juli 2008 beschlos-sen und von einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter Feder-führung des Kanzleramtes und des Lebensministeriums entwi-ckelt. Die Arbeitsgruppe konsultierte darüber hinaus verschiedene Vertreter der Zivilgesellschaft und externe Fachexperten (Lebens-ministerium & Bundeskanzleramt, 2008, S. 3). Die Qualitätsstan-dards und Leitfäden sind als Service und Unterstützung für Ver-waltungen konzipiert, um eine Orientierung für die gute Praxis der Öffentlichkeitsbeteiligung bereit zu stellen (www.partizipation.at/standards_oeb.html). Neben Österreich hat auch die Landesregierung von Wales be-gonnen, nationale Prinzipien für öffentliche Beteiligung zu entwi-ckeln. Hierzu wurde im Jahr 2009 die beratende Kommission der Organisation »Participation Cymru« beauftragt. »Participation Cymru« ist eine Kooperation der öffentlichen Verwaltung und zi-vilgesellschaftlichen Organisationen, die darauf abzielt, öffentli-che Dienstleistungen durch die Stärkung und den innovativen Einsatz von Bürgerbeteiligung zu verbessern. Den Anstoß zur Ent-wicklung der Prinzipien gab eine vom walisischen Parlament ver-abschiedete »Vision für öffentliche Dienstleistungen«. Jüngst ha-ben sich auch Städte wie Heidelberg und Leipzig auf den Weg gemacht, Qualitätsnormen zu kodifizieren (vgl. Stadt Heidelberg, 2012; Stadt Leipzig, 2013). Zu diesem Zweck wurden unter ande-rem Grundsätze und Leitfäden für die Umsetzung von dialogori-entierten Verfahren entwickelt. Trotz der mittlerweile zahlreichen Erfahrungen mit Bürgerbeteili-gung hat in Europa bisher kein systematischer Lern- und Erfah-rungsaustausch stattgefunden. Im Dezember 2012 hat daher die Stabsstelle der »Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbetei-ligung des Staatsministeriums Baden-Württemberg«, Gisela Er-ler, und das »European Institute for Public Parcipation« (EIPP) verschiedene europäische Regionen zu einer Konferenz eingela-den, u. a. Rhone-Alpes, Vorarlberg, Katalonien, die dänischen Re-gionen sowie die Toskana und Emilia-Romagna. Als Ergebnis ist

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das erste »Europäische Netzwerk zur Förde-rung der Bürgerbeteiligung« gegründet wor-den. Es wurde bei dem Treffen der europäi-schen Regionen deutlich, dass Politik und Verwaltung als Initiatoren und Organisato-ren von partizipativen Prozessen in den kom-menden Jahren dringend Kompetenzen aus-bilden müssen, um entscheiden zu können, welches Format am besten für ein Thema, ein Fachgebiet und eine politische Ebene geeig-net ist. Was zudem benötigt wird, ist prakti-sches Wissen über die Stärken und Schwä-chen der verschiedenen Verfahren und ihre Nützlichkeit für unterschiedliche Situatio-nen. Darüber hinaus suchen Regionen und Kommunen verstärkt nach Wegen, dialogori-entierte Verfahren mit den jeweiligen reprä-sentativ-demokratischen Institutionen und Gremien zu verzahnen, damit das »Voicing« der Bürgerinnen und Bürger nachhaltig Ein-fluss nehmen kann. Die wachsende Verbreitung neuer und inno-vativer Formen dialogorientierter Bürger-beteiligung in Europa macht auch die Notwenigkeit sozialwissen-schaftlicher Forschung deutlich, die diese Entwicklungen quantitativ sowie qualitativ erfasst und kritisch begleitet. Europa braucht ein unabhängiges Kompetenzzentrum, das Grundlagen-forschung mit Anwendungsorientierung verbindet und zentraler Bestandteil eines europäischen Netzwerks für Bürgerbeteiligung wird. Aufgabe dieses Zentrums wäre es, länderübergreifend die Erfahrungen aus einzelnen Beteiligungsinitiativen systematisch zusammenzutragen, die Ursachen für Erfolg und Misserfolg zu analysieren, unabhängige Handreichungen über intendierte und nicht-intendierte Wirkungen von Beteiligungsbeispielen zur Ver-fügung zu stellen und somit einen Raum zur kritischen Reflexion partizipativer Prozesse zu schaffen. Auf der Grundlage solchen Wissens könnte eine derartige Institution auch bei der Konzep-tion von Beteiligungsangeboten behilflich sein, Qualitätsnormen für Verfahren erarbeiten und Evaluationsstandards zur unabhän-gigen Bewertung der Praxis entwickeln. Darüber hinaus könnte sie Akteure aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft ebenso wie Dienstleisterinnen und Dienstleister, Moderatorinnen und Moderatoren sowie technische Entwicklerinnen und Entwickler vernetzen und zum »Capacity Buildings« der Akteursgruppen bei-tragen. Ein solches Kompetenzzentrum könnte aber auch die De-batte um die Zukunft der Demokratie insgesamt bereichern: – Wie ließen sich dialogorientierte Beteiligungsverfahren mit

direkt-demokratischen Abstimmungen verbinden (wie etwa im Beispiel der Wahlrechtsreform in British Columbia oder des isländischen Verfassungsentwurfs durch die Bürger und Bür-gerinnen, für das jüngst eine satte Mehrheit der Wahlbevölke-rung gestimmt hat)?

– Wie könnten Verknüpfungen von einzelnen Beteiligungsver-fahren (oder gar einer ständigen Bürgerkammer zum Beispiel für langfristige Fragenstellungen) und parlamentarischen Entscheidungsprozessen aussehen?

Es ginge am Ende darum, systematische Vorschläge für europäi-sche Demokratiereformen zu machen – Demokratiereformen, die institutionelle Rahmenbedingungen entwickeln für eine Kombi-nation aus repräsentativer, direkter und partizipativer Demokra-tie – und dabei die unterschiedlichen Beteiligungskulturen und politischen Systeme in Europa berücksichtigt.

Literaturhinweise

APuZ (2006): Direkte Demokratie, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, www.bpb.de/system/files/pdf/YRK9YG.pdf (letzter Zugriff: 25.01.2013).

Baiocchi, Gianpaolo (2005): Militants and Citizens: The Politics of Participa-tory Democracy in Porto Alegre, Stanford, Kalifornien.

Baumann, Mechthild, Felten, Sandra & Stratenschulte, Eckart D. (2009): Empi rische Auswertung der Europäischen Bürgerforen 2008/2009, www.buergerforen.de/fileadmin/medias-buergerforen/presse/Finale_Auswertung.pdf (letzter Zugriff: 25.01.2013).

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Fritsche, Miriam & Nanz, Patrizia (2012): Handbuch Bürgerbeteiligung: Ver-fahren und Akteure, Chancen und Grenzen, Schriftenreihe Band 1200, Bun-deszentrale für politische Bildung, Bonn.

Fung, Archon (2003): Survey Article: Recipes for Public Spheres: Eight Insti-tutional Design Choices and Their Consequences, Journal of Political Philo-sophy, 11(3), S. 338–367.

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Ley, Astrid & Weitz, Ludwig (Hrsg.) (2009): Praxis Bürgerbeteiligung, Stif-tung Mitarbeit, Bonn.

Nanz, Patrizia & Kies, Raphaël (im Erscheinen): Is Europe Listening to Us? Successes and Failures of EU Citizen Consultations, Ashgate Publishing.

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Strele, Martin, Nanz, Patrizia & Lüdemann, Martin (2012): BürgerInnen-Räte in Österreich, Gemeinsames Forschungsprojekt des Lebensministeriums und des Büros für Zukunftsfragen, Bregenz, Wien, online: http://www.vorarlberg.at/pdf/endberichtforschungsproje.pdf (letzter Zugriff: 26.01.2013).

Abb. 3 Am 5. und 6.12.2012 kamen im Staatsministerium in Stuttgart Expertinnen und Experten aus aller Welt zusammen, um sich in einem Workshop über Konzepte der Bürgerbeteiligung in Europa aus-zutauschen. Dazu eingeladen hatten die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Gisela Erler, und Professorin Dr. Patrizia Nanz vom »European Institute for Public Participation« (EIPP). © Staatsministerium Baden-Württemberg

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MATERIALIEN

M 1 Claus Leggewie, Patrizia Nanz: » Mehr Beteiligung für die Energie-wende«, Süddeutsche Zeitung

Es wird eng: Rund um den Erdball werden Endlager für hoch radioaktive Abfälle aus der Nutzung der Kernenergie durch Industrie, Medizin und Forschung gesucht. Die Europä-ische Union hat 14 Mitgliedstaaten eine Lö-sung für die Atommüll-Endlagerung bis 2015 auferlegt, andernfalls wird sie gegen säu-mige Staaten vorgehen und wegen Vertrags-verletzung vor dem Europäischen Gerichts-hof klagen. Die Lagerstätten müssen so beschaffen sein, dass die Abfälle von der Bio-sphäre abgeschieden bleiben, bis keine Ge-fahr mehr von ihnen ausgeht – nach Festle-gung des Bundesamtes für Strahlenschutz von 2005 heißt das: für eine Million Jahre. Bis zum Jahr 1 002 005 also. Die Zahl demonst-riert den Hochmut einer hochriskanten Tech-nologiewahl, die für Menschen kaum nach-vollziehbare Fristen und Risiken einplanen muss. Aber das zu beklagen, reicht nicht: Das jahrelange Schwarze-Peter-Spiel zwischen Energiewirtschaft, Po-litik und Anti-AKW-Bewegung hat die Übernahme von Verantwor-tung für das immer dringender werdende Problem verhindert.Nach dem Fiasko von Gorleben, dem Skandal um die Asse und der Untauglichkeit anderer bislang in Aussicht genommener Stand-orte ist endlich ein annehmbares Endlager auszuweisen, politisch zu vereinbaren und mit maximalen Sicherheitsvorkehrungen zu errichten. Der baden-württembergische Ministerpräsident Win-fried Kretschmann (Grüne) hat uns auf den Boden der Tatsachen geholt, als er sagte, irgendwo müsse das Zeugs ja hin.Zunächst aber stößt jeder Vorschlag, Bürgerbeteiligung bei der Endlagersuche auf den Weg zu bringen, auf berechtigte Skepsis. Warum soll das Volk richten, was eine sich selbst blockierende und zur Einigung nicht fähige Allparteienkoalition verbockt hat? Aber wie, wenn nicht unter Einbeziehung der Betroffenen vor Ort und mit der Legitimierung durch den Souverän soll dies sonst ge-lingen? Gemeint ist erst einmal kein Volksentscheid, sondern eine tiefer gehende Erörterung des bestgeeigneten Endlager-Standor-tes durch die Öffentlichkeit, die in den Entwürfen für ein Endla-gersuchgesetz breiten Raum einnimmt (www.endlagerdialog.de). Die wenigen Erläuterungen und Konkretisierungen des Gesetzes-entwurfes lassen allerdings wenig Gutes hoffen; Bundesumwelt-minister Peter Altmaier (CDU) meint wohl, mit ein paar unver-bindlichen Bürgerdialogen und Internetplattformen könne man sich die nötige Akzeptanz beschaffen.Das gelingt freilich schon bei weniger dramatischen Anlässen nicht, erst recht nicht in der Endlagerfrage. Und es geht ja um mehr als bloße Akzeptanzbeschaffung: nämlich darum, einer wie auch immer gearteten parlamentarischen Entscheidung durch eine verbindliche Empfehlung aus der Bürgerschaft zusätzliche Legitimation und Tragfähigkeit zu verleihen. Alle Vorzeichen für einen ruhigen und rationalen Meinungsaustausch sind allerdings negativ: Das Vertrauen in die politischen Eliten ist vollständig er-schüttert, keine wissenschaftliche Autorität wird mehr aner-kannt, Bürgerinitiativen haben sich in einer Wagenburg ver-schanzt, die Energiekonzerne stehlen sich aus der Verantwortung. Wer sich ernsthaft mit der Organisation von Bürgerbeteiligung befasst hat, möchte vor einer solchen Ausgangsszenerie davon-laufen. Allein die Dringlichkeit des Problems erfordert, im Zuge der Energiewende die Jahrhundertchance auf einen haltbaren po-litischen Kompromiss für ein durchdachtes Endlagersuchgesetz zu nutzen. Es gilt dabei, einen lokalen, nationalen und am Ende

auch europäischen Bürgerbeteiligungsprozess sorgfältig vorzu-bereiten und in Angriff zu nehmen. Bis 2015 muss eine Entschei-dung gefällt sein, welche Endlagerstätten erkundet werden sol-len, in den folgenden Jahren muss eine konsensfähige und nachhaltige Lösung gefunden werden, die deren schwere Lasten auch noch möglichst gerecht verteilt und den Betroffenen nicht, wie man es mit denen in Gorleben halten wollte, zuruft: Pech ge-habt! Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Legitimität – das sind die normativen Leitlinien des im Gesetzentwurf angedeuteten Bür-gerbeteiligungsprozesses.Der muss zugleich die nationale Aufgabe der Endlagersuche, de-ren Organisation einer neuen Behörde übertragen werden soll, an alle in Erwägung gezogenen Standorte dezentralisieren. Er muss zudem lokale Belange, die jeweils nach dem NIMBY-Prinzip (»Not in my Backyard«) wegdelegiert werden können, zum Ausgleich bringen. Was wir dafür brauchen, ist ein nationaler Ausschuss, der mehr ist als die Ethik-Kommission, die im Fall des Atomausstiegs nach Fukushima als Gremium ausgesuchter Persönlichkeiten tä-tig geworden ist. Wenig geeignet ist sicherlich auch eine vor lau-fender Kamera agierende Schlichtung, wie im Fall Stuttgart 21, oder die Stakeholder-Mediation am Frankfurter Flughafen, um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen.Ein Patentrezept für die Zusammensetzung und beste Mischung gibt es nicht, persönliche Autorität, wissenschaftliche Kompe-tenz und gesellschaftliche Repräsentativität müssen fein balan-ciert werden.Denkbar ist ein Zukunftsrat, der sich gar nicht aus Prominenten rekrutiert, sondern aus einfachen Bürgern, die sich – wie eine parlamentarische Untersuchung – jeden gewünschten Sachver-stand per Hearing heranziehen kann, und per Zufallsverfahren und nach soziodemografischen Kriterien wie Alter, Geschlecht und Bildung so zusammensetzen, dass sie den Querschnitt der Bevölkerung möglichst gut abbilden. Anders als amerikanische Geschworenengerichte sollen die »Laienschöffen« kein Urteil fäl-len, sondern eine Handlungsempfehlung aussprechen, die vom Parlament in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden muss. Eine große Portion Gemeinsinn scheint bei der Endlager-frage in jedem Fall unverzichtbar.Infrage kommende Standorte könnten in lokalen Gremien disku-tiert werden, während eine Ratsversammlung auf nationaler Ebene die Ergebnisse aller Gremien bündeln und bewerten sollte. Besonders in Regionen, die vielleicht zu den Lastenträgern der

M 2 »Einstimmig!« © Gerhard Mester 2013

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Endlagerfrage werden, könnte Bür-gerbeteiligung eine wichtige Rolle spielen, um Konflikte gemeinschaft-lich zu beraten, faire Ausgleichsmög-lichkeiten zu entwerfen und die Bil-dung von Orten des Widerstands zu verhindern. Auch in den lokalen Gre-mien ist das Prinzip der direkten Be-troffenheit gering zu halten, denn sie sollen sich schließlich nicht nur um den Standort, sondern auch um die langfristige Zukunft einer Region Ge-danken machen.Denn darum geht es ja: wie die Bevöl-kerung sich die Existenzbedingungen und Lebensqualität ihrer Kinder, En-kel und Urenkel in einer Gegend vor-stellt, in der – gegebenenfalls – das Endlager errichtet wird. Viele Perspek tiven – sozialpolitische, de-mografische und energiepolitische – stehen heute unter diesem futuri-schen Vorzeichen 2012, 2050, 2100. Und ganz offenbar ist unsere Zukunft keine lineare Fortschreibung des ge-wohnten Lebens. Wegen der zeitlich weitreichenden Folgen ist die ato-mare Endlagerung eine besondere Herausforderung für die Gerechtig-keit zwischen den Generationen.Der Teufel liegt bei einer öffentlichen Erörterung der Standortfrage mit al-len Nebenerwägungen durch einen Zukunftsrat im prozeduralen Detail: Wie oft und wie lange tagen die nati-onale Ratsversammlung und lokale Gremien, wie viele Mitglieder sollen sie haben, sollen Bürger eine Auf-wandsentschädigung erhalten? Wie können die Interessen künftiger Ge-nerationen systematisch berücksich-tigt werden? Sicher benötigt der Zukunfts rat einen gewissen professi-onellen Apparat und finanzielle Res-sourcen: Informationsmaterial muss bereitgestellt, Debatten moderiert, Experten einbestellt, Ergeb-nisse gesichert und öffentlich zur Diskussion gestellt werden. Er arbeitet nicht fürs Fernsehen, aber eine kontinuierliche Doku-mentation online und möglichst auch eine Berichterstattung in den Medien sind zentral.Es lohnt sich ein Blick ins Ausland: In Großbritannien fand 1999 eine Konsensuskonferenz statt, in der 15 Bürger in mehreren Wo-chenendworkshops Vorschläge für eine effiziente und öffentlich akzeptierte Langzeitlagerung von radioaktivem Abfall entwickelt haben.Die dänische Behörde für Technikfolgenabschätzung führt seit dem Ende der achtziger Jahre erfolgreich solche Verfahren durch. Hier wird der Endbericht immerhin nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch allen Parlamentsmitgliedern übergeben. Der Zu-kunftsrat bräuchte allerdings sicherlich mehrere Monate für seine Arbeit und insgesamt weit mehr als 15 Mitglieder. Wesentlich ist, dass eine Bürgerbeteiligung über eine so weitreichende Entschei-dung wie das Endlager nach demokratischen Kriterien und auf mehreren Ebenen konzipiert wird, damit jedes »Hier nicht!« mit dem »Hier auch nicht!« an anderer Stelle konfrontiert wird und damit gemeinsame Verantwortung entstehen und ein faire Vertei-lung der Lasten erreicht werden kann. Die weitere Voraussetzung für das Gelingen dieses Experiments ist eine geeignete Anbin-dung an den Entscheidungsprozess in den parlamentarischen

Gremien auf Bundes- und Länderebene und in den Gemeinden. Der Zukunftsrat hat im Sinn der Gewaltenteilung kein imperatives Mandat, aber er müsste gehört werden, und er sollte, damit poli-tische Akteure und Konjunkturen ihn nicht ignorieren können, neben parlamentarischen Debatten über dessen Handlungsemp-fehlung auch ein verbindliches Feedback von der Regierung be-kommen.Wenn man Bundespräsident Gauck als Schirmherrn gewinnen könnte, wäre das Verfahren zudem mit der nötigen personalen Autorität versehen.Der Vorschlag eines solchen Zukunftsrats mag vielen utopisch vorkommen. Das mag er sein, aber man muss ihn abgleichen mit anderen Entscheidungsmodalitäten, die bisher eben nicht zur Findung und Realisierung eines geeigneten Endlagers im Kon-sens geführt haben. Ein Endlager muss so beschaffen sein, dass eine Million Jahre keine Gefahr von ihm ausgeht

Claus Leggewie, Patrizia Nanz: » Mehr Beteiligung für die Energiewende. Nach dem Fiasko um Gorleben braucht die Suche nach einem Atom-Endlager endlich mehr demokratische Basis: einen Zukunftsrat. «, Süddeutsche Zeitung 22.11.2012, S. 20

M 3 »Welche Formen von politischer Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert und sind für Sie erstrebens-wert – Welche kommen nicht in Frage?« www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-CE93650F-414B9DD6/bst/xcms_bst_dms_34121_34144_2.pdf © Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahre 2011

Welche Formen von politischer Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert und sind für sie erstrebenswert – Welche kommen nicht in Frage? Angaben in Prozent

Habe ich schon einmal gemacht oder käme für mich in Frage Kommt für mich nicht in Frage Weiß nicht, keine Angabe

Quelle: Bertelsmann Stiftung / Umfrage TNS-Emnid.

Teilnahme an Wahlen

Volksentscheide-Bürgerbegehren

Abstimmung über Infrastrukturprojekte

Teilnahme an einer Bürgerversammlung

Mitgliedschaft in einem Interessenverband

Schreiben eines Leserbriefes

Beschwerde/Eingabe bei Abgeordneten

Online-Umfrage im Internet

Beratungen über kommunalen Bürgerhaushalt

Teilnahme an einer Demonstration

Abstimmung über bestimmte Fragen im Internet

Elektronische Petition

Teilnahme an einem Bürgerforum / Zukunftswerkstatt

Mitgliedschaft in einer Bürgerinitiative

Mitwirken in Partei ohne Mitgliedschaft

Verfassen von Beiträgen in Internet-Foren/Blogs

Mitgliedschaft in einer Partei

Einsatz als Sachkundiger Bürger in Rat

Form der Beteiligung

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M 4 Der Filder-Dialog in Kürze

»Mit dem Filder-Dialog S 21 wollen die Pro-jektpartner von Stuttgart 21 Transparenz über ihr Vorhaben vor Ort schaffen und mit den Betroffenen und der Bürgerschaft in ei-nen konstruktiven Dialog treten. Sie nehmen dabei den Planfeststellungsabschnitt 1.3 auf den Fildern (beim Stuttgarter Flughafen) un-ter die Lupe: Sowohl die für diesen Abschnitt beantragte Trasse als auch weitere Trassen und Varianten sollen vorgestellt und disku-tiert werden. Dabei geht es auch um die zu-grunde liegenden Planungsprämissen und Bewertungskriterien. Zu den Vorgaben des Dialogs gehört unter anderem, dass der ver-einbarte Kostendeckel nicht angehoben, der Terminplan eingehalten und über die soge-nannte Null-Variante (die das Projekt Stutt-gart 21 grundsätzlich infrage stellt) nicht dis-kutiert wird. Ziel des Dialogverfahrens: Die Teilnehmenden äußern sich zu den verschiedenen Trassenvarianten und geben Empfehlungen an die Projektpartner. Dabei können auch andere Lösungen, als die bis-lang geplante Trasse herauskommen. Die Projektpartner haben zugesagt, nach Abschluss der Bürgerbeteiligung die Ergebnisse gemeinsam zu bewerten und zu beschließen, welche Empfehlun-gen bei der weiteren Planung berücksichtigt werden. Sie wollen die Machbarkeit dieser Empfehlungen anhand der geltenden Pla-nungsprämissen und Bewertungskriterien ernsthaft prüfen. (…)Den ersten Schritt zum Filder-Dialog hat im Herbst 2010 die »Schlichtung« zum Gesamtprojekt Stuttgart 21 gesetzt. Damals hatte die Deutsche Bahn AG betont, sie wolle Planungen künftig anders angehen und mehr Bürgermitwirkung sowie eine bessere Informationspolitik gewährleisten Kurz darauf, im Frühjahr 2011, wechselte bei einem der Projektpartner die für Stuttgart 21 zu-ständige Spitze: Winfried Hermann, Grüne, der neue Minister für Verkehr und Infrastruktur des Landes Baden-Württemberg, plä-dierte dafür, an der noch nicht abgeschlossenen S21-Planung auf den Fildern die örtliche Bürgerschaft zu beteiligen. So beschlos-sen die Projektpartner am 24. Februar 2012, mit dem Filder-Dialog S21 eine neue Form der Bürgerbeteiligung anzugehen. Und sie kamen überein, die Planung und Durchführung des Dialogs in die Hände einer erfahrenen externen Fachkraft für Moderation zu le-gen. Um den Filder-Dialog so optimal wie möglich zu gestalten, wurde ein auf Großgruppenmoderation spezialisierter und von außer-halb der Region Stuttgart kommender Experte gesucht. Beste Sachkenntnis bezüglich des Verfahrens bei möglichst großem Ab-stand zu den verhandelten Inhalten, so lautete die Vorgabe. Die Wahl fiel auf den Moderator Ludwig Weitz aus Bonn.«

© www.filderdialog-s21.de/ueberdenfilderdialog-s21.html

M 5 Markus Heffner, Malte Klein: »Filderdialog zu Stutt-gart 21«: Einige Bürger fühlen sich nur als Statisten«

Der Filderdialog, ein demokratisches Verfahren mit ergebnisoffe-nem Ausgang, bei dem sich Bürger einbringen und echte Verbes-serungen bewirken konnten? Darüber gibt es auch nach dem Abschluss der Veranstaltung unterschiedliche Meinungen. Zu-mindest die Mehrheit der Teilnehmer selbst, so die Bilanz der Schlussrunde, ist mit einem guten Gefühl nach Hause gegangen.Etliche Bürger klagten in ihrem Abschlusswort aber auch darüber, dass sie sich von den Projektpartnern nicht ernst genommen ge-fühlt hätten, nur Statisten gewesen seien und der Ausgang von vorneherein festgestanden hätte, so eine der Zufallsbürgerinnen. Einig waren sich die Teilnehmer dagegen in dem Wunsch, über

den weiteren Verlauf und die Ergebnisse der Machbarkeitsstudien der Projektpartner informiert zu werden. Eine Art Fortsetzung des Filderdialogs ist zudem auch im Sinne der Staatsrätin Gisela Erler und des Moderatos Ludwig Weitz, die das Verfahren erst als been-det sehen, so Weitz, wenn ein konkretes Ergebnis auf dem Papier steht, das auch umgesetzt wird. Der Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), der im Filderdialog ein gelungenes Experiment der Bürgerbeteiligung sieht, hat eine solche Fortführung fest zu-gesagt. Drei Monate lang wollen die Projektpartner nun in einer Machbarkeitsstudie prüfen lassen, ob der Vorschlag, den Fern-bahnhof auf den Fildern unter der Flughafenstraße und damit nä-her an die S-Bahn-Station zu bauen, tragfähig und finanziell reali-sierbar ist. Ein Vorteil dieser Variante wäre, dass zumindest die S-Bahn-Station frei von Mischverkehr wäre, da die Fern- und Regi-onalzüge direkt in den Flughafenbahnhof einschleifen würden. Auf der S-Bahn-Trasse zwischen Rohrer Kurve und Flughafen müssten die Kommunen dagegen mit dem ungeliebten Mischver-kehr leben, weshalb nun auch die Möglichkeiten des Lärm- und Erschütterungsschutzes ausgelotet werden sollen. Im Spät-herbst, so Hermann, könne das Ministerium die ersten Ergeb-nisse vorlegen.Prominente Teilnehmer wie Roland Klenk, der Oberbürgermeis-ter von Leinfelden-Echterdingen, oder Institutionen wie der Um-weltverband BUND und die Schutzgemeinschaft Filder haben derweil ihre Meinung zu dem Verfahren schon während des Dia-logs mit ihrem Austritt kundgetan. Die Staatsrätin Gisela Erler wertet es trotz dieser Probleme als einen richtungsweisenden Schritt: »Wir haben einen Grundstein gelegt für ein neues Denken und für ein Verfahren, wie man zukunftsfähige Verkehrslösungen mit den Bürgern erarbeiten kann.«Das große Problem des Dialogs sei gewesen, dass er viel zu spät im Projektverlauf begonnen und unter enormem Zeitdruck ge-standen habe. Gemessen an den schwierigen Bedingungen sei durchaus etwas Zukunftsweisendes herausgekommen, so Erler. Dass nun etwa auch die Sicherung der Gäubahn für den Nahver-kehr mit großer Priorität geprüft werde, könnten die Bürger als Erfolg verbuchen. Sicher sei es für viele Teilnehmer bitter, dass sich ihre Wunschtrasse nicht durchgesetzt hat. »Damit muss man bei einem demokratischen Verfahren, das nur empfehlenden Charakter hat, aber rechnen.« Auch von den »unterlegenen« Be-fürwortern der Gäubahnvariante seien jedoch überwiegend posi-tive Rückmeldungen bezüglich des Verfahrens gekommen.Die Erfahrungen der vergangenen Wochen sollen nun in geplante Bürgerverfahren bei vergleichbaren Infrastrukturprojekten in Schwäbisch Gmünd und Tübingen einfließen, und auch bei der Planung des Rosensteinquartiers hält die Staatsrätin eine sehr frühe Beteiligung der Bürger für höchst hilfreich. »Wir alle haben im Filderdialog viel gelernt«, sagt Erler: »Was man tun sollte – und was besser nicht.«

M 6 Der Moderator des »Filderdialogs – S 21«: Ludwig Weitz, Bonn © dpa, picture alliance

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Am Montag sprachen die Mitglieder der »Arbeits gruppe S 21« derweil über die Stel-lungnahmen der Projektpartner zu den Emp-fehlungen des Filderdialogs. »Es ist erschre-ckend, dass wir in Leinfelden-Echterdingen mehr Lärmschutz entlang der S-Bahn-Trasse als gesetzlich nötig selbst zahlen sollen«, sagte Uwe Janssen (Grüne).

© Markus Heffner, Malte Klein: »Filderdialog« zu Stuttgart 21: Einige Bürger fühlen sich nur als Statisten, Stuttgarter Zeitung vom 17.7.2012

M 7 Jan-Hendrik Kamlage: »Tunnel-dialog und Bürgerbeteiligung in Schwäbisch Gmünd«

In Schwäbisch Gmünd soll mit dem Einhorn-Tunnel die Innenstadt vom Straßenverkehr entlastet werden. Geplant ist, dass die mit Staub und Schadgasen belastete Luft des 2,2 Kilometer langen Tunnels über einen zentralen Kamin ausgeblasen wird. Anwohner befürchten gesundheitliche und ökologische Folgen steigender Immissionsbelastungen im Bereich des Kamins und schlugen den Einbau eines Tunnelfilters vor. Dies wurde von dem Regierungs-präsidium Stuttgart (RP) sowie dem Ministerium für Verkehr und Infrastruktur Baden-Württemberg (MVI) und dem Bundesminis-terium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) jedoch abgelehnt, da die gesetzlichen Grenzwerte für Luftschadstoffe nicht überschritten würden. Im September 2007 gründete sich die Bürgerinitiative »Pro Tunnelfilter«. Kurz danach wurde in Schwäbisch Gmünd die Umweltzone eingeführt, die in der Bevöl-kerung über wenig Akzeptanz verfügt.Um den Konflikt zu schlichten und die Sachfrage zu klären, wurde im Februar 2011 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) eine Machbarkeitsstudie in Aussicht gestellt. Die Studie sollte klären, ob und unter welchen Bedingungen ein Tunnelfilter für den Einhorn-Tunnel einsetzbar sei. Daraufhin er-arbeiteten im März 2011 Vertreterinnen und Vertreter aus den Bürgerinitiativen, der Wirtschaft, der Stadtverwaltung und der Lokalpolitik gemeinsam einen Fragenkatalog, der innerhalb des Verfahrens bearbeitet werden sollte. Im Anschluss wählte die Gruppe das Konsortium zur Umsetzung der Studie aus.Der Tunneldialog in Schwäbisch Gmünd ist ein Anwendungsfall für Verfahren der Präsenzbeteiligung. Vertreter aus Zivilgesell-schaft, Unternehmen, Verwaltung und Politik beraten innerhalb eines speziell für diesen Fall entwickelten Beteiligungsformates die strittige Frage, ob und inwieweit ein Tunnelfilter für den dorti-gen Einhorn-Tunnel von Nutzen sein kann.

© Jan-Hendrik Kamlage: Tunneldialog und Bürgerbeteiligung in Schwäbisch Gmünd. Origi-nalbeitrag.

M 8 Wolfgang Fischer: » Bessere Wege als der Filter zu sauberer Luft«. Tunneldialog und Bürgerbeteiligung in Schwäbisch Gmünd

Schwäbisch Gmünd. Die Abluft des Tunnels muss gefiltert wer-den, davon waren viele Bürger überzeugt. Doch seit April hat es vier Dialogrunden von Bürgern und Experten zu diesem Thema gegeben, und am Ende fasste zum Beispiel Schönblick-Geschäfts-führer Martin Scheuermann, bisher überzeugter Filter- Befürwor-ter, zusammen: »Wir sind uns einig, dass die gesundheitlichen Probleme, die wir befürchtet haben, nicht eintreten.« Prof. Dr. Erich Wichmann, Physiker und Mediziner an der Uni München, hatte den Zuhörern im Stadtgarten zuvor nochmals dargelegt, dass der Tunnel die Luftsituation in Gmünd deutlich verbessere.

Die zusätzliche Wirkung des Filters wäre dagegen verschwindend gering. Es gebe bessere Wege, die Luftqualität zu verbessern, fol-gerte auch Martin Scheuermann. Welche, das hatten die Dialog-Teilnehmer zuvor in einer Arbeitsgruppe diskutiert. Grünen-Stadträtin Brigitte Abele, die die Ergebnisse vortrug, nannte als ersten Punkt die Umweltzone: Rascher als vorgesehen müsse auch Fahrzeugen mit gelber Plakette die Zufahrt verboten wer-den, zudem solle die Einhaltung schärfer kontrolliert werden. (…)Auch Oberbürgermeister Richard Arnold räumte im Gespräch mit der Gmünder Tagespost ein, dass der Tunneldialog anders als er-wartet verlaufen sei. »Die Hoffnung auf Argumente für den Filter hat sich nicht erfüllt.« Dafür hätten sich andere Perspektiven er-öffnet. Zum Beispiel könnte er sich vorstellen, in Gmünd modell-haft an einer Stelle Moose oder andere Pflanzen, die Feinstaub binden, anzubauen – vielleicht schon zur Landesgartenschau. Au-ßerdem gefällt ihm die Idee eines Clusters »Saubere Luft für den Raum Gmünd« (…). Diese Idee hatte Dr.-Ing. Hartmut Pflaum vom Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik eingebracht. Er definierte »Cluster« als Zusammenschluss von Akteuren mit gleichen Interessen in einer Region. (…)Ebenfalls Thema war der Verlauf des Dialogs: Martin Scheuer-mann anerkannte, dass die Experten auch »sehr, sehr kritische Fragen« der Bürger beantwortet hätten. Im Gegenzug lobte Mo-derator Lars Eggert die außergewöhnliche Offenheit der Bürger in diesen Dialogrunden. Auch Claus Leggewie vom Kulturwissenschaftlichen Institut Es-sen, der den Dialog begleitet hatte, lobte die Form der Diskussio-nen. Allerdings hätte er sich mehr Politiker – auch überregio-nale – als Teilnehmer gewünscht. Eine Zuhörerin kritisierte, dass nur wenige Bürger gekommen waren. Andere hätten sich ge-wünscht, dass dieser Dialog früher gekommen wäre. Filter-Inge-nieur Bernd Müller verteidigte in einem persönlichen Fazit die Forderung nach einem Filter. Doch die Teilnehmer des Dialogs diskutierten bereits, wie man die neue Erkenntnis, dass der Filter eben doch nicht das Optimum für Gmünd wäre, den Bürgern mit-teilt, die man zuvor um Unterschriften für den Filter gebeten hatte. Wie es weitergeht, legte auch Lars Eggert dar: Voraussicht-lich Ende September 2013 wird ein Abschlussbericht des Gmünder Tunneldialogs vorliegen, der an den Auftraggeber, das Bundesmi-nisterium für Bildung und Forschung, übergeben werden muss. Diese Aufgabe, schlug er vor, könnte eine Gmünder Delegation übernehmen.

© Wolfgang Fischer: Bessere Wege als der Filter zu sauberer Luft. Einhelliges Fazit bei der Abschlusssitzung des Tunneldialogs/Umweltzone ausweiten und »verschärfen«?. Gmünder Tagespost vom 20.07.2012

M 9 Kleingruppenarbeit beim »Filderdialog 21« © dpa, picture alliance

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BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

4. Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit: Zwei Prinzipien im Spannungs feld von Utopie und Wirk-lichkeit am Beispiel Deutschland

OSCAR W. GABRIEL

Ein Ausbau der politischen Beteiligung erscheint derzeit vielen als Königsweg zu einer besseren Demokratie. Eine

breite Bürgerbeteiligung soll dazu dienen, die politische Agenda zu öffnen und zu erweitern, die Inhalte der politischen Entscheidungen an den Präferenzen der Bürger auszurichten, die Distanz zwischen den Regierenden und den Regierten zu verringern, die Transparenz politischer Prozesse zu verbes-sern, die Qualität der politischen Auseinandersetzung zu er-höhen, die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen zu för-dern und die demokratische Kompetenz der Bürger zu stärken (Dahl 1998: 37–41; Parry/Moyser/Day 1993: 6–16). Im Prinzip sind diese Erwartungen normativ gerechtfertigt, denn nur ein Staat, in dem alle Bürger über gleiche Beteiligungsrechte ver-fügen und von ihnen Gebrauch machen, darf das Attribut »de-mokratisch« beanspruchen. In einem politischen System, in dem das Recht, im Namen der politischen Gemeinschaft all-gemein verbindliche Entscheidungen zu treffen und diese durchsetzen, sich aus dem Grundsatz der Volkssouveränität ableitet, bilden Demokratie und Bürgerbeteiligung notwendi-gerweise eine Einheit (Dahl 1971; van Deth 2009: 141; Verba/Schlozman/Brady 1995: 1). Doch im Gegensatz zu dem breiten Konsens über die Zusammengehörigkeit der Prinzipien »Bür-gerbeteiligung« und »Demokratie« sind einzelne Aspekte die-ser Beziehung umstritten. Es existieren unterschiedliche Auf-fassungen darüber, wie viel Beteiligung eine funktionsfähige Demokratie benötigt, in welchen Formen sie sich vollziehen sollte, welchen konkreten Zwecken bürgerschaftliche Beteili-gung dient und welche demokratischen Prinzipien sie fördert, ob sich alle diese Ziele gleichzeitig erreichen lassen und wel-chen von ihnen im Konfliktfall der Vorzug zu geben ist.

Bürgerbeteiligung, Demokratie und Gleichheit: eine problematische Beziehung?

Nicht weniger kompliziert stellt sich die Beziehung zwischen den Prinzipien »Bürgerbeteiligung« und »Demokratie« bei einem Blick auf die Ergebnisse der empirischen Forschung dar. Wie zahl-reiche Studien belegen, beteiligt sich jenseits der Stimmabgabe bei nationalen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen nur eine Minderheit der Bürger aktiv am politischen Leben, und auch die Wahlbeteiligung ist in den letzten Jahrzehnten in fast allen Demo-kratien zurückgegangen (z. B. Norris 2002; Blais 2010). Darüber hinaus nehmen nicht alle Mitglieder der politischen Gemein-schaft ihre Beteiligungsrechte in gleichem Ausmaß wahr (so schon: Nie/Powell/Prewitt 1969; Verba/Nie/Kim 1978; neuestens: Hooghe/Quintelier 2013). Nicht nur die Breite der bürgerschaftli-chen Beteiligung, auch die soziale Zusammensetzung der poli-tisch Aktiven bleibt in den modernen Gesellschaften hinter den demokratischen Idealen zurück. Es gibt sogar Indizien dafür, dass sich diese Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit in den letzten Jahrzehnten nicht verringert hat, sondern gewachsen ist.

Dieser Beitrag untersucht, wie sich die wichtigsten Merkmale der Sozialstruktur auf die politische Aktivität der Bürger auswirken. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die politisch bedeutsams-ten Merkmale der Sozialstruktur, der sozioökonomische Status, das Geschlecht, das Alter und der Migrationshintergrund der Bür-ger. Zunächst gebe ich einen Überblick über das Niveau und die Entwicklung der politischen Beteiligung im Zeitraum 1998 bis 2008 und stelle dann den sozialen Hintergrund der politischen Beteiligung dar. Im Schlussteil erfolgt eine Diskussion der Bedeu-tung der dargestellten Sachverhalte für die Qualität der Demo-kratie in Deutschland.

Bürgerbeteiligung: Struktur und Entwicklung

Als politische Beteiligung bezeichnet man in Anlehnung an Kaase (1997: 167) alle freiwillig ausgeübten Aktivitäten, mittels derer Pri-vatpersonen versuchen, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen oder direkt an diesen mitzuwirken. Seit dem Beginn der Demokratisierung der modernen Staaten hat die politische Beteiligung der Bürger zugenommen und an Vielfalt gewonnen. Zwar ist die Stimmabgabe bei Parlaments- und Präsidentschafts-wahlen noch immer die am weitesten verbreitete Form aktiver politischer Teilnahme, daneben existieren jedoch zahlreiche wei-tere Beteiligungsmöglichkeiten, die sich in ihren strukturellen Eigenschaften und ihren Zielen voneinander unterscheiden und von der Bevölkerung unterschiedlich breit genutzt werden. Hierzu zählen Aktivitäten im Rahmen der Strukturen und Prozesse der repräsentativen Demokratie, wie die Mitarbeit in Parteien oder die Versuche, durch Politiker- oder Verwaltungskontakte politi-schen Einfluss auszuüben. Darüber hinausgehend, greift die Be-völkerung seit der Mitte der 1970er Jahre in allen modernen Gesell schaften zur Durchsetzung ihrer Ziele vermehrt auf Protest-aktionen wie Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, Ver-kehrsblockaden und Produktboykotte zurück. Schließlich wurden

Abb. 1 »Die Zeit ist reif für Volksabstimmungen …« © Heiko Sakurai, 26.6.2012

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in den letzten Jahrzehnten wurden in Deutschland und anderen Demokratien ver-mehrt Möglichkeiten geschaffen, durch Volksbegehren und -entscheide politischen Einfluss auszuüben. Zu guter Letzt nutzt eine wachsende, wenn auch immer noch relativ kleine, Gruppe von Bürgern das Internet als Mittel der politischen Beteiligung (vgl. aus-führlich dazu: Gabriel/Völkl 2005; Gabriel/Völkl 2008; van Deth 2009).Auch wenn die Beteiligung an der Wahl der politischen Führung für die meisten Bürger die wichtigste Form politischer Einfluss-nahme geblieben ist, zeigt die empirische Forschung mit großer Deutlichkeit, dass die vielfältigen Möglichkeiten zum politischen Engagement von einer wachsenden Zahl von Bürgern genutzt werden. Zwar ist die Wahl-beteiligung in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland stärker gesunken als es die Da-ten in Abbildung 2 erkennen lassen, jedoch handelt es sich dabei eher um eine Ausnahme als um die Regel im politischen Engagement: Entweder ist das politische Engagement ge-stiegen – wie im Fall der legalen Protestakti-onen – oder es ist zumindest stabil geblie-ben. Außer der Wahlbeteiligung hat sich in Deutschland keine andere Form der politi-schen Partizipation rückläufig entwickelt. Insgesamt ist somit die Inklusivität des politischen Systems ge-wachsen. Dies bestätigen auch weitere empirische Studien (Hin-weise bei: Gabriel 2011: 24–29).

Welche Gruppen betätigen sich politisch und welche bleiben inaktiv?

Ungeachtet des relativ breiten bürgerschaftlichen Engagements beteiligt sich jeder zweite Deutsche nicht aktiv am gesellschaftli-chen bzw. politischen Leben, jedenfalls soweit das Engagement über die Stimmabgabe bei Wahlen hinausgeht. Solange man nicht die unrealistische Erwartung hegt, dass alle Bürger jeder-zeit ihre Partizipationsrechte wahrnehmen, ist dieser Sachverhalt für sich genommen nicht problematisch. Er kann aber dann zu einer Herausforderung für die Demokratie werden, wenn sich die aktiven und die inaktiven Bevölkerungsgruppen systematisch in ihrer sozialen Herkunft und in ihren politischen Wünschen und Ideen voneinander unterscheiden. Wie die empirische Forschung vielfach belegte, sind ressourcenstarke, sozial gut integrierte Menschen politisch aktiver als Personen, denen diese Merkmale fehlen (Burstein 1972; Marsh/Kaase1979; Nie/Powell/Prewitt 1969; Verba 2003; Verba/Nie/Kim 1978; Verba/Schlozman/Brady 1995). Dies stellt eine Herausforderung an ein demokratisches Regime dar, weil die politisch aktiven Teile der Öffentlichkeit die politi-sche Führung möglicherweise mit Forderungen konfrontieren, die sich von denen der inaktiven Bevölkerung unterscheiden. Un-ter diesen Bedingungen kann die ungleiche Wahrnehmung von Partizipationsrechten in Konflikt mit den Forderungen nach poli-tischer Gleichheit und nach einem gegenüber allen Gruppen ver-antwortlichen Handeln der politischen Führung geraten.Bevor man dieser Frage im Einzelnen nachgeht, ist es sinnvoll, die für das politische Engagement maßgeblichen sozialen Merkmale zu bestimmen, die dazu führen können, dass die politische Füh-rung durch die Beschäftigung mit den von den Aktivisten artiku-lierten Forderungen einseitige oder verzerrte Informationen über die in einer Gesellschaft vorherrschenden Bedürfnisse und Prob-leme erhält.

Sozioökonomischer Status und Partizipation

An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die sozioökonomische Stellung von Individuen zu nennen, die sich aus ihrem Bildungsni-veau, ihrem Einkommen, der Art ihrer Berufstätigkeit und ihrer subjektiven Schichteinstufung ergibt. Die empirische Politikwis-senschaft interessiert sich seit ihren Anfängen für die politische Bedeutung der soziökonomischen Schichtung und konnte zeigen, dass die gesellschaftliche Stellung von Individuen ihr politisches Verhalten und damit das politische Leben in modernen Gesell-schaften in vielfältiger Weise prägt. In der Sozialstruktur ange-legte Interessen und Wertvorstellungen führten in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Bildung politischer Parteien, die sich der Ver-tretung der politischen Interessen bestimmter sozioökonomi-scher Gruppen widmeten und bei diesen bis zum heutigen Tage überdurchschnittlich starke Unterstützung finden (Lipset/Rok-kan 1967; neuere empirische Daten hierzu bei Elff/Roßteutscher 2009). Auch das aktive politische Engagement der Menschen hängt stark von ihrer sozio-ökonomischen Position ab. Wie Schattschneider schon vor einem halben Jahrhundert anmerkte, singt der Chor im Himmel der pluralistischen Demokratien mit einem starken Oberschichtakzent (Schattschneider 1960).Unter den sozioökonomischen Charakteristika wird dem Bil-dungsniveau traditionell eine besonders wichtige Rolle als An-triebskraft politischen Engagements zugeschrieben. Im Laufe ihrer Bildungskarriere erwerben die Menschen diejenigen Wis-sensbestände, Kompetenzen, Wertorientierungen und Einstel-lungen, die sie zu einem sozialen und politischen Engagement befähigen oder motivieren. Zugleich öffnet eine qualifizierte Bil-dung den Zugang zu sozialen Netzwerken, was ebenfalls das poli-tische Engagement erleichtert. Aus diesen Gründen erwies sich das Bildungsniveau in zahlreichen Studien als der wichtigste Be-stimmungsfaktor der politischen Beteiligung. Je höher ihr forma-les Bildungsniveau ist, desto stärker engagieren sich Bürger in der Politik.Diese Annahme bestätigt sich auch für Deutschland. Wie | Abb. 3 | zeigt, steigt die Beteiligung an sämtlichen hier untersuchten po-litischen Aktivitäten mit dem formalen Bildungsabschluss. Aller-dings stellt sich dieser Zusammenhang bei einzelnen Arten der Beteiligung unterschiedlich dar. Am schwächsten beeinflusst das

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Abb. 2 Die Entwicklung ausgewählter Formen politischer Beteiligung in Deutschland, 1988–2008 (Angaben: Prozentanteile). © Oscar W. Gabriel, Quelle: Allbus, eigene Auswertung. 1988 wurden nur in Westdeutschland Daten erhoben, für 1998 und 2008 sind die Daten für Ost- und Westdeutschland entsprechend Bevölkerungsverteilung repräsentativ gewichtet.

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Bildungsniveau die Stimmabgabe bei Wah-len. Die Beteiligung an dieser Aktivität fällt bei Personen ohne abgeschlossene Schulbil-dung mit 67 Prozent wesentlich geringer aus als in den übrigen Bildungsgruppen. Diese unterscheiden sich im Niveau der Wahlbetei-ligung aber kaum voneinander. Selbst Perso-nen mit Hochschulreife beteiligen sich nur geringfügig stärker an Wahlen als die ande-ren Gruppen mit einer abgeschlossenen, aber weniger qualifizierten Schulbildung. In allen diesen Gruppen liegt die berichtete Wahlbeteiligung über 80 Prozent.Einen wesentlich größeren Unterschied macht das Bildungsniveau für die übrigen Ar-ten politischer Beteiligung. In den für reprä-sentative Demokratien typischen Formen engagieren sich nur 13 Prozent der Befragten ohne Schulabschluss, aber fast jeder zweite Bürger mit Hochschulreife (44 %). Noch stär-ker wirkt sich das Bildungsniveau auf die Be-teiligung an Protestaktivitäten aus. Nicht einmal jeder vierte Befragte ohne Schulab-schluss (23 %) nimmt an Protestaktionen teil, dies tun aber fast drei Viertel der Bürger mit Hochschulreife (73 %). Für die meisten Perso-nen mit mittleren oder höheren Bildungsab-schlüssen sind Protestaktivitäten ein typi-sches Mittel zur politischen Einflussnahme. Dagegen setzt nur eine Minderheit der Befragten mit niedrigem Bildungsniveau auf diese Aktionen. Online-Proteste konnten sich in keiner Bildungs-schicht als bedeutsame Beteiligungsform etablieren, aber auch hier gilt: Anders als bei den gut gebildeten gesellschaftlichen Gruppen spielen sie für Personen mit einem niedrigen formalen Bildungsniveau praktisch keine Rolle.Neben dem Bildungsniveau gelten die Merkmale Einkommen, subjektiv wahrgenommene Schichtzugehörigkeit und berufliche Stellung als weitere Indikatoren des sozialen Status von Indivi-duen. Ihre Bedeutung für das politische Engagement wurde in zahlreichen Studien empirisch belegt und zeigt sich auch in unse-ren Daten (Vgl. | Abb. 4 |). Angehörige Akademischer Freier Berufe und Beamte, Personen die sich selbst der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht zurechnen und die Bezieher hoher Einkom-men weisen das höchste Niveau politischer Beteiligung auf, und zwar unabhängig von der gewählten Form des Engagements. Da-gegen sind Personen ohne Beruf, Arbeiter, Unterschichtangehö-rige und die Bezieher kleiner Einkommen am wenigsten aktiv bei der Artikulation und Durchsetzung ihrer politischen Forderun-gen. Um dies an einigen Beispielen zu illustrieren: Während nur knapp 80 Prozent der Arbeiter angaben, sich an Bundestagswah-len zu beteiligen, waren dies bei den Angehörigen der Freien Be-rufe über 95 Prozent. Über Aktivitäten im Rahmen der repräsen-tativ-demokratischen Strukturen berichtete jeder vierte Befragte, der keinem Beruf nachgeht, aber fast zwei von drei Angehörigen der Freien Berufe. Im Vergleich mit Arbeitern haben sich nach ei-genen Angaben doppelt so viele Beamte und Freiberufler an Pro-testaktivitäten beteiligt. Bei den Onlineprotesten beträgt die Relation zwischen der inaktivsten (ohne Beruf) und der aktivsten Gruppe (Freiberufler) sogar eins zu sechs. Ähnliche Strukturen zeigen sich beim Vergleich der Einkommensgruppen und der sub-jektiven Schichtkategorien. Auch wenn alle diese Faktoren eine wichtige Rolle für die Entscheidung von Individuen spielen, poli-tisch aktiv zu werden oder passiv zu bleiben, ist keine dieser Grö-ßen für sich betrachtet für das politische Engagement so bedeut-sam wie der formale Bildungsabschluss. Insofern hat die in Deutschland häufig kritisierte soziale Schieflage im Bildungssys-tem eine unmittelbare Konsequenz für den Zugang bildungsfer-ner Schichten zum politischen System. Angehörige dieser Grup-pen nutzen weniger als andere ihre Chance, sich im politischen

Leben Gehör zu verschaffen. Das Zusammenwirken von Einkom-menssituation, Berufstätigkeit und Bildungsniveau verschärft die ungleiche Wahrnehmung der Beteiligungschancen durch ein-zelne gesellschaftliche Gruppen.

Der Gender-Aspekt

Neben der sozioökonomischen Stellung von Individuen gehört die Geschlechtszugehörigkeit zu den besonders häufig unter-suchten, seit einige Jahren politisch am stärksten diskutierten Bestimmungsfaktoren politischer Beteiligung. Der in den 1960er Jahren in den modernen Gesellschaften einsetzende Wertewan-

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WahlbeteiligungTraditionellProtestOnline

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Bildungsabschluss

Abb. 3 Bildungsabschluss und politische Beteiligung in Deutschland, 2008. © Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008

Abb. 4 Sozioökonomische Merkmale und politische Beteiligung in Deutsch-land, 2008 (Angaben: Prozentanteile).

Wahl-beteili-

gung

Tradi-tionell

Protest Online

Ohne Beruf 83,8 24,9 45,9 5,0

Arbeiter 78,9 27,5 37,5 5,8

Selbständige/Landwirte 85,9 39,0 57,0 7,9

Angestellte 87,9 40,3 66,9 13,1

Beamte 93,6 59,5 81,7 17,6

Akad. Freie Berufe 95,5 62,2 80,0 31,1

Ungleichheit min–max 1,21 2,50 2,18 6,22

Unterschicht 68,4 22,0 41,4 6,8

Arbeiterschicht 80,1 21,5 38,8 5,1

Mittelschicht 87,5 35,5 57,5 9,0

Obere Mittelschicht/OS 90,5 46,5 73,3 15,1

Ungleichheit min–max 1,32 2,16 1,89 2,96

Erstes Einkommensviertel 79,7 22,6 45,6 6,4

Zweites Einkommensviertel 83,7 24,0 49,2 7,5

Drittes Einkommensviertel 88,9 35,8 54,3 8,2

Viertes Einkommensviertel 88,0 49,8 64,9 13,0

Ungleichheit min–max 1,10 2,20 1,42 2,03

Ungleichheit Bildung min–max 1,32 3,42 3,21 13,07

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del stellte die traditionelle Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen in Frage, nach der das öffentliche Engagement als Aufgabe von Männern und die Regelung privater An-gelegenheiten, insbesondere in der Familie und bei der Kindererziehung, als Domäne der Frauen galt. Der verbesserte Zugang von Mädchen zu Einrichtungen der tertiären Bil-dung (Gymnasium und Hochschulen) sowie die zunehmende Integration von Frauen ins Berufsleben verstärkten die mit dem Werte-wandel verbundene Angleichung der Ge-schlechterrollen. Daraus ergibt sich die Er-wartung, dass sich insbesondere junge, gut gebildete und berufstätige Frauen in ihrem politischen Engagement kaum noch von den Männern unterscheiden.Wie | Abb. 5 | zeigt, hängt der Einfluss der Geschlechtszugehörigkeit auf das politische Engagement von der Beteiligungsform ab. Bei bei der Wahlbeteiligung und der Mitwir-kung an Protestaktionen hat sich das politi-sche Verhalten der Frauen dem der Männer angeglichen. Anders verhält es sich bei den traditionellen, repräsentativ-demokratischen Beteiligungsformen und der Teilnahme an Online-Protestaktionen. In diesen beiden Bereichen betätigen sich Männer nach wie vor stärker als Frauen. Dies ist insofern ein interessantes Ergebnis, als sich Muster von Geschlechterungleichheit sowohl bei einer traditionellen als auch bei einer modernen Beteiligungsform erkennen lassen. Moderne Partizipationsformen führen demnach nicht unbedingt zu mehr Gendergleichheit. Allerdings unterliegen die traditionellen, re-präsentativ-demokratischen Aktivitäten wesentlich stärker dem Einfluss von Genderrollen als die Teilnahme an Online Protesten.

Lebensalter

Mit dem demografischen Wandel ist ein Sozialstrukturmerkmal noch stärker als früher in den Fokus der Partizipationsforschung gerückt, nämlich das Lebensalter. Ein Einfluss des Alters auf die politische Beteiligung lässt sich aus zwei theoretischen Perspek-tiven heraus begründen. Nach dem Generationenansatz erhalten Menschen durch die gesellschaftlichen und politischen Rahmen-bedingungen, unter denen sich ihre politi-schen Wertorientierungen und Einstellungen herausbilden, Anreize zur politischen Beteili-gung oder diese wird ihnen erschwert. Dem entsprechend unterstellt der Generationen-ansatz bei den ausschließlich in der Bundes-republik sozialisierten Altersgruppen ein stärkeres politisches Engagement als bei Personen, die ihre politische Sozialisation in den autoritären Regimen der Vorkriegszeit durchliefen. Ostdeutschland nimmt in dieser Hinsicht eine besondere Position ein. Einer-seits herrschten in diesem Teil des Landes bis zum Zusammenbruch des SED-Regimes au-toritäre politische Verhältnisse, auf der ande-ren Seite enthielt das zu DDR-Zeiten propa-gierte Leitbild des sozialistischen Bürgers eine partizipative Komponente. Der zweite zur Interpretation der Bedeutung des Lebensalters für die politische Beteili-gung herangezogene Ansatz, das Lebenszyk-luskonzept, bindet die Beteiligungsanreize an den von den Menschen typischerweise durchlaufenen Lebenszyklus. Demnach sind Menschen in der Mitte ihres Lebens beson-

ders aktiv, weil ihre privaten Lebensumstände dies möglich und erforderlich machen. Sie haben sich in dieser Lebensphase ihre berufliche und familiale Existenz geschaffen, sodass Raum für politisches Engagement bleibt. Auf der anderen Seite sind sie als Arbeitnehmer und Steuerzahler, Eltern von Kindern in der Ausbil-dungsphase und Nutzer der öffentlichen Infrastruktur besonders stark von politischen Entscheidungen betroffen und beziehen von daher überdurchschnittlich starke Partizipationsanreize.Jenseits dieser traditionellen Erklärungsansätze haben altersspe-zifische Muster politischer Beteiligung eine zusätzliche Bedeu-tung durch die Alterung der deutschen Gesellschaft gewonnen. Dieser Prozess löste eine Diskussion über die Generationenge-rechtigkeit und die Anpassung der Infrastruktur an die Bedingun-gen des demographischen Wandels aus. Die sinkenden Gebur-tenraten und die steigende Lebenserwartung bewirken eine Zunahme des Anteils älterer Menschen, die ihre spezifischen For-derungen an die Politik richten und diese durchzusetzen versu-chen. Die bessere gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung führt zudem zu einem längeren Erhalt der Gesundheit, was wiede-rum soziale Integration und politische Aktivität ermöglicht und fördert. Ältere Menschen sind heute wesentlich besser als in frü-

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MannFrau

Wahlbeteiligung Traditionell Protest OnlineAn

teil

Akti

ver

Beteiligungsform und Geschlecht

83,185,9

37,0

25,7

52,4 51,6

10,36,3

Abb. 5 Genderrolle und politische Beteiligung in Deutschland © Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008

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WahlbeteiligungTraditionellProtestOnline

18–29 J. 30–44 J. 45–59 J. 60–74 J. 75 u.ä.

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Abb. 6 Lebensalter und politische Beteiligung in Deutschland, 2008. © Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008

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heren Phasen der gesellschaftlichen Ent-wicklung dazu in der Lage, eine aktive Rolle im gesellschaftlichen und politischen Leben zu spielen. In | Abb. 6 | zeigen sich sowohl generations-spezifische und lebenszyklische Einflüsse auf das politische Engagement der Bundesbür-ger. Anders als früher steigt die Wahlbeteili-gung mit dem Lebensalter. Möglicherweise haben ältere Menschen die Vorstellung, die Stimmabgabe gehöre zu den staatsbürgerli-chen Pflichten, stärker verinnerlicht als jün-gere und neigen deshalb stärker dazu, diese Pflicht zu erfüllen. Auf der anderen Seite ha-ben sich in den letzten Jahrzehnten die Betei-ligungsmöglichkeiten stark ausdiffe renziert. Anders als ältere Menschen, für die aktives politisches Engagement lange Zeit gleichbe-deutend mit der Stimmabgabe bei Wahlen war, verfügen jüngere Personen über Er-fahrungen mit dem breiten Beteiligungsan-gebot moderner Demokratien. Sie kennen es besser als ältere und sind eher dazu bereit und in der Lage, es zu nutzen. Auf Grund der vorhandenen Alternativen büßen Wahlen für jüngere ihre expo-nierte Stellung im Beteiligungssystem ein und werden von jünge-ren weniger genutzt. Das Gegenstück hierzu bildet die Beteili-gung an Onlineprotesten. Diese Verhaltensform ist in der jüngsten Altersgruppe relativ weit verbreitet, tritt bei den 45- bis 59-Jährigen relativ selten auf und kommt bei den über 60-Jähri-gen praktisch nicht mehr vor. Dies reflektiert die unterschiedli-chen Gewohnheiten der verschiedenen Altersgruppen bei der In-formationsbeschaffung und Kommunikation. Je stärker das Internet generell zu diesen Zwecken genutzt wird, desto wahr-scheinlicher ist sein Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele.Einem lebenszyklischen Muster folgt dagegen die Beteiligung an traditionellen, in die Strukturen der repräsentativen Demokratie eingebetteten Aktivitäten. Aus den genannten Gründen sind diese Aktivitäten in den mittleren Altersgruppen besonders weit verbreitet. Im Vergleich damit sind junge Menschen noch nicht so gut in die politische Gemeinschaft integriert und politisch inakti-ver, während die politische Integration und Aktivität bei Men-schen über 75 Jahren nachlässt. Andererseits verdeutlicht das politische Verhalten der zweitältesten Gruppe (60 bis 74 Jahre) den Wandel der Altersrolle in der deutschen Gesellschaft, denn sie weist das gleiche Aktivitätsniveau auf wie Personen in der Alters gruppe von 30 bis 44 Jahren. Dies unterstreicht auch die Be-teiligung an Protestaktivitäten. Sie ist in vier der fünf Alters-gruppen annähernd gleich weit verbreitet. Erst mit dem Erreichen des 75. Lebensjahres geht diese Form des Engagements stark zurück, liegt aber immer noch leicht über dem Niveau der traditi-onellen politischen Aktivitäten. Neben der Genderrolle haben sich auch die mit dem Lebensalter verbun denen politischen R ollen stark verändert. Der Rückgang des politischen Engage-ments scheint sich in die Phase der Hochaltrigkeit verschoben zu haben.

Migration

Neben dem demografischen Wandel hat die internationale Mig-ration die Struktur der deutschen Gesellschaft stark verändert. Mittlerweile weist nahe jeder fünfte Einwohner Deutschlands ei-nen Migrationshintergrund auf. Dies wirft die Frage auf, wie gut diese große Bevölkerungsgruppe ins politische Leben integriert ist. Da insbesondere eingebürgerte Zuwanderer und EU-Auslän-der über die gleichen oder nahezu die gleichen Beteiligungs-rechte verfügen wie deutsche Staatsangehörige sind einem gro-ßen Teil der Zuwanderer die meisten Beteiligungsmöglichkeiten

rechtlich zugänglich. Das bedeutet aber nicht, dass sie von diesen tatsächlich Gebrauch machen.Die rechtliche Gleichstellung der Migranten mit den Deutschen ist für ihr Beteiligungsverhalten weitgehend unerheblich. Bei der Stimmabgabe bei Wahlen, die als einzige Beteiligungsform mit dem Staatsbürgerstatus verknüpft ist, besteht zwischen Migranten und Einheimischen keine größere Lücke als bei ande-ren Beteiligungsformen, die allen Einwohnern offen stehen. Un-abhängig von der Partizipationsform liegt das Niveau der politi-schen Aktivität bei den Migranten um etwa zwanzig Prozentpunkte niedriger als bei den Einheimischen. Ob es sich dabei um ver-fasste oder nicht verfasste, mit dem Staatsbürgerstatus ver-knüpfte oder von ihm unabhängige Beteiligungsformen handelt, spielt keine Rolle. Nur bei den Onlineprotesten unterscheiden sich Einheimische und Migranten weniger voneinander. Dies lässt sich in erster Linie auf die Charakteristika der Onliner zurückfüh-ren. Wenn Personen jung und formal gut gebildet sind, dann nut-zen sie unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit über-durchschnittlich stark das Internet, offenbar auch zu politischen Zwecken. Nach dem Bildungsniveau ist der Migrationshinter-grund der wichtigste Faktor für die Entscheidung darüber, eine aktive politische Rolle zu übernehmen oder passiv zu bleiben.

Zusammenfassung und Folgerungen

Wie in anderen Demokratien beeinflusst die soziale Herkunft in Deutschland die politische Aktivität von Menschen. Nach den Er-gebnissen zahlreicher empirischer Studien beteiligen sich formal gut gebildete, einkommensstarke, in Berufen mit einer selbstbe-stimmten Arbeit tätige Personen sowie im Inland Geborene stär-ker am politischen und gesellschaftlichen Leben als Angehörige der unteren Einkommens- und Bildungsschichten, abhängig Be-schäftigte und Personen mit Migrationshintergrund. Keine große Rolle für die Wahrnehmung von Beteiligungsrechten spielen da-gegen die Geschlechtszugehörigkeit und die damit verbundenen Rollenerwartungen. Die meisten Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft und dem politischen Verhalten sind nicht sehr stark ausgeprägt, gleichwohl sind sie erkennbar und konfrontie-ren die Wissenschaft und die politische Praxis mit der Frage, ob sich die sozialen Charakteristika der Aktiven und der Inaktiven in den öffentlich artikulierten Präferenzen der Bürger und in der Aufnahme der artikulierten Forderungen durch die politischen Entscheidungsträger niederschlagen. Da diese Frage bislang em-pirisch noch nicht hinlänglich breit und detailliert untersucht ist,

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Kein ZuwandererZuwanderer

Wahlbeteiligung Traditionell Protest Online

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rMigrationshintergrund und Beteiligung

87,5

68,5

34,4

16,3

56,6

29,8

8,85,5

Abb. 7 Migrationshintergrund und politische Beteiligung in Deutschland, 2008 © Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008

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sollte man aus den Zusammenhängen zwischen der sozialen Her-kunft von Individuen und ihrer Beteiligung an der Politik keine voreiligen Folgerungen in Bezug auf die Offenheit des politischen Systems für gruppenspezifische Interessen und Wertvorstellun-gen ableiten. Eines der wichtigsten Argumente für repräsentative Demokratien besteht ja gerade darin, dass repräsentative Institu-tionen nicht als Durchlauferhitzer für Gruppeninteressen funktio-nieren, sondern sich um einen fairen Ausgleich zwischen den Inte-ressen verschiedener Gruppen bemühen. Auch wenn dieser nicht immer gelingt, sind die repräsentativen Verfahren auf das Errei-chen dieses Zieles ausgerichtet. Doch unabhängig vom Problem der Interessenberücksichtigung und der politischen Responsivität stellt der Einfluss der gesell-schaftlichen Stellung und Rolle von Individuen eine Herausforde-rung des Ideals politischer Gleichheit dar. Zudem beeinträchtigen diese Strukturen möglicherweise die Repräsentationsleistung politischer Institutionen, um die es am besten bestellt sein dürfte, wenn alle sozialen Gruppen gleichermaßen versuchen, ihren For-derungen Gehör zu verschaffen. Insofern stellt eine Ausweitung der Beteiligungsmöglichkeiten nur eine unbefriedigende Lösung des Problems dar, wenn sie vornehmlich dazu führt, dass die oh-nehin Aktiven zusätzliche Einflussmöglichkeiten erhalten, sich für die Inaktiven aber nichts ändert. Partizipative Reformen müssen der Mobilisierung der politikfernen Gruppen mehr Aufmerksam-keit widmen und diese über niedrigschwellige Beteiligungsange-bote in lebensnahen Bereichen an den politischen Prozess heran-führen. Nur unter dieser Bedingung bedeutet mehr Partizipation mehr Gleichheit.

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BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

5. Die europäische Bürgerinitiative und die Möglichkeiten und Grenzen der Bürgerbeteiligung in der EU

FRANZ THEDIECK

Alle Gewalt geht vom Volke aus.« Das Grundgesetz formuliert in Art. 20

Abs. 2 das Prinzip der Volkssouveränität anschaulich, nämlich wie man Demokratie, das griechische Lehnwort für Volksherr-schaft, begreifen kann. Das Volk ist danach alleiniger Träger der Staatsgewalt, nur das Volk kann legitimerweise Macht auf die Staatsorgane übertragen (BVerfGE 89, 155, 171ff.). Die politische Willensbildung soll sich von unten nach oben vollziehen (Alfred (Alfred KATZ, Staatsrecht, 18. Aufl. Heidelberg 2012, Rdn. KATZ, Staatsrecht, 18. Aufl. Heidelberg 2012, Rdn. 139)139). Manchem Kommentator der Verfas-sung ist dieses Bild zu anschaulich, der da-raus abzuleitende demokratische An-spruch für die Bürger zu weitgehend, sodass er die Formulierung in den Bereich der Fiktion verweist oder doch die Herr-schaft des Volkes als lediglich indirekt oder mittelbar darstellt. Die damit verbundene Verkürzung des Prinzips der Volkssouverä-nität besitzt im Grundgesetztext selbst keine Grundlage, sie wird »aus der Natur der Sache« abgeleitet. Aber das Grundge-setz wiederholt nur die klassische Formulierung aus der fran-zösischen Erklärung der Bürger- und Menschenrechte von 1789, die indes ernsthaft gemeint war: Das Volk sollte anstelle des Königs herrschen. Und diesen Prinzipien weiß sich auch die Europäische Union verpflichtet.

Wer die Frage nach dem Inhalt der Demokratie an einen Mitbür-ger stellt, wird regelmäßig eine Antwort erhalten, die uns fast selbstverständlich vorkommt: Demokratie bedeutet die Abhal-tung von freien Wahlen, so wie es der zweite Satz in Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz auszudrücken scheint: »Sie (die Demokratie) wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Or-gane … ausgeübt«. Der Wortlaut lässt keinen Zweifel daran, dass Instrumente zur Ausübung der Volkssouveränität, Wahlen und Abstimmungen, gleichgewichtig neben einander gestellt sind. Dennoch wird aus dem Gesamtzusammenhang des Grundgeset-zes abgeleitet, dass Abstimmungen nur dann zulässig seien, wenn sie ausdrücklich vom Grundgesetz zugelassen sind (A. KATZ, Staatsrecht, Rdn. 145). Diese Interpretation ist keineswegs zwin-gend, noch viel weniger überzeugt seine Begründung, die schlechten Erfahrungen während der Weimarer Republik hätten den Verfassungsgeber zu einer restriktiven Linie in Bezug auf di-rektdemokratische Elemente veranlasst. Entgegen dieser gebets-mühlenartig wiederholten Behauptung und ohne hier eine pro-funde historische Untersuchung zu versuchen, beruht die nationalsozialistische Machtergreifung weder auf einer Wahlent-scheidung der Bürger, noch auf einer Abstimmung zugunsten der Nazis, sondern auf einer grundlegenden Fehlentscheidung des greisen Reichspräsidenten Hindenburg, der Adolf Hitler mittels seiner nichtdemokratischen Sondervollmacht nach Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung mit der Kanzlerschaft betraut hat. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Weimarer Demokratie durch direktdemokratische Elemente zerstört worden sei, diese

Behauptung fällt in den Bereich der geschichtlichen Legendenbil-dung. Die während der Nazidiktatur mehrfach angewendeten Fälle von Volksbefragungen fanden unter völlig irregulären Be-dingungen statt und können nicht als Gegenargument gegen For-men unmittelbarer Demokratie gelten. Leider leben wir in Deutschland mit diesem Mythos, der zu Unrecht die unmittelbare Demokratie klein macht.

Das Demokratiedefizit der EU

Wenn die regelmäßige Abhaltung von freien Wahlen dem demo-kratischen Anspruch der Bürger genügen würde, wäre an der po-litischen Organisation der Europäischen Union gar nichts auszu-setzen, demokratischer Anspruch und Wirklichkeit würden identisch zusammenfallen. Mit einer solchen Meinung stände man aber allein unter den Fachleuten aus Juristen, Politologen und Europawissenschaftlern und würde nicht ernst genommen. Zu tief hat sich die Diagnose des Demokratiedefizits in der EU in unser Bewusstsein eingeprägt. Das Urteil Gerald HÄFNERs, Abge-ordneter im Europäischen Parlament und »Vater« der EU-Bürger-initiative, wird deshalb allgemein geteilt: »Die Aufgabe, die EU zu einer Union der Bürger zu machen, ist noch unerfüllt. Wir haben bis heute noch keine ausreichenden demokratischen Organe und Verfahren entwickelt.« (In einem Vortrag am 21.04. 2010 im Kehler Fo-rum Zukunftsfragen, bestätigt am 10.01. 2013) Dieses Urteil wird von Martin SCHULZ, dem Präsidenten des EU Parlaments geteilt, der die Machtkonzentration beim Ministerrat und das Fehlen einer parlamentarischen Kontrolle seiner Mitglie-der beklagt (Interview mit Martin SCHULZ, Contre la Dé-Démocratisa-tion de l’UE, in: Paris, Berlin – Magazin für Europa, November 2012, S. 14f.).Die Defizite der Europäischen Demokratie beginnen bereits mit dem geltenden Wahlsystem zum Europäischen Parlament. Jedes

Abb. 1 »Sollten wir vielleicht den da hinten mal befragen? « © Klaus Stuttmann, 26.6.2012

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D&ED i e e u r o p ä i s c h e B ü r g e r i n i t i a t i v e Heft 65 · 2013

Mitgliedsland besitzt sein eigenes Wahlge-setz mit unterschiedlichen Regelungen, wo-durch das Prinzip der Wahlgleichheit verletzt wird. Aber auch das Gewicht einer Stimme, die der EU-Bürger in den einzelnen Mitglieds-ländern bei der Europawahl abgibt, ist höchst ungleichgewichtig. Ursache hierfür ist die zwischen den Mitgliedstaaten vereinbarte Sitzverteilung im Europäischen Parlament. Im Ergebnis wird dadurch in Malta jede ein-zelne Stimme zur Europawahl zwölfmal höher bewertet als es in Deutschland der Fall ist: Der Repräsentant der maltesischen Bürger vertritt 67.000 Europäer, sein deutscher Kol-lege dagegen 854.000 EU-Bürger. (Melanie PIEPENSCHNEIDER: Vertragsgrundlagen und Ent-scheidungsverfahren, in: Informationen zur politi-schen Bildung (Heft 279), bpb, 2005, S. 23.) Be-schönigend spricht man von dem »Prinzip fallender Proportionalität«, in Wahrheit han-delt es sich um eine eklatante Verletzung des Gleichheitsprinzips.Die Tatsache, dass jedem in Deutschland ge-wählten EU-Abgeordneten mehr als 800.000 repräsentierte Bür-ger gegenüber stehen, impliziert die Frage nach seiner Überfor-derung. Zieht man einen Vergleich mit dem Bundestag, dann wird dem Europäischen Abgeordneten bei der Repräsentation des Wahlvolks eine um den Faktor 8-mal so intensive Aufgabe abver-langt. Natürlich verlangt die Arbeitsfähigkeit der Parlamente, dass die Anzahl der Abgeordneten nicht beliebig ausgeweitet werden kann. Würde man denselben Maßstab wie beim Deut-schen Bundestag anlegen, dass ein Abgeordneter also etwa 100.000 Bürger repräsentiert, so müsste das EU-Parlament auf etwa 4.000 Abgeordnete aufgebläht werden, was sicherlich auch keine gute Lösung wäre. Aber die Idee demokratischer Repräsen-tation wird bezüglich der deutschen EU-Abgeordneten ad absur-dum geführt. Weitere demokratiekritische Argumente richten sich gegen die etatistische Konstruktion der Unionsorgane, welche die Macht beim Ministerrat bzw. beim Europäischen Rat und bei der Kom-mission konzentriert. Der Ministerrat besteht aus den Mitglie-dern der jeweiligen nationalen Regierungen, der Europäische Rat aus den Staatschefs der Mitgliedsländer; diese Organe treffen die politischen Entscheidungen, die Kommission bereitet sie vor und bringt die Gesetzesinitiativen ein, wodurch sich die Gewaltenba-lance zur Exekutive verschoben hat. Das EU-Parlament, als einzi-ges Organ durch direkte Wahl legitimiert, besitzt nicht einmal die Kompetenz, Gesetzesinitiativen einzubringen, es ist im Vergleich mit den nationalen Parlamenten schwächer entwickelt. Wenn auch durch den Ausbau des Mitentscheidungsverfahrens und die Einbeziehung des Agrarhaushalts in das parlamentarische Bud-getrecht eine spürbare Verbesserung eingetreten ist, so ist doch mit dem Bundesverfassungsgericht weiterhin von einer unzurei-chenden Repräsentation des Volkswillens auf europäischer Ebene auszugehen.Ein weiterer Kritikpunkt aus unionsfreundlicher Sicht besteht da-rin, dass bis auf Ausnahmen, wie in Irland, sich der Einigungspro-zess als bürokratische Initiative ohne bürgerschaftliche Beglei-tung vollzieht. War es kein Gebot der Volkssouveränität, die Bürger zu beteiligen und ihren Willen zu den grundlegenden Ver-änderungen ihrer politischen Wirklichkeit zu erfragen? Wenn nur das Volk öffentlichen Organen demokratisch legitimierte Macht übertragen kann, wieso wurde es in Deutschland und anderen Mitgliedsländern systematisch davon abgehalten, über die ein-zelnen Etappen der Europäischen Einigung zu entscheiden? Und wenn die verantwortlichen Politiker so handelten, um Schaden von Europa abzuwenden, so macht es das nicht besser: Denn wel-ches Demokratieverständnis spricht aus dieser Haltung, die die »richtige« Politik am Volk vorbei realisieren möchte? Was sind das

für Politiker, die sich nicht einmal zutrauen, die Grundsätze ihrer Politik den Bürgern so verständlich zu erklären, dass diese den Prinzipien zustimmen und die erforderliche Legitimation vermit-teln? Demokraten sind es sicher nicht, eher Vertreter eines elitä-ren Politikverständnisses, welches Mahatma Gandhi treffend als demokratisch unwürdig bewertete: »Was du für mich tust, aber ohne mich, tust du gegen mich!«.

Lösungsvorschläge

Das in den Lissaboner Vertrag aufgenommene Bekenntnis der EU zum Subsidiaritätsprinzip sehen die meisten Kritikern als unzu-reichend an, um die demokratische Ordnung durch größere Bür-gernähe zu stärken. Zwar können Verstöße gegen das Subsidiari-tätsprinzip von den Mitgliedstaaten und deren Parlamenten gerügt werden, entscheidend ist jedoch, welche Institution über die Begründetheit der Rüge entscheidet. Die Forderung nach ei-nem vom EuGH gesonderten Kompetenzgerichtshof fand keinen Eingang in den Lissaboner Vertrag; somit bleibt es bei der Zustän-digkeit des Europäischen Gerichtshofs, dem nach den bisherigen Erfahrungen eine überzeugende Verteidigung der Kompetenzen der EU-Mitgliedstaaten kaum zugetraut wird.Mit der Forderung nach einem klaren Katalog der Gesetzge-bungskompetenzen, der ausreichend Entscheidungsmasse bei den Mitgliedstaaten belässt, haben sich die Kritiker der überbor-denden Europäischen Kompetenzen nur scheinbar durchgesetzt. Zwar sind in den Art. 3 – 6 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, kurz: Lissaboner Vertrag) nunmehr tatsäch-lich die Gesetzgebungskompetenzen der EU geregelt. Jedoch ist der Katalog der gemeinsamen Zuständigkeiten nach Art. 4 AEUV wiederum so weit gefasst, dass zwischen den Zuständigkeiten der EU und denjenigen der Mitgliedstaaten nicht effektiv unterschie-den werden kann. Der Versuch, durch eine Beschneidung der EU-Kompetenzen die Demokratien auf der Ebene der Mitglied-staaten vor Aushöhlung zu schützen, muss als fehlgeschlagen be-trachtet werden.Was zur Lösung des Demokratiedefizits bleibt, wäre der Ausbau des EU-Parlaments zu einem vollwertigen Gesetzgebungsorgan. Die oben dargestellten Verbesserungen ändern aber nichts da-ran, dass das strukturelle Demokratiedefizit insoweit fortbe-steht, als das Parlament nicht die Europäischen Völker insgesamt repräsentiert, sondern immer noch auf die nationalen Teilmen-gen bezogen ist. Der deutsche Bundesfinanzminister Wolfgang SCHÄUBLE fordert seit langem die Direktwahl des Präsidenten des Europäischen Ra-

Abb. 2 »Europa gestalten …« © Thomas Plaßmann, 24.8.2012

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tes durch die Unionsbürger. Dies wäre eine effektive Kompensa-tion des bemängelten Demokratiedefizits, weil dadurch die Bür-ger direkt an der Machtausübung beteiligt würden. Doch bislang ist das nur Zukunftsmusik. Die demokratische Ordnung der EU muss auch weiterhin als de-ren wesentlicher Mangel gelten, sodass vor allem der »Europäi-schen Bürgerinitiative« (EBI) die Funktion zukommt, das Demo-kratiedefizit abzumildern. Könnte der Bürger sich direkt an den politischen Entscheidungen der EU beteiligen, so würde das die demokratischen Mängel der EU-Institutionen kompensieren und das Gefühl des Bürgers mildern, der Europäischen Bürokratie ohnmächtig ausgeliefert zu sein. (Hans H. von ARNIM, Staat ohne Diener, München 1993, S. 336 und Das Europa-Komplott: wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln, München, Wien 2006)

Die EU-Bürgerinitiative

Nach Art. 11 Abs. 4 EUV können 1 Million EU Bürger aus mindes-tens 7 Mitgliedstaaten die Möglichkeiten der Europäischen Bür-gerinitiative (EBI) nutzen, um von der EU Kommission ein neues Gesetz zu verlangen. Im Falle eines Erfolges ist die Kommission gehalten, darauf angemessen zu reagieren. Seitdem die Regelung im April 2011 in Kraft getreten ist, sind 23 EBIs gestartet worden, zu Themen wie Umweltschutz, Gesundheit oder öffentliche Moral (Stand Februar 2013).

a) RechtsgrundlageAuf der Grundlage von Art 11 Abs. 4 EUV hat die EU-Verordnung Nr. 211/2011 vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative den Bürgern die Möglichkeit gegeben, sich direkt mit der Aufforde-rung an die Europäische Kommission zu wenden, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge zu un-terbreiten. Das deutsche Bundesgesetz zur Durchsetzung Euro-päischer Bürgerinitiativen hat Zuständigkeiten und Verfahren festgelegt und ist am 1.4.2012 in Kraft getreten ist.

b) RegelungsinhaltEine Bürgerinitiative ist zu jeder Frage zulässig, in dem die Kom-mission befugt ist, einen Rechtsakt vorzuschlagen, etwa Umwelt, Landwirtschaft, Verkehr oder öffentliche Gesundheit (http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/competences, abgerufen am 10.01.2013).

c) Verfahren(1.) Um eine EBI zu starten, muss ein »Bürgerausschuss« gebildet

werden. Dieser muss aus mindestens sieben EU-Bürgerinnen und -Bürgern bestehen, die in mindestens sieben verschiede-nen Mitgliedstaaten ansässig sind. Die Mitglieder müssen das Wahlrecht zu den Europäischen Parlamentswahlen besitzen. Eine EBI kann nicht von einer Organisation in Gang gesetzt werden, Organisationen dürfen die Initiative jedoch unter-stützen.

(2.) Der Bürgerausschuss muss seine Initiative auf einem von der EU hierfür eingerichteten Internetportal registrieren, bevor er mit der Sammlung von Unterstützungsbekundungen von Bür-gerinnen und Bürgern beginnt. Die Kommission prüft binnen zwei Monaten, ob die Initiative zulässig ist, insbesondere ob sich ein Gesetzesvorschlag innerhalb der Gesetzgebungs-kompetenzen der EU bewegt.

(3.) Will die Initiative auch online Unterschriften sammeln, so be-antragt sie bei der Kommission die dafür bestimmte Open-Source-Software. Dafür ist eine Behörde aus dem Land verant-wortlich, in dem der Server steht. Sie antwortet innerhalb eines Monats.

(4.) Sobald die Registrierung bestätigt wurde, haben die Organi-satoren ein Jahr Zeit für die Sammlung der erforderlichen 1 Million Unterschriften, die aus mindestens 7 Mitgliedstaaten

stammen müssen. Die Sammlung kann schriftlich oder online erfolgen.

(5.) Sind 1 Million Unterschriften gesammelt worden, so legt die Initiative diese der Kommission vor. Nachdem die Unterschriften eingereicht wurden, prüfen die Mitgliedstaaten die Gültigkeit der Unterstützungsbekundun-gen ihrer Staatsbürger, wofür ihnen eine Frist von drei Mona-ten zur Verfügung steht. Je nach Mitgliedstaat gelten dabei andere Anforderungen, welche Informationen für die Gültig-keitsprüfung notwendig sind. So müssen Österreicher zur Un-terzeichnung einer EBI die Nummer ihres Reisepasses oder Personalausweises angeben, während in Deutschland nach anfänglichen Überlegungen darauf verzichtet wurde.

(6.) Binnen drei Monaten entscheidet die Kommission, wie sie mit der erfolgreichen Initiative verfährt.

(Ronald Pabst, Europäische Bürgerinitiative im Praxistest, in: md-maga-zin, Zeitschrift für direkte Demokratie, Heft 2/2012, S. 29ff.)

Konsequenzen einer erfolgreichen EBI

Eine erfolgreiche EBI stellt zunächst lediglich eine Aufforderung an die Kommission dar, einen Rechtsakt zu einem Thema vorzu-schlagen, zu dem es nach Ansicht der Initiatoren einer Regelung bedarf. Die Unionsbürger werden damit in Bezug auf das Auffor-derungsrecht auf dieselbe Stufe gestellt wie das Europäische Par-lament und der Rat der Europäischen Union, die dieses Recht nach Art. 225 bzw. Art. 241 AEUV genießen. Die Kommission prüft die Initiative innerhalb einer Dreimonatsfrist, während derer die Initiatoren von Vertretern der Kommission empfangen werden, um die Initiative zu erläutern. Sie erhalten ferner die Möglichkeit, das Anliegen der Initiative bei einer öffentlichen Anhörung im Eu-ropäischen Parlament vorzustellen. Die Kommission wiederum veröffentlich während dieser Frist eine formelle Antwort, in der sie erläutert, ob und welche Maßnahmen sie als Antwort auf die EBI vorschlägt und ebenso die Gründe für ihre – möglicherweise auch negative – Entscheidung.Die Europäische Kommission behält aber in jedem Fall weiterhin das alleinige Initiativrecht. Selbst wenn eine Bürgerinitiative alle Kriterien erfüllt, ist die Kommission nicht verpflichtet, eine Ge-setzesinitiative auf der Grundlage der EBI vorzuschlagen.

Die EBI in der Praxis

Seit April 2012 wurden 23 Initiativen gestartet. Im Januar 2013 lau-fen 14 Initiativen, 8 Initiativen wurden abgelehnt, eine wurde zu-rück gezogen.Wegen der Anlaufschwierigkeiten bei der praktischen Umsetzeng der EBI, insbesondere weil die von der Kommission zur Verfügung gestellte Software für die Online-Registrierung und -Sammlung nicht termingerecht funktionierte, wurde die Laufzeit der regist-rierten EBIs bis November 2013 verlängert.Die EBI wurde in Deutschland durchweg positiv aufgenommen. »Mehr Demokratie e. V.« begrüßt »das erste transnationale Instru-ment direkter Demokratie«. Die Europa-Union Deutschland be-zeichnet die Europäische Bürgerinitiative als eine große Chance für das europäische Einigungsprojekt und setzt darauf, »dass das gemeinsame grenzüberschreitende Agieren der Bürgerinnen und Bürger längerfristig dazu beitragen wird, die Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit zu befördern«. Abgeordnete aller Fraktionen im Europäischen Parlament begrüßten die Einführung der Bürgerinitiative. Der Thüringische Justizminister Holger Poppenhäger erhofft sich durch die EBI eine höhere Wahlbeteiligung bei den Europawahlen. Mehr direkte Demokratie stärke »auch die Unionsbürgerschaft und damit die Europäische Identität.«

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Bewertung und Schluss

Interviews mit MdEP Häfner (| M 4 |) und mit Tatjana Saranka (| M 2 |) vermitteln eine va-lide Einschätzung der EBI. Die Stärke der EBI liegt zweifelsohne in dem Potential, das sie für die Bildung einer Europäischen Zivilge-sellschaft besitzt, und der Chance, dass sich der EU-Bürger aus seiner Zuschauerrolle lö-sen kann. Es ist andererseits auch richtig, dass die Konsequenzen einer erfolgreichen EBI formal noch deutlich zu gering sind. Das Bild vom »zahnlosen Tiger« scheint zu stim-men.Aber leicht wird es den EU-Institutionen nicht fallen, das Votum von 1 Million Bürgern zu ig-norieren. Das EU-Parlament hört die Vertre-ter der erfolgreichen Initiative an und es liegt in seinem Ermessen und seiner politischen Klugheit, das Anliegen der EBI zu stärken. Auch besitzen die EU-Institutionen ein eige-nes Interesse, die wachsende Europäische Lethargie zu durchbrechen und das bürger-schaftliche Engagement für Europäische Themen zu fördern. Das sieht Elmar BROK, Vorsitzender des Aus-schusses für Auswärtige Angelegenheiten im EU Parlament, ähn-lich: »Gerade in Zeiten der Staatsschuldenkrise, in der die EU – überwiegend negativ – in aller Munde ist, muss dem drohenden Vertrauensverlust der Bürger in die EU entgegengewirkt werden. Dies können wir nur schaffen, indem wir unseren Bürgern mehr Mitspracherecht geben und damit die Demokratie in Europa stär-ken …Die Europäische Bürgerinitiative könnte zu einem echten Bindeglied zwischen den Bürgern und den EU-Institutionen wer-den. Eine Million von 500 Millionen EU-Bürgern zu überzeugen ist eine Herausforderung, aber machbar – entscheidend ist dabei das richtige Projekt.«Die EBI ist damit ein Anfang, der in eine positive Richtung zur Stär-kung der Zivilgesellschaft weist, ein Anfang, der Hoffnung macht.

Literaturhinweise

Arnim, Hans Herbert von (2006): Das Europa-Komplott: Wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln, München, Wien.

Efler, Michael/Häfner, Gerald/Huber, Roman/Vogel, Percy (2009): Europa: Nicht ohne uns! Abwege und Auswege der Demokratie in der Europäischen Union, Hamburg.

Heussner, Herrmann K./Jung,Otmar (2009): Mehr direkte Demokratie wagen – Volksbegehren und Volksentscheid: Geschichte, Praxis, Vorschläge, München.

Hornung, Ulrike (2011): Die Verordnung über die Europäische Bürgerinitia-tive – mit Vollgas und angezogener Handbremse zu mehr Demokratie in Europa?. In: Recht und Politik. Nr. 2, Berliner Wissenschafts-Verlag, 2011, S. 94–102.

Pabst,Roland (2012): Europäische Bürgerinitiative im Praxistest, in: mdma-gazin – Zeitschrift für direkte Demokratie, Heft 2/2012, S. 29ff.

Piepenschneider, Melanie (2005): Vertragsgrundlagen und Entscheidungs-verfahren, in: Informationen zur politischen Bildung (Heft 279), bpb, 2005, S. 23

Schiller, Theo/ Mittendorf, Volker (2002): Direkte Demokratie – Forschung und Perspektiven, Wiesbaden 2002

Veil, Winfried (2007): Volkssouveränität und Völkersouveränität in der EU – Mit direkter Demokratie gegen das Demokratiedefizit? Baden-Baden.

Weidenfeld, Werner: Geistige Ordnung auf der Baustelle Europa, Neue Zürcher Zeitung, 21.2.2013, S. 23

Online-Leitfaden zur Europäischen Bürgerinitiative – Europa: ec.europa.eu/citizens-initiative/files/guide-eci-de.pdf

Abb. 3 »Bloß nicht anrufen!« © Horst Haitzinger, 27.7.2012

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MATERIALIEN

M 1 Das Bundesverfassungsgericht zur Rolle des EU-Parla-ments nach dem Lissabon-Vertrag:

»Gemessen an verfassungsstaatlichen Erfordernissen fehlt es der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lis-sabon an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens. Es fehlt, damit zusammenhängend, zudem an einem System der Herrschafts-organisation, in dem ein europäischer Mehrheitswille die Regie-rungsbildung so trägt, dass er auf freie und gleiche Wahlent-scheidungen zurückreicht und ein echter und für die Bürger transparenter Wettstreit zwischen Regierung und Opposition entstehen kann. Das Europäische Parlament ist auch nach der Neuformulierung in Art. 14 Abs. 2 EUV-Lissabon und entgegen dem Anspruch, den Art. 10 Abs. 1 EUV-Lissabon nach seinem Wortlaut zu erheben scheint, kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes. Dies spiegelt sich darin, dass es als Vertretung der Völker in den jeweils zugewiesenen nationalen Kontingenten von Abgeordneten nicht als Vertretung der Unions-bürger als ununterschiedene Einheit nach dem Prinzip der Wahl-gleichheit angelegt ist.«

BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009, Az: 2 BvE 2/08 u. a., Rn. 284ff.

M 2 Interview mit Tatjana Saranka

Thedieck: Was war Ihre Motivation für die Themenwahl Ihrer Bachelor-arbeit?Saranka: Abgesehen von meinem großen Interesse für europäi-sche Themen fiel meine Wahl auf die Europäische Bürgerinitiative (EBI), da die Diskussion über direktdemokratische Beteiligung der Bürger insbesondere auf europäischer Ebene immer relevan-ter wird. Das ist einerseits den immer lauter werdenden Stimmen über das Demokratiedefizit der EU und – damit zusammenhän-gend – der Abkehr der Bürger von der EU und ihrem mangelnden Vertrauen in die Politik geschuldet. EU Bürger haben das Gefühl, keine Stimme im europäischen Entscheidungsfindungsprozess zu haben und empfinden die Geschehnisse »in Brüssel« als bürger- und realitätsfern. Ein Indiz hierfür sind die sinkende Wahlbeteili-gung bei den EU-Wahlen sowie diverse Eurobarometer-Umfragen. Thedieck: Wo sehen Sie die größte Schwachstelle bei der EBI?Saranka: Eine Schwäche der EBI ist ihre geringe verbindliche Wir-kung bei der EU-Kommission. Eine Initiative, welche alle Voraus-setzungen der Zustimmung bei den Bürgern findet, landet noch lange nicht auf der Agenda der EU-Kommission, auch wenn eine Ablehnung ausführlich begründet werden muss. Das macht die EBI zu einem »zahnlosen Tiger«.Thedieck: Worin besteht ihre Stärke?Saranka: Eine Stärke des Instruments sehe ich in der verhältnis-mäßig liberalen Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen. Die Zustimmenden müssen aus 7 Mitgliedstaaten kommen, in denen sie wiederum eine bestimmte Anzahl an Unterstützern finden müssen. Angesichts des ursprünglichen Vorschlags der Kommis-sion (9 Länder) halte ich die beschlossene Zugangsschranke für einen guten Mittelweg, welcher es den Bürgern einerseits nicht unmöglich macht, die vorgegebene Mindestanzahl an Stimmen zu sammeln und andererseits nicht die Gefahr birgt, die Initiative zu missbrauchen.

Tatjana Saranka schrieb 2011 ihre Bachelorarbeit an der Hochschule Kehl über »Direkte De-mokratie auf Europäischer Ebene« und war dafür mit dem Zukunftspreis der Hochschule ausgezeichnet worden. Frau Saranka arbeitet derzeit im Europäischen Parlament als Assis-tentin des MdEP Elmar Brok. Datum der Befragung: 8. Januar 2013.

M 3 Die Europäische Bürgerinitiative – laufende Initiativen

Bezeichnung verfügbare Sprachen

Registrie-rungsdatum

Frist für die Sammlung von Unter-stützungs-bekundun-gen

Unconditional Basic Income (UBI) – Exploring a pathway towards emanci-patory welfare conditions in the EU

EN* 03/12/2012 03/12/2013

Single Communication Tariff Act

EN* BG CS DA NL ET FI FR DE HU GA IT LV LT PL RO SK SL ES SV MT PT EL

03/12/2012 03/12/2013

Kündigung Personenfrei-zügigkeit Schweiz

DE* 19/11/2012 19/11/2013

30 km/h – macht die Stra-ßen lebenswert!

EN* DE ES FI FR IT NL SV SL PL EL CS HU

13/11/2012 13/11/2013

European Initiative for Media Pluralism

EN* FR IT RO NL HU ES

05/10/2012 01/11/2013 **

Stoppen wir den Ökozid in Europa: Eine Bürgerinitia-tive, um der Erde Rechte zu verleihen

EN* NL DE ET

01/10/2012 01/11/2013 **

Central public online coll-ection platform for the European Citizen Initiative

EN* 16/07/2012 01/11/2013 **

Aussetzung des Energie- und Klimapakets der EU

EN* CS PL HU IT DE DA LV BG ES FI FR LT NL PT SK SL RO

08/08/2012 01/11/2013 **

Pour une gestion respon-sable des déchets, contre les incinérateurs

FR* 16/07/2012 01/11/2013 **

Qualitativ hochwertige europäische Schulbildung für alle

EN* FR IT PL ES DE HU GA EL ET SV RO LT PT NL BG DA MT FI LV CS SK

16/07/2012 01/11/2013 **

Stop Vivisection EN* IT FR DE ES NL DA ET FI GA SK SL SV BG RO EL

22/06/2012 01/11/2013 **

Let me vote FR* EN NL DE ES IT LV LT SV EL PT

11/05/2012 01/11/2013 **

EINER VON UNS IT* EN FR DE ES RO PT LT HU SL PL EL DA LV SK FI SV ET NL

11/05/2012 01/11/2013 **

Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht! Wasser ist ein öffentliches Gut und keine Handelsware!

EN* NL FR DE ES IT SV RO CS BG DA EL ET FI GA HU LT LV MT PL PT SK SL

10/05/2012 01/11/2013 **

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Bezeichnung verfügbare Sprachen

Registrie-rungsdatum

Frist für die Sammlung von Unter-stützungs-bekundun-gen

Fraternité 2020 – Mobili-tät. Fortschritt. Europa.

EN* FR DE CS IT BG DA ES LT HU NL PL PT RO SK SL FI SV MT EL GA ET LV

09/05/2012 01/11/2013 **

*Bei der Registrierung verwendete Sprache **Aufgrund von Problemen während der Anlaufphase der Bürgerinitiative wurde eine neue Frist festgesetzt.

Weitere Informationen und weiterführende Links zu den EBI unter:http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/initiatives/ongoing?lg=de

M 4 EU-Kommission: Abgelehnte Registrierungsanträge

Nur die geplanten Initiativen, die den in Artikel 4 Absatz 2 der Ver-ordnung über die Bürgerinitiative festgelegten Bedingungen ent-sprechen, werden registriert und mithin auf diesem Internetpor-tal veröffentlicht. Hier (Link vgl unten) finden Sie den Text der geplanten Initiativen, die diese Bedingungen nicht erfüllen, und die abschlägigen Bescheide der Kommission an die betreffenden Bürgerausschüsse.Die Kommission begründet in ihrer Antwort, warum die Registrie-rung aufgrund der in dieser Verordnung festgelegten Bedingun-gen abgelehnt wurde, und weist die Organisatoren auf die ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe hin.– Unconditional Basic Income – ONE MILLION SIGNATURES FOR

“A EUROPE OF SOLIDARITY” – Création d›une Banque publique

européenne axée sur le dévelop-pement social, écologique et soli-daire

– Abolición en Europa de la tauro-maquia y la utilización de toros en fiestas de crueldad y tortura por diversión.

– Fortalecimiento de la participa-ción ciudadana en la toma de de-cisiones sobre la soberanía colec-tiva

– Recommend singing the Euro-pean Anthem in Esperanto

– My voice against nuclear power

© Europäische Kommission: http://ec.europa.eu/ci-tizens-initiative/public/initiatives/non-registered (Stand: 18.1.2013)

M 5 Interview mit Gerald Häfner, MdEP

Thedieck: Inwieweit erweitert nach Ih-rer Auffassung die EU-Bürgerinitiative den Spielraum demokratischer Willensbil-dung?Häfner: Mit der Europäischen Bür-gerinitiative (EBI) können die Bürge-rinnen und Bürger Europas Themen auf die europäische Tagesordnung setzen und damit selbst aus eigener

Initiative Beiträge zur politischen Entwicklung leisten. Die EBI för-dert das Entstehen einer europäischen Zivilgesellschaft und einer öffentlichen Debatte über EU-Themen, weil die Bürgerinnen und Bürger Europas ihre Anliegen benennen und sich für ihr Zustande-kommen miteinander vernetzen. So kommen sie miteinander und mit den Institutionen ins Gespräch. Letztendlich führt die EBI auch dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger der EU über ihren nationalen Tellerrand gucken, aktiv werden und voneinander ler-nen. Thedieck: Was sollte an der gegenwärtigen Regelung unbedingt verän-dert werden?Häfner: Die Europäische Bürgerinitiative ist das erste existie-rende transnationale Instrument direkter Demokratie in der Pra-xis. Damit ist die EBI bereits ein Erfolg. Jedoch muss die EBI drin-gend verbessert werden. Sie ist noch zu bürokratisch ausgestaltet und hinsichtlich der möglichen Themen sowie ihrer voraussehba-ren Wirkung zu begrenzt. Die Tatsache, dass es allein im Ermes-sen der Europäischen Kommission liegt, ob sie einen Vorschlag für eine Gesetzesinitiative annimmt, schränkt die Wirkung dieses Instruments erheblich ein. Dass eine Million Bürgerinnen und Bürger aus sieben verschiedenen EU-Ländern den Vorschlag un-terschreiben müssen, ist eine sehr hohe Hürde. Wer sie überwun-den hat, sollte damit mehr bewirken können als nur eine völlig unverbindliche Anhörung. Wir müssen die EBI bürger- und praxis-freundlicher machen. Dabei setze ich auf die Lobbyarbeit von »Democracy International« und »Mehr Demokratie«, die die EBI maßgeblich mit ins Leben gerufen haben.

Gerald HÄFNER war Vorsitzenden des Vereins »Mehr Demokratie« und den Gründungsvor-sitzenden von »Democracy International«. Gerald Häfner engagiert sich seit über 20 Jahren für den Ausbau der direkten Demokratie. Er wurde dreimal in den Deutschen Bundestag gewählt und ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments, wo er die Initiative für die EBI lanciert hat. Datum der Befragung: 10. Januar 2013.

M 6 Website der europäischen Bürgerinitiative »30 km/h – macht die Straßen lebenswert!«, Stand 29.1.2013 © http://de.30kmh.eu

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M 7 EU-Pläne zur Wasserversorgung: Sturm im Wasserglas oder Privatisierungswelle?

In Deutschland wird derzeit kontrovers darüber diskutiert, ob EU-Pläne dazu führen, dass Kommunen die Versorgung ihrer Bürger mit Trinkwasser an private Unternehmen abgeben müssen und somit die Kontrolle über Preis und Qualität verlieren. Stimmt nicht, beharrt der zuständige EU-Kommissar Michel Barnier. Doch Kritiker halten dem entgegen, die Details der Brüsseler Pläne könnten sehr wohl dazu führen, dass die Wasserversorgung in bestimmten Fällen öffentlich ausgeschrieben werden muss.Auslöser der Debatte ist das Vorhaben von Binnenmarktkommis-sar Barnier, in der gesamten EU einheitliche Regeln zur Vergabe von Konzessionen für Dienstleistungen wie die Wasserversor-gung zu schaffen. Ziel sind der Kommission zufolge Wettbewerb und Chancengleichheit zwischen Unternehmen, aber in Zeiten leerer öffentlicher Kassen auch eine bessere Kontrolle über die Verwendung von Steuergeldern, »die in einer beunruhigenden Reihe von Fällen ohne Transparenz oder Rechenschaftspflicht ausgegeben werden«, wodurch sich »die Risiken der Günstlings-wirtschaft, des Betrugs und sogar der Korruption erhöhen«.Inzwischen ist das EU-Gesetzgebungsverfahren der vor mehr als einem Jahr vorgestellten Pläne auf der Zielgeraden – und Barnier schlägt immer heftigerer Widerstand aus Deutschland entgegen. Der Vizechef der Unionsbundestagsfraktion, Johannes Singham-mer, warnt davor, dass durch die neue EU-Regelung die Kommu-nen nicht mehr frei entscheiden könnten, wie sie die öffentliche Wasserversorgung organisieren und letzten Endes die Qualität leide: »Es besteht zu Recht die Befürchtung, dass nach einer Pri-vatisierung nur noch die Erzielung von möglichst hohen Renditen im Vordergrund steht.«Die EU-Kommission weist Vorwürfe eines Zwangs zur Privatisie-rung der Trinkwasserversorgung entschieden zurück und spricht von »einer bewussten Fehlinterpretation« des Vorschlags. (…) Die Kritiker der Pläne sehen darin aber aufgrund von Sonderregeln nur die halbe Wahrheit. Denn etwa bei großen Stadtwerken, die zum Beispiel auch Strom und Gas anbieten und weniger als 80 Prozent ihres Geschäfts vor Ort machen, müsste nach einer im Jahr 2020 endenden Übergangsfrist die Vergabe von Dienstleis-tungen ausgeschrieben werden. Zwar könnten sich städtische Unternehmen um den Auftrag bemühen, »bewerben können sich allerdings auch große, europa- und weltweit tätige private Kon-zerne mit all ihren Möglichkeiten «, gibt der EU-Abgeordnete Tho-mas Händel von der Linken zu Bedenken. Städtetagspräsident Christian Ude mahnt, dass es für eine qualitativ hochwertige Wasserversorgung »riesige Investitionen« brauche, die »ein auf kurzfristigen Gewinn orientiertes Privatunternehmen keines-wegs« schätze. Barnier wolle tief in die kommunalen Strukturen einer »sehr gut organisierten und funktionierenden Wasserwirt-schaft« eingreifen, warnt der Hauptgeschäftsführer des Verban-des kommunaler Unternehmen, Hans-Joachim Reck. »Die Bun-desregierung muss jetzt die kommunale Wasserwirtschaft in den weiteren Beratungen der Richtlinie schützen, ansonsten kommt sie unter die Räder der Gleichmacher aus Brüssel.«Auch wenn Barnier sein Vorhaben durchbringt, dürfte die mögli-che Privatisierung von Trinkwasser weiter Thema bleiben. Auf der Internetseite »www.right2water.eu« werden Unterschriften für ein EU-Volksbegehren gesammelt mit dem Ziel: »Die Versorgung mit Trinkwasser und die Bewirtschaftung der Wasserressourcen darf nicht den Binnenmarktregeln unterworfen werden.« Finden sich bis September eine Million Unterzeichner, können sie die EU-Kommission auffordern, sich mit dem Thema zu befassen – mehr als 600.000 Unterstützer gibt es bereits.

© Jan Dörner, afp, Sturm im Wasserglas oder Privatisierungswelle?, Handelsblatt vom 26.1.2013. Anmerkung: Ende Februar 2013 zog EU-Kommissar Barnier große Teile der bisher geplanten EU-Wasser-Richtlinie zurück.

M 9 Teresa Fries (jetzt.de – Das Jugendmagazin der Süd-deutschen Zeitung): »Privates Wasser«

Brüssel will die Wasserversorgung künftig ausschreiben lassen. Seit Tagen werden wir deshalb auf Facebook mit Wasser-Videos und Einladungen zu einer Bürgerinitiative gegen die Privatisie-rung bombardiert. Wir haben die Debatte in sechs Antworten zu-sammengefasst. Wasser in privater Hand? Das lässt einen schon misstrauisch werden. Denn was die private Hand hält, kann sie auch nach ihrer privaten Laune verschenken oder eben teuer ver-kaufen. Wasser braucht jeder, doch was, wenn man es sich nicht mehr leisten kann? Es geht definitiv um ein wichtiges Thema, doch keiner versteht so genau, was da in der EU gerade passiert: Die EU-Kommission hat einen Vorschlag zur Änderung der Richtli-nien zur Vergabe der Dienstleistungskonzessionen unter ande-rem für den Bereich der Trinkwasserversorgung gemacht. Der Binnenmarktausschuss hat diesem zugestimmt. Demnach wird er dem Parlament vorgelegt, das im April (2013) endgültig darüber entscheidet. Doch was heißt das denn nun bitteschön? »jetzt.de« hat mit ver.di-Mitarbeiter Mathias Ladstätter, dem deutschen Vertreter der Europäischen Bürgerinitiative »right2water«, ge-sprochen und beantwortet die wichtigsten Fragen zum Thema Wasserprivatisierung.1. Was würde eine Privatisierung der Wasserversorgung be-deuten?In Deutschland sind Städte und Kommunen für die Wasserversor-gung und Abwasserentsorgung zuständig. Die Wasserversorgung liegt deshalb zum größten Teil in öffentlicher Hand. Privatisie-rung würde bedeuten, dass Wasserbetriebe von privaten Unter-nehmen übernommen werden würden. Bürger müssten dann diese für die Wasserversorgung bezahlen. Für Mathias Ladstätter ist die Gefahr ganz offensichtlich: Die Kommunen und Städte be-stimmen den Preis nach dem Kostendeckungsprinzip. Sie verlan-gen nur so wiel, wie sie brauchen, um Qualität und Versorgung auch zukünftig sicher zu stellen. Anders ist das bei privaten Un-ternehmen, deren Zweck es ist, Gewinn zu erwirtschaften.2. Worum genau geht es bei dem Vorschlag der EU Kommis-sion?Die Möglichkeit der Privatisierung beziehungsweise der Teilpriva-tisierung besteht bereits – auch in Deutschland. »Zwischen fünf und zehn Prozent der Wasserver- und Abwasserentsorgung sind bei uns privat«, erklärt Mathias Ladstätter. Im Vergleich zu ande-ren Ländern sei das allerdings sehr wenig. Auch gebe es Stadt-werke mit privaten Teilhabern. Solange deren Anteil unter 49 Pro-zent liegt, handele es sich immer noch um öffentlich-rechtliche Institutionen. Es sei also möglich, dass Stadtwerke neben Wasser auch zum Beispiel Strom anbieten und über die Grenzen des Ver-sorgungsgebiets verkaufen würden. Damit wären sie zumindest in diesem Bereich auch gewinnorientierte Unternehmen.

M 8 »Der Kommerz im Wasserwerk …« © Luis Murschetz, 2013

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Mathias Ladstätter erklärt das Prinzip fol-gendermaßen: Die Städte und Gemeinden können mit solchen Stadtwerken Verträge abschließen. Sie vergeben sogenannte Dienstleistungskonzessionen. Damit über-tragen sie ihre kommunale Aufgabe der Was-serversorgung ganz oder nur teilweise zum Beispiel an ein Stadtwerk. Diese Konzessio-nen sind an Bedingungen geknüpft. So kann die Stadt noch immer bestimmen, wie viel die Wasserversorgung den Bürger kosten darf, welche Qualitätsstandards eingehalten wer-den, wie viel die Mitarbeiter des Stadtwerks verdienen, welche Nachhaltigkeitsmaßnah-men getroffen werden müssen und so weiter. Im Moment können Städte und Kommunen entscheiden, an wen sie die Konzessionen vergeben. Ist ein Vertrag ausgelaufen, kön-nen sie ihn entweder verlängern, anderweitig vergeben oder kommunalisieren die Wasser-versorgung wieder. Die EU-Kommission will die Richtlinien zur Vergabe dieser Dienstleis-tungskonzessionen ändern. Sie will, dass nicht mehr die Kommunen selbst einfach entscheiden können, sondern dass alle Kon-zessionen EU-weit für private Unternehmer ausgeschrieben werden. Das beste Angebot gewinnt. Das hätte zur Folge: Es könnte nicht mehr nur teilweise privatisiert werden und die Vergabe der Konzessionen wären nicht mehr an besondere Bedingungen – was Preis oder Qualität betrifft – geknüpft.3. Wie rechtfertigt die Kommission das?Laut einem Artikel in »Der Standard« weist der EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, Michel Barnier, die Kritik zurück. Es gehe nur um eine transparente Vergabe der Konzessio-nen. Er spricht von einer »bewussten Fehlinterpretation« durch Privatisierungsgegner. Der Richtlinienvorschlag enthalte keine Verpflichtung zur Vergabe der Leistungen am Markt. Was bedeu-ten würde, eine Privatisierung sei nach wie vor freiwillig. Mathias Ladstätter nennt die Rechtfertigung des Kommissars »eine fal-sche Beruhigungspille. Natürlich könnten die Kommunen sich auch innerhalb der EU-Ausschreibung bewerben, aber gegen die großen internationalen Konzerne könnten sie nicht ankommen.Denen stünde dann nichts mehr im Weg.«4. Was würde sich durch die neue Richtlinie für uns ändern?Für uns Verbraucher würde das bedeuten, dass immer mehr Be-triebe der Wasserver- und Abwasserentsorgung in privaten Besitz übergehen würden. Damit wären die Preise nicht mehr gesichert und wir müssten mit Erhöhungen rechnen. Zudem könnte die Wasserqualität abnehmen, da die privaten Unternehmer nicht mehr allen heutigen Standards entsprechen müssten. Auch dazu, mit dem Wasser nachhaltig zu wirtschaften, wären die Unterneh-mer nicht verpflichtet. Ein Youtube-Video, in dem Nestle Kon-zernchef Peter Brabeck-Letmathe seine Ansichten über die Trink-wasserversorgung darlegt, lässt nichts Gutes ahnen: Wasser als öffentliches Recht wäre die eine Extremlösung, die andere – für die er sich natürlich ausspricht – wäre, dass Wasser einen Wert bekommt. Für den Teil der Bevölkerung, der dadurch keinen Zu-gang mehr zu Wasser hätte, für den gäbe es ja spezifische Mög-lichkeiten.5. In der Diskussion hört man immer wieder, dass der Zugang zu Wasser ein Menschenrecht sein soll. Da wir für das Wasser zahlen, ist das doch im Moment auch nicht der Fall?»Wir zahlen nicht für das Wasser, sondern nur für die Bereitstel-lung «, erklärt Mathias Ladstätter. Damit sind zum Beispiel Pum-

pen, Rohre, Qualitätstests und Mitarbeiter gemeint. Das Wasser an sich zahlen wir nicht. Das sei Allgemeingut. Doch mit den Pri-vatisierungsvorhaben ginge das Menschenrecht auf Wasser noch viel weniger einher. Die UNO deklarierte 2012 zwar den Zugang zu Wasser als Menschenrecht, doch eine solche Deklaration hat keine rechtlichen Folgen. Die Europäische Bürgerinitiative »right-2water« fordert schon lange ein entsprechendes Gesetz der EU-Kommission, allerdings ohne Erfolg. Gäbe es ein Gesetz, das das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung ge-währleisten würde, hätte die Privatisierung weit weniger Chan-cen.6. Was kann eine Bürgerinitiative ausrichten?Die Europäische Bürgerinitiative »right2water« wird hauptsäch-lich von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes organisiert. Alle Bürgerinnen und Bürger, die in einem der 27 EU-Mitglied-staaten aktives Wahlrecht haben, können die Initiative mit ihrer Unterschrift unterstützen. Kommen eine Million Unterschriften aus mindestens sieben Staaten zusammen, muss das Parlament sich mit den Vertretern auseinandersetzen und das Anliegen poli-tisch behandeln. Im Klartext heißt das: Das Parlament muss zwar darüber reden und die Bürgerstimmen zur Kenntnis nehmen, ihr Vorhaben zur Privatisierung können sie trotzdem umsetzen. »Selbst wenn das Parlament dem Vorschlag zustimmt, werden wir die Bürgerinitiative weiterführen«, sagt Mathias Ladstätter. Er und seine Mitstreiter würden dann dafür kämpfen, dass die Richt-linien überdacht und geändert werden. »Es wäre in diesem Fall noch wichtiger als zuvor.«

© Teresa Fries, Privates Wasser, 24.1.2013, http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/ anzeigen/564942/Privates-Wasser

M 10 Website der europäischen Bürgerinitiative »www.right2water.eu/de«, Stand 29.1.2013

D i e e u r o p ä i s c h e B ü r g e r i n i t i a t i v e

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BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

6. Mehr Demokratie? Zivilgesellschaft-liche Bewegungen in Deutschland und Europa von 1945–1990

ANDREAS GRIESSINGER

Bürgerbeteiligung und Bürgerprotest – ein Thema, das kaum aktueller sein könnte. Wer auf die vergangenen

Jahre zurückblickt, dem fallen spontan vielfältige Bilder von Menschen ein, die ihren Anspruch auf mehr politische Selbst-bestimmung auf Straßen und Plätzen mutig und kompro-misslos eingeklagt haben. Erst in jüngster Zeit zeigte der »arabische Frühling« die unbändige Kraft empörter Bürger-bewegungen gegenüber hochgerüsteten autoritären Regi-men wie beispielsweise dem Gaddafis in Libyen. Aber nicht nur Diktaturen erfuhren den Zorn ihrer Bürger, die globale Finanz krise generierte Bürgerproteste auch in den demo-kratischen Staaten Nordamerikas und Westeuropas: Die »Occupy«-Bewegung trug den Ruf nach demokratischer Kon-trolle der Börsen und Finanzmärkte sowie nach mehr Bürger-beteiligung bei den finanzpolitischen Entscheidungen der Re-gierungen direkt vor unsere Haustür. Sie steht damit in der Tradition der global agierenden Bürgerproteste von NGOs wie »Amnesty International«, »Greenpeace«, »Attac« oder »Trans-parency International«. Auch im deutschen Südwesten haben »Wutbürger« im Zusammenhang mit »Stuttgart 21« ihre Kritik an bürgerfernen verkehrspolitischen Planungs- und Entschei-dungsprozessen lautstark artikuliert, genauso wie regionale Initiativen wenig später gegen den umstrittenen Fluglärm-Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und der Schweiz sowie gegen Pläne der Landesregierung zur Einrichtung eines »Nationalparks Nordschwarzwald« protestiert haben. Und schließlich war die Unzufriedenheit überwiegend junger Wäh-lerinnen und Wähler mit unzureichenden Mitbestimmungs-möglichkeiten in den etablierten demokratischen Parteien eine Ursache für das Entstehen der »Piraten«-Partei und ihrer Forderung nach internetgestützter Direktbeteiligung an par-teiinternen Meinungsbildungsprozessen, z. B. über elektroni-sche »liquid feedback«-Methoden. »Liquid democracy« wurde zum provokanten Schlagwort der neuen Partei, die z. B. über ständige Mitgliederversammlungen unmittelbare Betei li-gungs formen – ohne den Umweg über Delegierten-Partei-tage – zu garantieren verspricht.

All das sind spektakuläre Formen zivilgesellschaftlichen Engage-ments, die von den Medien gern aufgegriffen und in der politi-schen Öffentlichkeit breit diskutiert werden. Seit vielen Jahren gibt es aber auch »stillere« Formen von Bürgerbeteiligung, die Teil der politisch-administrativen Normalität geworden sind: El-tern engagieren sich in Schulkonferenzen, die mit erweiterten Kompetenzen ausgestattet werden, Anwohner beteiligen sich an der Stadtentwicklungsplanung, insgesamt gilt: Bürgerinnen und Bürger engagieren sich aktiv und selbstbewusst bei der Gestal-tung ihres unmittelbaren Lebensumfeldes in der Nachbarschaft, dem Stadtviertel, der Kommune oder dem Landkreis. Sie nutzen Angebote der deliberativen Bürgerbeteiligung, die sich mittler-weile stark ausgeweitet haben: Bürgerkonferenzen, Zukunfts-werkstätten, Szenario-Workshops usw. In diesem Zusammen-hang hat sich im Verlauf der vergangenen 10 Jahre die Anzahl der Bürgerentscheide auf der Ebene der kommunalen Gebietskör-perschaften verdreifacht. Weder Gemeinderäte noch Stadtver-waltungen können sich diesen Ansprüchen ihrer Bürger mehr ent-ziehen, im Gegenteil: Sie haben die vielfältigen Vorteile einer

kontinuierlichen Kooperation mit der interessierten Öffentlich-keit mittlerweile erkannt und in ihre Entscheidungsabläufe integ-riert.

Die historischen Wurzeln des Anspruchs auf Bürgerbeteiligung

Das Thema »Bürgerbeteiligung und Bürgerprotest« hat aber kei-neswegs nur tagesaktuelle Aspekte, von denen einige kurz skiz-ziert wurden. Wichtiger ist im Folgenden seine historische Tiefen-dimension, liegen die Wurzeln des Anspruchs auf politische Teilhabe doch in der europäischen Geschichte selbst. Mit grund-sätzlich neuem Anspruch – deshalb sprach der Althistoriker Chris-tian Meier mit Recht von einem »Neubeginn der Weltgeschichte« – wurde Bürgerpartizipation erstmals im Modell der attischen Demokratie praktiziert und in ein Verfahren überführt, das Politik als die »Kunst, Entscheidungen durch öffentliche Diskussion her-beizuführen« (Moses Finley) verstand, und zwar vor allem über die direkte Beteiligung der Bürger in der Institution der Volksver-sammlung. Aber auch im europäischen Mittelalter galt Herrschaft nur dann als legitim, wenn sie auf dem Konsens mit den zur poli-tischen Teilhabe berechtigten Untertanen beruhte. So erkämpfte sich das mittelalterliche Stadtbürgertum von den vormaligen adli gen oder geistlichen Stadtherren Formen politischer Selbst-verwaltung und Bürgerfreiheit, die es sich durch verbriefte Privi-legien garantieren ließ. »Stadtluft macht frei« stammt als Schlag-wort zwar aus dem 19. Jahrhundert, trifft aber den Kern des städtischen Selbstbestimmungsanspruchs. Auch auf dem Land entstand im Spätmittelalter ein selbstbewusster partizipativer »Kommunalismus« (Peter Blickle), der immerhin der bäuerlichen Oberschicht gemeindliche Autonomie und Selbstbestimmung ge-genüber grundherrlicher und obrigkeitlicher Bevormundung ga-rantierte. Dieser bildete die Basis nicht nur für den Widerstand

Abb. 1. Die Pnyx in Athen war seit den Reformen des Kleisthenes der Tagungs-ort, wo bis 330 v. Chr. die Volksversammlungen der Athener abgehalten wurde. Im Vordergrund die Rednertribühne, die Bema, im Hintergrund die Akropolis. © John Hios,picture-alliance, akg

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der Schweizer Eidgenossen seit 1291 gegen die habsburgischen Territorialisierungsabsichten, sondern auch für die kollektive Wi-derständigkeit des »gemeinen Mannes« im Bauernkrieg 1525. Die Wirkmächtigkeit solch kollektiver Beteiligungstraditionen in Eu-ropa zeigt sich übrigens in dem nur auf den ersten Blick parado-xen Sachverhalt, dass später selbst absolutistische und totalitäre Regimes ständische bzw. parlamentarische Mitbestimmungsgre-mien bezeichnenderweise auch dann nicht abgeschafft haben, wenn sie sie faktisch bereits entmachtet hatten. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die langen Traditionen direkter politischer Teilhaberechte in der Geschichte Europas nachzuzeichnen – gleichwohl sollten sie nicht in Vergessenheit geraten, weil diese phasenweise auch immer wieder verschütte-ten Traditionslinien eine normative Wirkung entfaltet haben, die bis in die Gegenwart reicht. Europa war und ist ein Raum zwar stets umkämpfter, aber gerade in diesen Kämpfen sich unauf-haltsam entfaltender Partizipationsformen. Sie mündeten im späten 18. Jahrhundert ins Programm einer »bürgerlichen Gesell-schaft«: In ihrem Zentrum stand »das Ziel einer modernen, säku-larisierten Gesellschaft freier, mündiger Bürger (citoyens), die ihre Verhältnisse friedlich, vernünftig und selbstständig regelten, ohne allzu viel soziale Ungleichheit, ohne obrigkeitsstaatliche Gängelung, individuell und gemeinsam zugleich.« (Jürgen Kocka, vgl. | M 1 |). Dieser epochal neue Lebensentwurf artikulierte sich in den Revolutionen von 1776 in Amerika, 1789 in Frankreich und 1848 in Deutschland und Europa. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich aus dem sozial begrenzten Programm der »bürgerlichen Ge-sellschaft« das universale Konzept einer »Zivilgesellschaft« bzw. »civil society«, die sich insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Nordamerika und Europa, schließlich zusehends auch global entfaltete. Diese zivilgesellschaftliche Ausweitungs-bewegung soll im Folgenden für die Zeit zwischen 1945 und 1990 nachgezeichnet werden.

Bürgerbeteiligung und Bürgerprotest seit 1945

Beginnen wir mit einem Tatbestand, der auf den ersten Blick viel-leicht überraschend erscheinen mag: Der »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) der Jahre 1933–45 und der 1947 einsetzende »Kalte Krieg« etablierten mit der pluralistisch-repräsentativen Demo-kratie im Westen und der »Volksdemokratie« im Osten zwei ein-ander diametral entgegengesetzte Demokratiemodelle, die di-rekte Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger gleichermaßen bewusst einhegten und in ihrer Entfaltung begrenzten, wenn auch aus gänzlich unterschiedlichen Begründungszusammen-hängen heraus. Waren die Beweggründe im Westen einerseits die zuerst in den »Federalist Papers« der us-amerikanischen Unab-hängigkeitsbewegung systematisch begründeten repräsentati-ven Traditionen der US-Verfassung, andererseits die vermeintlich schlechten Erfahrungen in Deutschland mit den plebiszitären Ele-menten der Weimarer Verfassung angesichts ihrer Instrumentali-sierbarkeit für antidemokratische Bewegungen, so wirkten im Osten die auf Rousseau (»volonté générale«) zurückgehenden identitätstheoretischen Grundannahmen des sozialistischen De-mokratiebegriffs (z. B. »Einheitslisten«) und Lenins Parteitheorie (»Avantgarde des Proletariats«) restriktiv auf die ideologisch ei-gentlich propagierte »Entfaltung einer breiten Massenbewegung als der breitesten Zusammenfassung aller fortschrittlichen de-mokratischen, antinazistischen Kräfte« (Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Anton Ackermann am 17.2.1945).Beginnen wir mit der jungen Bundesrepublik: Entgegen seiner de-zidiert repräsentativ angelegten Grundtendenz entfaltete das Grundgesetz in der »Kanzlerdemokratie« Konrad Adenauers seine partizipationsbegrenzende Wirkung nur teilweise, was prima facie überraschen mag. Zum Katalysator der eigentlich sys-temfremden Selbstorganisation der oppositionellen Staatsbürger wurde die Verteidigungspolitik: Eine breite pazifistische Bewe-gung, die sich bereits in der ersten Hälfte der 50er Jahre unter der

Parole »Ohne mich!« gegen Adenauers Wiederbewaffnungspoli-tik formiert hatte, schwoll weiter an, als 1956 Pläne zur Ausrüs-tung der eben erst gegründeten Bundeswehr mit Atomwaffen bekannt wurden. Der Protest wurde außer von der SPD auch von Kirchen, Gewerkschaften, Hochschulen, Studentenvertre-tungen, Künstlern und Schriftstellern getragen. Große Resonanz fand 1957 die »Göttinger Erklärung« (| M 2 |), in der 18 namhafte deutsche Atomforscher die Nuklearpläne Adenauers scharf kriti-sierten. Der 1958 gegründete Arbeitsausschuss »Kampf dem Atomtod« organisierte zahlreiche Massendemonstrationen in deutschen Städten, an denen Hunderttausende von Menschen teilnahmen, die Adenauers Pläne schließlich erfolgreich zu Fall brachten, nachdem auch bei den Westalliierten, insbesondere den USA, Bedenken laut geworden waren. Das war der erste spek-takuläre Erfolg einer regierungskritischen Bürgerbewegung, die ihren Anspruch auf politische Mitbestimmung in autonom organi-sierten Formen öffentlichen Protests artikulierte. Bereits diese erste zivilgesellschaftliche Bewegung der jungen Bundesrepublik war vernetzt mit pazifistischen Gruppen in Eu-ropa, insbesondere in Großbritannien: mit den »War Resisters› International«, dem »Direct Action Committee Against Nuclear War« und der »Campaign for Nuclear Disarmament«. Diese orga-nisierte, unabhängig von den deutschen Protesten, an Ostern 1958 den »Aldermaston March« von London zum Atomforschungs-zentrum Aldermaston mit 10.000 Teilnehmern, aus dem sich in den Folgejahren in ganz Westeuropa die Ostermarsch-Bewegung entwickelte. Der erste deutsche Ostermarsch fand 1960 statt, nachdem Gerüchte über eine geplante Erprobung von Atomrake-ten in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen laut geworden waren. Er war als Sternmarsch organisiert und endete am Ostermontag 1960 beim Truppenübungsplatz Bergen-Hohne mit mehr als 1000 Teilnehmern. In diesen Aktivitä-ten kann man mit guten Gründen die Anfänge der neuen sozialen Bewegungen der 70er Jahre, insbesondere der europaweiten Frie-densbewegung sehen, auf die später noch zurückzukommen ist.Auf eine weitere transnationale Vernetzung ist hinzuweisen: Trä-ger des ersten deutschen Ostermarschs war der Hamburger »Aktions kreis für Gewaltlosigkeit«, dessen Name bereits auf den

Abb. 2 Tausende von Demonstranten auf dem Trafalgar Square in London. 1958 wurde der erste viertägige Marsch von London nach Aldermaston in Berk-shire von der »Kampagne für nukleare Abrüstung« organisiert. Dieser »Alderston March« gilt als Beginn der europäischen Ostermärsche gegen atomare Bewaff-nung. © Mary Evans Picture Library, 4.4.1958, picture alliance

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gewaltlosen Widerstand Mahatma Gandhis in der indischen Un-abhängigkeitsbewegung der 40er Jahre verweist, der gleichzeitig weltweit Vorbild und Katalysator für antikoloniale Proteste wurde. Er beeinflusste auch die Bürgerrechtsbewegung in den USA gegen Rassentrennung und -diskriminierung, die 1954 mit dem berühmten Urteil des Supreme Court im Fall »Brown v. Board of Education of Topeka, Kansas« zur Massenbewegung heran-wuchs. Den Anstoß zu der Bewegung gaben fortbestehende For-men von Rassentrennung, obwohl der Oberste Gerichtshof der USA entschieden hatte, dass die Integration von Minderheiten für die öffentlichen Schulen eine Pflicht darstelle und die Rassen-trennung an Schulen verfassungswidrig sei. Aus der amerikani-schen Bürgerrechtsbewegung gingen nicht nur Martin Luther King als charismatischer Führer hervor, der 1968 ermordet wurde, sondern auch Stokely Carmichael und Malcolm X mit ihrer radika-len »Black Power«-Bewegung, die in die ebenfalls von den USA ausgehende 68er-Bewegung einmündete. Über sie ist später zu berichten, bleiben wir zunächst in der Frühphase der zivilgesell-schaftlichen Bewegungen.Denn bürgerschaftlicher Protest war keineswegs ein Monopol des Westens: Auch in der DDR meldeten Bürger, ermutigt durch Sta-lins Tod, bereits in den 50er Jahren ihre Partizipationsforderun-gen unüberhörbar an, wenn auch – hier liegt der Unterschied zur Bundesrepublik – ohne Erfolg: Nach ersten Arbeiterstreiks am 11. und 12. Juni 1953 zogen Bauarbeiter der Ostberliner Stalinallee, des Vorzeigeprojekts sozialistischen Wohnungsbaus, am Morgen des 16. Juni vor das Haus der Ministerien: Forderungen nach Rück-nahme der kurz zuvor verordneten Normerhöhungen und einem Generalstreik wurden laut. Wir wissen heute, dass die Wortführer und Organisatoren der Streikbewegung überwiegend ältere Ar-beiter waren, die bereits in der Zeit der Weimarer Republik ge-werkschaftlich organisiert waren und auf Erfahrungen mit der Planung und Durchführung von Streiks zurückgreifen konnten – hier zeigt sich überdeutlich die Bedeutung bürgerschaftlicher Teilhabetraditionen als Voraussetzung für politische Handlungs-fähigkeit. Am 17. Juni verbreitete sich die Protestbewegung flä-chenbrandartig und dehnte sich in den folgenden Tagen auf über 560 Orte der DDR aus, wobei städtische Mittelschichten, Bauern und Intellektuelle hinzustießen. Allein am 17. Juni beteiligten sich über 500 000 Menschen an Streiks und über 400.000 an Demons-trationen. Dabei waren neben wirtschaftlichen und sozialpoliti-schen Forderungen auch Rufe nach freien Wahlen, deutscher Ein-heit und Rücktritt der Regierung zu hören (| M 5 |). Nachdem Volkspolizei und Stasi die Kontrolle über die Situation verloren hatten, wurde der Volksaufstand von sowjetischen Panzern nie-dergeschlagen, wobei mehr als 50 Protestierende erschossen und 40 sowjetische Soldaten wegen Befehlsverweigerung hingerich-tet wurden. 3 000 Demonstranten wurden von der Sowjetarmee

festgenommen, es folgten weitere 13 000 Verhaftungen durch die zuständigen Organe der DDR. Nur das gewaltsame Vorgehen der »Roten Armee« hatte die SED vor dem Sturz durch die Volksbewegung gerettet. Die erste Massenerhebung gegen ein kommunisti-sches Regime nach 1945 war von Panzern nie-dergewalzt worden, der Westen war den Auf-ständischen nicht zu Hilfe gekommen. Drei Jahre später, im Jahr 1956, erfuhren die Auf-ständischen in Budapest dann dasselbe Schicksal, und auch der zu Unrecht weitge-hend vergessene Posener Aufstand im selben Jahr wurde von der polnischen Armee blutig niedergeschlagen, diesmal allerdings ohne sowjetische Beteiligung – auch das sind deutliche Hinweise auf transnationale Zu-sammenhänge und Wechselwirkungen.Zurück zum Westen: Nach den ersten Erfol-gen der bundesrepublikanischen Bürgerbe-wegung in der Mitte der 50er Jahre musste Adenauer weitere Niederlagen gegen eine

zusehends kritischer werdende Öffentlichkeit hinnehmen, und zwar einerseits während der »Präsidentschaftskrise« 1959, in der er das Amt des Bundespräsidenten anstrebte, um die Politik sei-nes designierten Nachfolgers Erhard kontrollieren zu können, an-dererseits beim »Fernsehstreit« 1960, während dem Adenauer ein zweites Fernsehprogramm unter Einfluss und Aufsicht der Bun-desregierung schaffen wollte. Die wachsende öffentliche Kritik an seiner paternal-autoritären »Kanzlerdemokratie« führte bei der Bundestagswahl 1961 schließlich zum Verlust der absoluten Mehrheit für CDU und CSU. Das unwiderrufliche Ende der »Ära Adenauer« wurde dann 1962 durch die »SPIEGEL-Affäre« und die durch sie ausgelöste Regierungskrise eingeleitet: Ein in dem Hamburger Nachrichtenmagazin abgedruckter kritischer Artikel zur Verteidigungspolitik der CDU führte zur Verhaftung des Her-ausgebers Rudolf Augstein, mehrerer leitender Redakteure und des verantwortlichen Journalisten Conrad Ahlers, die Verteidi-gungsminister Franz-Josef Strauß persönlich veranlasst hatte. Die folgende Durchsuchung der »SPIEGEL«-Redaktionsräume be-gründete Adenauer angesichts heftiger öffentlicher Proteste mit einem »Abgrund von Landesverrat«, der sich aufgetan habe. Mas-senkundgebungen von Studierenden und Gewerkschaften waren die Folge, bei denen von massiven Eingriffen in die Presse- und Meinungsfreiheit gesprochen wurde. Als selbst der Koalitions-partner FDP den Rücktritt von Franz-Josef Strauß forderte, war Adenauer am Ende: Er gab nach, bildete ein neues Kabinett, dem Strauß nicht mehr angehörte, und kündigte seinen Rücktritt für den Herbst 1963 an. Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik war aus einer politischen Krise die kritische Öffentlichkeit als Sie-gerin hervorgegangen. Das sollte in den kommenden Jahren Schule machen.

Wendejahr 1968

Die nächste Etappe in der Verbreiterung politischer Bürgerbetei-liung bildete das Jahr 1968 in der Bundesrepublik, dessen Wurzeln wiederum in den USA lagen. Die 68er-Bewegung begann mit Pro-testen amerikanischer Studenten gegen den Vietnam-Krieg, die von dem 1960 gegründeten »Student Nonviolent Coordinating Committee« und den »Students for a Democratic Society« getra-gen wurden. Ihr Wortführer Tom Hayden formulierte schon 1962 die Forderung nach einer »participatory democracy«. Diese Pa-role fiel in der Bundesrepublik rasch auf fruchtbaren Boden, wo die »Außerparlamentarische Opposition« angesichts der Großen Koalition eine »Transformation der Demokratie« (Johannes Agnoli) in Richtung eines technokratisch-autoritären Staats diag-nostizierte. Als Indikatoren sah sie die auf die winzige FDP ge-

Abb. 3 Nach vorangegangenen Streiks in Ost-Berliner Betrieben versammelten sich am 17. Juni 1953 Demonstranten in den Straßen von Berlin und in der ganzen DDR, um gegen das SED-Regime zu protestie-ren – hier wird ein sowjetischer Panzer am Potsdamer Platz mit Steinen beworfen. Sowjetische Truppen und die Nationale Volksarmee der DDR warfen den Volksaufstand in der DDR mit Waffengewalt nieder. © zb-archiv, picture alliance, 17.6.1953

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schrumpfte und damit zur Bedeutungslosig-keit verurteilte parlamentarische Opposition sowie die von der Großen Koalition geplan-ten Notstandsgesetze. Ganz im Sinne Hay-dens forderte auch der deutsche SDS eine partizipativ erweiterte »soziale Demokratie«, so Hans-Jürgen Krahl in seiner Römerberg-rede am 27.5.1968, auf der Grundlage einer »aufgeklärten Selbsttätigkeit der mündigen Massen« (| M 9 |). Auch in anderen westeuropäischen Ländern begannen zeitgleich Studentenproteste, ins-besondere in Frankreich und Italien, wo der Studentenbewegung – anders als in der Bun-desrepublik – Aktionsbündnisse mit der or-ganisierten Industriearbeiterschaft z. B. bei Renault und Fiat gelangen. In Frankreich musste Präsident de Gaulle sogar das Land verlassen, weil im »Mai 1968« die Zeichen auf Revolution zu stehen schienen. Allerdings gingen nach seiner Rückkehr die Konservati-ven aus den Juni-Wahlen durch einen klaren Wahlsieg gestärkt hervor, der die revolutio-nären Träume der Mai-Bewegung wie Seifen-blasen platzen ließ.In der Bundesrepublik hingegen folgte auf das rebellische Jahr 1968 ein Wahlsieg der so-zialliberalen Koalition, die CDU wurde erst-mals seit Bestehen der Bundesrepublik auf die Oppositionsbank verdrängt. In Reaktion auf die Partizipationsforderungen der 68er kündigte der neu gewählte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung im Oktober 1969 programmatisch an, die sozialliberale Koalition wolle »mehr Demokratie wagen«: »Die Re-gierung kann in der Demo kratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger[…] wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten.« (| M 11 |) Es folgte in den Jahren danach ein breit ausgefächertes Reform-programm in der Innen-, Außen- und Deutschlandpolitik, das die Bundesrepublik nicht zuletzt durch eine verstärkte Bürgerbeteili-gung liberalisierte und modernisierte. Bezeichnenderweise er-reichte die Wahlbeteiligung nach Ablauf der ersten sozialliberalen Legislaturperiode im Jahr 1972 mit 91,1 % den bislang höchsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik – ein Rekordwert, von dem wir heute nur noch träumen können. SPD-Wahlkampfparo-len wie »Wir schaffen das moderne Deutschland« und »Modell Deutschland« brachten den innovativen Zeitgeist einer »partizi-pativen Demokratie«, die Tom Hayden 1962 und der SDS 1968 ge-fordert hatten, auf den Begriff. 1968 wurde aber nicht nur in Westeuropa zum »Wendejahr«, auch im Ostblock hofften Menschen angesichts des Aufbruchs im Wes-ten auf die Chance einer Demokratisierung innerhalb der poststa-linistischen Strukturen. Ein »Sozialismus mit menschlichem Ant-litz«, der – wie im Westen – auf einer breiteren Beteiligung der Menschen beruhen sollte (| M 12 |), wurde im Jahr 1968 in der CSSR von Alexander Dubcek, dem Ersten Sekretär der KPC, ausgerufen. Der folgende Reformprozess ist unter dem Namen »Prager Früh-ling« in die Geschichte der europäischen Demokratiebewegun-gen eingegangen und wurde, wie die Juni-Revolution 1953 in der DDR und der Budapester Aufstand 1956, von Panzern der Sowjet-union und anderer Staaten des Warschauer Pakts gewaltsam be-endet. Während mit dem Jahr 1968 in der Bundesrepublik eine »Fundamentalliberalisierung« (Jürgen Habermas) begonnen hatte, endete 1968 für die Menschen des Ostblocks mit einer wei-teren bitteren Enttäuschung ihrer Hoffnungen auf Liberalisierung und Demokratisierung. In der DDR zählten zu den Enttäuschten so prominente Oppositionelle wie der Physiker Robert Havemann und der Song-Schreiber Wolf Biermann, über die ein Lehr- bzw. Auftrittsverbot verhängt wurde. SED-Chef Walter Ulbricht for-

derte angesichts der liberalisierten Lebensformen im Westen eine »saubere Leinwand«, um die DDR als »sauberen Staat« von der Bundesrepublik abzugrenzen, und in der jugendlichen »Un-kultur« von »Gammlern« und »Langhaarigen« sah er »Erscheinun-gen der amerikanischen Unmoral und Dekadenz«. Erweiterte Par-tizipationsmöglichkeiten waren in dieser Stimmung von Intoleranz und Engstirnigkeit auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Anders in der Bundesrepublik: Die breite Politisierung, die sich seit 1968 vollzogen hatte, mobilisierte nach den Studenten und Schülern immer neue Gruppen, die sich innerhalb der politischen Öffentlichkeit nicht vertreten fühlten und deshalb ihre Teilhabe-rechte lautstark einklagten. Schon 1968 artikulierten SDS-Stu-dentinnen ihren Protest gegen die männliche Hegemonie in den Führungsgremien der antiautoritären Organisationen und bilde-ten zunächst in Berlin einen »Aktionsrat zur Befreiung der Frau« (| M 15 |), später »Weiberräte« in mehreren Städten. Ihre Isolie-rung innerhalb des akademischen Sozialmilieus durchbrach die »neue Frauenbewegung« allerdings erst mit der 1971 begonnenen Kampagne gegen den § 218 des Strafgesetzbuchs, der Abtreibung mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bedrohte. Selbstbe-zichtigungen (»Ich habe abgetrieben!«) von 374 Frauen, darunter viele Prominente, in der Illustrierten »Stern« lösten 1971 eine La-wine von Fraueninitiativen, Unterschriftensammlungen und De-monstrationen unter der provokativen Parole »Mein Bauch ge-hört mir!« aus. Sie führten 1974 zu der von der sozialliberalen Koalition verabschiedeten »Fristenlösung« für Abtreibungen, die allerdings ein Jahr später vom Bundesverfassungsgericht für nich-tig erklärt und deshalb 1976 durch eine Indikationslösung mit ver-pflichtenden Beratungen vor einem Schwangerschaftsabbruch ersetzt wurde. Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre dominierten weniger spek-takuläre, aber umso wirkungsvollere Frauenförderungs- und Selbsthilfeprojekte (»Frauen helfen Frauen«, »pro familia« usw.), die die Einrichtung von Frauenhäusern, die Einführung von Frau-enquoten (z. B. in Parteien) und Gleichstellungsbeauftragten (im öffentlichen Dienst), die Schaffung von universitären Projekten und Lehrstühlen zur Frauen- und Geschlechterforschung sowie eine Teilreform des koedukativen Schulunterrichts zur Folge hat-ten. Die »pragmatische Wende« der Frauenpolitik spiegelte einen allgemeinen Stimmungswandel wider, der schon seit der ersten Hälfte der 70er Jahre begonnen hatte und sich seit Willy Brandts

Abb. 4 Streikende Arbeiter der Renault-Werke in Boulogne-Billancourt schauen vom Dach aus auf die Studenten, die am 17. Mai 1968 mit einem Marsch zum Werk des Automobilherstellers ihre Solidarität mit den streikenden Arbeitern bekunden wollen. Die Regierung de Gaulle unterschätzte die soziale Unzufriedenheit breiter Schichten der französischen Bevölkerung. 1968 führten die Maiunruhen zu bürgerkriegs ähnlichen Zuständen, in Paris lieferten sich die Studenten Straßenschlachten mit der Polizei. Die Gewerkschaften riefen am 13. Mai zum Generalstreik auf. Am 30. Mai löste Staatspräsident de Gaulle die Nationalversammlung auf und rief Neuwahlen aus. Diese wurden von den Gaullisten gewonnen, die Ära de Gaulle fand trotzdem ihr Ende: Am 28. April 1969 trat Charles de Gaulle nach einem verlorenen Referendum zurück. © upi, picture alliance, 13.5.1968

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Rücktritt und dem Ende seiner Reformpolitik 1974 verstärkte. Sein Nachfolger Helmut Schmidt verkörperte auch als Person das Ende der seit 1968 verbreiteten Aufbruchsstimmung, zumal seine Amtszeit im Zeichen von Ölkrisen, weltwirtschaftlicher Talfahrt und einer »neuen Eiszeit« in den internationalen Beziehungen stand.

Politik des pragmatischen Krisenmanagements und neues Krisenbewusstsein

An die Stelle kühner Zukunftsentwürfe trat seit Mitte der 70er Jahre eine Politik des pragmatischen Krisenmanagements, dem es angesichts der heraufziehenden globalen Gefahren und der schrumpfenden Verteilungsspielräume schon hinreichend, zu-nehmend sogar erstrebenswert erschien, den Status quo zu kon-solidieren, um drohende Katastrophen zu vermeiden. Bücher mit hohen Verkaufszahlen trugen nun Titel wie »Ende oder Wende?«, »Ein Planet wird geplündert« oder »Vom Fortschritt in die Un-menschlichkeit« – unübersehbar spiegelten sie den Übergang wi-der von der Reform-Euphorie zu einem umfassenden Krisenbe-wusstsein, wenn nicht gar zu kollektiven Ängsten, die sich nach den apokalyptischen Warnungen des »Club of Rome« vor den »Grenzen des Wachstums« (1972) vor allem auf die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen durch den industriewirtschaftli-chen Raubbau an der Umwelt und die durch ihn bedingte Ver-knappung der natürlichen Ressourcen richteten.Das sich damit andeutende Ende des »Goldenen Zeitalters« (Eric Hobsbawm) der Nachkriegszeit entmutigte bürgerschaftliches Engagement aber keineswegs, im Gegenteil: Mit der Gründung des »Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz« (BBU) 1972 schufen sich ökologische Bürgerinitiativen, die sich bislang eher lokaler oder regionaler Umweltprobleme angenommen hat-ten, erstmals bundesweit eine Dachorganisation. Hervorgegan-gen aus der Idee Willy Brandts, durch eine breitere Partizipation der Bürger an politischen Entscheidungen »mehr Demokratie zu wagen«, wuchsen Bürgerinitiativen in den folgenden Jahren kon-tinuierlich an und erreichten Ende der 70er Jahre ca. 1,8 Millionen Mitglieder, was etwa der Mitgliederzahl in politischen Parteien entsprach. Ihr durch Demonstrationen und Bauplatzbesetzungen artikulier-ter Protest richtete sich zunächst gegen großtechnische Atom-energiekonzepte, insbesondere gegen die geplanten Kernkraft-werke in Wyhl 1975, Brokdorf 1976 sowie Gorleben, Grohnde und Kalkar 1977. Hinzu traten Bürgerinitiativen, die sich anderen The-

men zuwandten: Im Mittelpunkt standen Probleme des Verkehrs (Lärm und Luftver-schmutzung durch Straßen- und Flughafen-ausbau, Fahrpreiserhöhungen bei öffentli-chen Verkehrsmitteln), der Stadtentwicklung (Hausbesetzungen gegen Sanierung, Boden- und Wohnraumspekulation), des Lebens-raums von Kindern (Spielplätze, Kinder-läden) und Jugendlichen (selbstverwaltete Jugendzentren) sowie der Bildung (alter-native Pädagogik, Elternmitbestimmung). Nach einer Anfangsphase, in der lokale »Ein-Punkt-Aktionen« dominiert hatten, strebten in der zweiten Hälfte der 70er Jahre »grüne Listen« den Einzug in Kommunalvertretun-gen und Landtage an: Ihr zunächst nur punk-tueller Protest gegen Formen friedlicher und militärischer Nutzung von Kernenergie er-weiterte sich zusehends zu einem program-matischen Widerstand gegen industriege-sellschaftliche Wachstumsideologien, gegen die Bürokratisierung und Bürgerferne der Parteien und Parlamente sowie – ab 1979 – gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss,

was angesichts ihrer Unterstützung durch die Friedensbewegung (| M 16 |) schnell zu ersten Erfolgen bei Kommunal- und Landtags-wahlen seit 1979 führte. Die 1980 als Bundespartei gegründeten »GRÜNEN« zogen mit ihrer Wahlkampfparole »ökologisch – so-zial – basisdemokratisch – gewaltfrei« dann 1983 in den Bundes-tag ein und wurden von da an endgültig zu einem wesentlichen Faktor innerhalb der bundesrepublikanischen Demokratie (| M 17 |). Auch in den anderen westeuropäischen Ländern spiel-ten die neuen sozialen Bewegungen eine wachsende Rolle, wenn auch der Einzug ökologisch-pazifistischer Protestparteien in die Parlamente länger dauerte als in der Bundesrepublik.

Neue soziale Bewegungen in Mittel- und Osteuropa bis zur Wende 1989

Eine ganz neue Dynamik entstand hingegen in Osteuropa, wo in den 70er Jahren die zivilgesellschaftlichen Bürgerbewegungen in erstaunlichem Tempo erstarkten, allerdings erkannte man im Westen nur langsam, welch grundlegende Veränderungen sich damit im Übergang zu den 80er Jahren vollzogen. So bedeuteten die u. a. von Vaclav Havel verfasste »Charta 77« (| M 18 |) in der CSSR sowie die Arbeiterunruhen auf polnischen Werften seit dem Sommer 1980, aus denen die unabhängige Gewerkschaft »Soli-darnosc« hervorging, eine direkte Gefahr für die innere Stabilität des Ostblocks insgesamt und der DDR im Besonderen. Während in den folgenden Jahren verschiedene Ostblock-Staaten den Weg der Reform beschritten, so etwa Ungarn ab 1982 und die Sowjet-union mit Gorbatschow ab 1985, reagierte die SED mit einer strik-ten Abgrenzungspolitik und betrat damit den Weg in die Selbst-isolierung, der sie wenige Jahre später in den Abgrund führen sollte.Denn mit der Kombination von wachsenden Wirtschafts- und Ver-sorgungsproblemen einerseits und Liberalisierungstendenzen im Umfeld der verbündeten Ostblock-Staaten andererseits nahm der innenpolitische Druck auf die SED von Jahr zu Jahr weiter zu. Die Zahl oppositioneller Gruppen, die sich vor allem im Schutz der Kirchen formierten, wuchs weiter an (| M 19 |). Sie verstanden sich einerseits als Teil der gesamteuropäischen Friedensbewegung und protestierten gegen das neue Wettrüsten in Ost und West: Schon 1981 trugen 100.000 DDR-Jugendliche den von dem Jugend-pfarrer Harald Brettschneider entworfenen Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen«. Andererseits wuchs – wie im Westen – auch die Ökologie-Bewegung in der DDR, insbesondere nach der Reaktor-katastrophe im ukrainischen Tschernobyl 1986 und der auf sie

Abb. 5 Frauenbewegung: Demonstration aus Anlass des Internationalen Frauentags am 8. März 1982. © Klaus Rose, picture alliance

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folgenden Desinformationspolitik der SED. Die Friedens-, Ökologie- und Menschen-rechtsgruppen agierten allerdings – isoliert und ständig von Stasi-Schikanen bedroht – eher an der Peripherie der DDR-Gesellschaft, zumal sie, abgesehen von einigen westlichen »GRÜNEN«-Politikern, aus der Bundesrepub-lik kaum unterstützt wurden.Stärker als die Minderheit der oppositionel-len Gruppen trat bereits seit 1975, als die DDR-Führung die KSZE-Schlussakte unter-zeichnet hatte, die wachsende Zahl von Aus-reiseanträgen ins öffentliche Bewusstsein, deren Zahl sich trotz Schikanen und Diskri-minierungen von 21.500 im Jahr 1980 auf 125.000 im Jahr 1989 steigerte. Auch das muss im europäischen Kontext als Teil der wachsenden Menschenrechtsbewegungen seit den 70er Jahren gesehen werden. Diese Massenbewegung führte zu ersten Konzessi-onen der SED: 1984 wurde erstmals 30.000 Antragstellern die Übersiedelung geneh-migt, obwohl ihre Anträge als rechtswidrig eingestuft worden waren. Die Hoffnung des Regimes auf eine Ventilfunktion trog aller-dings: Das Zurückweichen des Regimes ermutigte im Gegenteil weitere DDR-Bürger, Ausreiseanträge zu stellen, sodass 1988 er-neut mehr als 25.000 Genehmigungen erteilt werden mussten. Außerdem bildeten sich unter Berufung auf den KSZE-Prozess zu-sehends mehr Selbsthilfegruppen; ab 1983 gab es erste Demons-trationen Ausreisewilliger sowie Versuche, über Botschaften die Ausreise zu erwirken. Der Zusammenbruch der DDR wurde schließlich durch das Zusammenwirken der anschwellenden Aus-reisebewegung einerseits und der in den folgenden Jahren erstar-kenden Oppositionsbewegung andererseits erzwungen. Ihr ge-meinsam erkämpftes Ergebnis war die »friedliche Revolution« des Jahres 1989, der – abgesehen von Rumänien – weitere gewaltlose Revolutionen im Ostblock folgen sollten. Pars-pro-toto sei die »samtene Revolution« in Prag im Dezember 1989 genannt, die von Vaclav Havel angeführt wurde. Das Jahr 1989 steht somit für den Erfolg vielfältiger zivilgesellschaftlicher Bürgerbewegungen, die sich aus sehr unterschiedlichen Quellen speisen und auf eine lange Tradition in der Geschichte Deutschlands und Europas zu-rückblicken können.

Neue Herausforderungen

Im Gegensatz zu dieser Erfolgsgeschichte haben die zivilgesell-schaftlichen Bürgerbewegungen in der »Berliner Republik« seit 1990 und im Europa des 21. Jahrhunderts ihre Bewährungsprobe noch nicht bestanden. Im Zeichen sich beschleunigender Globali-sierungsprozesse einerseits und sich gegenläufig verengender Handlungsspielräume auf nationalstaatlicher Ebene andererseits stehen sie vor besonders großen Herausforderungen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Da die sich unaufhaltsam beschleunigende, ressourcenintensive Expansion der Weltwirtschaft die Biosphäre und damit die natürlichen Lebensgrundlagen der kommenden Generationen offenkundig zusehends weiter gefährdet, könnte es eine immer wichtigere zivilgesellschaftliche Zukunftsaufgabe werden, die nicht-intendierten Folgen eines tendenziell unbe-grenzten, von globalen Märkten gesteuerten Wirtschaftswachs-tums zu kontrollieren. Ob partizipative Bewegungen in der Lage sein werden, eine solche am Gemeinwohl orientierte Kontrolle von global organisierter Marktmacht angesichts oft anonymer, jedenfalls schwer greifbarer Akteure (»global players«) zu ge-währleisten, kann aus historischer Perspektive nicht beantwortet werden. Ähnliche Fragen stellen sich bei weiteren globalen Zu-kunftsthemen, wie z. B. der Flüchtlings- und Asylproblematik, der

Arbeitsmigration und der Menschen- und Bürger rechtsthematik insgesamt. Auch wenn die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure in diesen und anderen Globalisierungsprozessen der Zukunft schwer einschätzbar ist, so kann eine historisch reflektierte Rückbesinnung auf die langen Traditionen und wechselnden Kon-junkturen zivilgesellschaftlichen Engagements und Protests in Deutschland und Europa bei der Suche nach einem demokrati-schen Weg ins 21. Jahrhundert doch mit Sicherheit eine wichtige Orientierung bieten.

Literaturhinweise

Bauerkämper, Arnd (Hrsg.) (2003): Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich. Frankfurt/Main, New York.

Blickle, Peter (2000): Kommunalismus. 2 Bände (Band 1: Oberdeutschland, Band 2: Europa). München.

Diner, Dan (Hrsg.) (1988): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frank-furt/Main.

Finley, Moses (1980): Antike und moderne Demokratie. Stuttgart.

Gilcher-Holtey, Ingrid (2001): Die 68er Bewegung. Deutschland – West-europa – USA. München.

Gransow, Volker/Jarausch, Konrad H.(Hrsg.) (1991), Die deutsche Vereini-gung. Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt. Köln.

Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.) (2009): Revolution und Wiedervereinigung 1989/90. München.

Hildermeier, Manfred/Kocka, Jürgen/Conrad, Christoph (Hrsg.) (2000): Euro-päische Zivilgesellschaft in Ost und West. Frankfurt/Main, New York.

Meier, Christian (1993): Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte. Berlin.

Nolte, Paul (2012): Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. Mün-chen.

Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.) (2010): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Frankfurt.

Abb. 6 Nahezu eine Million Bürger versammelten sich am 4.11.1989 auf dem Berliner Alexanderplatz und demonstrierten friedlich für Veränderungen in der DDR. Die Demonstranten forderten auf einem Transparent »Die Jugend geht, das Land wird kahl – wir fordern endlich Freie Wahl». Als im Frühjahr 1989 bekannt wurde, dass die SED für die Fälschungen bei der Kommunalwahl verantwortlich war, gingen immer mehr Menschen auf die Straße. Vom September an bildeten sich immer neue zivilgesellschaftliche Gruppen, wie z. B. das »Neue Forum«, der »Demokratische Aufbruch«, die »SDP« und andere Oppositions-gruppen. © Reinhard Kaufhold dpa, picture alliance

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Materialien

M 1 Der Historiker Jürgen Kocka: Das »Programm der bürgerlichen Gesell-schaft« (2008)

Es wurde in den bürgerlich geprägten Logen und Lesegesellschaften, den Vereinen und Zeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhun-derts diskutiert, bald auch auf öffentlichen Versammlungen und Festen der sich ausbrei-tenden liberalen Bewegung. Es war ein zu-kunftsgerichteter Entwurf, zu dem sehr ver-schiedene Autoren beigetragen hatten – von John Locke und Adam Smith über Montes-quieu und die Enzyklopädisten bis zu Imma-nuel Kant und den liberalen Denkern des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum dieses Ent-wurfs stand das Ziel einer modernen, säkula-risierten Gesellschaft freier, mündiger Bürger (»citoyens«), die ihre Verhältnisse friedlich, vernünftig und selbstständig regelten, ohne allzu viel soziale Un-gleichheit, ohne obrigkeitsstaatliche Gängelung, individuell und gemeinsam zugleich. Dazu bedurfte es bestimmter Institutionen: des Marktes, einer kritischen Öffentlichkeit, des Rechtsstaates mit Verfassung und Parlament. In dieser gesellschaftlich-politi-schen Zielsetzung steckte ein neuer Daseinsentwurf, der auf Ar-beit, Leistung und Bildung (nicht auf Geburt), auf Vernunft und ihrem öffentlichen Gebrauch (statt auf Tradition), auf individuel-ler Konkurrenz wie auf genossenschaftlicher Gemeinsamkeit fußte und sich kritisch gegen zentrale Elemente des Alten Regi-mes wandte: gegen Absolutismus, gegen Geburtsprivilegien und gegen ständische Ungleichheit, auch gegen kirchlich-religiöse Orthodoxie. Dieses Programm hatte, wie gesagt, zwar seine Basis im sich neu formierenden Bürgertum (und in angrenzenden Schichten des niederen Adels und des Kleinbürgertums), aber der Tendenz nach war es ein Programm für alle, ein universales Mo-dell, das auf Freiheit, Gleichheit und Teilnahme aller Bürger – im Sinne aller Staatsbürger – hindrängte und zugleich auf die Verall-gemeinerung der bürgerlichen Kultur und Lebensweise über das Bürgertum hinaus abzielte. Durch Schulbildung, Literatur, Thea-ter, Erziehung, Disziplin, Umgestaltung des öffentlichen Lebens sollte es alle prägen: der Bürger auf dem Weg vom bourgeois zum citoyen. Dies war ein imponierender Entwurf, durchaus utopisch und besonders zu Beginn des 19. Jahrhunderts weit von der Wirk-lichkeit entfernt.

© Jürgen Kocka, Das Programm der bürgerlichen Gesellschaft in: Aus Politik und Zeitge-schichte 9–10/2008, S. 3–9, hier: S. 4f.

M 2 »Göttinger Erklärung« der 18 Atomwissenschaftler vom 12.4.1957

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichnenden füh-len sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzu-weisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen. 1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung norma-

ler Atombomben. Als »taktisch« bezeichnet man sie, um aus-zudrücken, dass sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiro-

shima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als »klein« bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten »strategischen« Bomben, vor allem der Wasser-stoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wir-kung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe oder einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbe-wohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungs-mengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätig-keit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schwei-gen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, dass die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versa-gens für tödlich. Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vor-schläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atom-waffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeich-nenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen. Gleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedli-che Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.

Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, u. a., www.hdg.de/lemo/html/dokumente/ JahreDesAufbausInOstUndWest_erklaerungGoettingerErklaerung/index.html

M 3 Eine Gruppe von Demonstranten führt ein Transparent mit der Parole »Kampf dem Atomtod« mit. Unter diesem Motto stand die Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 1. Mai 1958 in Frankfurt am Main gegen Wiederaufrüstung und atomare Bewaffnung. © picture alliance, 1958

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M 5 Telegramm des Streikkomitees Bitterfeld an die DDR-Regierung vom 16.6.1953

An die sogenannte Deutsche Demokratische Regierung in Berlin-Pankow:Wir Werktätigen des Kreises Bitterfeld fordern von Ihnen:1. Sofortigen Rücktritt der sogenannten Deutschen Demokrati-

schen Regierung, die sich durch Wahlmanöver an die Macht gebracht hat.

2. Bildung einer provisorischen Regierung aus den fortschrittli-chen Werktätigen.

3. Zulassung sämtlicher großer demokratischer Parteien West-deutschlands.

4. Freie und geheime direkte Wahlen spätestens in vier Wochen.5. Freilassung sämtlicher politischer Gefangener (direkt politi-

scher, sogenannter »Wirtschaftsverbrecher« und konfessio-nell Verfolgter)

6. Sofortige Abschaffung der Zonengrenzen und Zurückziehung der Volkspolizei.

7. Sofortige Normalisierung des sozialen Lebensstandards.8. Sofortige Auflösung der sogenannten »National-Armee«.9. Keine Repressalien gegen auch nur einen Streikenden.

© Der Morgen, Beilage vom 16./17.6.1953; zit. nach T. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR. Berlin 1991, S. 227f.

M 6 Lorant Rácz über die Diskussionen im Petöfi-Klub, Budapest 1956,

Die vom Parteiführer Rákosi gegen die aufmüpfigen Schriftsteller geführten öffentlichen Angriffe, verbunden mit Drohungen und Repressalien, wurden von allen als Rückschlag in der politischen Entwicklung des Landes empfunden. In dieser gespannten Situa-tion wirkte die aus Moskau eingelangte Nachricht über den im Februar 1956 abgehaltenen XX. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wie ein Paukenschlag. Die gefassten Kon-gress-Beschlüsse, so schien es, bestätigten das Juniprogramm 1953 von Imre Nagy und das im Herbst 1955 veröffentlichte Me-morandum der ungarischen Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler. Aufhorchen ließ der Beschluss des Kongresses, demzu-folge aus dem Kapitalismus nicht nur ein Weg, der sowjetische, zum Sozialismus führen kann. Da kam auch schon die noch grö-ßeres Aufsehen verursachende Meldung über die am 25. Februar von Nikita Chruschtschow in einer geheimen Sitzung des Kon-

gresses gehaltene sog. »Geheimrede«. In dieser Rede gab er un-umwunden Stalin und dem mit seiner Person verbundenen Perso-nenkult die Schuld für die blutigen Verbrechen der 30er und 40er Jahre. Trotz Geheimhaltung sickerte diese Rede durch und das ganze Land sprach nur noch vom XX. Kongress und der Rede Chruschtschows. Der seit dem Memorandum in der Presse ge-führte lockere Ton wurde immer schärfer und die von Imre Nagy angeführte Opposition fühlte sich bestätigt und bekam immer mehr Zulauf aus der Bevölkerung. In diesem Stadium rückten die Probleme aus Politik und Wirtschaft immer stärker in den Mittel-punkt der Diskussionen. Die Parteijugend erfasste am schnells-ten die Situation und rief Anfang März 1956, unter der Schirmherr-schaft ihrer eigenen Jugendorganisation (DISZ), eine anfangs lose Runde ins Leben, die sich einerseits aus aktiven Parteimitgliedern aus Politik, Wissenschaft und Kunst, anderseits aus der seit 1948 verstoßenen Elite und aus Interessenten der Universitäten bil-dete. Zweck dieser ins Leben gerufenen Runde war, einem größe-ren Publikum die Gelegenheit zu bieten, außerhalb der Parteigre-mien die Thesen des XX. Kongresses auf breiterer Basis zu diskutieren. Der Kreis entwickelte sich unter dem Namen »Petöfi Kör«, das heißt »Petöfi Kreis«, zu einer Institution der vorrevoluti-onären Jugend, so wie seinerzeit anno 1848. Auch seitens der Be-völkerung fand der Kreis große Zustimmung und wurde von der Presse kommentiert und begeistert begrüßt. Er wurde zur Platt-form für die sich um Imre Nagy versammelte Opposition aus Wis-senschaftlern, Künstlern und den vom ZK der Partei geächteten Schriftstellern.

© Lorant Rácz, Ein Requiem auf den Sozialismus. Ungarn 1953 bis 1956, Norderstedt 2003, S. 32–39, www.ungarn1956.de/site/40208613/default.aspx

M 4 Volksaufstand in Ostberlin am 17. Juni 1953 in Ostberlin. Bauarbeiter rie-fen auf ihrem Marsch zum Haus der Ministerien den Generalstreik aus und forderten den Rücktritt der SED-Regierung. Der Volksaufstand in der DDR wurde von sowjetischen Panzern und der Nationalen Volksarmee der DDR niedergeschlagen. © picture alliance, 1953

M 7 Teilnehmer einer Massendemonstration in Budapest (Ungarn) passieren in der Innenstadt einen sowjetischen Panzer. Im Hintergrund liegt der Torso des von der Menge gestürzten Stalindenkmals auf der Straße. Am 23.10.1956 fielen bei einer zunächst friedlichen Kundgebung in Budapest erste Schüsse. Arbeiter, Studenten und Jugendliche bewaffneten sich in der Folge und nahmen den Kampf gegen die einrückenden sowjetischen Trup-pen auf. Grund für die Unruhen war die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Dogmatismus der Parteiführung, die in der Hand von Alt-Stalinisten lag. Mit dem Ausbruch der Revolution schien sich der Traum von der Unabhängigkeit zu erfüllen, der neu ernannte Regierungs-chef Imre Nagy kündigte sogar den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt an. Am 4. November 1956 griffen jedoch rund 1.000 sowjetische Panzer und Bomber die Stadt von allen Seiten an – der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. © picture alliance

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M 9 »Römerbergrede« des SDS-Bundesvorstandsmitglieds Hans-Jürgen Krahl am 27.5.1968 in Frankfurt am Main vor 12.000 Menschen angesichts der bevorstehenden Bundestagsdebatte zu den Notstandsgesetzen

Wir haben nur eine einzige Antwort auf die Notstandsgesetze zu geben: wenn Staat und Bundestag die Demokratie vernichten, dann hat das Volk das Recht und die Pflicht, auf die Straße zu ge-hen und für die Demokratie zu kämpfen. Wenn die Volksvertreter die Interessen des Volkes nicht mehr vertreten, dann wird das Volk seine Interessen selbst vertreten. […]Eine soziale Demokratie lebt nur durch die aufgeklärte Selbsttä-tigkeit der mündigen Massen. Daraus haben die Studentenbewe-gung und die außerparlamentarische Opposition die politische Konsequenz gezogen: auf die Bürokratien der Parteien und der Gewerkschaften können wir uns nicht verlassen, wenn wir nicht selbst anfangen zu handeln. Erst die oft herausfordernden De-monstrationen der Studenten haben viele Themen, welche die Herrschenden lieber verschwiegen hätten, zur öffentlichen Dis-kussion gestellt; so den Krieg in Vietnam […]. Unsere Aufklä-rungs- und Machtmittel sind geradezu lächerlich gering, gemes-sen an den gewaltigen Funk- und Fernseheinrichtungen sowie den mächtigen Staats- und Parteiverwaltungen. Aber mit den Mitteln des Flugblatts, der ständigen Diskussion und unseren De-monstrationen haben wir erreicht, dass immer mehr Menschen lernten, wie notwendig es ist, für seine Interessen selbst und aktiv einzutreten. Entgegen der Manipulation von Presse und Regie-rung, die uns von der Bevölkerung mit aller Gewalt isolieren wol-len, hat die außerparlamentarische Opposition ihre Basis ständig erweitert: zunächst waren es die Studenten, dann die Schüler, jetzt sind es junge Arbeiter und auch immer mehr ältere Kollegen. Unsere Demokratie ist direkt und unmittelbar. Es gibt keine Spre-cher und keine Gruppen, die sich nicht den Entscheidungen der Anwesenden unterwerfen müssten; es gibt keine Funktionäre, die einen Posten auf Lebenszeit einnehmen; alle unmittelbar Betei-ligten entscheiden in direkter Abstimmung über die politischen Aktionen und Ziele. […] Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze steht die Uhr auf fünf Minuten vor 12. […] Die Losung für die nächsten Tage kann

nur sein: Politischer Streik! Nur eine Welle von Streiks ermöglicht schließlich den Generalstreik. Politischer Streik am Dienstag, po-litischer Streik am Mittwoch, politischer Streik in den Betrieben, an der Universität und in den Schulen. Es lebe die praktische Soli-darität der Arbeiter, Studenten und Schüler!

© D. Claussen/R. Dermitzel (Hg.), Universität und Widerstand. Frankfurt/Main (Europäi-sche Verlagsanstalt) 1968, S. 34–41

M 11 Regierungserklärung des Bundeskanzlers Willy Brandt, SPD, 28.10.1969

I. Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Ar-beitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Informa-tion Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass durch Anhö-rungen im Bundestag, durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfas-sende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform vom Staat und Gesellschaft mitzuwirken.Wir wenden uns an die im Frieden nachgewachsenen Generatio-nen, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen; jene jungen Menschen, die uns beim Wort nehmen wollen – und sollen. Diese jungen Menschen müs-sen aber verstehen, dass auch sie gegenüber Staat und Gesell-schaft Verpflichtungen haben. Wir werden dem Hohen Hause ein Gesetz unterbreiten, wodurch das aktive Wahlalter von 21 auf 18, das passive von 25 auf 21 herabgesetzt wird. Wir werden auch die Volljährigkeitsgrenze überprüfen.Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Berei-chen unserer Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kom-menden Jahre sein. Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. Diese Regierung sucht das Gespräch, sie sucht kritische Partnerschaft mit allen, die Verant-wortung tragen, sei es in den Kirchen, der Kunst, der Wissen-schaft und der Wirtschaft oder in anderen Bereichen der Gesell-schaft. Dies gilt nicht zuletzt für die Gewerkschaften, um deren vertrauensvolle Zusammenarbeit wir uns bemühen. Wir brauchen ihnen ihre überragende Bedeutung für diesen Staat, für seinen weiteren Ausbau zum sozialen Rechtsstaat nicht zu bescheinigen. Wenn wir leisten wollen, was geleistet werden muss, brauchen wir

M 10 Eine der Initialzündungen der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland war der »Internationale Vietnamkongress« des SDS 1968 in Berlin, bei dem u.a. Herbert Marcuse, Peter Weiss und Erich Fried als Referenten auftraten. Am Rednerpult der SDS-Vorsitzende Rudi Dutschke. © Klaus Rose, picture alliance, 17.2.1968

M 8 In München demonstrierten 1962 Studenten gegen die Polizei-Maßnah-men in der Hamburger »SPIEGEL«-Redaktion. Etwa 300 Teilnehmer mar-schierten mit Spruchtafeln von der Universität zum Königsplatz, wo ein Sprecher die Forderung der Studenten nach Pressefreiheit unterstrich. Im Zuge der »SPIEGEL«-Affäre mussten sich Mitarbeiter des Nachrichtenma-gazins »Spiegel« wegen eines kritischen Artikels gegen eine Anklage wegen Landesverrats zur Wehr setzen, zeitweise waren der Herausgeber Rudolf Augstein und mehrere Redakteure inhaftiert. Am Ende musste der dama-lige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß, CSU, der die Verhaftungen veranlasst hatte, zurücktreten. © Klaus-Dieter Heirler, picture alliance

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alle aktiven Kräfte unserer Gesell-schaft. […] Wir werden uns ständig darum bemühen, dass sich die be-gründeten Wünsche der gesellschaft-lichen Kräfte und der politische Wille der Regierung vereinen lassen. […]XV. Die Regierung kann in der Demo-kratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokrati-schen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zu-stimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheits-voller Distanz. Wir suchen keine Be-wunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentschei-den und mitverantworten. Das Selbstbewusstsein dieser Regie-rung wird sich als Toleranz zu erken-nen geben. Sie wird daher auch jene Solidarität zu schätzen wissen, die sich in Kritik äußert. Wir sind keine Erwählten; wir sind Gewählte. Des-halb suchen wir das Gespräch mit al-len, die sich um diese Demokratie mühen. In den letzten Jahren haben manche in diesem Lande be-fürchtet, die zweite deutsche Demokratie werden den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute weniger denn je. Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demo-kratie, wir fangen erst richtig an.«

© Rainer A. Müller (Hg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Band 11. Stutt-gart (Reclam) 1996, S. 35–37, 41, 43f., 45f., 50f.

M 12 »Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei« (KPC), angenommen auf der Plenar tagung der ZK der KPC am 5.4.1968:

Ihre Fähigkeit, die Gesellschaft zu leiten, hat die [Kommunisti-sche] Partei besonders in der gegenwärtigen Zeit bewiesen, als sie aus eigener Initiative den Demokratisierungsprozess ausge-löst und seinen sozialistischen Charakter gesichert hat. […] Sie verwirklicht ihre führende Rolle nicht dadurch, dass sie die Ge-sellschaft beherrscht, sondern dadurch, dass sie der freien, fort-schrittlichen und sozialistischen Entwicklung am treuesten dient. Sie kann sich ihre Autorität nicht erzwingen, sondern muss sie immer aufs Neue durch ihre Taten gewinnen. Ihre Linie kann sich nicht durch Verordnungen durchsetzen, sondern nur durch die Arbeit ihrer Mitglieder und die Wahrhaftigkeit ihrer Ideale.Die führende Rolle der Partei wurde in der Vergangenheit oft als Monopol, als Konzentration der Macht in der Hand der Parteior-gane aufgefasst. Das entsprach der falschen These, dass die Par-tei das Instrument der Diktatur des Proletariats sei. Diese schäd-liche Auffassung schwächte die Initiative und Verantwortung der staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen […]. Die Partei will und wird die gesellschaftlichen Organisatio-nen nicht ersetzen, sie muss im Gegenteil dafür sorgen, dass sich deren Initiative und politische Verantwortung für die Einheit un-serer Gesellschaft erneuert und weiter entfaltet. Aufgabe der Par-tei ist es, einen solchen Weg der Befriedigung verschiedener Inte-ressen zu suchen, der die gesamtstaatlichen Interessen nicht gefährdet, sondern ihnen im Gegenteil nützt und neue progres-sive Interessen schafft. Die Politik der Partei darf nicht dazu füh-ren, dass die nicht-kommunistischen Bürger das Gefühl haben, in ihren Rechten und Freiheiten durch die Partei eingeschränkt zu werden, sondern dass sie vielmehr in der Tätigkeit der Partei die Garantie ihrer Rechte, Freiheiten und Interessen sehen. […]

Grundlage der Aktionsfähigkeit der Partei unter den neuen Be-dingungen ist die ideelle und organisatorische Einheit, die auf der Basis breiter innerparteilicher Demokratie entsteht. Die wirk-samste Waffe gegen das Eindringen von Methoden des bürokrati-schen Zentralismus in die Partei ist die Stärkung des Einflusses der Parteimitglieder auf die politische Linie, die Stärkung der Rolle aller wirklich demokratischen Organe. Die gewählten Or-gane der Partei sind vor allem dafür verantwortlich, dass alle Rechte der Mitglieder gewährleistet, dass Entscheidungen kol-lektiv getroffen werden und die Macht nicht in einer Hand kon-zentriert wird. […] Die Partei ist sich dessen bewusst, dass es in unserer Gesellschaft keine tiefgreifendere Entwicklung der De-mokratie geben kann, wenn nicht demokratische Grundsätze konsequent im inneren Leben und der Arbeit der Partei selbst un-ter Kommunisten zur Anwendung kommen. Die Entscheidungen über alle wichtigen Fragen und die Kaderbesetzung von Funktio-nen muss nach demokratischen Regeln der Behandlung und durch geheime Abstimmung erfolgen. […] Dennoch aber haben sich bis zur heutigen Zeit in unserem ganzen politischen System die schädlichen Einflüsse der zentralistischen Entscheidung und Leitung erhalten. In den Beziehungen zwischen Partei, Staat und gesellschaftlichen Organisationen, in den inneren Beziehungen und Methoden dieser Komponenten, in den Beziehungen staatli-cher und anderer Institutionen zu den Bürgern, in der Auffassung der Bedeutung der öffentlichen Meinung und der Informiertheit aller, in der Praxis der Kaderpolitik – überall dort kommen viele Dinge zum Ausdruck, die den Menschen das Leben vergällen […]. Die Politik der Partei geht von der Forderung aus, dass es im gan-zen Staatsmechanismus zu keiner allzu großen Konzentration der Macht innerhalb eines Gliedes, eines Apparates oder bei einer Einzelperson kommen darf. Man muss eine derartige Aufteilung der Machtbefugnisse und ein System gegenseitiger Kontrolle zwi-schen den einzelnen Gliedern festsetzen, dass die Fehler und Übergriffe des einen Gliedes beizeiten durch die Tätigkeit eines anderen korrigiert werden können. Dem müssen nicht nur die Be-ziehungen zwischen den gewählten und ausführenden Organen entsprechen, sondern auch die Beziehungen innerhalb des Me-chanismus der staatlichen Exekutivmacht und Verwaltung und ebenso die Stellung und Funktion der Gerichte.

© Zdenek Mlynar, Nachtfrost. Erfahrungen auf dem Weg vom realen zum menschlichen So-zialismus. Köln (EVA) 1978, S. 325–327, 329, 340

M 13 Demonstranten mit tschechoslowakischen Flaggen versuchen am 21. August 1968, russische Panzer und Fahrzeugkolonnen an der Weiterfahrt durch Prag zu hindern. Reformpolitiker innerhalb der Kommunisti-schen Partei unter der Führung Alexander Dubceks hatten seit dem Frühjahr 1968 versucht, in der Tschecho-slowakei einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu schaffen. Die Truppen des Warschauer Pakts marschierten unter Führung der UdSSR in der Tschechoslowakei ein und beendeten den »Prager Frühling« schließlich mit Waffengewalt. © picture alliance, 21.8.1968

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M 15 Aktionsrat zur Befreiung der Frau (1968): Emotionale Probleme der Frau – Politische Probleme

Die Emanzipation der Frau ist ein Gradmesser der gesamtgesell-schaftlichen Emanzipation. Es gibt keine Befreiung der Mensch-heit ohne die soziale, emotionale sowie ökonomische Unabhän-gigkeit und Gleichstellung von Mann und Frau. […] Kleine Mädchen werden rosa gekleidet, kleine Jungen hellblau. Kleine Mädchen werden zu haushaltsorientiertem Spiel angehal-ten, kleine Jungen wegen der Puppe ausgelacht. Die Jungen sollen das Haus verlassen, sollen selbstständig werden und Erfahrungen machen. Sich ruhig austoben, auch sexuell. Mädchen lernen bald, die Männer zu erwarten, wenn Vater und Brüder abends heim-kommen und wenn das Essen vorbereitet sein muss. Sie identifi-zieren sich bald mit der Mutter, die über Lob des Vaters glücklich, über seine Unzufriedenheit schuldbewusst ist. […]In ihrer Vorbereitung auf die nie zu erreichende Illusion wird die Frau vorwiegend partnerorientiert. Die kapitalistische Gesell-schaft unterstützt sie dabei mit Werbung und Entertainment. Von einer aufkommenden Bewusstheit ihrer Situation wird die Frau systematisch abgelenkt. Kleidung, Gehabe, Emotionen der Frau sind schließlich Ausdruck ihrer hochgradigen Partner-Erwartung.Für den Mann zeigt sich diese erregte Frau als erregendes Lustob-jekt. In Filmen und Illustrierten wird ihm diese angeboten. Da er in seiner Erziehung und Beeinflussung zur überwiegenden Sacho-rientierung gebracht wurde, entspricht das Auswählen, Begut-achten, Verbrauchen und Ablegen vom Konsumgut Frau durchaus seiner Art. Unsere Gesellschaft erzieht zwei Geschlechter, die durch unterschiedliche Lernprozesse voneinander im Sinne einer Arbeitsteilung materiell abhängig sind: Das Mädchen lernt vieles, was mit Haushalt zu tun hat. Der Junge wird davon ferngehalten. Er wird sich später in Haushaltsdingen so dumm anstellen, dass er eine Frau braucht. Das Mädchen wird umgekehrt in allem dumm gehalten, was nicht mit Haushalt zu tun hat. Deswegen braucht sie später einen Mann, der für sie sorgt. Emotional jedoch sind beide einander entgegengesetzt gewor-den: der Mann der kapitalistischen Gesellschaft ist ein emotions-loses Arbeitstier, die Frau ein gefühlshaftes Objekt. Ihre gegen-seitigen Rollenerwartungen sind kaum vereinbar: […] Die starke Fixierung der Frau an den Mann bestätigt und befriedigt einer-

seits den Machtanspruch des Mannes, ande-rerseits wird er durch ihre unerschöpflichen Zärtlichkeits- und Sinnlichkeitsansprüche stark belastet. […] Er ist außenorientiert, ar-beitet an sachlichen Problemen, kann sich weiterentwickeln und lernen, während die Frau noch in eine Empfindungsdifferenzie-rung bis zur Schmerzhaftigkeit verstrickt ist. […]Lassen wir uns zudem nicht vormachen, Emanzipation bedeute: dem Mann entspre-chend zu werden. Würden wir der vermeintli-chen Emanzipation des Mannes in einer auto-ritären Gesellschaft nacheifern, so wäre das Resultat gesteigerter Konkurrenzkampf, Ag-gressivität, Brutalität, Selbstunterdrückung. Denken wir daran, dass sich der Mann ebenso wie die Frau aus seiner Rollenfixierung eman-zipieren muss.

© Lutz Schulenburg (Hg.), Das Leben ändern, die Welt verän-dern. 1968 – Dokumente und Berichte. Hamburg (Edition Nau-tilus) 1998, S. 303 – 307

M 16 Krefelder Appell: »Der Atomtod bedroht uns alle – Keine Atomrake-ten in Europa« (16.11.1980)

Immer offensichtlicher erweist sich der Nachrüstungsbeschluss der NATO vom 12. Dezember 1979 als verhängnisvolle Fehlent-scheidung. Die Erwartung, wonach Vereinbarungen zwischen den USA und der Sowjetunion zur Begrenzung der eurostrategischen Waffensysteme noch vor der Stationierung einer neuen Genera-tion amerikanischer nuklearer Mittelstreckenwaffen in Westeu-ropa erreicht werden könnten, scheint sich nicht zu erfüllen. Ein Jahr nach Brüssel ist noch nicht einmal der Beginn solcher Ver-handlungen in Sicht. […]Die Teilnehmer am Krefelder Gespräch vom 15. und 16. November 1980 appellieren daher gemeinsam an die Bundesregierung,– die Zustimmung zur Stationierung von Pershing II-Raketen

und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen;– im Bündnis künftig eine Haltung einzunehmen, die unser Land

nicht länger dem Verdacht aussetzt, Wegbereiter eines neuen, vor allem die Europäer gefährdenden nuklearen Wettrüstens sein zu wollen.

© Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1980, S. 1513; zit. nach Georg Fülberth, Geschichte der Bundesrepublik in Quellen und Dokumenten. Köln (Pahl-Rugenstein) 1983, S. 388f.

M 17 Der Soziologe Jörg Bopp 1983 über die »Grünen«

Ohne Zweifel hat die Bundesrepublik seit dem Ende der 60er Jahre trotz aller Rückschläge einen kräftigen Demokratisierungsschub erlebt, der vor allem von Jugendlichen in Gang gesetzt wurde. […] Im Moment erleben wir einen neuen Versuch vorwiegend enga-gierter Jugendlicher, die bundesrepublikanische Gesellschaft zu demokratisieren. Waren 1968 vor allem die Sozialdemokraten mit Willy Brandt der politische »Hoffnungsträger«, so sind es heute die Grünen […].Um nun der Abschottung von neuen gesellschaftlichen Entwick-lungen vorzubeugen, haben sich die Grünen auf einige Grund-sätze des alltäglichen politischen Handelns festgelegt. Die damit anvisierten Handlungsstile sind zugleich politisches Programm: Rotation der Abgeordneten, imperatives Mandat, knappe Diäten, paritätische Aufteilung der Ämter zwischen den Geschlechtern, größtmögliche Veröffentlichung der parlamentarischen Arbeit,

M 14 Menschenkette der »Friedensbewegung« am 22.10.1983 in Neu-Ulm. Über 200.000 Menschen demonstrierten an diesem Tag mit ihrer Menschenkette von Neu-Ulm bis Stuttgart gegen die Sta-tionierung von atomaren US-Mittelstreckenraketen in Europa als Antwort der NATO auf die vor-hergegangene Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen des Typs SS 20 durch die Sowjet-union. Europa und besonders das geteilte Deutschland, so die Kritiker, drohten zum Schauplatz eines atomaren Schlagabtauschs der Supermächte zu werden. © Karin Hill, picture alliance

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Unterstützung außerparlamentarischer Op-positions- und Protestbewegungen, Relati-vierung des Legalitätsprinzips, legere Um-gangsformen, Respektlosigkeit gegenüber den Ritualen des politischen Betriebs. Gegen die Versteinerung der politischen Parteien soll Basisdemokratie gestellt werden.

© Christian Graf von Krockow (Hg.), Brauchen wir ein neues Parteiensystem? Frankfurt/Main (Fischer) 1983, S. 57f.

M 18 Die »Charta 77«, verfasst von Vaclav Havel u. a. (1977)

Charta 77 ist eine freie informelle und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugungen, verschiedener Religionen und verschiedener Berufe, verbunden durch den Willen, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung von Bürger- und Men-schenrechten in unserem Land und in der Welt einzusetzen – jener Rechte, die den Menschen von beiden kodifizierten internati-onalen Pakten, von der Abschlussakte der Konferenz in Helsinki, von zahlreichen weite-ren internationalen Dokumenten gegen Krieg, Gewaltanwendung und soziale und geistige Unterdrückung zugestanden werden und die zusammenfassend von der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« der UN zum Ausdruck gebracht werden.Charta 77 fußt auf dem Boden der Solidarität und Freundschaft von Menschen, die von der gemeinsamen Sorge um das Geschick der Ideale bewegt werden, mit denen sie ihr Leben und ihre Arbeit verbunden haben und verbinden. (…) Charta 77 ist keine Basis für oppositionelle politische Tätigkeit. Sie will dem Gemeininteresse dienen wie viele Bürgerinitiativen in verschiedenen Ländern des Westens und des Ostens. Sie will also nicht eigene Programme politischer oder gesellschaftlicher Re-formen oder Veränderungen aufstellen, sondern in ihrem Wir-kungsbereich einen konstruktiven Dialog mit der politischen und staatlichen Macht führen, insbesondere dadurch, dass sie auf ver-schiedene konkrete Fälle von Verletzung der Menschen- und Bür-gerrechte hinweist, deren Dokumentation verbreitet, Lösungen vorschlägt, die auf Vertiefung dieser Rechte und ihrer Garantien abzielen, und als Vermittler in anfallenden Konfliktsituationen wirken, die durch Widerrechtlichkeit verursacht werden können.Durch ihren symbolischen Namen betont Charta 77, dass sie an der Schwelle eines Jahres entsteht, das zum Jahr der Rechte poli-tisch Gefangener erklärt wurde und in dessen Verlauf die Belgra-der Konferenz die Erfüllung der Verpflichtungen von Helsinki prü-fen soll. (…) Wir glauben daran, dass Charta 77 dazu beitragen wird, dass in der Tschechoslowakei alle Bürger als freie Menschen arbeiten und leben können.

© FAZ vom 7.1.1977, offizielle deutsche Veröffentlichung des Gründungstextes

M 19 Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit vom 1.6.1989 über oppositionelle Gruppen in der DDR in den 80er Jahren

Seit Beginn der 80er Jahre anhaltende Sammlungs- und Formie-rungsbestrebungen […] führten zur Bildung entsprechender Gruppierungen und Gruppen. Diese sind fast ausschließlich in Strukturen der evangelischen Kirchen in der DDR eingebunden bzw. können für ihre Aktivitäten die materiellen und technischen Möglichkeiten dieser Kirchen umfassend nutzen. […] Gegenwär-tig bestehen in der DDR ca. 160 derartige Zusammenschlüsse. […]

Sie gliedern sich in knapp 150 sog. Kirchliche Basisgruppen, die sich selbst […] bezeichnen als »Friedenskreise« (35), »Ökolo-giegruppen« (39), gemischte »Friedens- und Umweltgruppen« (23), »Frauengruppen« (7), »Ärztekreise« (3); »Menschenrechts-gruppen« (10) bzw. »2/3-Welt-Gruppen« (39) und sogen. Regional-gruppen von Wehrdienstverweigerern. […] Ableitend aus sog. Gründungserklärungen und Strategiepapieren […] bilden besonders folgende antisozialistische Inhalte/Stoß-richtungen die Schwerpunkte im Wirksamwerden feindlicher, op-positioneller Kräfte:1. Gegen die Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten des Sozialis-

mus gerichtete Angriffe finden ihren konzentrierten Ausdruck in Forderungen nach Änderung der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung und nach »Erneuerung des Sozialis-mus«. Dabei berufen sich diese Kräfte immer stärker auf die Umgestaltungsprozesse und die damit verbundenen Entwick-lungen in der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern. De-magogisch werden Begriffe wie Glasnost, Demokratisierung, Dialog, Bürgerrechte, Freiheit für »Andersdenkende« oder Meinungspluralismus missbraucht […].

2. Gegen die Sicherheits- und Verteidigungspolitik gerichtete Angriffe konzentrierten sich unter dem Deckmantel der »Ent-militarisierung« der Gesellschaft auf Forderungen nach Besei-tigung der vormilitärischen Erziehung und Ausbildung der Ju-gend (u. a. Unterrichtsfach Wehrerziehung), Abschaffung der Wehrpflicht, Einrichtung des sozialen bzw. zivilen »Friedens-dienstes« als gleichwertiger Ersatz für den Wehrdienst und auf Gewährung des Rechtes auf Wehrdiensttotalverweigerung aus Gewissensgründen.

3. Gegen die kommunistische Erziehung der Jugend gerichtete Angriffe beinhalten u. a. Forderungen nach Aufgabe des »To-talitätsanspruches« der marxistisch-leninistischen Weltan-schauung (…).

4. Probleme des Umweltschutzes bilden ein breites Feld zur Dis-kreditierung der Politik der Partei in Umweltfragen […].

© Volker Gransow/Konrad H. Jarausch (Hg.), Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bür-gerbewegung, Annäherung und Beitritt. Köln (Verlag Wissenschaft und Politik) 1991, S. 54

M 20 Etwa zehntausend Demonstranten nahmen bereits am 4. November 1989 in Potsdam an einer bis dahin einmaligen, weil nicht vom Staat und seinen Massenorganisationen angeordneten Großde-monstration in der Innenstadt Potsdams teil und zeigten Transparente mit weitreichenden demo-kratischen Forderungen. Nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung und dem Besuch des sowjetischen Parteichefs Michael Gorbatschow entluden sich die Proteste schließlich am 9. November 1989, an dem Tag, als die Maueröffnung das Ende der DDR einleitete. © Bernd Blumrich, picture alliance

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BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

7. Soziale Medien und das Partizipations-paradox

JAN-HINRIK SCHMIDT

In der öffentlichen Wahrnehmung werden mit dem Inter- net zahlreiche Hoffnungen und Befürchtungen verbunden.

Ganz wesentlich sind in diesem Zusammenhang Vorstellun-gen darüber, welche Auswirkung die wachsende Verbreitung der digitalen vernetzten Medien auf gesellschaftliche Teil-habe und politische Partizipation hat. Positive Stimmen pro-phezeien, dass sie politische Prozesse transparenter machen, Macht- und Medienmonopole brechen und marginalisierten Gruppen Gehör verschaffen können. Kritiker warnen hinge-gen vor Vereinzelung und Desinformation, aber auch vor der bloßen Simulation von Teilhabe und Fehlformen wie dem »Clicktivism«, bei denen sich Partizipation im Anklicken eines Buttons erschöpfe, ohne wirkliche gesellschaftliche Verände-rungen zu bewirken. Ein Blick in die Mediengeschichte zeigt, dass wohl alle neuen Medien jeweils in ihrer Zeit solche wider-streitenden Diagnosen und Annahmen über ihre Folgen hervor riefen (vgl. Schrape 2012). Hoffnung und Sorge sind ge-wissermaßen Ausdruck der Unsicherheit, auf welchen gesell-schaftlichen Boden die neuen Informations- und Medientech-nologien fallen: Welche Praktiken und Normen werden sich neu herausbilden, welche etablierten Verhaltensweisen und Routinen werden bestehen bleiben und welche verschwinden, wie greifen diese Veränderungen in Machtverhältnisse ein – wer gewinnt, wer verliert? Das Internet macht in dieser Hin-sicht keine Ausnahme, ist dennoch aber etwas Besonderes: Es ist ein Universalmedium, das Funktionen der klassischen Massenmedien wie Rundfunk oder Presse genauso erfüllen kann wie den direkten oder zeitverzögerten Austausch, den wir vorher beispielsweise über Telefongespräche und Briefe geführt haben. Dadurch greift das Internet in nahezu alle Le-bensbereiche ein – und es entwickelt sich zudem in einer bis-her ungekannten Geschwindigkeit weiter, sodass sich beim Einzelnen wie auch gesellschaftlich das Gefühl verfestigen kann, mit den technischen Innovationen und Weiterentwick-lungen nicht mehr Schritt halten zu können.

Soziale Medien (»social media«)

Als jüngste (aber sicher nicht letzte) Stufe dieser Entwicklung lässt sich das Aufkommen der »sozialen Medien« begreifen, also von Plattformen wie Facebook oder YouTube, von Wikipedia, Twit-ter oder Blogs (vgl. zum Folgenden u. a. Münker 2009; Schmidt 2011). Sie sind überwiegend in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre entstanden und haben sich inzwischen – wenn auch auf unter-schiedlichem Niveau – unter den Internetnutzern etabliert. Ein verbreiteter Sammelbegriff für die verschiedenen Angebotsgat-tungen ist das »Mitmachnetz«, in der sich bereits das Versprechen von gesteigerter Teilhabe und Partizipation ausdrückt. So böten Blogs und Twitter den Dissidenten in China oder Kuba die Mög-lichkeit, eine Gegenöffentlichkeit zu den staatlich gelenkten Me-dien aufzubauen. Über Video- und Fotoplattformen wie YouTube oder Flickr könnten Demonstrationen oder staatliche Übergriffe in autoritären Regimen dokumentiert und für ein weltweites Pub-likum zugänglich gemacht werden können. Beim arabischen Frühling 2011 oder den Demonstrationen im Iran 2009 dienten In-ternetplattformen sogar als Namensgeber für politische Proteste und sozialen Wandel, wenn von »Facebookrevolution« oder »Twit-terrevolution« gesprochen wurde.

Aber auch innerhalb von Deutschland haben die sozialen Medien in den letzten Jahren die politische Kommunikation beeinflusst. Im Jahr 2009 mündete der Protest gegen ein Vorhaben der Bun-desministerin Ursula von der Leyen, kinderpornographische Inhalte durch ein Stoppschild zu kennzeichnen, in der bis dato größten Online-Petition, die mehr als 130.000 Personen unter-zeichneten. Getragen und koordiniert wurde dieser Widerstand maßgeblich über netzpolitische Blogs und Twitter-Accounts, wo der Ministerin auch der Beiname »Zensursula« verpasst wurde. Je-doch beschränkte er sich nicht auf die sozialen Medien, sondern wurde auch in journalistisch-publizistischen Medien debattiert sowie auf Demonstrationen vertreten. Ähnliche Muster der Ver-schränkung unterschiedlicher medialer Öffentlichkeiten mit dem politischen Handeln »auf der Straße« zeigten sich auch bei den heftigen Debatten um den Bahnhofsumbau in Stuttgart. Auf Fa-cebook entstanden zahlreiche Diskussionsgruppen für wie auch wider »S21«, auf denen über Protestaktionen informiert und – nicht immer zivilisiert – gestritten wurde. Über Demonstrationen vor Ort wurde wiederum in den journalistischen Medien berich-tet, während man auf YouTube auch heute noch zahlreiche Ama-teuraufnahmen von den Blockaden im Schlossgarten findet, ne-ben Werbevideos der Deutschen Bahn zum gleichen Projekt.

Abb. 1 Social Media – Apps auf einem Smart-Phone © Jürgen Kalb, 2013

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Persönliche Öffentlichkeiten

Diese Ereignisse und Entwicklungen sind An-zeichen eines grundlegenden Strukturwan-dels von Öffentlichkeit. Er wird durch techni-sche Innovationen angetrieben, wenngleich nicht vorherbestimmt: Digitale vernetzte Medien, mit dem Internet als Basistechnolo-gie für den Datenaustausch zwischen Rech-nern, senken die Hürden, Informationen aller Art zugänglich zu machen und in Echtzeit zu verbreiten. Auf Grundlage dieser Infrastruk-tur entstehen zahlreiche Plattformen und Dienste, die spezifische Funktionen bieten oder sich an bestimmte Zielgruppen wenden. Für ihre Nutzerinnen und Nutzer dienen diese Werkzeuge dazu, alltägliche Kommuni-kations- und Informationsbedürfnisse zu be-friedigen, wobei eine zentrale neue Entwick-lung darin liegt, dass ein eigener Typ von Öffentlichkeit entsteht: Die persönliche Öf-fentlichkeit, in der Menschen Informationen von persönlicher Relevanz auswählen und mitteilen (also sich nicht unbedingt an Ob-jektivität oder gesellschaftlicher Relevanz orientieren müssen, wie es der Journalismus tut) und sich damit an ein Publikum wenden, das aus Freunden, Bekannten, berufli-chen Kontakten o. ä. besteht, also nicht völlig Unbekannte um-fasst. Über Verlinkungen oder das Weiterleiten und Empfehlen von interessanten Inhalten können sich Informationen schnee-ballartig verbreiten und große Aufmerksamkeit bekommen. Doch in der Regel haben die persönlichen Öffentlichkeiten keine Mas-senreichweite, sondern liegen zwischen der Reichweite von Ge-sprächen am Stammtisch oder auf dem Schulhof einerseits und den Massenmedien andererseits. In ihnen herrscht daher ein an-derer Kommunikationsmodus: Nicht das »Publizieren«, das jour-nalistische Medien auszeichnet, sondern die »Konversation« steht im Mittelpunkt. Der Austausch und Dialog, möglicherweise aber auch Kritik und Beleidigungen, werden über Kommentare oder den »Gefällt mir«-Knopf von Facebook technisch unter-stützt. Kommunikation in den persönlichen Öffentlichkeiten ist dadurch vor allem eine Form von Selbstpräsentation und Bezie-hungspflege – es handelt sich also auch im wörtlichen Sinn um »soziale Medien«.Politische Themen – hier breit verstanden als Fragen von gesell-schaftlichem Belang – werden in persönlichen Öffentlichkeiten durchaus auch angesprochen und diskutiert, insoweit sie von den Nutzerinnen und Nutzern als persönlich relevant und (mit-)tei-lenswert angesehen werden. Aus diesem Grund zeigen in den letzten Jahren politische Akteure, von den Parteien und Abgeord-neten über staatliche Einrichtungen und Behörden bis hin zu Bür-gerinitiativen oder gemeinnützigen Organisationen, so ein gro-ßes Interesse, sich in den sozialen Medien zu positionieren: Sie wollen dort präsent sein, für ihre politischen Ansichten und Ziele werben und Unterstützung gewinnen, wo sich eine wachsende Zahl der Bürgerinnen und Bürger aufhält – alleine auf Facebook sind inzwischen wohl mehr als zwanzig Millionen Deutsche aktiv. Sie sind nicht nur Empfänger, sondern können auch zu Multiplika-toren für Informationen und politische Botschaften werden, wenn sie diese in ihrem eigenen Kontaktnetzwerk verbreiten und emp-fehlen. Und weil auch publizistische Medienangebote in den sozi-alen Medien präsent sind, kann es zu regelrechten Informations-kaskaden kommen – zur positiven Mundpropanda genauso wie zum negativ-kritischen »Shitstorm«, bei dem sich Kritik oder Häme über eine Person oder Organisation ergießt.

Teilhabe »in«, »mit Hilfe der« und »an« den sozialen Medien

Dieser Wandel von Öffentlichkeit, den die sozialen Medien mit sich bringen, ist für politische Partizipation aber auch deswegen relevant, weil er Bürgerinnen und Bürgern neue Modi der gesell-schaftlichen Teilhabe eröffnet. Erstens praktizieren Menschen Teilhabe in den sozialen Medien, wenn sie sich auf den entsprechenden Plattformen aufhalten und informieren, mit ihrer Hilfe ihre persönlichen Interessen ausdrü-cken und Beziehungen pflegen – also Erfahrungen von sozialer Einbindung und Austausch machen (vgl. Wagner/Brüggen/Gebel 2009). Diese Teilhabe umfasst das »Sich-Positionieren« zu be-stimmten Themen im Sinne eines Signals an die eigene persönli-che Öffentlichkeit, was einem wichtig ist oder worüber man nach-denkt. Zur Teilhabe in den sozialen Medien gehört aber auch das »Sich-Einbringen« in Debatten und Gespräche, die die eigene Le-benswelt berühren, zum Beispiel indem man sich in den Kom-mentaren zu einem Weblogeintrag über seine eigenen Erfahrun-gen zu einem politischen Thema austauscht. Die Grenzen zum zweiten Modus von Teilhabe sind dabei flie-ßend: Teilhabe mit Hilfe der sozialen Medien geschieht dann, wenn die sozialen Medien als Werkzeug oder Kanal genutzt wer-den, um auf politische Entscheidungen und gesellschaftliche Debat ten außerhalb des Internets Einfluss zu nehmen. Zudem lassen sich gerade aufgrund der geschilderten einfachen Mög-lichkeiten, Information zu verbreiten und zu multiplizieren, auch vergleichsweise leicht andere Menschen aktivieren, beispiels-weise durch das Verbreiten von Veranstaltungsinformationen, Demonstrationsaufrufen oder Hinweisen auf Unterschriften-sammlungen. Digitale Medientechnologien spielen daher inzwi-schen eine wichtige Rolle für die Mobilisierung, den Wissensaus-tausch und die Koordination politischen Handelns, in Deutschland und weltweit. Den genannten Erfolgsbeispielen stehen aber auch Beobachtun-gen gegenüber, dass der Schritt von der »Teilhabe im Netz« zur »Teilhabe mit Hilfe des Netzes« nicht immer gelingt. Vielfach bleibt es bei Ansätzen oder Artikulationen von politischen Inter-essen innerhalb onlinebasierter Räume, die aber nicht an Debat-ten und Entscheidungen im politischen System angebunden sind. Unter dem Stichwort des »Slacktivism« (Morozov 2009) wird bei-spielsweise kritisch diskutiert, dass sich für viele Nutzer politi-sches Engagement bereits im Klicken des »Gefällt mir«-Buttons auf Facebook oder dem Weiterleiten eines Links zu einer Online-

Abb. 2 »Das alles wird einmal dir gehören …« © Gerhard Mester, 2012

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Petition erschöpfe, ohne dass es es zu weiterführenden (und letztlich politisch folgenreichen) Formen von Teilhabe käme.Der dritte Modus schließlich ist die Teilhabe an den sozialen Me-dien im Sinne einer möglichst selbstbestimmten Technikgestal-tung. Sie artikuliert sich unter anderem in der Netzpolitik, einem Politikfeld, das sich in den vergangenen Jahren auch in Deutsch-land konturiert und etabliert hat. Dafür stehen beispielsweise die Wahlerfolge (und damit einhergehende große mediale Aufmerk-samkeit) für die Piratenpartei oder die Einrichtung der Enquete-Kommission »Internet und digitale Gesellschaft« des Deutschen Bundestags. Politische Debatten um Datenschutz, Netzneutrali-tät oder das Leistungsschutzrecht für Presseverleger drehen sich zwar auf den ersten Blick um spezifische Details der medien- oder technologiepolitischen Regulierung des Internets, berühren bei näherem Hinsehen aber wesentliche Fragen der Gestaltung von bürgerlichen Freiheiten oder des Mediensystems unter Bedingun-gen einer rasanten technischen Konvergenz von Medien- und Kommunikations-technologien (vgl. Stöcker 2012).

Das Partizipationsparadox

Das Internet und speziell die sozialen Medien stellen also Kom-munikationsräume für gesellschaftliche Öffentlichkeit zur Verfü-gung und unterstützen verschiedene Modi von Teilhabe. Aller-dings wirft diese Entwicklung Widersprüche auf, die sich als »Partizipationsparadox« beschreiben lassen. Die Infrastruktur und die Regeln dieser neuen Kommunikations-räume werden derzeit von einigen wenigen global agierenden Un-ternehmen bereitgestellt und gestaltet. Diese haben letztlich kommerzielle Interessen, wodurch der Grad an Teilhabe, den Nut-zerinnen und Nutzer an den Infrastrukturen der sozialen Medien ausüben können, in aller Regel eingeschränkt ist (vgl. Wagner/Gerlicher/Brüggen 2011). Die Plattformbetreiber ermutigen zu »Mitwirkung«, weil erst die Aktivitäten der Nutzerinnen und Nut-zer – das Teilen von persönlichen Informationen und Neuigkeiten, von Fotos und Videos – den Wert einer Plattform ausmachen. Auf den ersten Blick nehmen sie dabei eine reine Mittlerrolle zwi-schen den Nutzern ein, doch faktisch lassen sie sich meist weit reichende Rechte an den Daten und Inhalten einräumen und be-halten sich auch vor, bestimmte Inhalte oder Profile zu sperren, die nicht den Allgemeinen Geschäftsbedingungen entsprechen. Hierbei kommt eine zweite Facette von Partizipation ins Spiel: Die »Mitbestimmung«, die sich zum einen in den Möglichkeiten äu-

ßert, das eigene Profil anzupassen und zu personalisieren. Zum anderen werden Nutze-rinnen und Nutzer aber auch zur Mithilfe auf-gefordert, zum Beispiel wenn es um die Mo-deration oder Kontrolle von Inhalten geht. Auf Plattformen wie YouTube oder Facebook kann aufgrund der schieren Menge der nut-zergenerierten Inhalte keine vollständige re-daktionelle (Vor-)Prüfung stattfinden. Zu den Moderationsteams sowie den immer wichti-ger werdenden technischen Filtersystemen tritt daher die »community«, die Betreiber auf extremistische, gewaltverherrlichende oder anderweitig problematische Inhalte hinweisen soll. Die Teilhabe der Nutzerschaft wird als Form der unentgeltlichen Arbeit im Geschäftsmodell einkalkuliert und steigert letztlich den Wert einer Plattform. Doch echte Selbstbestimmung, also das ei-genverantwortliche Gestalten von Struktu-ren und Regeln, ist bei den großen Social-Media-Plattformen nicht vorgesehen. Mit dem Registrieren bei einem Angebot akzep-tiert man zugleich die Allgemeinen Ge-schäftsbedingungen und begibt sich dadurch

in ein Vertragsverhältnis zu den Anbietern, wird also zum Kunden. Für den Einzelnen ist dies möglicherweise auf den ersten Blick gar nicht ersichtlich: Man kann in der Regel die Plattformen ja kos-tenlos nutzen, und die genauen Bedingungen und Pflichten, die man eingeht, sind für den juristischen Laien aus den umfangrei-chen und komplexen Dokumenten kaum zu erschließen. Den-noch findet ein Tausch von Leistung und Gegenleistung statt, denn man zahlt mit seinen persönlichen Daten und seiner Auf-merksamkeit, die wiederum vor allem gegenüber Werbetreiben-den vermarktet werden. Zynisch formuliert ist man also noch

Abb. 3 Gefangen im (Google-)Netz © Gerhard Mester, 2012

Abb. 4 »Schalt jetzt endlich die verfluchte Spielkonsole aus!« © Ritsch-Renn.com, 2013

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nicht einmal Kunde von Facebook und ande-ren Plattformen, sondern selbst das Produkt. Das Verhältnis zwischen Nutzerschaft und Betreibern der Plattformen ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Erstens hat man als Nutzer kaum Möglichkeiten, etwaigen Ände-rungen in der Gestaltung, im Funktionsum-fang oder in den Geschäftsbedingungen ei-ner Plattform zu widersprechen oder sie im Vorfeld zu beeinflussen, weil es keine oder nur rudimentäre Prozeduren der Nutzeran-hörung oder der Abstimmung zwischen un-terschiedlichen Varianten gibt. Und selbst, wenn man sich zum Verlassen einer Plattform entscheiden sollte, bauen sich Hürden auf. Diese können sozialer Art sein, weil zumin-dest in bestimmten Altersgruppen oder Sze-nen die Präsenz auf einer Netzwerkplattform wie Facebook derzeit unerlässlich ist, um sich nicht sozial zu isolieren. Aber auch tech-nische Hürden bestehen, denn man kann die aufwändig eingestellten und zusammenge-tragenen Informationen zum eigenen Kon-taktnetzwerk nicht einfach zu einem anderen Konkurrenznetzwerk transferieren. Diese In-teroperabilität, die zum Beispiel auf dem Te-lefonmarkt ermöglicht, auch zwischen zwei unterschiedlichen Betreibern telefonieren oder seine Nummer mitnehmen zu kön-nen, ist im Bereich der sozialen Medien noch nicht etabliert. Dies wiederum ist eng mit einem zweiten Problem verbundenen: Die Anbieter von Social-Media-Plattformen sammeln immense Datenmengen, die von den personenbezogenen Informationen im engeren Sinne (wie Geschlecht, Geburtsdatum oder Kontakt-adresse) bis zu eher beiläufig bei der Nutzung anfallenden Infor-mationen über Vorlieben, Interessen, Aktivitäten und räumliche Bewegung reichen. Zudem erfassen sie die soziale Verortung ei-ner Person im Geflecht einander überlappender Beziehungs- und Interaktionsnetzwerke. Aus diesen Informationen lassen sich wie-derum, eine genügend große Datenmenge vorausgesetzt, relativ treffsichere Vorhersagen über Präferenzen oder Verhalten des einzelnen Nutzers machen. Aus der Sicht der Betreiber entstehen hier neue Möglichkeiten für zielgerichtete, personalisierte Ansprache und Werbung, die für den Einzelnen relevanter und damit wertvoller sein kann. Aus Sicht des Datenschutzes hingegen ist dies eher ein Albtraum, weil sich die sozialen Medien eben auch für überwachende oder kont-rollierende Zwecke nutzen lassen, und weil die auf ihnen basie-renden Öffentlichkeiten gefiltert, zensiert oder automatisch und verdeckt durchsucht werden können. Vorschläge zu einer stärke-ren Regulierung, zum Beispiel zur Novellierung der EU-Daten-schutzrichtlinie, sind daher auch als Versuch zu sehen, diesen potenziell freiheitsgefährdenden Datensammlungen Grenzen zu setzen. Zusammengefasst besteht das Partizipationsparadox der sozia-len Medien also darin, dass sie einerseits bisher ungekannte Mög-lichkeiten eröffnen, sich an gesellschaftlicher Öffentlichkeit zu beteiligen, was wiederum bestehende Machtstrukturen des pro-fessionell-publizistischen Systems tiefgreifend verändert. Ande-rerseits verschließen sie sich selbst aber der Teilhabe und etablie-ren neue machtvolle Strukturen, in denen in beispiellosem

Ausmaß und unter Mitwirken von uns Nutzerinnen und Nutzern – Informationen über unseren Alltag erhoben und verarbeitet wer-den. Teilhabe in, mit Hilfe der und an den sozialen Medien muss sich diesem Paradox stellen und letztlich darauf hinarbeiten, al-ternative Modelle für digitale vernetzte Öffentlichkeiten zu för-dern, die auf dezentralen Infrastrukturen, offenen Standards für den Datenaustausch und frei verfügbaren Softwaretechnologien beruhen.

Literaturhinweise

Morozov, Evgeny (2009): From slacktivism to activism. Hg. v. Foreign Policy. Online verfügbar unter: http://neteffect.foreignpolicy.com/posts/2009/09/05/from_slacktivism_to_activism.

Münker, Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten: Die sozialen Medien im Web 2.0. Frankfurt am Main.

Schrape, Jan-Felix (2012): Wiederkehrende Erwartungen: Visionen, Progno-sen und Mythen um neue Medien seit 1970. Hülsbusch.

Schmidt, Jan (2011): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0. 2. überarbeitete Auflage. Konstanz.

Stöcker, Christian (2012): Governance des digitalen Raumes: aktuelle netz-politische Brennpunkte. In: APuZ 62 (7), S. 9–14.

Wagner, Ulrike/ Brüggen, Niels/Gebel, Christa (2009): Web 2.0 als Rahmen für Selbstdarstellung und Vernetzung Jugendlicher. München. Online ver-fügbar: http://www.jff.de/dateien/Bericht_Web_2.0_ Selbstdarstellungen_JFF_2009.pdf

Wagner, Ulrike/Gerlicher, Peter /Brüggen, Niels (2011): Partizipation in und mit dem Social Web – Herausforderungen für die politische Bildung. Mün-chen.

Abb. 5 Schule der Zukunft: 20 Jahre nach dem Kruzifix-Urteil © Gerhard Mester, 2012

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MATERIALIEN

M 1 Bloggerkolumne von Johnny Haeusler: »Die Jugend-verdrossenen«

Vor etwa zwei Jahren twitterte Max Winde alias »@343max«: »Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen.« Er erntete damit jede Menge Applaus und Weiterverbreitung. Zu Recht, denn die Aussage kehrt den ewigen Vorwurf des politi-schen Desinteresses der Jugend in eine mittlerweile sehr wahr gewordene Prognose um.Als jüngste Umfragen der größtenteils von jungen Menschen ge-prägten Piratenpartei bessere Ergebnisse vorhersagten als der FDP, vor allem aber einen möglichen Einzug ins Berliner Abgeord-netenhaus, da reagierte das politische Establishment mit War-nungen durch Klaus Wowereit und einem mäßig gelungenen Witzchen von Renate Künast. Die grüne Spitzenkandidatin sagte, sie wolle die Piraten »resozialisieren«. Und auch, dass in dieser Woche ein kleines Wunder in Sachen politischer Bürgerbeteili-gung geschehen ist, als innerhalb weniger Tage die noch fehlen-den 25.000 Mitzeichner einer Petition gegen die Vorratsdaten-speicherung im Internet mobilisiert werden konnten, ruft bei der Politik keine hörbare Begeisterung hervor, sondern allenfalls be-tretenes Schweigen. Da wird der Bürger also aktiv, und dann ist es anscheinend auch wieder nicht richtig.Stattdessen: Debatten über Facebook-Buttons und Rufe nach mehr Kontrolle im Netz. Wenn sich beachtenswerte Teile einer Generation mithilfe ihres wichtigsten Mediums, dem Internet, politisch äußern und engagieren, dann sollte das für die Etablier-ten jedoch kein Anlass zur Sorge, sondern zur Begeisterung sein. Es braucht Unterstützung statt Restriktion. Man könnte fast mei-nen, die Politik sei jugendverdrossen.

© Johnny Haeusler, 16.9.2011, Die Jugendverdrossenen, www.tagesspiegel.de/medien/bloggerkolumne-die-jugendverdrossenen/v_print/4617572.html?p=Der Autor betreibt das Weblog www.spreeblick.com und ist Mitveranstalter der jährlichen Konferenz re:publica.

M 2 Macmagazin: » Wer ist eigentlich Max Winde?«

Max Winde ist in der Blogszene kein Unbekannter, mischt er doch beim Spreeblick mit und ist Mitbegründer von AdNation. Im Interview erzählt er, wie Twitter frischen Wind in die Szene weht und wie die Welt zum Twitter-Stoff wird.macmagazin.de: Welches aktuelle Tagesereignis hat Sie in letzter Zeit besonders bewegt?Max Winde: Ich glaube und hoffe, dass das Jahr 2009 als die Ge-burtsstunde einer neuen Bürgerbewegung gelten wird, die die Chancen des Übermediums Internet auch nutzt. Die Verabschie-dung des »Zugangserschwerungsgesetzes« im Bundestag, aber auch Begriffe wie »Killerspiele« und der Kampf gegen die ver-meintlichen »Kostenloskultur des Internet« zeigen, wie wenig die politische und wirtschaftliche Führungsschicht das Internet und die digitale Kultur bisher verstanden haben. Und es zeigt, wie dringend es nötig ist, dass netzaffine Menschen sich stärker in die aktuellen Diskussionen einmischen, um für Verständnis zu werben und für die eigenen Ziele zu kämpfen. Wenn ich zum Bei-spiel im Wahlprogramm der CDU das Internet nur als Gefahr und nie als Chance erwähnt finde, dann ist dies ein Zeichen für mich, dass wir uns dringend einmischen müssen.macmagazin.de: Gezwitscher auf allen Kanälen – Hand auf’s Herz, wie viel Zeit verbringen Sie mit Twitter und Blogs?Max Winde: Twitter ist für mich der Kommunikationskanal Num-mer Eins. Ich habe meinen Job über Twitter gefunden und meine Freundin über Twitter kennengelernt. Sogar eine von meinen bei-den Katzen habe ich über Twitter adoptiert. Gerade an diesem Wochende habe ich ein paar Freunde auf eine Geburtstagssause

in Brandenburg eingeladen: Gerade mal 3 von 17 Leuten habe ich nicht direkt oder indirekt über Blogs und Twitter kennengelernt. Wenn ich also betrachte, wie mein gesamtes Leben von Blogs und Twitter zusammengehalten wird, dann muss ich sagen: Ja, ich ver-bringe immer noch viel zu wenig Zeit mit Twitter und Blogs.macmagazin.de: Sie haben die technische Leitung beim Spreeblick, ei-nes der großen Blogs im deutschen Sprachraum. Vor einigen Jahren konnte man von Blogprominenz sprechen, der Begriff A-Blogger geisterte umher. Wie ist die Situation heute, hat sie sich – vielleicht durch Twitter – ent-spannt?Max Winde: Und ob sich die Lage entspannt hat! Bis vor wenigen Jahren gab es eine handvoll A-Blogger, die die gesamte Aufmerk-samkeit absorbierten wie ein schwarzes Loch das Licht. Dank Rivva und Twitter finden nun auch viele der kleineren Blogs end-lich die Beachtung, die sie verdienen. Endlich können wir sehen, dass der ganze Himmel voll mit kleinen Sternen ist und nicht nur von einigen wenigen großen Sonnen dominiert wird. Die deut-sche Blogosphäre hat sich viel zu lange nur als Gegenpol der klas-sischen Medien gesehen und konnte ihr wirkliches Potential nicht entfalten – dies wird jetzt nachgeholt.macmagazin.de: Verändert das Bloggen und Twittern die Sicht auf die Welt, wird sie zum Stoff für (Micro-)Blogging?Max Winde: Oh ja! Es gibt diese Tage, an denen ich alles auf Twit-terbarkeit abscanne. Kleine Banalitäten des Alltags werden zu kleinen Geschichten im Netz.macmagazin.de: Mit AdNation habt Ihr die Werbung in Blogs professi-onalisiert und bildet auch Rücklagen für Rechtsstreitigkeiten. Davon ha-ben auch einige Blogger Gebrauch gemacht, wie ist die Tendenz? Wie ge-fährlich ist es, derzeit ein Blog zu führen? Und wann können sich Blogs wieder bei Euch bewerben?Max Winde: Nach meinem Gefühl hat die Zahl der Abmahnungen in letzter Zeit etwas abgenommen. Zum einen hat sich vielleicht bei vielen Unternehmen langsam mal herumgesprochen, dass ein

M 3 Twitter-Profil von Max Winde, Pionier der »Social media« © Max Winde,@343max, 2013

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kritischer Blogbeitrag nicht gleich das Ende der Welt bedeutet. Vermutlich sind viele Blogger auch etwas vorsichtiger geworden. Solange man Augenmaß bewahrt und im Zweifelsfall noch mal eine Nacht vor dem Ver-öffentlichen über einen kritischen oder pole-mischen Artikel schläft, ist die Gefahr, vor Gericht zu landen, sicherlich recht gering. Dennoch halte ich es für ratsam, eine Rechts-schutzversicherung abgeschlossen zu haben: (…)macmagazin.de: Wann sind Sie glücklich?Max Winde: Glück ist für mich, mein Leben selbst gestalten zu können. So ist es für mich als leidenschaftlicher Langschläfer ein gro-ßes Glück, nicht um 9 Uhr morgens produktiv sein zu müssen, nur weil mir eine Uhr dies be-fohlen hat. Ich liebe es, statt in einem muffi-gen Büro in meinem Garten arbeiten zu kön-nen. Diese flexible Arbeitsweise ist durch das Internet überhaupt erst möglich geworden, worüber ich mich jeden Tag auf’s Neue freue. Den Rest überlasse ich gern dem Zufall.

© Macmagazin. de (13.6.2012): Wer ist eigentlich Max Winde?, www.giga.de/webapps/twitter/tipps/wer-ist-eigentlich-max-winde

M 4 Johannes Weyrosta: »Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen!«

Im Grunde mangelt es den heutigen Jugendgenerationen nicht an Feindbildern und Problemstellungen, dennoch haftet an den jun-gen Menschen ein apolitisches und unkritisches Image. Nur sel-ten überraschen wir unsere wutbürgerliche Elterngenerationen durch politisches Aufbegehren und zivilgesellschaftliche Partizi-pation. Während unsere Eltern auf der Straße gegen überdimensi-onierte Tiefgaragen der Deutschen Bahn zu demonstrieren versu-chen, einverleiben wir uns Billigflüge, technologische Neuheiten und kostengünstige Kleidung im Dauerlauf. Vor wenigen Mona-ten kollabierte das Atomkraftwerk in Fukushima, dessen Folgen bis heute nicht geklärt sind, den dramatischen Auswirkungen von Tschernobyl jedoch in nichts nachstehen werden.Vor den Küsten Europas sterben zu Tausenden junge Afrikaner, die den Diktaturen ihrer Heimatländer entfliehen möchten, im reichen Westen jedoch nicht geduldet werden. In Libyen fliegt die westliche Staatengemeinschaft Luftangriffe gegen einen Führer, der lange Zeit als gern gesehener Gast durch Europa reiste, um an unserem Wohlstand mitzuwirken und selbst daran zu verdienen. Schon der Irak-Einsatz der US-Regierung stand unter fragwürdi-gen Vorzeichen und ist nicht erst heute als völkerrechtswidrig ein-zustufen. In vielen Teilen Europas wird der Tonfall gegenüber Migranten und Andersgläubigen rauer und feindseliger, Däne-mark denkt bereits öffentlich über Grenzschließungen nach. Doch wo bleibt der Widerstand unserer Generation? Wir schauen ohnmächtig zu, die Ereignisse schnellen an uns vorbei und ersti-cken fundierte Gegenwehr schon im Keim.taz und der Freitag überschlagen sich in Berichterstattungen und Reportagen über die Energiewende, nachhaltiges Wirtschaften und alternative Lebensformen. Wer Peter Unfried, Chefreporter der taz, auf seinem Streifzug durch das französische Viertel in Tü-bingen und den Entdeckungsreisen durch das wohlstandsbesof-fene aber dennoch energiebewusste Hohenlohe folgt, müsste mit Stolz erfüllt sein. Deutschland reflektiert kritisch und mit offe-nem Ausgang seine eigene Haltung zu Paradigmen der zurücklie-genden Dekaden. Sollten wir uns wirklich nur von ökonomischen Zielen leiten lassen? Wo können wir noch ressourcenschonender und nachhaltiger agieren?

Endlich kann auch die Jugendgeneration froh sein, in diesen Zei-ten zu leben. Es geschieht etwas – so zumindest der Eindruck. Von unseren Eltern und Großeltern bekamen wir frühzeitig vermittelt, dass große Schlachten und Errungenschaften zurückliegen, die ganze Generationen zu Kämpfern gegen Faschismus, Autoritä-ten, Kriegseinsätze und Atomkraft werden ließen. Die Gegen-frage liegt nicht weit: Und was ist mit euch? Wogegen kämpft ihr? Meiner Generation mangelte es schlichtweg an Feindbildern. An-tiautoritär und mit liberalen Weltansichten großgezogen sind wir nun Wohlstandskinder mit klaren Problemen vor Augen:Klimawandel, Wirtschaftsmigration und die neoliberale Ausrich-tung der Wirtschaft für immer mehr Wachstum. Sie wurden uns quasi auf dem Silbertablett präsentiert, wir mussten sie nur noch greifen. Doch noch ist vieles der Gegenwehr nur heiße Luft. Zu-sammenhänge zwischen persönlichem Konsumverhalten und weltpolitischen Auseinandersetzungen werden nicht oder unzu-reichend gezogen. Konsumgesellschaften haben keine Zeit und keinen Platz für Fragen nach Menschenrechten, Produktionsbe-dingungen und Umweltauswirkungen, insofern diese nur in ande-ren Teilen der Erde spürbar sind. Die heutige Jugend muss asketi-scher werden. Verzicht, Reflektion und Kontrolle müssen die Maxime unseres Konsumverhaltens werden. Kompromisse darf es nicht geben. Flüge für 19 Euro nach London sind nicht mit Fair-trade-Kaffee aufzuwiegen, Klamotten aus Biobaumwolle verlie-ren ihre Tragkraft wenn der Körper, der darin steckt, sich täglich von Fleisch ernährt.Der Netzaktivist Max Winde prägte mit dem Ausruf »Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen« unser Leitmo-tiv. Es bedarf einer Bewusstwerdung von Folgen und Verantwor-tung unseres Konsumverhaltens. An Verzicht geht kein Weg vor-bei. (…) Wir müssen aufwachen, schon jetzt schwinden Fukushima und der Libyen-Einsatz aus unseren Köpfen, wir verdauen politi-sches Verbrechen wie Junkfood und verlieren dabei den Bezug zu ihrer Tragweite. Dabei ist es doch so erstrebenswert, eine Gene-ration mit Gesicht zu sein. Und dieses Gesicht sollte wahrlich nicht die Form eines angebissenen Apfels haben.

© Johannes Weyrosta (13.6.2011): www.freitag.de/autoren/weilmeldung/ihr- werdet-euch-noch-wunschen-wir-waren-politikverdrossen

M 5 »Seht Ihr denn auch irgendwelche Gefahren, ….« © Thomas Plaßmann, 17.6.2012

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M 6 Katja Bauer: »Die digitale Elite will die Welt retten. Berlin nach der Wahl«

Sie sind jung, überwiegend männlich, lieben Nerdbrillen, Ziegenbärtchen und das Netz. Aber sie wollen nicht auf ein Klischee redu-ziert werden, sondern anders Politik machen. 14 Männer und eine Frau sind die ersten Pira-ten in einem Landesparlament. (…) Transpa-renz – so heißt eines der Zauberwörter der Piraten. Alle Neuparlamentarier, die man da-nach fragt, was ihr wichtigstes politisches Ziel sei, antworten mit diesem Wort so zuver-lässig wie Mädchen, die bei Misswahlen Welt-frieden sagen. (…) »Es ist ja alles noch sehr ungewohnt«, sagt Andreas Baum, der Spit-zenkandidat, den die Partei per Los bestimmt hat. Schließlich sei die Arbeit im Parlament für sie alle ein Lernprozess. Wie locker die Pi-raten diesen Prozess nehmen, das konnte man im Wahlkampf beobachten. Es gab Kernthemen wie die Wirtschaftspolitik, bei denen der Spitzenkandidat mit den Achseln zuckte. Man habe sich noch nicht eingele-sen – das hat offenbar nicht geschadet. Jetzt wollen sie von ihrem Lern- und Einlesepro-zess berichten. Denn natürlich macht die Partei, in der »wir grade unheimlich viel zum ersten Mal machen«, neue Erfahrungen. Keiner hat bisher jemals eine Kleine Anfrage gestellt oder einen Antrag zur Geschäftsordnung. Davon wollen die Piraten künftig berichten.»Das kann durchaus auch ein bisschen Sendung-mit-der-Mausmä-ßig sein«. Denn – Internetweisheit! – wenn man Lernprozesse teilt, dann wird man zusammen unter Umständen schneller schlauer.Da ist es wieder, das Internetwissen – und damit auch das Kli-schee einer Partei von den Nerds, die Tag und Nacht vor ihrem Rechner sitzen und eigentlich außer zensurfreiem Surfen und vielleicht noch straflosem Cannabiskonsum keine echten Ziele haben. Das nun wieder findet der Haufen junger, internetaffiner Männer, der da sitzt, nicht so lustig. (…) In der Zwischenzeit je-denfalls müssen sie sich erst einmal parlamentarischen Grundfra-gen zuwenden. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass es bei uns einen Fraktionszwang geben wird«, sagt Andreas Baum. (…) Hier sitzen keine Politikprofis – die meisten haben lang nicht gedacht, dass Berufspolitiker aus ihnen werden. Und auch wenn sie es jetzt sind, sie wollen es nicht werden. »Endlich normale Menschen«, haben sie auf ihren Plakaten versprochen – eine Anti-parteienpartei.

© Katja Bauer: »Die digitale Elite will die Welt retten. Berlin nach der Wahl«, Stuttgarter Zeitung vom 20.11.2011

M 7 Jasper von Altenbockum: »Die Linux-Demokratie. Nicht nur die Piratenpartei will aus einer Kathedrale einen Basar machen«

Der amerikanische Programmierer Eric Steven Raymond schrieb 1997 mit seinem Essay »Die Kathedrale und der Basar« ein Mani-fest der »freien Software«. Er entwarf eine Computerwelt, die nicht von wenigen Konzernen, sondern von allen geschaffen werden sollte, mit einer für alle Internetnutzer frei zugänglichen Program-miersprache. Jeder sollte sich daran beteiligen können, niemand das Monopol für eine Software haben. Doch Raymond ging es um mehr. Freie Software (»Open Source«) war für ihn eine Weltan-schauung. Seit ein paar Jahren ist sie in der Politik angekommen.Die alte Welt habe aus Kathedralen bestanden, schrieb Raymond, der selbst der Hackerszene entstammt. Die neue sei wie ein Ba-

sar. Kathedralen seien sorgsam Stein für Stein gemeißelt worden, von Druiden ersonnen, von exklusiven Bauhütten ausgeführt, das Werk kleiner Gruppen disziplinierter Handwerker und Hohepries-ter, die in großer Abgeschiedenheit wirkten. Die Kathedrale der Gegenwart war damals Microsoft, der Basar war das Betriebssys-tem Linux. Jedermann konnte an der Weiterentwicklung von Linux teilnehmen, die Linux-Gemeinde war in den Augen von Raymond wie »ein großer, wild durcheinander plappernder Basar, geschaf-fen von Tausenden über den ganzen Planeten verstreuten Neben-erwerbs-Hackern«. »Linux ist subversiv«, schrieb Raymond. (…)Wie aber wird aus solchen politischen Maximen ein Betriebssys-tem? Mit dieser Frage beschäftigt sich nicht nur die Piratenpartei, sondern die Internetgemeinde als ganze, die es damit immerhin schon bis in den Deutschen Bundestag schaffte. In der Enquete-kommission des Bundestags »Internet und digitale Gesellschaft« kam es von Anfang an nicht nur über Datenschutz und Urheber-rechte zum Streit, sondern vor allem darüber, wie die Öffentlich-keit einzubeziehen sei. Der Vorschlag, im Reichstag »liquid demo-cracy« einkehren zu lassen, stieß an die Grenzen repräsentativer Demokratie und der Gepflogenheiten des Parlaments. Unter dem Schlagwort »liquid democracy« ist eine Mischung aus direkter und indirekter Demokratie zu verstehen: Jeder wählt und delegiert selbst, was er für richtig hält, beteiligt sich, woran er will und wie es ihm gefällt. Der Futurologe Alvin Toffler hatte dafür 1970 den Namen »Adhokratie« (von Lateinisch ad hoc) erfunden – als Ge-genwelt zur statischen Welt der Bürokratie, zur hierarchisch ge-ordneten Partizipation und zu jeglicher Form zentraler Planung. (…) Nicht nur die Piratenpartei experimentiert mit solchen neuen Formen unmittelbarer Beteiligung. Sie hat den Versuch, der seit langem in den Volksparteien an Zuspruch gewinnt, auch Nicht-mitglieder an den Personal- und Sachentscheidungen der Partei teilhaben zu lassen, auf die Spitze getrieben. Jeder kann mitma-chen, wann er will und wie er will. Politik soll »freie Software« der Gesellschaft sein und nach dem Linux-Prinzip funktionieren.Besonders auf junge Leute hat das eine Anziehungskraft, die sich aus den Erfahrungen speist, die im Internet als einem »kollabora-tiven Projekt« gesammelt werden können. Es wird sich angesichts der chaotischen Verfassung der Piratenpartei aber noch zeigen müssen, ob auch das Parteiensystem eine Kathedrale oder ein Basar ist.

© Jasper von Altenbockum: »Die Linux-Demokratie, FAZ 12.9.2011, S. 10

M 8 »Hoffnungsträger Piratenpartei …« © Gerhard Mester, 2012

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M 9 Barbara Zehnpfennig: »Strukturlose Öffentlich-keit. Warum mehr Transparenz per Internet zu weniger Demokratie führen kann«

Seit sich das Prinzip der Öffentlichkeit als politische For-derung etablierte – also seit dem Aufkommen der bür-gerlichen Gesellschaft –, war es mit einem Paradox be-haftet. Die Forderung, der politische Prozess solle sich öffentlich und damit für alle zugänglich vollziehen, war gegen die Geheimpolitik des Hofes gerichtet; was sich im Geheimen vollzog, war schon als solches verdächtig. Doch die Rechte, die das Bürgertum nun in Anspruch nahm, standen den eigenen Forderungen zum Teil entge-gen: Das Recht auf Eigentum, das Recht auf geheime Wahl, die Religionsfreiheit und viele andere sind Rechte des Privatmanns, der über ihre Ausfüllung nicht unbe-dingt öffentlich Rechenschaft geben will. Was man der Politik verwehrte, nahm man für sich selbst also durch-aus in Anspruch. Daran zeigte sich, dass Öffentlichkeit kein absoluter Wert sein konnte. Heute hingegen wird oft behauptet, Öffentlichkeit sei bereits ein Wert an sich. Weil man durch das Internet eine nie gekannte Dimen-sion des Öffentlichen erreicht hat, wird mit dieser neuen Möglich-keit bürgerlicher Teilhabe eine Heilserwartung verbunden, die näherer Überprüfung kaum standhält. Schon auf den ersten Blick wird erkennbar, dass sich das oben genannte Paradox auf neuer Ebene wiederholt. Im Medium Internet, das sich ganz und gar der Publizität verschrieben hat, ist ein erheblicher Teil der Nutzer an-onym unterwegs. Für das, was man öffentlich macht, will man öffentlich nicht einstehen. Dafür mag es gute Gründe geben, wenn man in einer Diktatur lebt und die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten Gefahr für Leib und Leben nach sich zieht. In ei-ner Demokratie hingegen sieht die Sache anders aus. Hier muss man sich Freiheitsrechte nicht erkämpfen, hier sind sie verfas-sungsmäßig garantiert. Sie sind es deshalb, weil man im liberalen System davon ausgeht, dass die gewährleisteten Individualrechte auch von Individuen wahrgenommen werden. An anonyme Schwärme, wie sie sich im Internet bewegen, hatte man nicht un-bedingt gedacht. (…)Wie demokratieverträglich ist das Internet überhaupt? Nicht nur die Anhänger der Piratenpartei sind der Ansicht, dass mit dem In-ternet eine neue Ära demokratischer Teilhabe eingeleitet wurde. Informationen in unvorstellbarem Umfang sind allen und jeder-zeit zugänglich, unüberschaubar viele Foren bieten die Möglich-keit zur Meinungsäußerung und Diskussion, organisierte Nutzer bilden eine Meinungsmacht, die das Handeln von Unternehmen, einzelnen Politikern und ganzen Regierungen massiv beeinflus-sen kann. Ist das nicht der Inbegriff des Demokratischen, die di-rekte Mitwirkung der Bürger auf allen denkbaren Ebenen? Und ist die Transparenz, die mit der Offenlegung selbst bisher völlig un-zugänglicher Daten einhergeht, nicht ein Faktor, der ungemein demokratisierend wirkt?Schon der letzt genannte Zusammenhang ist mehr als zweifel-haft. Öffentlichmachen ist nicht identisch mit Transparenz. Denn transparent werden Daten nur dem, der sie versteht. Wer kann kompetent beurteilen, was von Wikileaks veröffentlichtes ge-heimdienstliches Material tatsächlich bedeutet – außer den ge-schulten Mitarbeitern der Geheimdienste? Wer weiß, was das von irgendjemandem ins Internet gestellte Bild zeigt, auf dem ein Kind zu sehen ist, das in Syrien zu Tode kam? Wurde es von der syrischen Armee als menschlicher Schutzschild missbraucht, ist es das Opfer eines Angriffs der Aufständischen, starb es durch ei-nen Unfall? Mit Bildern und Daten kann man manipulieren, mit einer Überfülle veröffentlichter Bilder und Daten kann man desin-formieren.Öffentlichkeit als solche ist ambivalent. Ihr Wert liegt allein im vernünftigen Gebrauch. (…) Im Internet findet nur der Orientie-rung, der sie in gewissem Umfang bereits mitbringt. Für alle an-deren vergrößert der gigantische Umfang an Information und

Desinformation, welche das Internet bietet, die Schwierigkeit, Brauchbares von Unbrauchbarem, Nützliches von Schädlichem zu sondern. (…) In der Politik sind die Entstehung und der Erfolg der Piratenpartei Zeichen eines Einstellungswandels. Damit ist nicht gemeint, dass eine Partei unter dem Namen einer Verbrecher-gruppe firmiert und damit großen Anklang findet, was als solches natürlich auch ein interessantes Phänomen ist.Gemeint ist der neue Politikstil, der mit der Piratenpartei Einzug in die Demokratie hielt: von der Repräsentation zur Präsenz. Mit-tels des Präsenzmediums Internet halten die Politiker der Piraten-partei einen fortwährenden Kontakt mit ihren Wählern, der die Grenzen zwischen Wählern und Gewählten verschwimmen lässt.Das personale Prinzip, das in der repräsentativen Demokratie mit gutem Grund die Wahl des Abgeordneten bestimmt, wird damit geradezu ausgehebelt: Der Abgeordnete ist das Sprachrohr sei-ner – immer wieder wechselnden – Basis, jedenfalls derjenigen, die gerade online ist. Wer in dieser Partei als Person besonders in Erscheinung tritt, bekommt den geballten Unmut der Nutzer zu spüren. Hier soll es nicht um Personen, sondern um Verfahren ge-hen, was dazu führt, dass die Inhalte genauso fluktuieren wie die Teilnehmer an dem Verfahren. (…)Zweifellos bietet das Internet große Chancen der Horizonterwei-terung, des Gedankenaustauschs, ja sogar der Mitwirkung an der Überwindung autoritärer Regime. Doch ein per se demokrati-sches Medium ist es nicht – wenn denn die Demokratie als Herr-schaft der Gleichen in besonderem Maße auf Unterscheidung und Struktur angewiesen ist. Nicht das Internet macht demokratisch, sondern nur ein Umgang mit ihm, der nach qualitativ gesicherten Maßstäben verfährt.Deshalb sollte demokratische Politik schon um der Selbsterhal-tung des Systems willen in der Bildung ihre entscheidende Auf-gabe sehen. In der Demokratie sind die Bürger die maßgebliche Ressource. Ihnen müssen per Bildung die Mittel an die Hand ge-geben werden, sich auch in einer immer unübersichtlicher wer-denden Welt, wie sie sich exemplarisch im Internet widerspiegelt, eigenständig Pfade durch das Dickicht zu schlagen.Das klassische Konzept der Öffentlichkeit setzte auf eine quasi-automatische Fortschrittsbewegung durch den öffentlichen Ver-nunftgebrauch. Doch Vernunft ist nichts Gegebenes, sie ist etwas immer wieder neu Hervorzubringendes. Und da die Vernunft nicht in den Institutionen liegt, nicht in der Öffentlichkeit und auch nicht in einem Medium wie dem Internet, bleibt nur eines: durch entsprechende Bildungsanstrengungen dafür zu sorgen, dass es Menschen gibt, die Vernunft in das hineintragen, was in sich zunächst einmal ohne Vernunft ist.

© Barbara Zehnpfennig: Strukturlose Öffentlichkeit. Warum mehr Transparenz per Inter-net zu weniger Demokratie führen kann, FAZ, 21.1.2013, S. 7

M 10 »Vor und nach Wikileaks …« © Klaus Stuttmann, 6.12.2010

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BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

8. Wahlalter 16? »Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst«

D&E-INTERVIEW MIT PROF. DR. KLAUS HURRELMANN ZUM »WAHLALTER MIT 16«

Klaus Hurrelmann ist seit 1979 Profes-sor an der Universität Bielefeld. Seit

seiner Emeritierung arbeitet er als Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Ber-lin. Er studierte Soziologie, Psychologie und Pädagogik an den Universitäten Frei-burg, Berkeley (USA) und Münster und pro-movierte in der Sozialisationsforschung. 1975 habilitierte er mit der Arbeit »Erzie-hungssystem und Gesellschaft«. 2003 er-hielt er von der Schweizer Egnér-Stiftung einen hoch dotierten Preis für herausra-gende wissenschaftliche Forschungsarbei-ten. Seine wichtigsten Arbeitsgebiete sind die Sozialisations- und Bildungsforschung mit den Schwerpunkten Familie, Kindheit, Jugend und Schule sowie die Gesundheits- und Präventionsforschung. In diesen Ge-bieten hat er eine Vielzahl von Aufsätzen und Büchern publiziert und herausgegeben, zuletzt das »Handbuch der Sozialisationsforschung« und das »Handbuch Gesundheitswissenschaften«. Zusammen mit seinen Lehrbü-chern »Einführung in die Sozialisationstheorie«, »Gesund-heitssoziologie«, »Lebensphase Jugend«, »Einführung in die Kindheitsforschung«, »Kinder stark machen für das Leben«, »Prävention und Gesundheitsförderung«, »Geschlecht, Ge-sundheit und Krankheit« und »Gewalt an Schulen« haben sie zusammen eine Auflage von 150.000 Exemplaren weit über-schritten. Klaus Hurrelmann leitete zudem die letzten »Shell Jugendstudien« und »World Vision Kinderstudien«. Das Inter-view mit ihm führte Jürgen Kalb, verantwortlicher Redakteur von »D&E«, am 20.2.2013.

D&E: Herr Prof. Hurrelmann, Sie treten seit Jahren für die Herabsetzung des Wahlalters für Jugendliche auf 16 ein, auch mit dem Argument, die Lebenssituation der Jugendlichen habe sich verändert. Hat sich in den letzten Jahrzehnten denn tatsächlich die Lebenssituation der Jugendli-chen gravierend verändert? Hurrelmann: Das ist so, weil sich nämlich die Entwicklung be-schleunigt hat. Man kann das am anschaulichsten sehen am Da-tum der Pubertät, d. h. der Geschlechtsreife. Das wandert im Le-benslauf immer weiter nach vorne. Bei den Mädchen ist das heute im Durchschnitt etwa mit 11 ½ Jahren anzusetzen, bei den Jungen mit 12 ½ Jahren. Und da merkt man Unterschiede im historischen Vergleich. Das war um 1900 rund 2 ½, ja manche Untersuchungen sagen sogar 3 Jahre später. Und das war wahrscheinlich um 1800 noch einmal zwei oder drei Jahre später. Also da ist eine Beschleunigung der Entwicklung zu verzeichnen, die zunächst körperliche Dimensio-nen hat, aber sie bleibt ein komplexes Geschehen. Das bedeutet, es ist nicht nur eine körperliche Vorverlagerung, nicht nur die Ge-schlechtsreife, sondern wie immer schon ist sie verbunden mit einer Bewusstseinsveränderung, einer sozialen Einschätzungs-veränderung, einer intellektuellen Entwicklung, die insgesamt bedeutet, man wird heute früher zu einem jungen Mann und zu einer jungen Frau. Und entsprechend dürfen wir das als das ent-scheidende Kriterium heranziehen, wenn wir dann überlegen, welche Kompetenzen wir Jugendlichen in dieser Altersspanne zu-sprechen können und welche Rechte sich daraus ableiten sollten.

Das ist für mich das Hauptargument und auch das Hauptmotiv zu überlegen, ob das Alter »18« heute noch angemessen ist. Außer-dem ist es ein Alter, das im historischen Rückblick schon mehr-fach nach unten korrigiert wurde.

D&E: Können Sie mit Ihren Studien belegen, dass sich Jugendliche von 16–17 Jahren ausgegrenzt fühlen, wenn sie noch nicht das aktive Wahl-recht besitzen?Hurrelmann: Das ist nach Ansicht der Jugendlichen selbst nicht der Fall. Wir machen seit 1996 regelmäßig Untersuchungen und Befragungen von Jugendlichen in dieser Altersgruppe, wie sie selbst zu dieser Entwicklung stehen. Und da zeigen z. B. die letz-ten Shell-Jugendstudien, dass die 12- bis 17-Jährigen selbst zu-rückhaltend sind. Da ist eine knappe Mehrheit sogar dagegen, dass sie so früh, wie sie meinen, in eine sehr anspruchsvolle poli-tische Verantwortung gezogen werden.Wir fragen dann nach und dann stellt sich heraus, die haben wirk-lich ein unheimlich komplexes Bild davon, was es bedeutet, das Wahlrecht auszuüben. Sie glauben, sie müssten die Wahlpro-gramme der Parteien kennen, sie genau zu unterscheiden vermö-gen. Sie haben den Eindruck, sie müssten die Wahlmechanismen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene genau kennen, dass sie wissen müssten, wie komplexe politische Prozesse funktio-nierten. Und das sei ihnen doch alles sehr, sehr fremd, ebenso wie die Parteien selbst, wie die Studien zeigen.Also ich denke, der Grund für die Zurückhaltung der Jugendlichen selbst liegt darin, dass sie sich dem politischen System gegen-über ziemlich entfremdet haben. Und das kann man nicht ihnen allein zuschreiben, sondern das liegt auch am politischen System. Sodass ich, obwohl ich ansonsten sehr auf die Stimmen der jun-gen Leute selbst höre, sonst bräuchten wir solche Untersuchun-

Abb. 1 »Zeitreihe: Politisches Interesse Jugendlicher im Alter von 15 bis 24 Jahren«, Angaben in % © 16. Shellstudie, 2010, S. 131, TN Infratest Sozialforschung

»Man wird heute früher zu einem jungen Mann und

zu einer jungen Frau.«

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gen nicht zu machen, in diesem Fall mit der Minderheit, also der etwa 30 % der Jugendli-chen, dafür plädiere, dass sie dieses Wahl-recht ab 16 eingeräumt bekommen.

D&E: Bedeutet das, dass Sie die Herabsetzung des Wahlalters als stärkere Motivation für die Bereit-schaft der Jugendlichen betrachten, sich an der po-litischen Meinungs- und Willensbildung zu beteili-gen?Hurrelmann: Ja, so dürfen wir das einschät-zen. Denn nichts ist natürlich aktivierender als die Aktivität selbst. Wir haben das zuletzt sehr anschaulich gesehen bei der Bremer Bürgerschaftswahl. Da war zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung ein ganz interessantes Programm angesetzt worden, nämlich dass in den Schulen über die sogenannte »Juniorwahl«, manchmal auch »U-18-Wahl« genannt, schon vom Grundschulalter an, in den wei-terführenden Schulen dann ganz systematisch »Wahlkampf« ge-macht wurde. Da kamen die Kandidatinnen und Kandidaten in die Schulen. Und man durfte wählen, auch wenn man noch nicht das Wahlrecht hatte. Und für die, die dann das erste Mal mit 16 an der Wahl teilnehmen durften in Bremen, gab es dann besondere, systematische, spannend aufgebaute Unterrichtseinheiten. Und da konnte man jetzt sehen, dass die Bedenken der Jugendlichen selbst, dass sie überfordert sein könnten durch das früher einge-räumte Wahlrecht, plötzlich wie zerstoben waren. Da war die Wahlbeteiligung der jungen Leute auch ungeheuer hoch. Und auch nach der Wahl, soweit man das aus den Untersuchungen in Bremen ablesen konnte, blieb das auf einem hohen Beteiligungs- und Interessenniveau. Das ist also eine wirklich wichtige Bot-schaft, dass durch das Beteiligen an einem Wahlvorgang und dann natürlich erst recht, wenn man ein förmliches Wahlrecht

und einen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments hat, dass dadurch auch ein richtiger Aktivitätsschub entsteht.

D&E: Und trotzdem behaupten Kritiker dieser Wahlrechtsreform immer wieder, dass gerade Jugendliche in der heutigen Zeit ganz besonders durch Medien und die Konsumgesellschaft geprägt, ja dadurch beeinflussbar, wenn nicht manipulierbar seien. Zu einer sachlichen politischen Urteilsbil-dung seien sie unter 18 Jahren kaum in der Lage.Hurrelmann: In dieser Form ist das ein Vorurteil. Es ist zwar rich-tig, dass die jungen Leute den etablierten Parteien gegenüber zurückhaltend sind. Einige Zeit sah es dann so aus, als mache die

Partei der »Piraten« hier eine deutliche Aus-nahme. Aber auch das schwächt sich schon wieder deutlich ab. Die jungen Leute kritisieren, dass sich die etablierten Parteien einigeln, dass sie ihre Themen nicht transportieren, dass sie Ihnen so apparathaft erscheinen, als in sich ge-schlossene, funktionierende Systeme, die sie nicht von außen beeinflussen können. Sie wünschen sich also vielmehr Transparenz und viel mehr direkte Einflussmöglichkeiten. Man kann erkennen, dass gegenüber den etablierten Parteien eine Skepsis besteht.Aber zugleich kann man erkennen, dass sich junge Leute spontan politisch so stark betäti-gen, wie sie das schon vor 20 Jahren getan haben. Dies bedeutet z. B. an einer Demonst-ration teilnehmen, Unterschriftensammlun-gen machen, neuerdings auch immer stärker über das Internet an Aktivitäten teilnehmen, sich im sozialen Bereich engagieren. Das ist auf einem hohen Niveau geblieben. Und wenn wir das beides zusammenrechnen, dann ist das abgesunkene Interesse an der, ich sage mal, »formalen Demokratie«, bei gleichgebliebenem Interesse an der lebendi-gen, alltäglichen Demokratie und Politik, dann ist der Einbruch nicht so stark. Und es stimmt insgesamt nicht, dass die jungen Leute unpolitisch sind. Und es stimmt nicht, dass sie neben ihrer eindeutig genussvollen Umgangsform mit Medien und mit Freizeit-aktivitäten – das gehört zu ihrem Lebens-stil – nicht auch noch den Kopf frei haben für diesen politischen Bereich. Aber wie gesagt, schmal wird das Interesse im formalen politi-

Abb. 2 »Aktivitäten nach Bereichen«, Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren, Angaben in % © 16. Shellstudie, 2010, S. 153, TN Infratest Sozialforschung

Abb. 3 »Wählen mit 16?« Befragt wurden Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren, Angaben in % © 16. Shellstudie, 2010, S. 146, TN Infratest Sozialforschung

»Die jungen Leute kritisieren, dass sich die etablierten

Parteien einigeln.«

2002 2006 2010

%-Angaben (Erhebungsjahr/Zeile) Fehlende zu 100 = Nie

Oft Gele-gentlich

Oft Gele-gentlich

Oft Gele-gentlich

Ich bin aktiv für

Eine sinnvolle Freizeit-gestaltung von Jugend-lichen

13 35 13 31 15 33

Die Interessen von Jugend-lichen 12 38 10 36 13 38

Hilfebedürftige ältere Men-schen 8 35 8 34 10 37

Den Umwelt- oder Tier-schutz 8 29 7 24 8 28

Ein besseres Zusammenle-ben mit Migranten 8 25 6 22 8 25

Ein besseres Zusammenle-ben am Wohnort 6 23 6 18 6 22

Sicherheit und Ordnung am Wohnort 6 20 6 16 6 20

Behinderte Menschen 6 16 5 13 5 18

Sozial schwache Menschen 5 29 5 29 7 32

Menschen in den armen Ländern 4 24 4 24 6 27

Die Pflege der deutschen Kultur und Tradition 4 17 3 15 6 17

Soziale und politische Veränderungen

2 15 2 14 3 17

Sonstiges 5 25 7 24 7 25

2002 2006 2010

Spalten in % Unter 18 Ab 18 Unter 18 Ab 18 Unter 18 Ab 18

Wählen mit 16

Gute Idee 29 20 33 19 30 17

Keine gute Idee 34 54 37 63 45 65

Ist mir egal 36 25 30 18 24 18

Keine Angabe 1 1 – – 1 –

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schen Sektor. Und wer da immer nur auf die jungen Leute schaut und sagt, die hätten kein politisches Interesse, der macht den Fehler zu übersehen, dass das ja beiderseitig ist, dass die Parteien ihrerseits sehr wenig Themen und Stil finden, um junge Leute an-zusprechen. Und insofern, denke ich, müssen wir hier aufpassen, das ist ein grundsätzliches politisches Thema.

D&E: Welche jugendaffine Themen ergeben denn Ihre Untersuchungen, die Jugendliche von sich aus, und nicht nur durch Politiker bedient, bevor-zugen?Hurrelmann: Das ist natürlich sehr interessant. Hier liegen seit vielen Jahren ganz klare Untersuchungsergebnisse vor. Die jun-gen Leute interessieren sich für die großen Fragen. In den letzten 10 Jahren standen deutlich wirtschaftliche Themen und berufli-che Perspektiven im Vordergrund. Es geht ihnen um eine sichere Zukunft. Wenn sie die freie Wahl hätten, würden sie sich wün-schen, wenigstens die Garantie zu haben, eine abgeschlossene Ausbildung zu bekommen und vielleicht auch für eine bestimmte Zeit den ersten Schritt in einem Beruf machen zu können. Es stehen bei ihnen dann an zweiter Stelle – das war bis vor zehn Jahren an erster Stelle und es bewegt sich auch wieder in diese Richtung – Umwelthemen, eine sichere, klimatisch intakte Welt, saubere Bedingungen für Essen und Trinken. Der Wunsch nach internationaler Abstimmungen spielt zudem eine große Rolle.Und das dritte große Thema sind internationale Konflikte, sind internationale Spannungen, also die Sicherung des Friedens. Das sind die drei großen Themenkomplexe, die junge Leute beschäfti-gen und danach kommen die etwas kleineren, alltäglicheren Pro-bleme, von denen man denkt, diese würde ganz im Vordergrund

stehen. Also z. B., wie sieht das Bildungssys-tem aus, wie gut sind die Schulen, wie sieht es mit guten Freizeitangeboten aus. Man kann auch hieraus erkennen, dass wir eine durchaus nicht unpolitische junge Genera-tion haben. Aber sie fühlt sich insgesamt wohl, sie hat sich auch mit den demokrati-schen Strukturen eingerichtet. Man kann zwar kritisieren, dass sie diese nicht aktiv un-terstützen mag, wie soeben besprochen, aber sie lebt mit ihnen, sie findet sie richtig und sie sieht keinen Grund zu einer politi-schen Auflehnung. Das muss man einfach so hinnehmen. Dies ist ja auch ein Kompliment an das politische Leben in der Bundesrepub-lik.

D&E: Welche Rolle spielen denn die Elternhäuser bei der Herausbildung des politischen Interesses, aber auch bei der politischen Urteilsbildung Ju-gendlicher? Ist nicht die Gefahr gegeben, dass z. B. sogenannte bildungsferne Gruppen oder Gruppen mit Migrationshintergrund bei solchen Partizipa-tionsansätzen kaum oder nur am Rande angespro-chen werden?Hurrelmann: Ja, das ist der Fall. Der Bil-dungsgrad der Eltern und auch der Bildungs-grad der Jugendlichen selbst entscheidet ganz stark darüber, ob man sich und wie stark man sich für Politik interessiert. Je hö-her der Bildungsgrad, desto höher das Inter-esse, sich stärker politisch zu beteiligen. Da ist ein ganz deutlicher Zusammenhang zu verzeichnen. Und das zeigt uns eben auch, dass heute die politische Beteiligung an be-stimmte Kompetenzen gebunden ist. Das ist in einem komplexer gewordenen politischen System mit komplizierten Themen, internati-onalen Verflechtungen, in dem man merkt, dass auch manche Spitzenpolitiker die Über-

sicht nicht behalten können, auch nicht verwunderlich. Und dies ist natürlich auch bei jungen Leuten der Fall. Das könnte mit ein Grund dafür sein, dass zurückhaltend gegenüber der organisier-ten Politik agiert wird. Wir müssen das, glaube ich, sehr ernst nehmen. Das heißt dann aber auch im Umkehrschluss, je mehr wir in Bil-dung investieren, desto höher wird die Chance, dass wir politisch sensible und engagierte junge Leute haben werden.

D&E: Können Sie daraus Forderungen an schulische Bildung ableiten? Wie müsste Schule aussehen, damit z. B. die oben beschriebenen Differen-zen aus den Elternhäusern ausgeglichen werden?Hurrelmann: Es wäre ganz wichtig, dass in der Schule die Themen aufgenommen werden, die die jungen Leute beschäftigen. Ich halte es nicht für begründbar, dass heute, in Zeiten nicht nur einer Berufskrise, die, wie es aussieht, ja langsam in Deutschland ab-klingt, sondern auch in Zeiten einer weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise, die immer noch nicht bewältigt ist, dass diese the-

Abb. 4 »Wie und wo man (oft oder gelegentlich) gesellschaftlich aktiv ist, Jugendliche von 12–25 Jah-ren, Angaben in % © 16. Shellstudie, 2010, S. 156, TN Infratest Sozialforschung

»Es wäre ganz wichtig, dass in der Schule Themen aufgenommen werden, die

die jungen Leute beschäftigen.«

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matischen Felder in der Schule eine untergeordnete, wenn nicht manchmal sogar gar keine Rolle spielen. Es ist unverständlich, dass ein Fach Wirtschaft, wie auch immer zugeschnitten, nur an wenigen Schulen angeboten wird. Im Fach Politik, im Fach Sozial- oder Gemeinschaftskunde, wird häufig diese Thematik zwar hin und da, aber selten systematisch bearbeitet.

D&E: Die 16 Bundesländer in der Bundesrepublik setzen mit der politi-schen und ökonomischen Bildung oft recht unterschiedlich ein. Was wür-den Sie denn den Bildungsplanreformern raten? An wann sollte die politi-sche Bildung beginnen?Hurrelmann: Es ist auf alle Fälle nicht klug, spät zu beginnen. Denn, auch das zeigen Kinder- und Jugendstudien, das politische Interesse in einer intuitiven und auf das soziale Umfeld bezoge-nen Weise – nicht gleich als Parteipolitik – das beginnt sehr früh, es beginnt bereits im Grundschulalter. Und entsprechend sollte schon in der Grundschule – und dann aber sofort auf den weiter-führenden Schulen in einer systematischen pädagogischen Art und Weise politischer Unterricht in den Schulen charakteristisch sein. Es sollte aber nicht nur der politische Unterricht wichtig sein, der die Themen aufnimmt, die die jungen Leute interessiert, wie z. B. das Umweltthema, die internationalen Spannungen, Me-dien spielen eine wichtige Rolle. Es ist das gesamte Unterrichts-geschehen, es ist das gesamte Schulleben, das von den Schülerin-nen und Schülern als gestaltbar, beeinflussbar, aber auch in ihrer Verantwortung liegend wahrgenommen werden muss. Hier haben inzwischen viele Schulen tolle Ansätze gemacht. Das sollten wir verbreitern, damit die Schule selbst quasi als ein Feld für die Alltagsgestaltung erlebt wird, um den Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit zu bieten, gezielt mit sozialer Verantwor-tung, Teilhabe an den sozialen Regeln, an den Umgangsformen, an den Stilen, dann aber auch an der Unterrichtsorganisation und an bestimmten Unterrichtsabfolgen und dergleichen mitzuwir-ken.

D&E: Wenn wir die Situation der politischen Bildung in Deutschland mit der Situation in anderen europäischen oder außereuropäischen Ländern vergleichen, wo steht Deutschland in diesem Bereich?Hurrelmann: Insgesamt recht gut. Also wir können uns im inter-nationalen Vergleich sehen lassen. Wenn die oben angesprochen Punkte systematischer in den politischen, aber, wie gesagt, auch in den gesamten Unterricht und das Schulleben einbezogen wer-den, dann würden wir noch besser dastehen. Es gibt inzwischen, etwa nach dem Pisa-Modell, auch international vergleichende Studien, die versuchen herauszuarbeiten, wie in Europa oder den hoch entwickelten Ländern die politischen Kompetenzen und Fä-higkeiten der jungen Leute beschaffen sind. Und da sieht man, Deutschland steht nicht schlecht da, wir müssten aber als ein ökonomisch so hoch entwickeltes Land da noch ein paar Stufen klettern können.

D&E: Zurück zu unserer Ausgangsfrage. Welche Impulse erhoffen Sie sich aus der beabsichtigten Herabsetzung des aktiven Wahlrechts auf 16 Jahre in diesem Prozess.Hurrelmann: Abschließend könnte man sagen, eine Herabset-zung des Wahlalters kann dadurch begründet werden, dass man sieht, man kann im Alter von 16 Jahren heute einschätzen, was es bedeutet, eine Stimme abzugeben. Man hat in diesem Alter die intellektuelle, aber auch die soziale Urteilsfähigkeit. Das halte ich für das entscheidende Argument. Da bedeutet nicht etwa die all-gemeine Reife, wie oft gesagt wird. Die wird ja auch bei anderen Menschen, die vielleicht psychische Probleme haben, nicht einge-

fordert. In einer Demokratie entscheidet das Volk. Und jede Gruppe der Bevölkerung, die wir ausgrenzen, gehört dann nicht dazu. Dies muss sehr sorgfältig begründet und immer wieder neu überprüft werden. Und das spricht eben dafür, dass wir überprü-fen, wenn sich junge Leute verändern in ihrem Verhalten und in ihrer ganzen Entwicklung, wie es nun mit dem Mindestwahlalter ist.

Literaturhinweise

Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun (2012, 11. Auflage): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Beltz Juventa. Weinheim, München

Shell Deutschland Holding (Hrsg.)(2010): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Konzeption & Koordination: Albert, Mathias/Hurrelmann, Klaus, u. a. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt/Main.

Für 2016 plant die IEA (International Association for the Assessment of Edu-cational Achievement) eine internationale Studie zu politischen Einstellun-gen und Kompetenzen bei Jugendlichen (ICCS 2016). Erste Informationen dazu unter: www.iea.nl/fileadmin/user_upload/Studies/ICCS_2016_ Brochure.pdf

Abb. 5 »Juniorwahl.de«. Die bundesweite Initiative Juniorwahl ist eine Initia-tive des Kumulus e. V. – Der Kumulus e. V. ist ein gemeinnütziger und überparteili-cher eingetragener Verein. Seit 1999 führt er in Zusammenarbeit mit zumeist Kultusministerien simulative Wahlen parallel zu offiziellen Wahlen an Schulen für Schülerinnen und Schüler unter 18 Jahren durch. Bei der Bundestagswahl 2009 beteiligten sich insgesamt 1.043 Schulen und 246.616 Schülerinnen und Schüler, womit die Juniorwahl zu den größten Schulprojekten in Deutschland zählt. Im Jahr 2013 parallel zur Bundestagswahl sollen es bundesweit 5.000 Schulen und damit 25 Prozent aller weiterführenden Schulen in Deutschland wer-den. © www.Juniorwahl.de

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BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

9. »Wahlalter 16« – eine Chance zur Über-windung der Politikverdrossenheit?

D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM

Bei den Kommunalwahlen 2014 sollen in Baden-Württemberg erstmals 16- und 17-Jährige

wählen können. Die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg hat nach Auskunft des Minis-terpräsidenten Kretschmann (Grüne) am 6.11.2012 eine Senkung des Mindestwahlalters bei Kommu-nalwahlen von 18 auf 16 Jahre beschlossen. Laut In-nenminister Reinhold Gall (SPD) können nach In-krafttreten der Gesetzesänderungen in zwei Jahren 212.000 Jugendliche erstmals über die Be-setzung von Gemeinderäten oder Kreistagen ab-stimmen. Kretschmann sagte, durch die Senkung des Wahlalters bekämen Jugendliche künftig mehr Einfluss auf die Gestaltung ihres unmittelbaren Lebensumfeldes. Die Grünen und die SPD setzen damit eines ihrer Wahlziele um, wie zuvor schon in sechs anderen Bundesländern. In Bremen konnte die Ökopartei vor zwei Jahren eine entsprechende Wahlrechtsreform sogar für die Wahl zur Bürger-schaft durchsetzen. Am 22. Mai 2011 durften des-halb in Bremen zum ersten Mal auch 16- und 17-Jäh-rige an einer Wahl auf Landesebene teilnehmen. Eine Senkung des Wahlalters auf Bundesebene, die ebenfalls von den Grünen beantragt worden war, scheiterte dagegen schon zweimal an der Mehr-heit des Bundestages, zuletzt am 2. Juli 2009. Jür-gen Kalb, Chefredakteur von D&E, befragte dazu im Januar 2013 den Kommunikationswissenschaft-ler Dr. Jan Kercher von der Universität Stuttgart-Hohenheim, der sich bereits mit dem Thema in verschiedenen wissen-schaftlichen Studien beschäftigt hat.

D&E: In Baden-Württemberg hat die grün-rote Landesregierung die He-rabsetzung des aktiven Wahlalters für die Kommunalwahl 2014 auf 16 Jahren in Gang gebracht. In Österreich gilt diese Regelung auch bei Nati-onalratswahlen seit 2008. Andere Bundesländer in Deutschland wie z. B. Bremen, NRW, Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder Rheinland- Pfalz kennen diese Regelung ebenfalls. Sehen Sie persönlich darin eine Möglich-keit, junge Menschen näher an das parlamentarische System heranzufüh-ren?Jan Kercher: Potenziell ja. Allerdings sollte man bei der Einführung solcher Regelungen sehr bedacht und keines-falls überstürzt vorgehen. Sonst füh-len sich viele Jugendliche überfordert von der neuen Verantwortung. Das war zum Beispiel in Österreich so. In einer Studie, die anlässlich der Wahlalter senkung dort durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass die Ju-gendlichen von der Schule erwarten, auf ihr Wahlrecht vorberei-tet zu werden. Denn die Schule wurde von den befragten Jugend-lichen als ein Ort für eine sachliche Informationsvermittlung wahrgenommen. Gleichzeitig stellte sich jedoch heraus, dass die Jugendlichen nicht zufrieden waren mit der schulischen Vorberei-tung auf ihre erste Wahlteilnahme, weil das Thema zu wenig oder zu spät im Unterricht behandelt wurde. Es zeigte sich auch, dass damit eine wichtige Chance vertan wurde, denn Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht über die Wahl diskutiert hatten, gingen signifikant häufiger zur Wahl als andere Schülerinnen und Schü-

ler. Für mich ergibt sich als Fazit aus diesen Befunden, dass man einer Wahlaltersenkung eine entsprechende Änderung der Bil-dungspläne voranstellen sollte. Damit diejenigen Jugendlichen, die es betrifft, dann auch schon in den Genuss einer entsprechen-den schulischen Vorbereitung gekommen sind, wenn sie ihr Wahl-recht erlangen. Leider habe ich den Eindruck, dass diesem Vorbe-reitungsaspekt von der Politik häufig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, vermutlich auch, weil er mit sehr viel mehr Auf-wand verbunden ist als eine einfache Gesetzesänderung zum Wahlalter. Das führt dann zu einem Ergebnis wie in Österreich, wo der SPÖ-Politiker Walter Steidl nach der Wahl zugab, dass man die Vorbereitung der Jugendlichen verschlafen habe. Wenn man in

Deutschland aus diesen Fehlern lernt und die Jugendlichen umfassend vor-bereitet, dann sehe ich eine Wahl-altersenkung allerdings durchaus als Chance an, jugendliche Menschen an politische Themen heranzuführen. Denn wenn einem durch die Schule vermittelt wird, wie wichtig politische Teilhabe ist und man dann auch noch während seiner Schulzeit das Wahl-

recht erlangt, dann ist das bestimmt eine gute Grundlage für eine positiv geprägte politische Sozialisation.

D&E: Sie haben das Politikverständnis, d. h. das politische Interesse, das politische Wissen sowie die Fähigkeit junger Menschen, politische Zusam-menhänge in Politikerreden zu erfassen, bei unter 18- sowie über 18-jähri-gen empirisch untersucht und analysiert. Was ist denn eine »Experimen-talanalyse« eigentlich genau und warum haben Sie diese durchgeführt?Jan Kercher: Eine Experimentaluntersuchung ist eine Untersu-chung, bei der die Versuchsbedingungen gezielt manipuliert oder

0

10

Unter 1818 und älter

Persönl. Bedeutungvon Politik

InformationsorientierteMediennutzung

Gesprächeüber Politik

Ergebnisse: Politisches Interesse (0–10)

5,6 5,9

5,1 5,2

8,85,5

n.s.**

N = 134 N = 134 N = 134

n.s.** n.s.**

Abb. 1 Politikverständnis und Wahlalter, Studie Jan Kercher.Interesse = Durchschnittliche Selbsteinstufung der Teilnehmer auf einer Skala von 0 bis 10 (Wichtigkeit von Politik für das eigene Leben, Häufigkeit der Mediennutzung als politische Informationsquelle, Häufigkeit von Gesprächen über Politik). ** sig. = Gruppenunterschiede sind statistisch signifikant, n. s. = nicht signifikant © Jan Kercher: Politikverständnis und Wahlalter

»Schüler erwarten von der Schule, auf ihr Wahlrecht vorbereitet zu werden.«

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D&E»Wahl alter 16« – eine Chance zur Überwind ung der P olitik verdro s senheit ? Heft 65 · 2013

kontrolliert werden, um ihren Einfluss besser untersuchen zu können als in einer natürli-chen Situation, bei der immer sehr viele Stör-faktoren vorhanden sind. Wenn sich Men-schen z. B. zu Hause eine politische Talk-Show anschauen, dann sind sie vielleicht abge-lenkt, weil nebenher jemand redet. Wenn man ihnen dann Verständnisfragen zur Talk-show stellen würde, dann würden sie vermut-lich ziemlich schlecht abschneiden. Das muss aber nicht daran gelegen haben, dass sie die Politiker wirklich nicht verstehen konnten, sondern vielleicht einfach nur daran, dass sie abgelenkt wurden. Deshalb kontrolliert man die Versuchsbedingungen in einem Experi-ment und sorgt zum Beispiel dafür, dass sol-che Ablenkungsfaktoren nicht vorhanden sind. Wenn dann immer noch Verständnis-probleme auftreten, dann ist es sehr wahr-scheinlich, dass diese wirklich dadurch zu erklären sind, dass sich die Politiker nicht verständlich genug ausdrücken. Oder da-durch, dass die Zuschauer zu wenig Vorwis-sen haben, das kommt auf den Standpunkt an. Das ist im Übrigen ein grundlegendes Problem beim Thema Politik und Verständlichkeit: Wem gibt man die Schuld, wenn man auf Verständnisprobleme trifft? Den Bür-gern, die zu wenig Vorwissen haben oder den Politikern, die sich nicht verständlich genug ausdrücken? Die Bürger selbst neigen natürlich dazu, den Politikern die Schuld zu geben, während diese häufig das Gefühl haben, sich gar nicht anders ausdrücken zu können, ohne das Thema zu stark zu vereinfachen. Das nennt man übrigens den »Fluch des Wissens«. Wenn man sehr viel über ein Thema gelernt hat und dieses Wissen auch schon eine ganze Weile besitzt, dann wird es immer schwieriger, sich noch in an-dere Leute hinein zu versetzen, die nicht dasselbe Vorwissen ha-ben. In der Sprache führt das dann dazu, dass schwierige Wörter nicht mehr als solche wahrgenom-men werden. Das ist aber ein ganz natürlicher Prozess und passiert nicht nur Politikern, sondern zum Beispiel auch Wissenschaftlern oder sonstigen Experten. Beson-ders problematisch ist das dann, wenn man nicht direkt mit den ei-gentlichen Adressaten der eigenen Botschaften konfrontiert ist, wie eben in einer Talkshow. Da richten sich die Teilnehmer ja eigent-lich an die Fernsehzuschauer, nicht an die anderen Gäste. Aber von den Fernsehzuschauern kann ja niemand nachfragen, wenn er oder sie etwas nicht versteht. Allerdings: Das trauen sich viele auch dann nicht, wenn der Politiker oder die Politikerin direkt vor einem steht. Man will dann eben lieber nicht zugeben, dass einem viele Begriffe nicht geläufig sind und ärgert sich doch gleichzeitig über den abgehobenen Sprachstil des Politikers.

D&E: Wie sah Ihre Untersuchung denn genau aus und zu welchen Ergeb-nissen sind Sie darin gekommen?Jan Kercher: Wir haben 134 junge Stuttgarterinnen und Stuttgar-ter im Alter von 16 bis 21 Jahren befragt und sie mit kurzen Politi-ker-Reden konfrontiert. Das waren etwa fünfminütige Video-Pod-casts von Angela Merkel, Kurt Beck, Guido Westerwelle und Oskar Lafontaine. Vor dem Anschauen der Videos haben wir das politische Interesse und Wissen der Teilnehmerinnen und Teilneh-mer erfasst. Und nach dem Anschauen jedes Videos haben wir sie dann gefragt, wie verständlich sie die Podcasts subjektiv fanden und ihnen auch noch Verständnisfragen zu den Inhalten der Vi-deos gestellt. Dabei haben wir auch erfasst, wie sicher sich die Befragten bei ihren Antworten waren. Entscheidend war, dass wir

bei der Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gezielt un-terschiedliche Bildungsgrade und Altersstufen abgedeckt haben. Zum einen haben wir 16- und 17-jährige Neuntklässler auf der Hauptschule und im Gymnasium befragt. Und zum anderen 18- bis 21-jährige Berufsschüler und Studienanfänger.Betrachtet man unsere Ergebnisse, so stellt sich heraus, dass das Alter tatsächlich einen deutlichen Einfluss auf das Abschneiden der Befragten bei den Wissens- und Verständnisfragen hatte. Und zwar unabhängig vom Bildungsgrad. Sowohl die volljährigen Be-rufsschüler als auch die Studienanfänger schnitten sehr viel bes-ser ab als die Neuntklässler in der Hauptschule und auf dem Gym-nasium. Das ist unserer Interpretation nach eine Folge der

bisherigen Bildungspläne in Baden-Württemberg, die den Großteil der politischen Bildung erst in den hö-heren Schulstufen vorsehen und nicht schon vor Erreichen des 16. Lebensjahres. Mit anderen Worten: Sie sind offensichtlich ausgerichtet auf ein Wahlrecht ab 18, das ja bis-lang in Baden-Württemberg auch so gilt. Interessant war für uns aber

auch, dass es beim politischen Interesse zwischen den älteren und den jüngeren Befragten kaum Unterschiede gab. Die Jünge-ren interessierten sich also fast genauso stark für Politik wie die Älteren. Das bedeutet, dass sich die 16- und 17-Jährigen durchaus für Politik interessieren, aber bislang offensichtlich deutlich weni-ger von Politik verstehen als volljährige Schüler und Studienan-fänger.

D&E: Können Sie aus den Ergebnissen Ihrer Studie auch Konsequenzen für die politische Bildung junger Menschen sowie für die Bildungspläne der Schulen ableiten?Jan Kercher: Ja. An unseren Ergebnissen lässt sich ja recht deut-lich der Effekt der bisherigen Bildungspläne in Baden-Württem-berg ablesen. Da liegt die Vermutung sehr nahe, dass ein Vorzie-hen der politischen Bildung in den Schulen – und zwar in allen weiterführenden Schulen – dazu führen würde, dass sich die Al-tersunterschiede, die wir in unserer Studie feststellen konnten, deutlich verringern würden. Auf diese Weise könnte man eine Überforderung vieler Jugendlicher, wie man sie in Österreich be-obachten konnte, vermutlich vermeiden. Ich finde, dass man das Ganze recht gut mit der Diskussion über die Einführung des Euro vergleichen kann. Damals gab es zwei Lager, die Anhänger der so-

Abb. 2 Politisches Wissen von Jugendlichen, Rheinland-Pfalz 2005 © Jens Tenscher/Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien. Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in Rheinland-Pfalz. Münster, S. 86

über 75%

1.714 Befragte

50%–75%

14 Jahre 15 Jahre 16 Jahre 17 Jahre 18 Jahre

16,926,1

42,9

61,5

77,8

17,7

2,9

35,5

2,7

47,7

8,4

62,1

10,7

67,2

14,7

25%–50%bis 25%

»Einer Wahlaltersenkung sollte man eine Änderung der Bildungspläne voranstellen.«

»Wahl alter 16« – eine Chance zur Überwind ung der P olitik verdro s senheit ?

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genannten »Lokomotiv-Theorie« und die Anhänger der »Kronen-Theorie«. Die Anhänger der Lokomotiv-Theorie, die sich letztlich auch durchgesetzt haben, argumentierten, dass der Euro die fi-nanzpolitische Integration Europas unterstützen und beschleuni-gen würde und deshalb ein wichtiger erster Schritt hierfür sei. Dem hielten die Anhänger der Kronen-Theorie entgegen, dass es unverantwortlich sei, eine gemeinsame Währung einzuführen, bevor die Finanzpolitik der Europäischen Union nicht stärker ver-einheitlicht sei. Blickt man heute zurück und betrachtet die Schulden-Krise, mit der wir es gerade zu tun haben, dann wirkt es, als hätten die Anhänger der Kronen-Theorie vielleicht doch Recht gehabt. Und aus meiner Sicht gibt es viele gute Gründe, auch bei der Wahlaltersenkung eine Kronen-Strategie zu wählen. Das heißt: Erst die Änderung der Bildungspläne, dann die Wahlaltersenkung. Nicht andersherum.

D&E: Seit einigen Jahren organisiert der Berliner Verein »Kumulus e. V.«, zum Teil mit großer Unterstützung der jeweili-gen Kultusbürokratie vor zentralen Eu-ropa-, Bundestags- oder Landtagswahlen mit der »Juniorwahl« Wahlsi-mulationen vor dem tatsächlichen Wahlgang. Reichen solche oder andere Initiativen nicht völlig aus, muss es gleich die Herabsenkung des Wahlal-ters auf 16, oder wie der Bundes- sowie zahlreiche Landesjugendringe for-dern, gar auf 14 Jahre sein?Jan Kercher: Das ist letztlich eine Frage, die die Politik entschei-den muss, nicht die Wissenschaft. Wir als Wissenschaftler können nur darauf hinweisen, dass es aktuell deutliche Wissens- und Ver-ständnisunterschiede zwischen heutigen Erstwählern und poten-ziellen zukünftigen Erstwählern gibt. Gleichzeitig aber kaum Un-terschiede beim politischen Interesse. Ich persönlich bin der Meinung, dass jedes Wahlalter letztlich willkürlich ist. Ob nun 18 Jahre, 16 Jahre, 14 Jahre, 12 Jahre oder vielleicht sogar 0 Jahre, wie es die Grüne Jugend fordert: Niemand kann sagen, was »objektiv« das richtige Wahlalter ist. Das muss man gesellschaftlich diskutieren und dann so festlegen, wie es die Mehrheit nach dem Austausch aller relevanten Argumente für sinnvoll hält. Früher lag das Wahlalter ja mal bei 21 Jahren. Dann kam Willy Brandt und überzeugte die Deutschen, dass es sinnvoll sei, »mehr Demokratie zu wagen«. Daraufhin wurde das Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt, erst das aktive Wahlalter und dann auch das

passive Wahlalter. Aktuell beobachten wir eine ähnliche Entwicklung hin zum Wahlalter ab 16. Allerdings hat sich bislang kein ähnlich prominenter und einflussreicher Bundespoli-tiker wie damals Willy Brandt für solch eine Wahlaltersenkung ausgesprochen. Und des-halb dauert das Ganze deutlich länger als da-mals. Außerdem betrifft die Diskussion bis-lang auch kaum die Bundesebene, sondern vor allem die Landes- und Kommunalebene. Die Grünen haben zwar auch schon entspre-chende Gesetzesentwürfe in den Bundestag eingebracht, aber die sind bislang sehr klar gescheitert, weil sie von fast allen anderen Parteien abgelehnt wurden. Was mich wun-dert, ist, dass bislang – anders als zur Zeit von Willy Brandt – kaum über eine Senkung des passiven Wahlalters gesprochen wird. Das bedeutet, dass jemand mit 16 Jahren zwar in der Lage sein soll, eine Partei zu wäh-len, aber noch nicht in der Lage sein soll, als Kandidat für eine Partei anzutreten. Das kann man ja durchaus so richtig finden. Nur sollte man das dann auch entsprechend dis-kutieren und begründen. Und das kommt mir

in der aktuellen Diskussion zu kurz.Aber um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen: Junior-wahlen sind natürlich eine sehr gute Möglichkeit der Vorberei-tung auf das »echte« Wahlrecht. Aber sie werden natürlich immer eine Simulation sein und haben letztlich keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Parlamente. Bestimmt kann man auch auf diese Weise Jugendliche für Politik begeistern. Aber das zentrale Argument der Befürworter einer Wahlaltersenkung lautet ja ge-rade, dass nur ein echtes Wahlrecht eine Verantwortung mit sich bringt, die dann auch zu einer größeren Relevanz der Politik im Alltag der Jugendlichen führt. Deshalb würde ich Juniorwahlen

und Wahlaltersenkung nicht als Al-ternativen sehen, sondern eher als zwei Ansätze, die sich gegenseitig gut ergänzen können: Denn Junior-wahlen könnten ja gerade für 14- und 15-Jährige eine gute Vorberei-tung auf ein Wahlrecht ab 16 sein.

D&E: In Rheinland-Pfalz gab es detail-lierte Schülerbefragungen zum Thema Wahlalter mit 16, die in dem Band »Ju-gend, Politik und Medien« von Jens Ten-

scher und Philipp Scherer 2012 veröffentlicht wurden. Was sind Ihrer Mei-nung nach die zentralen Befunde der Befragung und was ziehen Sie daraus für Schlüsse? Jan Kercher: Die Befragungen bestätigten zunächst einmal einen Befund, den wir schon bei vielen anderen Wahl-Umfragen mit Ju-gendlichen oder Juniorwahlen beobachten konnten: Jugendliche tendieren häufiger zu den Grünen und leider auch häufiger zu rechtsradikalen Parteien als ältere Wählerinnen und Wähler. So lag der Anteil derjenigen, die eine Wahlpräferenz für DVU, Repub-likaner oder NPD äußerten, bei den 14- bis 18-jährigen Befragten bei insgesamt 5,3 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2005, die etwa zeitgleich stattfand, lag der Anteil dieser drei Parteien zu-sammengenommen jedoch nur bei 2,4 Prozent. Also weniger als halb so hoch. Was sich ebenfalls bestätigte, waren die großen Wissensunter-schiede zwischen den verschiedenen Altersgruppen. So stieg das politische Wissen in den Befragungen von Jens Tenscher und Phi-lipp Scherer zwischen 14 und 18 Jahren jedes Jahr deutlich an. Der größte Sprung beim Wissen lag jedoch zwischen dem 15. und dem 16. Lebensjahr. Das könnte man aus Sicht der Befürworter einer Wahlaltersenkung als Zeichen dafür interpretieren, dass 16 mög-

»Eine Wahlaltersenkung bietet die Chance, jugendliche

Menschen an politische Themen heranzuführen.«

FPÖGrüne

16-jährigeBefragte

17-jährigeBefragte

18-jährigeBefragte

Wahlergebnis

24 23 23

6,1

10,7

17,5

10,4

26

29,3

56

12

17

17

17

3

21

15

23

23

110

21

11

24

24

BZÖSonstigekeine Angabe

ÖVPSPÖ

Abb. 3 Nationalratswahl in Österreich: Wahlverhalten nach Alter © Sora-Studie »Wählen mit 16« – Eine Post Election Study zur Nationalratswahl 2008

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licherweise wirklich ein sinnvolles Wahlalter dar-stellt. Allerdings bräuchte man hierfür möglichst noch weitere Befunde, die zu ähnlichen Erkenntnis-sen kommen. Denn wie ich bereits gesagt habe, hängt die Entwicklung des politischen Wissens ja vor allem auch mit den jeweiligen Bildungsplänen zu-sammen. Und diese sahen in Rheinland-Pfalz, wo die Befragung von Tenscher und Scherer durchgeführt wurde, natürlich etwas anders aus als in Baden-Württemberg, wo wir unsere Untersuchung durchge-führt haben. Hätte man vergleichbare Studien aus mehreren Bundesländern, könnte man auf deren Ba-sis auch besser beurteilen, welche Form von politi-scher Bildung zu welchem Ergebnis führt. Leider ist dies aber bislang nicht der Fall, was für mich auch wieder zeigt, dass dem Bildungs- und Vorbereitungs-aspekt bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.Die dritte wichtige Erkenntnis aus der »Jugend, Poli-tik und Medien«-Studie ist, dass es nur bei den 14-jäh-rigen Befragten eine Mehrheit für ein Wahlrecht ab 16 gab. Und die fiel auch noch sehr knapp aus: 38,2 Prozent waren für ein Wahlrecht ab 16 und 37,6 Pro-zent waren für ein Wahlrecht ab 18 – also die Beibe-haltung des jetzigen Zustands. In allen anderen Altersgruppen, also zwischen 15 und 18 Jahren, gab es eine Mehrheit für das Wahlrecht ab 18 – erstaunlicherweise also auch bei den 16- und 17-Jährigen, die ja von der Wahlaltersen-kung direkt betroffen wären. Bei den 16-Jährigen sprachen sich aber 51,7 Prozent für ein Wahlrecht ab 18 aus, bei den 17-Jährigen sogar 60,4 Prozent. Für ein Wahlrecht ab 16 plädierten hingegen nur 38,4 bzw. 32,0 Prozent. Man sieht also, dass die Zustimmung zu einer Wahlaltersenkung zwar mit sinkendem Alter zunimmt. Aber trotzdem lehnt eine Mehrheit der 15- bis 18-Jährigen eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre ab. Das fand ich schon sehr überraschend. Und ich finde, dass man darüber mit den Befür-wortern einer Wahlaltersenkung sprechen muss. Denn diese ar-gumentieren ja gerade damit, dass sie sich für die Interessen der Jugendlichen einsetzen, die bislang noch kein Wahlrecht besit-zen, weil sie diese ernst nehmen wollen. Wenn man sich die Um-frage-Ergebnisse aus Rheinland-Pfalz aber anschaut, dann würde ein Ernstnehmen der Befragten eher zu dem Ergebnis führen, dass man das mit der Wahlaltersenkung lieber sein lässt. Denn möglicherweise würde man da etwas einführen, was die Mehrheit der Be-troffenen gar nicht will. Zumindest bislang noch nicht. Um dies zu än-dern, müssen die Befürworter ver-mutlich noch deutlich mehr Überzeu-gungsarbeit bei den betroffenen leisten – gerade, um diese ernst zu nehmen und der Wahlaltersenkung damit auch eine breitere Legitimati-onsbasis zu verschaffen.

D&E: Kritische Stimmen aus dem Unions-lager und aus der FDP in Baden-Württem-berg betonen, die grün-rote Landesregierung möchte das Wahlalter vor allem deshalb senken, um sich bei zukünftigen Wahlen Vorteile zu ver-schaffen. Bei der Landtagswahl werde dies deshalb in Baden-Württem-berg nicht möglich sein, weil dazu die Verfassung mit 2/3 Mehrheit geän-dert werden müsste. Teilen Sie diese Bedenken, wenn Sie z. B. einen Blick auf die bisherigen Wahlergebnisse in Österreich oder auf die betroffenen Bundesländer in Deutschland werfen?Jan Kercher: Ich finde es zunächst einmal erfreulich, wenn offen darüber gesprochen wird, dass die Parteien mit einer Wahlalter-senkung natürlich nicht nur selbstlose Motive verfolgen, sondern sehr wohl auch darauf achten, wie sich solch eine Gesetzesände-rung auf ihre Stimmenanteile auswirken würde. In Bezug auf die

Grünen hätte eine Wahlaltersenkung wohl auch tatsächlich posi-tive Auswirkungen für die Wahlergebnisse. Denn die Grünen er-zielen bei Umfragen unter 16- bis 17-Jährigen, bei Juniorwahlen und auch bei tatsächlichen Wählern im Alter von 16 und 17 Jahren immer deutlich bessere Ergebnisse als beim Rest der Wähler-schaft. Das war übrigens auch in Österreich so. Und in Baden-Württemberg haben die Grünen bei der Juniorwahl 2011 stolze 34,0 Prozent erzielt, im Vergleich zu 24,2 Prozent bei der eigentli-chen Landtagswahl. Ähnlich sah es in Bremen 2011 aus: Hier lagen die Grünen insgesamt bei 22,5 Prozent. Laut einer Wahltagsbefra-gung der Forschungsgruppe Wahlen lag ihr Stimmenanteil bei den 16- und 17-Jährigen aber bei 33,0 Prozent. Ich unterstelle den Grünen zwar keineswegs, dass sie aus rein wahltaktischen Grün-den für eine Wahlaltersenkung sind. Dagegen spricht schon allein die geringe Zahl der 16- und 17-Jährigen, die nur zu einer relativ geringen Änderung der Wahlergebnisse führen würde. Aber ich denke andererseits auch, dass es kein Zufall ist, dass sich mit den

Grünen eine Partei besonders für eine Wahlaltersenkung einsetzt, die auch in besonderem Maße davon profitie-ren würde. Genauso wie ich denke, dass es kein Zufall ist, dass sich die CDU bislang vehement gegen solch eine Gesetzesänderung sperrt. Denn sie schneidet bei den 16- und 17-Jähri-gen regelmäßig deutlich schlechter ab als im Rest der Wählerschaft. Ge-nauso wie CDU und FDP also dem rot-grünen Lager vorwerfen, sich nur aus Eigeninteresse für eine Wahlaltersen-kung einzusetzen, könnte man ihnen

vorwerfen, sich nur aus Eigeninteresse gegen eine Wahlaltersen-kung einzusetzen. Letztlich ist es vermutlich bei allen Parteien eine Mischung aus echtem Interesse oder Des interesse an der Beteiligung der Jugend und einer gewissen Portion Eigeninter-esse, die die Haltung zur Wahlaltersenkung bestimmt.Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens v. a. das Ver-halten der SPD. Denn die SPD kann nach den bisherigen Erkennt-nissen keinesfalls mit einer Erhöhung ihrer Stimmenanteile durch eine Wahlaltersenkung rechnen. Eher im Gegenteil: In Bremen lag sie bei den 16- und 17-Jährigen bei 28,5 Prozent, insgesamt aber bei 38,6 Prozent. Anders als bei Grünen und CDU kann man hier also eigentlich kein Eigeninteresse unterstellen. Trotzdem unter-

»Die Entwicklung des politischen Wissens hängt

vor allem mit den jeweiligen Bildungsplänen

zusammen.«

Abb. 4 Politikverständnis und Wahlalter, Experimentaluntersuchung © Jan Kercher, Universität Hohenheim, 2012

0%

100%

Unter 1818 und älter

Alle Gymn./Studienanf. Haupts./Berufs.

Ergebnisse: Politisches Interesse (in %)

34,9

56,4

36,2

76,1

30,3

41,1

sig.**

N = 134 N = 80 N = 56

sig.** sig.**

Objektives Wissen = Anteil der im Wissenstest erzielten Punkte an allen Punkten (0–16 mögliche Punkte), unter Berücksichtigung einer Ratekorrektur.** sig. = Gruppenunterschiede sind statistische signifikant, n.s. = nicht signifikant

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stützt die SPD auf Landes- und Kommunalebene meistens die Ini-tiativen der Grünen für eine Senkung des Wahlalters. Es handelt sich dabei also entweder um echte Überzeugung – die sogar so groß ist, dass dafür mögliche Verluste bei den Stimmanteilen in Kauf genommen werden – oder um große Solidarität mit dem be-vorzugten Koalitionspartner.

D&E: Kritiker sagen auch, dass insbesondere männliche Jugendliche mit einer Wahl ab 16 »ihr Mütchen kühlen« wollten und rechtsradikal wähl-ten. Sind solche Tendenzen zu befürchten?Jan Kercher: Wenn auf eine angemessene Vorbereitung der Ju-gendlichen verzichtet wird, auf jeden Fall. Das zeigen die Wahler-gebnisse aus Österreich und die Juniorwahl-Ergebnisse aus Ba-den-Württemberg recht deutlich. Betrachtet man die Ergebnisse der Befragungen von Jens Tenscher und Philipp Scherer, so zeigt sich, dass die vergleichsweise hohen Anteile der rechtsradikalen Parteien bei den Jungwählern fast ausschließlich auf die Präferen-zen der männlichen Jugendlichen zurückzuführen sind. Hier lag der Anteil von DVU, Republikanern und NPD bei 8 %., bei den weibli-chen Jugendlichen hingegen nur bei 2 %. Gerade die männlichen Ju-gendlichen müsste man im Vorfeld einer Wahlaltersenkung also ver-stärkt in den Blickpunkt nehmen. Was ich dabei besorgniserregend finde, ist, dass selbst in Bremen, wo zahlreiche Projekte zur Vorberei-tung der Jugendlichen durchgeführt wurden, der Stimmenanteil der NPD bei den 16- und 17-Jährigen mit 4,5 Prozent fast exakt dreimal so hoch war wie bei allen Wählerinnen und Wählern. Ich habe mir daraufhin die verschiedenen Projekte noch einmal genauer angeschaut. Und musste feststellen, dass zwar durchaus der Wille vorhanden war, die Jugendlichen auf ihr Wahlrecht vorzubereiten. Dass diese Vor-bereitungen aber fast ausnahmslos wenige Wochen oder sogar Tage vor der Wahl starteten. Auch hier wurde also keine langfris-tige Vor bereitung anhand der Bildungspläne vorgenommen, son-dern eine recht kurzfristige Vorbereitung anhand verschiedener, außerplanmäßiger Schulprojekte. Das ist zwar durchaus löblich und teilweise durchaus erfolgreich – was v. a. die hohe Wahlbetei-ligung bei den Jungwählern zeigt. Trotzdem sollte man sich ange-

sichts der Ergebnisse der Wahltagsbefragung Ge-danken darüber machen, ob solche kurzfristigen und außerplanmäßigen Projekte wirklich eine ausrei-chende Begleitung einer so tiefgreifenden Verände-rung des Wahlsystems sind.

D&E: Forschungen im Bereich des Wertewandels in moder-nen Gesellschaften betonen häufig den an postmateriellen Werten ausgerichteten Wunsch insbesondere junger Men-schen nach mehr Möglichkeiten der politischen Partizipa-tion. Ist diese Tendenz nach wie vor stabil und gibt es Unter-schiede, was die soziale Herkunft, die besuchte Schulform bzw. den erreichten Bildungsabschluss sowie das Geschlecht betreffen?Jan Kercher: Bei den prominenten und teilweise pri-vat finanzierten Jugendstudien, die immer wieder in den Medien diskutiert werden, muss man sehr vor-sichtig sein. Teilweise hapert es da ganz erheblich bei der Erhebungsmethodik und teilweise lösen sich die angeblichen Besonderheiten bei den politischen Ein-stellungen von Jugendlichen bei genauerem Hinse-hen in Luft auf. Nicht umsonst haben Edeltraud Rol-ler, Frank Brettschneider und Jan W. van Deth ihrem Sammelband zum Thema »Jugend und Politik«, der den Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendfor-schung untersucht, den Titel »Voll normal!« gegeben.

Denn was man bei einer seriösen Auswertung der vorhandenen Daten immer wieder feststellt, ist, dass sich die Jugendlichen in ihren Einstellungen gar nicht so sehr von den Älteren unterschei-den. So handelt es sich bei vielen Veränderungen, die sich bei den Jugendlichen im Zeitverlauf zeigen um allgemeine Veränderun-gen, die auch für die gesamte Bevölkerung nachweisbar sind. Die drei erwähnten Forscher kommen also zu dem Ergebnis, dass die jugendspezifischen Muster, wie sie vielfach auf der Basis von Ju-gendstudien ermittelt werden, offenbar wegen des fehlenden Vergleichs über alle Altersgruppen und über die Zeit überschätzt werden. Zum Thema Wertewandel: Was sich nach Roller und Kol-legen ebenfalls feststellen lässt, ist, dass im Zuge allgemeiner gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren in Deutschland eine neue Generation von Ju-gendlichen herangewachsen ist, die sich von den Jugendlichen der 1970er und 1980er Jahre unterscheidet. Nach der Theorie des postmaterialistischen Wertewandels von Inglehart sind Jugendli-

che ja vor allem postmaterialistisch orientiert, präferieren Themen und Positionen der Neuen Politik, wäh-len grün-alternative Parteien und sind politisch aktiv. Dieses Bild der Jugend ist in der Politischen Sozio-logie auch heute noch sehr verbrei-tet. Es trifft aber offenbar nicht mehr uneingeschränkt auf die heu-tige Jugend zu. Der Trend zeigt so-gar in eine andere Richtung. Die Ju-gend von heute unterscheidet sich von der Jugend der 1970er und 1980er Jahre zum Beispiel dadurch, dass sie eine höhere politische Kompetenz besitzt, in geringerem

Ausmaß postmaterialistisch orientiert ist und Gleichheit als rechtfertigende Gerechtigkeitsideologie befürwortet. Zudem zeichnet sie sich durch eine geringere Wahlbeteiligung aus, iden-tifiziert sich weniger häufig mit einer politischen Partei und wählt auch seltener die Grünen als früher. Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Die heutige Jugend ist im Vergleich zu ihren Vor-gängergenerationen politisch kompetenter, konservativer in ih-ren Wertorientierungen und ihrer Wahlentscheidung, weniger stark an politische Parteien gebunden und geht seltener zur Wahl.

Abb. 5 Landtagswahl 2011 in Baden- Württemberg und U-18 Wahl des Landesjugendrings Ba-Wü © Landeswahlleiter Baden-Württemberg, Landesjugendring Baden-Württemberg e. V.

»Es ist kein Zufall, dass sich mit den Grünen eine Partei

besonders für eine Wahlaltersenkung einsetzt,

die auch in besonderem Maße davon profitieren würde.«

Landtagswahl U18-Wahl

CDU SPD B’90/DieGrünen

FDP Die Linke Piraten NPD Sonstige

39,0

17,2

23,1 23,0 24,2

34,0

5,3 4,42,8 3,4

2,1

8,7

1,03,9

2,5

5,4

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Was die Einflüsse von Geschlecht, sozialer Herkunft und Bildung angeht: Generell lässt sich sagen – und das zeigt sich auch in der bereits erwähnten Untersuchung von Ten-scher und Scherer –, dass männliche und hö-her gebildete Jugendliche mehr Interesse an Politik und politischer Partizipation bekun-den als weibliche und geringer gebildete Ju-gendliche. Auch das politische Interesse der Eltern spielt eine sehr wichtige Rolle: Je stär-ker sich die Eltern für Politik interessieren, desto höher fällt auch das politische Inter-esse ihrer Kinder aus. Die politische Soziali-sation ist also sehr stark von Geschlecht, so-zialer Herkunft und dem Bildungsweg abhängig. Zum Beispiel zeigen sich auch deutliche Bildungseinflüsse bei der Frage, welche Ebenen von Politik für die Jugendli-chen interessant sind. Gymnasiasten bekun-den hier deutlich häufiger ein Interesse an internationaler Politik als Hauptschüler, die sich dafür mehr für kommunale Politik inter-essieren als Gymnasiasten. Auch die subjek-tive politische Kompetenz, die sich die Ju-gendlichen selbst zumessen, nimmt mit dem Bildungsgrad eindeutig zu. Zudem schätzen sich Jungen hier meistens deutlich höher ein als Mädchen. Bezüglich der Wertorientierungen lässt sich sagen, dass männliche Jugendliche häufig etwas materialis-tischer orientiert sind als weibliche Jugendliche und dass die ma-terialistischen Orientierungen mit zunehmendem Bildungsgrad eher abnehmen. Aber auch hier gilt: Das kann man ebenso im Rest der Gesellschaft beobachten. Die Jugendlichen sind letztlich also wirklich »voll normal«.

D&E: Welche weiteren Par ti zi pa-tions formen als das aktive Wahlrecht bevorzugen denn Jugendliche und junge Erwachsene? Wächst gerade eine aktive Generation, die eine mo-derne Zivilgesellschaft erst möglich macht, heran?Jan Kercher: Die heutigen Ju-gendlichen weisen eine deutlich geringere Bereitschaft auf, sich langfristig an institutionalisierte Formen der politischen Partizipa-tion zu binden. Das betrifft zum Beispiel Partei-Mitgliedschaften oder auch die Wahlbeteiligung. Das bedeutet aber nicht zwangs-läufig, dass weniger politisch partizipiert wird. Sondern eben vor allem weniger institutionell, sondern eher spontan, kurzfristig und anlassbezogen. Zum Beispiel durch die Teilnahme an Online-Petitionen, durch Flashmobs oder Shitstorms. Auch die Occupy-Bewegung ist für mich ein Beispiel dafür, dass institutionelle For-men der politischen Partizipation für viele jüngere Menschen keine attraktive Option mehr sind. Denn die Idee der Occupy-Be-wegung war ja gerade, dass sie keine festen Strukturen und vor allem auch kein Führungspersonal hat. Für die Parteien bedeutet das natürlich, dass es immer schwieriger wird, neue Mitglieder zu gewinnen, die auch langfristig aktiv bleiben. Das sieht man ja an den sinkenden Mitgliederzahlen fast aller Parteien: Die ausschei-denden Mitglieder können schon lange nicht mehr durch neue Mitglieder kompensiert werden – wie das früher immer der Fall war. Das führt dazu, dass die Parteien hier umdenken müssen – auch, um ihre Finanzierungsbasis zu sichern, die ja zu einem gro-ßen Teil auf den Mitgliedsbeiträgen aufgebaut ist. Das Aufkommen der Piratenpartei hat die etablierten Parteien hier zusätzlich aufgescheucht: Im gerade beginnenden Bundes-

tagswahlkampf kann man das ganz deutlich sehen. Nun versu-chen sich alle Parteien als Mitmach-Parteien darzustellen, um neue Anhänger und Mitglieder zu gewinnen. Dieser Prozess wurde durch die Piratenpartei sicherlich stark beschleunigt. Denn bei der Piratenpartei kann – oder konnte man zumindest bis vor Kur-zem – auch als Neumitglied relativ schnell wichtige Funktionen übernehmen. Das sieht bei den etablierten Parteien anders aus, schon allein aufgrund der größeren Mitgliederzahl. Da muss man sich im Normalfall erstmal einige Jahre beweisen und hocharbei-ten, bevor man eine hervorgehobene Position einnehmen kann.

Und das schreckt viele Jugendli-che ab. Bei der Piratenpartei funktionierte das hingegen bis vor Kurzem eher wie bei einer Bürgerinitiative: Wer genügend Engagement mitbrachte, der konnte ganz schnell Sprecher oder Vorsitzender sein. Mittler-weile stößt die Partei hier aber auch an gewisse Grenzen, was man gerade beim letzten Partei-tag in Bochum miterleben konnte. Denn wenn alle immer überall mitmachen und mitreden dürfen, dann führt das zwangsläufig zu Problemen bei der Effizienz. Und

die ist bei einer so schnell wachsenden Organisation auch nicht ganz unwichtig. Andererseits zeigt die Piratenpartei ja gerade, dass institutionali-sierte Formen der politischen Partizipation auch heute noch junge Menschen ansprechen können – wenn sie zeitgemäß organisiert sind, eine hohe Offenheit ausstrahlen und auch unverbindlichere Partizipationsmöglichkeiten – quasi als »Schnupperkurs« – anbie-ten. Mein Gefühl ist, dass die Attraktivität der Piraten für Jugend-liche vor allem durch ihr offenes und unarrogantes Auftreten zu erklären ist. Damit meine ich vor allem die Ehrlichkeit, auch zuzu-geben, wenn man zu einem Thema einmal nichts oder noch nichts zu sagen hat. Natürlich kann man das gerade bei zentralen politi-schen Themen nicht ewig so machen. Aber gerade bei Problemen, die neu auftreten und vielleicht auch noch sehr komplex sind, ist es ja häufig ehrlicher, als Politiker auch einmal zuzugeben, dass man dazu noch keine fundierte Meinung hat. Das erlebt man bei den etablierten Parteien aber sehr selten. Stattdessen flüchten sich deren Politiker dann häufig in Wortwolken, abgedroschene Phrasen oder Politiker-Chinesisch, häufig gepaart mit einem sehr

Abb. 6 Einstellungen zum Wahlalter, Rheinland-Pfalz 2005 © Jens Tenscher/Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien. Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in Rheinland-Pfalz. Münster, S. 177

»Die heutigen Jugendlichen weisen eine deutlich geringere

Bereitschaft auf, sich langfristig an institutionalisierte Formen der politischen Partizipation

zu binden.«

ist mir egal

1.714 Befragte

ab 18 Jahren

14 Jahre 15 Jahre 16 Jahre 17 Jahre 18 Jahre

10,4 9,1 5,3 7,1 5,8

69,4

23,3

60,4

32

51,7

38,4

2,5*

45

37,2

7,1

537,6

38,2

12,2

ab 16 Jahrenab 14 Jahren

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arroganten und selbstgewissen Auftreten. Und genau das wirkt meiner Einschätzung nach auf viele Jugendliche sehr abschre-ckend. Insofern hat die Piratenpartei hier sicherlich schon einen positiven Beitrag zur Veränderung der politischen Kultur geleis-tet – auch bei den etablierten Parteien.

D&E: Was könnte und sollte die politische Bildung innerhalb und außer-halb des Schulunterrichts für Angebote zur Stärkung der Partizipations-bereitschaft Jugendlicher machen und wie kann sie am besten Jugendliche erreichen?Jan Kercher: Ein guter und vor allem ansprechender Politik-Un-terricht in der Schule ist für mich nach wie vor das beste Mittel, um Jugendlichen die Bedeutung von politischer Partizipation nä-herzubringen. Denn die Schule ist der einzige Ort, an dem man alle Jugendlichen erreichen kann. Und sie genießt bei den Jugend-lichen nachweislich einen Ruf als Ort für eine objektive Informati-onsvermittlung. Weshalb die Jugendlichen von der Schule auch erwarten, dass sie ihnen die Informationen und Fähigkeiten ver-mittelt, die für ein Verständnis der politischen Prozesse und Beteiligungsformen nötig sind. Darüber hinaus halte ich Projekte, wie sie zum Beispiel zur Vorbereitung der Wahlaltersenkung in Bremen durchgeführt wurden, für sehr begrüßenswert. Also etwa Juniorwahlen, Workshops, Pro-jekttage, Planspiele oder auch Podiumsdiskussionen, die sich speziell an Jugendliche richten. Gerade die Methode des Plan-spiels halte ich für sehr gut geeig-net, um Jugendlichen die komple-xen Prozesse zu vermitteln, die im politischen Alltag relevant sind. Ich war selbst früher als Teamer im »Juniorteam Europa« aktiv, ei-nem Peer-Group-Education-Pro-jekt, das von der LMU München ins Leben gerufen wurde. Die Idee ist hier, dass junge Menschen anderen jungen Menschen die Be-deutung der europäischen Institutionen vermitteln. Und zwar vor allem durch die Teilnahme an Planspielen, in denen unterschied-liche europäische Szenarien durchgespielt werden. Meine Erfah-rungen mit dieser Methode waren immer sehr positiv. Nach der Teilnahme an den Planspielen konnten die Jugendlichen sehr viel besser verstehen, was Politik im Alltag häufig so mühsam macht und warum am Ende eben oft »nur« Kompromisse herauskom-men, die auf den ersten Blick vielleicht unbefriedigend erschei-nen. Durch die Teilnahme an einem Planspiel lernt man nämlich relativ schnell, dass solche Kompromisse ein Wesensmerkmal von demokratischen oder partizipativen Abstimmungsprozessen sind und beurteilt sie deshalb dann nicht mehr so negativ wie davor. Und: Man kann danach auch sehr viel besser einschätzen, was Po-litiker täglich leisten. Auch die Politik- oder Politikerverdrossen-heit kann also auf diese Weise – zumindest bei einigen Jugendli-chen – gesenkt werden.

D&E: Die Universität Stuttgart-Hohenheim, an der Sie bisher gearbeitet haben, hat verschiedene Untersuchungen zu Verständlichkeit von Politi-kersprache und Wahlprogrammen gemacht. Neigen nicht gerade junge Menschen dazu, für personalisierte und emotionalisierte Wahlkämpfe, vielleicht nach us-amerikanischem Vorbild, besonders empfänglich zu sein? Anders ausgedrückt: Droht nicht das Niveau der Wahlkampfauseinander-setzung durch die Senkung des Wahlalters noch weiter herabzusinken?Jan Kercher: Zunächst einmal: Die Jugendlichen im Alter von 16 und 17 Jahren würden bei einer Wahlaltersenkung nur einen sehr kleinen Teil der Wählerschaft ausmachen. Es ist also kaum zu er-warten, dass die Entwicklung der Wahlkampfführung durch solch eine Änderung entscheidend beeinflusst würde. Auch die Themen der Wahlkämpfe werden sich deshalb meiner Einschätzung nach nicht grundlegend ändern. Denn die Masse der Wähler befände sich auch nach einer Wahlaltersenkung noch immer im älteren

Teil der Bevölkerung. Und diese Masse beeinflusst – zumindest bei den beiden Volksparteien – natürlich in erster Linie die The-mensetzung. Kleinere Parteien wie die Grünen oder die Piraten wenden sich hingegen mit ihrer Themensetzung heute schon häufiger auch an jüngere Wählergruppen – auch da würde sich also nur bedingt etwas ändern. Am ehesten wären aus meiner Sicht also Änderungen bei den Themensetzungen der FDP und der Linken zu erwarten. Denn beides sind Parteien, die sich bislang nicht durch eine gezielte Ansprache von Jungwählern hervorge-tan haben, bei denen aber gleichzeitig auch kleinere Wählergrup-pen wie die 16- und 17-Jährigen durchaus wahlentscheidende Be-deutung haben können.Selbiges gilt leider auch für die rechtsradikalen Parteien. Was mich hier besonders nachdenklich stimmt, sind die Befunde aus der bereits erwähnten Sora-Studie zur österreichischen National-ratswahl 2008, die u. a. vom Bundeskanzleramt und vom österreichischen Parlament in Auftrag gegeben wurde. Nach den Befunden dieser Studie bewerteten die befragten Jugendlichen schon allein das Herausstellen eines klaren, von der Mehrheits-meinung abweichenden Standpunktes durch eine Partei positiv. Selbst dann, wenn dieser Standpunkt von der eigenen Meinung

abweicht. So lehnte zum Beispiel eine Mehrheit der befragten Ju-gendlichen den Standpunkt der FPÖ zur Einwanderungspolitik ab – bewertete aber gleichzeitig die klare Selbst-Positionierung der Partei in dieser Frage positiv. Eventuell sind es also gar nicht unbedingt immer die Themen selbst, die entscheidend sind für die Ansprache jüngerer Wähler – sondern v. a. auch die Art und Weise, wie diese Standpunkte kommuniziert und vertreten wer-

den. Die österreichischen Forscher stellten nämlich auch fest, dass die Themen, die von den beiden Rechtsparteien FPÖ und BZÖ propagiert wurden, auf der Prioritätenliste der Jugendlichen eigentlich ganz unten standen. Trotzdem wurden sie gerade von den 16-Jährigen überproportional gewählt.Das ist aus meiner Sicht auch nicht ganz überraschend: Für je-manden, der gerade erst beginnt, sich mit dem Thema Politik aus-einanderzusetzen, kann das typische Auftreten von Parteien und Politikern sehr leicht abschreckend wirken. Teilweise, weil man die Sprache einfach nicht versteht und teilweise vielleicht auch, weil man das Gefühl hat, dass die Politiker vieles unnötig verkom-plizieren. Denn auf den ersten Blick wirkt die Lösung vieler Prob-leme ja sehr einfach – erst auf den zweiten Blick merkt man dann häufig, dass es nicht ganz so einfach ist. Leider gibt es aber Par-teien, die den Wählerinnen und Wählern vorgaukeln wollen, dass es sehr wohl so einfach ist. Und diese bewegen sich eben meis-tens an den politischen Rändern. Gerade hier sehe ich also eine Hauptaufgabe der politischen Bildung. Also darin, den Jugendli-chen zu vermitteln, dass das Auftreten einer Partei nie wichtiger sein sollte als deren politische Ziele. Und dass man immer miss-trauisch sein sollte, wenn eine Partei allzu einfache Lösungen ver-spricht. Denn in unserer heutigen, hoch entwickelten und plura-listischen Gesellschaft gibt es nur noch für wenige politische Probleme wirklich einfache Lösungen. Eine klare und einfache Politikersprache ist deshalb natürlich nicht falsch – ganz im Gegenteil. Ich halte es gerade für die An-sprache von Jugendlichen für sehr wichtig, sich nicht in unnöti-gem Politiker-Chinesisch zu ergehen. Aber die klare Sprache sollte eben nicht einhergehen mit einer unzulässigen Simplifizie-rung politischer Zusammenhänge. Denn auch komplexe Zusam-menhänge lassen sich meistens mit recht einfacher Sprache be-schreiben, wenn man sich entsprechend bemüht. Bei links- und rechtsradikalen Parteien geht die einfache Sprache aber häufig mit einer unzulässigen Vereinfachung der politischen Probleme

»Die Methode des Planspiels halte ich für sehr gut geeignet,

um Jugendlichen die komplexen Prozesse zu vermitteln, die im

politischen Alltag relevant sind.«

»Wahl alter 16« – eine Chance zur Überwind ung der P olitik verdro s senheit ?

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einher. Und das muss man Jugendlichen innerhalb und außerhalb der Schule vermitteln.

D&E: Häufig heißt es, dass sich Jugendliche von elektroni-schen Medien, wozu neben den privaten TV-Stationen ins-besondere auch die digitalen Angebote des Internets zählen, sehr stark manipulativ bestimmen ließen. Denken Sie, dass über die Herabsenkung des Wahlalters sowie eine ver-stärkte verpflichtende politische Bildung in den Schulen dieser Tendenz Einhalt geboten werden kann und Jugendli-che in ihrem Alter bereits erkennen können, wann eine poli-tische Frage Zukunftsthemen aufwirft, um die im GG (Art. 20 a) als Staatsziel geforderte Generationengerechtigkeit umzusetzen?Jan Kercher: Meiner Einschätzung nach sollte man von mit einer Absenkung des Wahlalters keine unrea-listischen Erwartungen verbinden. Häufig wird zum Beispiel behauptet, eine Wahlaltersenkung würde zu einem Anstieg der Wahlbeteiligung führen – was nicht stimmt. Natürlich wird durch eine Wahlalter-senkung die absolute Zahl der abgegebenen Stim-men steigen – woraus man möglicherweise eine stär-kere Legitimationsfunktion der Wahl ableiten kann, weil ein größerer Teil der Bevölkerung durch die Wahl repräsentiert wird. Aber relativ betrachtet wird sich kaum etwas an der Wahlbeteiligung ändern, weil auch bei den neuen Erstwählern keine höheren Beteiligungsraten zu erwarten sind als bei den heutigen Erstwählern. Das sieht man ganz deut-lich, wenn man sich einmal Wahlen anschaut, bei denen das Wahlalter bereits gesenkt wurde.Was die Beeinflussbarkeit von Jugendlichen betrifft: Auch mit ei-nem niedrigeren Wahlalter und verstärkter politischer Bildung werden Jugendliche immer etwas leichter zu beeinflussen sein als ältere Menschen. Das ist auch vollkommen natürlich: Als junger Mensch verfügt man einfach über einen sehr viel geringeren Er-fahrungsschatz – sowohl im politischen Bereich als auch im unpo-litischen Bereich – als ältere Men-schen und auch über weniger gefestigte Einstellungen. Das macht zwangsläufig anfälliger für Beeinflus-sung durch persuasive Kommunika-tion – sei es nun durch Parteien oder die kommerzielle Werbeindustrie. Natürlich kann man Jugendliche durch entsprechende politische Bil-dung auf solche Beeinflussungs- oder Manipulationstechniken vorbereiten und sie damit auch etwas besser schützen als dies bislang der Fall ist. Aber den Effekt der Lebenserfahrung wird man damit natürlich nicht komplett kompensieren können. Das wäre zu viel erwartet.Ebenfalls zu viel erwartet wäre aus meiner Sicht deshalb übrigens auch die Wunschvorstellung, dass sich Jugendliche durch eine Wahlaltersenkung von heute auf morgen brennend für Rentenpo-litik interessieren werden. Denn es ist schlicht und einfach menschlich, dass man sich – angesichts eines begrenzten Zeit-budgets – zunächst einmal mit den Dingen beschäftigt, die einen aktuell betreffen – und nicht erst in 40 oder 50 Jahren. Daran wird man auch durch noch so frühe politische Bildung nur bedingt et-was ändern können. Natürlich kann und sollte man in der politi-schen Bildung von jungen Menschen trotzdem versuchen, die »versteckte« Bedeutung bestimmter Themen zu vermitteln, de-ren konkrete Auswirkungen sich für die heutigen Jugendliche viel-leicht erst in vielen Jahren oder Jahrzehnten bemerkbar machen. Das ist aus meiner Sicht aber eine generelle Aufgabe von politi-scher Bildung und nicht etwas, das ich in erster Linie von einer Wahlaltersenkung erwarte.Wenn man sie richtig und mit dem nötigen Vorlauf umsetzt, dann denke ich, dass eine Wahlaltersenkung ein wichtiger Beitrag sein

kann, um Jugendliche bereits vor dem Verlassen der Schule an po-litische Themen heranzuführen und ihnen die Relevanz politi-scher Prozesse und politischer Diskussionen – auch für ihr eige-nes Leben – zu verdeutlichen. Wenn das gelingen würde, dann wäre das schon einmal sehr erfreulich. Denn solche frühen, posi-tiven Erfahrungen prägen die politische Sozialisation auf ent-scheidende Weise und haben auch eine sehr langfristige Wirkung auf das generelle politische Interesse. Sie werden sich also auch dann noch bemerkbar machen, wenn die heutigen Jugendlichen einmal nicht mehr ganz so jung sind. Auf diese Weise könnte sich – ebenfalls langfristig betrachtet – auch die gesellschaftliche

Wahrnehmung von Politik insgesamt verbessern. Mit anderen Worten: Die »Politikverdrossenheit«, von der heute so oft zu lesen ist, könnte mög-licherweise gesenkt werden. Das be-deutet im Umkehrschluss übrigens auch, dass sich die Politik dann auf eine anspruchsvollere und beteili-gungsstärkere Bürgerschaft einstel-len sollte. Man kann ja nicht erwar-ten, dass die Leute sich mehr für Politik interessieren, aber trotzdem immer alles brav abnicken, was die

Regierenden beschließen.Diese indirekten und langfristigen Wirkungen einer Wahlalter-senkung sollte man meiner Meinung nach aber mit gewisser Vor-sicht behandeln. Denn ob und wann sie wirklich eintreffen, lässt sich heute noch nicht sagen.

Literaturhinweise

Kercher, Jan: Fit fürs Wählen. Ergebnisse einer experimentellen Studie zum Wahlrecht ab 16. www.politische-bildung-rlp.de/fileadmin/download/Schupp-Kuehl/Vortrag_LpB_RLP_mit_Zusatzauswertungen.pdf

Kozeluh, Ulrike, u. a. (2009): »Wählen mit 16« – Eine Post Election Study zur Nationalratswahl 2008. Befragung – Fokusgruppen – Tiefeninterviews. http://images.derstandard.at/2009/05/15/studie.pdf

Tenscher, Jens/Philipp Scherer, Philipp (2012): Jugend, Politik und Medien. Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in Rhein-land-Pfalz. LIT Verlag, Münster u. a.

»Man sollte mit einer Absenkung des Wahlalters

keine unrealistischen Erwartungen verbinden«

Alle 16- bis 17-Jährige

SPD CDU B’90/DieGrünen

FDP Linke Piraten NPD Sonstige

38,6

28,5

20,3

11,2

22,5

33,0

5,67,3

2,44,2 3,7

2,0 1,9

6,0

1,6

4,53,4 3,3

Landtagswahl 2011 in Bremen: Wahlverhalten nach Alter

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Abb. 7 Landtagswahlen 2011 in Bremen, nach Wahlalter © Jan Kercher, Daten: Landeswahlleiter

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MATERIALIEN

M 1 Christoph Faisst: »Konsequenter Schritt«

Wählen mit 16? Aber selbstverständlich. Denn was die grün-rote Landesregierung zunächst für das Kommunalwahlrecht und später auch für die Land-tagswahl plant, ist angesichts der gesellschaftlichen Veränderung nur konsequent: Jugendliche werden schneller durch die Schule getrieben, um so früh wie ihre Konkurrenten aus anderen europäischen Län-dern auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt anzu-kommen. Sie dürfen mit 17 ans Steuer eines Kraft-fahrzeugs. Sie werden, ob sie es wollen oder nicht, fit gemacht für eine Leistungsgesellschaft, die sich ihrer künftigen Mitglieder immer früher bemächtigt. Sie müssen überall mithalten – doch die entsprechende politische Teilhabe bleibt ihnen verwehrt.Die Debatte wird nicht lange auf sich warten lassen: Wie steht es um die politische Reife dieser jungen Wähler? Kann es sein, dass Menschen, die noch nicht unbeschränkt geschäftsfähig sind, mitentscheiden, wenn es um die Zusammensetzung gesetzgebender Organe geht? Solche Fragen sind verständlich, doch ein wenig Gelassenheit ist angebracht. Schließlich werden wir heute auch ganz selbstver-ständlich mit 18 Jahren volljährig, bis immerhin 1975 waren es noch 21 Jahre.Umstellen müssen sich dagegen die Parteien, die sich verstärkt mit der Lebenswelt junger Menschen beschäftigen müssen – wol-len sie nicht riskieren, per Wahlrechtsänderung mit leichter Hand den Piraten 20 Prozent zuzuschanzen.

© Christoph Faisst, Südwestpresse Ulm, Online-Dienst, 1.11.2012

M 2 Beschluss der Vollversammlung des Landesjugendrings Baden-Württemberg am 25. März 2006

Der Landesjugendring Baden-Württemberg fordert eine Absen-kung des aktiven Wahlalters für Kommunal- und Landtagswahlen auf 14 Jahre. Diese Absenkung des Wahlalters muss von einer Ver-stärkung der schulischen und außerschulischen politischen Bil-dung flankiert und durch eine Verbesserung der gesellschaftli-chen Partizipation junger Menschen ergänzt werden. (…)Eine Absenkung des Wahlalters ist aus mehreren Gründen dringend geboten. Als Interessensvertretung von Kindern und Jugend lichen trägt der Landesjugendring mit einer solchen For-derung dazu bei, mehr Gerechtigkeit zu Gunsten der jungen Ge-neration herzustellen und gleichzeitig zu einem größeren Gleich-gewicht zwischen den Generationen beizutragen.Darüber hinaus bewirkt eine Absenkung des Wahlalters auch, dass junge Menschen die Möglichkeit haben, sich am politischen Willensbildungsprozess zu beteiligen. Diese Beteiligung halten wir für wichtig – nicht nur, aber auch bei Wahlen. Nicht zuletzt können junge Menschen dadurch besser in demokratische Struk-turen hineinwachsen. (…)• Durch die demographische Entwicklung werden junge Men-

schen immer mehr zur Minderheit. Für Baden-Württemberg prognostiziert das Statistische Landesamt, dass der Anteil der unter 20-Jährigen bis 2050 von 22 % auf 16 % fallen wird, wäh-rend gleichzeitig der Anteil der über 60-Jährigen von heute 23 % auf gut 36 % steigen wird. Dadurch werden Wahlen in Zukunft noch stärker als bisher von älteren Menschen ent-schieden. Es besteht die Gefahr, dass sich Politik deshalb zu-nehmend an den Interessen der älteren Generation orientiert. (…)

• Eine Absenkung des Wahlalters ist mit einer Steigerung der Relevanz von politischer Bildung verbunden. Damit bekommt

z. B. der Gemeinschaftskundeunterricht eine andere Dimen-sion, weil er mit stattfindenden Wahlen verbunden werden kann, an denen sich die Jugendlichen beteiligen können. Auch in der außerschulischen Jugendbildung gäbe es einen direkte-ren Anlass, mit Jugendlichen über das Wahlsystem und die Auswirkungen einer Wahlentscheidung zu kommunizieren. Dadurch würden Jugendliche besser in unser demokratisches System hinein wachsen. Die Auswertung der Beteiligung bei der Bundestagswahl zeigt, dass dies dringend nötig ist. (…)

• Das Argument, dass viele junge Menschen zu wenig Ahnung von politischen Themen haben, spricht für die Notwendigkeit einer besseren politischen Bildung. Es spricht aber nicht ge-gen eine Absenkung des Wahlalters. In jeder Altersstufe gibt es Menschen, die an Politik interessiert sind und solche, die sich nicht für Politik interessieren. Auch die Möglichkeit der Beeinflussung der Wahlberechtigten durch die Parteien ist in allen Generationen gegeben. Die wahlkämpfenden Parteien geben ja nicht umsonst viel Geld dafür aus, Menschen zu be-einflussen. (…) Dass viele Jugendliche sich selber als noch nicht reif zum Wählen einschätzen, bringt deren Respekt vor der Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit von Wahlen zum Ausdruck und kann nicht gegen eine Absenkung des Wahlalters vorge-bracht werden. Es geht darum, dass junge Menschen über-haupt die Möglichkeit haben, sich an Wahlen zu beteiligen. (…)

• Jede Altersgrenze ist beliebig und bringt neue Ungerechtig-keiten mit sich. Für die Altersgrenze bei 14 Jahren spricht, dass sich bereits jetzt an dieser Altersschwelle einige gesetzlichen Rechte und Pflichten ändern. Mit diesem Alter beginnt die Re-ligions- und Strafmündigkeit. Das bedeutet, dass der Staat Menschen in diesem Alter schon viel zutraut. Mit anderen Worten: Wem zugetraut wird, dass er/sie die Religionszugehö-rigkeit frei wählen kann und Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen muss, ist auch in der Lage, eine politi-sche Wahlentscheidung zu treffen.

• Dies wird unterstützt durch entwicklungspsychologische Er-kenntnisse in den Sozialwissenschaften. Ab dem Alter von 12 Jahren geht der Blick über das eigene enge Lebensumfeld hin-aus, die Urteilsfähigkeit auch über Vorgänge, die einen nicht selbst direkt betreffen, wächst. In den letzten Jahren wird be-obachtet, dass Jugendliche über diese Fähigkeiten immer frü-her verfügen. Nicht umsonst nehmen Kinder und Jugendliche in vielen Jugendverbänden schon viel früher an den innerver-bandlichen Entscheidungsprozessen teil.

© Beschlossen von der Vollversammlung des Landesjugendrings Baden-Württemberg e. V. am 25. März 2006

M 3 »Total unpolitisch …« © Gerhard Mester 10.3.2013 (gezeichnet für D&E)

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M 4 Stephan Eisel: Wahlrecht, Volljährig-keit und Politikinteresse?

Immer wieder wird in Deutschland über eine Absenkung des Wahlalters als Mittel gegen eine angenommene »Politikverdrossenheit« bei Jugendlichen diskutiert. Zuletzt hat der Landtag in Brandenburg im Dezember 2011 mit den Stimmen von SPD, LINKEN, Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU das Wahlalter auf 16 Jahre festgelegt. Der oft emotional geführten Debatte mangelt es al-lerdings meist an einer nüchternen Bewer-tung der Fakten. Insbesondere sind bei der Entscheidung über das Wahlalter folgende Gesichtspunkte zu beachten (…):Artikel 38 des Grundgesetzes legt in Absatz 2 zur Wahlberechtigung für die Wahlen zum Deutschen Bundestag fest: »Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat,mit dem die Volljährigkeit eintritt.« Für eine Änderung dieser Regelung wäre ein 2/3-Mehr-heit im Deutschen Bundestag erforderlich.Zwar können die Bundesländer das jeweili-gen Landtags- und Kommunalwahlrecht grundsätzlich autonom regeln, aber sie orientieren sich meist am Bundestagswahlrecht. Zwölf von 16 Bundesländern regeln das Wahlalter für Landtagswahlen und landesweite Volksabstimmun-gen in ihren Landesverfassungen. Da diese nur mit einer 2/3-Mehr-heit bzw. teilweise nur durch Volksabstimmungen geändert werden können, ist eine Änderung des Wahlrechtes vor parteitak-tischen Überlegungen geschützt. In den Landesverfassungen von Bayern (Art 14), Baden-Württemberg (Art. 73), Berlin (Art. 39), Hessen (Art. 73), Niedersachsen (Art. 8), Nordrhein-Westfalen (Art. 30), Rheinland-Pfalz (Art. 76), dem Saarland (Art. 64), Sach-sen (Art. 4) Sachsen-Anhalt (Art. 42) und Thüringen (Art. 46), ist das Wahlalter ausdrücklich auf die Vollendung des 18. Lebensjah-res festgelegt. (…) Auch im europäischen Ausland gilt generell die Wahlberechti-gung ab 18 Jahren – mit Ausnahme von Österreich, wo 2007 das Wahlalter bei nationalen Wahlen auf 16 Jahre gesenkt wurde. In-ternational lassen bisher außerdem lediglich Brasilien, Nicaragua und Kuba (wo man von Wahlen gar nicht sprechen kann) ein Wahlrecht ab 16 Jahren zu. (…)Die Forderung nach einer Senkung des Wahlalters wirft die Frage auf, nach welchen Kriterien das Wahlalter festgelegt werden soll. Bisher galt das Erreichen der Volljährigkeit dafür als entscheiden-der Maßstab. So kündigte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung »Mehr Demokratie wagen« vom 28. Okto-ber 1969 miteinander verbunden Gesetzesinitiativen zur Absen-kung des Wahlalters und der Volljährigkeit an. Die Umsetzung erfolgte zur Bundestagswahl 1972 mit der Absenkung des aktiven Wahlalters und (wegen der Vielzahl rechtlicher Folgeregelungen zeitlich verzögert) 1975 mit der Herabsetzung der Volljährigkeit (und damit der passiven Wahlberechtigung) auf 18 Jahre.Der Vorschlag nach einer weiteren Senkung des Wahlalters wird allerdings nicht mit der Forderung nach einer weiteren Absen-kung der Volljährigkeitsgrenze verbunden. Die sich daraus erge-bende Entkoppelung von Wahlberechtigung und Volljährigkeit führt zur grundsätzlichen Problematik, ob Bürgerrechte wie das Wahlrecht nicht an die Bürgerpflichten gebunden sein sollten, die zur Volljährigkeit gehören.Der innere Zusammenhang zwischen Wahlalter und Volljährigkeit konkretisiert sich in der Frage, warum jemand über die Geschicke der Gesellschaft mitentscheiden soll, den diese Gesellschaft noch nicht für reif genug hält, seine eigenen Lebensverhältnisse zu re-geln:

16-Jährige dürfen in Deutschland Mofa fahren, aber nicht ohne Begleitung eines Erwachsenen ein Auto lenken. Sie dürfen in der Öffentlichkeit Bier trinken, aber keine hochprozentigen Alkoho-lika. Ohne Erlaubnis der Eltern dürfen sie eine Diskothek nur bis Mitternacht besuchen. Bei Gesetzesverstößen fallen 16-Jährige unter das Jugendstrafrecht. Heiraten darf man zwar ab 16, aber nur wenn ein Familiengericht dazu die Genehmigung erteilt und der Ehepartner bereits volljährig ist. Kaufverträge, die von Ju-gendlichen unter 18 Jahren ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters geschlossen werden – zum Beispiel der Kauf eines Computers – sind nur wirksam, wenn sie aus Mitteln bezahlt wer-den, die ihnen vom gesetzlichen Vertreter oder mit dessen Zu-stimmung von einem Dritten überlassen worden sind.Dieser sog. »Taschengeldparagraph« (§ 110 des Bürgerlichen Ge-setzbuches) gilt bis zur vollen Geschäftsfähigkeit mit Erreichen des 18. Lebensjahres.Es ist auffällig, dass auch die Befürworter einer Absenkung des Wahlalters nicht vorschlagen, dass an diesen Alterseinschränkun-gen etwas geändert wird. Sie plädieren nicht für eine Absenkung der Volljährigkeit. So gesehen ist die Wahlberechtigung für Min-derjährige ein Widerspruch in sich, weil es das Wahlrecht von der Lebens- und Rechtswirklichkeit abkoppelt.Wenn das Wahlrecht von der Volljährigkeit entkoppelt wird, sind andere Altersgrenzen willkürlich, weil sie an kein objektives Krite-rium geknüpft sind. Nach der Volljährigkeit ist im deutschen Rechtssystem allenfalls die Strafmündigkeit ab dem 14. Lebens-jahr (§ 19 Strafgesetzbuch) ein wesentlicher Einschnitt. Mit dem Erreichen des 16. Lebensjahres werden hingegen nur einige Ein-schränkungen des Jugendschutzes gelockert (z. B. Ausgang ohne Erwachsenenbegleitung bis 24 Uhr). (…)Oft wird als Begründung für eine Senkung des Wahlalters das ver-meintlich hohe Politikinteresse von minderjährigen Jugendlichen angeführt. Dafür gibt es keine empirischen Belege. Im Gegenteil stimmen die vorliegenden Studien darin überein, dass das Politi-kinteresse von 16/17-Jährigen deutlich geringer ausgeprägt ist als das von älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

© Stephan Eisel: Wahlrecht, Volljährigkeit und Politikinteresse?, (Konrad-Adenauer-Stif-tung), www.kas.de/wf/de/33.29980/, Stand: 18.10.2012, vgl. auch Blog: buergerbeteiligung.wordpress.com

M 5 »… Jugendliche reifen heute wesentlich früher …« © Gerhard Mester, 2012

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BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

10. »Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur

JEANNETTE BEHRINGER

Das Projekt »Grenzen-Los! Freiwilliges Engage-ment in Deutschland, Österreich und der

Schweiz« wurde im Jahr 2007 durch die Landeszen-trale für politische Bildung Baden-Württemberg ins Leben gerufen. »Grenzen-Los« ist eine trinatio-nale und trisektorale Kooperation, die Organisati-onen aus Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft aus Deutschland, Österreich und der Schweiz um-fasst. In ihr arbeiten acht Organisationen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zum Thema des zivilgesellschaftlichen, freiwilligen En-gagements grenzüberschreitend zusammen. Seit Beginn der Kooperation haben sich umfassende Möglichkeiten des Austauschs zu länderspezifi-schen Lösungsansätzen und Akteuren entwickelt. Die Kooperation möchte sich zu einem Netzwerk weiterentwickeln, das neue Formen des grenz-überschreitenden, spezifischen Austauschs zur Thematik der weiteren Entwicklung einer demo-kratischen Zivilgesellschaft, des freiwilligen Enga-gements und partizipativer Strukuren sowie deren gesellschaftlichen Auswirkungen erarbeiten wird. Dabei sol-len zunehmend die Rolle des Staates und der Unternehmen sowie die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Strukturen grenzüberschreitend diskutiert werden.

Warum ein grenzüberschreitendes Projekt zum freiwilligen Engagement?

Freiwilliges Engagement spielt in vielfältiger Form eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft: Als Träger von Lebensqualität, als Ausgangspunkt für ein gutes Zusammenleben, als Feld, in dem wichtige kommunale Aufgaben übernommen werden oder wenn es darum geht zu diskutieren, wie wir uns als Gesellschaft organi-sieren und weiterentwickeln. Das Netzwerk »Grenzen-Los!«, das Organisationen aus Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft aus Deutschland, Österreich und der Schweiz umfasst, widmete sich deshalb in einer Tagungsreihe der Frage »Wie gelingt es, dieses wichtige Engagement in unserer Gesellschaft bestmöglich zu un-terstützen und zu fördern?«. Ziel der Kooperation ist der länder-übergreifende Wissenstransfer sowie die Identifizierung gemein-samer Fragestellungen und die Entwicklung von Lösungsansätzen.Nach einer Tagung in Konstanz (2009) und in Zürich (2010) be-schäftigte sich die dritte Tagung des Netzwerks in Dornbirn, Ös-terreich (2011), mit der Wechselwirkung von Beteiligung und Selb-storganisation als wesentlicher Aspekte bürgerschaftlichen Engagements.Die »Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg« lud für diese Konferenzen Vertreter des »Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend« (BMFSFJ), des »Bundes-netzwerks Bürgerschaftliches Engagement« (BBE) sowie des da-maligen »Ministeriums für Arbeit und Soziales Baden-Württem-berg« ein. Aus Österreich sind das »Lebensministerium« sowie das »Büro für Zukunftsfragen des Landes Vorarlberg« beteiligt, aus der Schweiz die »Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft«

(SGG) sowie »MIGROS Kulturprozent«. Sind in Deutschland und Österreich Organisationen der öffentlichen Hand Trägerinnen von »Grenzen-Los!«, bearbeiten in der Schweiz vor allem zivilge-sellschaftliche und wirtschaftliche Träger diese Aufgabe auf nati-onaler Ebene.

Was kann Beteiligung und Selbstorganisation für die Förderung von Engagement leisten?

Leitend für die Zusammenarbeit war der Gedanke, die Bedeutung des freiwilligen Engagements im deutschsprachigen Raum in sei-nen unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirkungen als zentrales Element einer lebendigen Zivilgesellschaft und Demokratie, für sozialen Zusammenhalt und Stabilität sowie als Voraussetzung für eine Nachhaltige Entwicklung deutlich zu machen. Dazu trat der transdisziplinäre Wissensaustausch: Wissenschaft soll von Erfahrungen und drängenden offenen Fragen aus der Praxis Kenntnis erhalten, erfahrene Personen aus dem Feld erhal-ten eine »komprimierte Gelegenheit«, sich mit wissenschaftli-chen Befunden zu Entwicklungen des freiwilligen Engagements auf gesellschaftlicher Ebene auseinanderzusetzen. Des Weiteren steht der Gedanke der grenzüberschreitenden Vernetzung im Zentrum: Menschen sollen sich begegnen, austauschen, vernet-zen.Die erste Tagung (2009) hatte, ausgehend von der bundesdeut-schen Diskussion, das Ziel, grundlegende und aktuelle Fragestel-lungen des Diskurses zum freiwilligen Engagement wie Ausmaß, aktuelle Erscheinungsformen, Akteure und Motivationen des frei-willigen Engagements, oder auch Voraussetzungen und Zugänge, Wirkungen von Engagement am Beispiel der interkulturellen In-tegration aufzugreifen. Die zweite Tagung hatte die in der schwei-zerischen Diskussion wichtige Frage nach der Rolle des freiwilli-gen Engagements als einen Beitrag für lokale Demokratie und sozialen Zusammenhalt in den Mittelpunkt gerückt. Diese wur-den anhand spezifischer Fragestellungen weiter vertieft, zum Bei-

Abb. 1 Kongress »Grenzen-Los!«, 2009 in Konstanz © Andreas Kaier, Esslingen

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D&E»Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur Heft 65 · 2013

spiel in der Frage nach den Potenzialen des Engagements in der Integrations- und Inklusionsförderung oder im Rahmen von Ge-nerationenbeziehungen. Die dritte Tagung in Dornbirn tagte im Format einer Open Space Anordnung zum Thema »Engagement, politische Partizipation und Nachhaltige Entwicklung«.

Gemeinsame Motivationen, unterschiedliche Kulturen

In einer Zeit, in der das europäische Zusammenwachsen groß ge-schrieben wird, wird eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit gern eingefordert. Dennoch: Was ist der »Mehrwert« eines sol-chen Projekts? Welche Erfahrungen und Erkenntnisse wurden bis-her gesammelt? Und was können Entwicklungsperspektiven sein?Eine der wichtigsten Erkenntnisse war bisher: Je länger die Zu-sammenarbeit andauerte, je mehr voneinander gelernt und er-fahren wurde, desto deutlicher traten auch die länderspezifische Unterschiede zutage. Da sich die Kooperation bislang im deutsch-sprachigen Raum bewegt, haben sich die Partnerorganisationen häufig in der unbewussten Annahme »ertappt«, dass sich freiwil-liges Engagement in den drei Ländern mehr oder weniger ähnlich darstellt. Die Unterschiede sind jedoch größer als angenommen. Bereits bei der Suche nach einer gemeinsamen Begrifflichkeit hat die Diskussion zwischen den in der Schweiz eher gebräuchlichen Begriffen »Freiwilligkeit«, »Freiwilligenarbeit« und dem vor allem in Deutschland durch die Enquete-Kommission des Bundestags »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« geprägten Be-griffs »Bürgerschaftliches Engagement« höchst unterschiedliche Auffassungen und Entwicklungen der politischen Kultur und de-ren Bedeutung für Zivilgesellschaft und Demokratie zutage ge-fördert. In der Schweiz sind die Gesellschaft und der Staat auf die freiwil-lige Tätigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger wesentlich stärker angewiesen als in Österreich oder Deutschland. Insbesondere die staatliche Unterstützung auf der Ebene des Bundes ist strukturell weit weniger ausgeprägt. Aufgrund des stärkeren Föderalismus ist sie regional und lokal sehr unterschiedlich und wird stärker durch Kantone und Gemeinden wahrgenommen. Hingegen wird in den stärker repräsentativ-demokratischen Kul-turen in Österreich und Deutschland die Rolle und der Charakter des freiwilligen Engagements nicht in erster Linie für den sozialen Zusammenhalt diskutiert, sondern wesentlich stärker in seiner Funktion als zusätzliches politisches Engagement wahrgenom-men. Diese Diskussion wird durch die aktuelle Krise der Legitima-tion politischer Parteien und durch die Krise der Repräsentation verstärkt. So sind in Deutschland und in Österreich vermehrt staatliche Strukturen für die Förderung des freiwilligen Engage-ments vorhanden – gleichzeitig ist damit eine höhere Steuerung durch staatliche Instanzen vorgezeichnet.Länderstudien erfassen deshalb das, was als »freiwilliges Engage-ment« gilt, zum Teil unterschiedlich. Dennoch zeichnen sich auch gemeinsame Trends und Entwicklungen ab, wie zum Beispiel die zunehmende »Monetarisierung« im freiwilligen Engagement, ihre Multi-Funktionalisierung oder auch die immer größere Inan-spruchnahme der Individuen durch den Arbeitsmarkt, die Zeitres-sourcen für freiwilliges Engagement geringer werden lassen. Gleichzeitig sind Seniorinnen und Senioren in allen Ländern eine Zielgruppe, deren Kompetenz, Gestaltungswille und auch deren Zeitressourcen in den kommenden Jahren erheblich mehr Ge-wicht gewinnen werden.

Ausblick

Geprägt durch diese Erfahrung von Gemeinsamkeit, aber auch Unterschieden im freiwilligen Engagement, ist es das Ziel des Netzwerks, nicht nur in einer Art »Länder-Benchmarking« die sich verändernden Nuancen eines »Wo engagieren sich die meisten in

welchen Themenfeldern?« zu betrachten. Vielmehr liegt das Inte-resse darin, in einer nächsten Phase spezifische Fragestellungen, die länderspezifisch einzigartig oder auch länderübergreifend beobachtet werden, vertieft zu diskutieren. Dies soll die Möglich-keit und die Chance bieten, sich gegenseitig zu unterstützen, län-derübergreifende Lösungswege zu entwickeln, d. h. kollegiale Beratung zu leisten. Die Erweiterung um Organisationen aus anderen Ländern wäre deshalb nicht nur denkbar, sondern auch wünschenswert. Die He-rausforderung in dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit besteht aktuell vor allem darin, einerseits einer naiven »Übertra-gungs- und Transferlogik« eines länderspezifisch gewachsenen Projektes zu entgehen, andererseits, trotz bestehender Unter-schiede, Potenziale für die je eigene Kultur zu erkennen. Als wich-tige Voraussetzung für dieses Ziel wird deshalb aktuell der quali-tative Ansatz eines »Verstehen statt Vergleichen« (Rita Trattnigg) diskutiert.

Literaturhinweise

Europäisches Netzwerk Freiwilliges Engagement (Hrsg.) (2009): Grenzen-Los!. Freiwilliges Engagement in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dokumentation zur Internationalen Vernetzungskonferenz Konstanz, 16./17. Februar 2009

Der Bürger im Staat (BIS), Bürgerschaftliches Engagement, Nr. 4–2007.

Gensicke, Thomas/Picot, Sybille/Geiss, Sabine: Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999–2004, Wiesbaden, 2006.

Abb. 2 Flipchart aus der Open-Space Konferenz »Grenzen-Los!« vom 21./22. November 2011 in Dornbirn, Österreich © Jeannette Behringer

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M 1 Thomas Olk: »Topographie des freiwilligen Engage-ments in Deutschland«

Freiwilliges beziehungsweise bürgerschaftliches Engagement hat in Deutschland eine lange Tradition. So haben etwa im Verlaufe des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Formen des bürgerschaftli-chen Engagements (bürgerliche Sozialreform, Frauenbewegung, christliche Bewegungen sowie die Stein-Hardenberg’sche Kom-munalreform) zur Entstehung des deutschen Sozialstaates beige-tragen. Dennoch führten Formen des freiwilligen beziehungs-weise bürgerschaftlichen Engagements in der Folgezeit ein Schattendasein, was nicht zuletzt mit der Expansion des deut-schen Sozialstaates zusammenhängt. Erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stieg angesichts der Grenzen des Wachstums des Wohlfahrtsstaates die Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Formen des freiwilligen Engagements wieder an. Mit dem Inter-nationalen Jahr der Freiwilligen (IJF) im Jahre 2001 und der En-quete-Kommission des Deutschen Bundestages »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« (1999 bis 2002) erhielt das frei-willige Engagement sogar eine prominente öffentliche Sichtbar-keit, die mit der Initiative Zivil-Engagement (IZE) des Bundesmi-nisteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und dem Nationalen Forum für Engagement und Demokratie einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat.In Deutschland gibt es bis heute keinen Konsens hinsichtlich der Begrifflichkeit. Traditionell werden unentgeltliche und freiwillige Tätigkeiten im öffentlichen Raum mit dem Begriff des »Ehrenam-tes« belegt. Inzwischen werden neben dem klassischen Begriff des Ehrenamtes insbesondere die Termini »freiwilliges Engage-ment« und »bürgerschaftliches Engagement« gebraucht. So ver-ständigte sich die Enquete-Kommission im Jahr 1999 auf den Be-griff des »bürgerschaftlichen Engagements«, um im Anschluss an republikanische Denktraditionen die gesellschaftspolitische Di-mension freiwilligen Handelns zu betonen. Der erstmalig im Jahre 1999 in Auftrag gegebene Freiwilligensurvey spricht relativ neut-ral von »freiwilligem Engagement«. Hinsichtlich der operativen Dimension gibt es allerdings Konsens dahingehend, dass es sich bei (freiwilligem beziehungsweise bürgerschaftlichem) Engage-ment um freiwillige, nicht auf materiellen Gewinn gerichtete, ge-meinwohlorientierte und im öffentlichen Raum statt findende Tätigkeiten handelt, die in der Regel gemeinschaftlich bezie-hungsweise kooperativ ausgeübt werden. (…) International ver-gleichende Angaben lassen sich (…) aus dem ESS (»European So-cial Survey«) ableiten. Danach liegt der prozentuale Anteil ehrenamtlich Aktiver mit 24,6 Prozent in Deutschland deutlich über dem internationalen Durchschnitt (der bei 17,6 Prozent liegt). Die höchsten Beteiligungsquoten weisen Norwegen (36,6 Prozent), Schweden (34,7 Prozent) und die Niederlande (30,6 Pro-zent) auf, die niedrigsten dagegen Italien (4,6 Prozent), Polen (5,6 Prozent) und Portugal (6,1 Prozent). (…) Was die Tätigkeitsberei-che anbelangt, so bleibt der Bereich »Sport und Bewegung« nach wie vor der mit Abstand größte Bereich, gefolgt von »Schule/ Kin-dergarten«, »Kirche und Religion« sowie »Kultur und Musik« so-wie dem »sozialen Bereich«. In dem Zeitraum zwischen 1999 und 2004 sind insbesondere die Bereiche »Kindergarten/Schule«, »au-ßerschulische Jugendarbeit und Erwachsenenbildung« sowieder »soziale Bereich« gewachsen. Dabei geht diese Zunahme in den beiden erstgenannten Bereichen auf das Konto der jungen Leute (14 bis 30 Jahre), während das Wachstum des »sozialen Be-reichs« vor allem durch Menschen ab 40 Jahre getragen wird. (…) Das quantitative Ausmaß des freiwilligen Engagements ist in Deutschland mit 36 Prozent durchaus (für manche überraschend) hoch; mit dieser Engagementquote befindet sich Deutschland im internationalen Vergleich im oberen Mittelfeld. Allerdings gibt es eine hohe soziale Selektivität nach Bildungsstand, sozialer Ver-netzung, ethnischer Zugehörigkeit, beruflicher Tätigkeit, etc.;

(…) Viele Organisationen klagen dennoch über einen Rückgang ehrenamtlicher Beteiligung und schwindender Bereitschaft zur Ausübung langfristig bindender Engagements etwa im Führungs- und Leitungsbereich; hier erweist sich ein weiteres Mal, dass frei-williges Engagement eine schwer zu bindende Ressource ist, die entsprechender Rahmenbedingungen bedarf

© Thomas Olk: »Topographie des freiwilligen Engagements in Deutschland«, in: Grenzen-Los!, a. a. O., S. 22ff., www.lpb-bw.de/6014.html

M 3 Isabelle Stadelmann-Steffen: »Topographie des freiwilligen Engagements in der Schweiz«

Rund ein Viertel der Schweizer Wohnbevölkerung ist innerhalb von Vereinsstrukturen freiwillig engagiert. Hierbei können die be-reits in früheren Untersuchungen festgestellten Unterschiede zwischen der Romandie beziehungsweise dem Tessin und der Deutschschweiz bestätigt werden. In der Deutschschweiz sind substantiell mehr Personen freiwillig tätig, als dies in der lateini-schen Schweiz der Fall ist. Dies gilt nicht nur für freiwillige Tätig-keiten im Allgemeinen, sondern ebenso für die Übernahme von Ehrenämtern im Besonderen. Mit einem Bevölkerungsanteil von gut zehn Prozent sind die meisten der formell Freiwilligen in Sport- und Freizeitvereinen tätig. Umgekehrt engagieren sich we-niger als zwei Prozent in politischen Parteien oder in Menschen-rechts- und Umweltverbänden.Darüber hinaus ist ein hoher sozialer Status, das heißt eine hohe Bildung, ein hohes Haushaltseinkommen und eine gute beru iche Stellung dem freiwilligen Engagement grundsätzlich förderlich. Demgegenüber ist die verfügbare Zeit nicht das wesentliche Merkmal formell Freiwilliger (…). Gerade Bevölkerungsgruppen, die im Prinzip über zeitliche Ressourcen verfügen, um sich in Ver-einen und Organisationen freiwillig zu betätigen, wie etwa Rent-ner, Arbeitslose oder Teilzeiterwerbstätige, engagieren sich nicht so stark wie erwartet. Vielmehr ist die soziale Integration – sei es über den Beruf oder über familiäre Beziehungen und Freunde – von zentraler Bedeutung für ein freiwilliges oder ehrenamtliches Engagement. (…)In der Schweiz sind insgesamt über 37 Prozent der Bevölkerung informell, also außerhalb von Vereinen und Organisationen, frei-willig tätig. Ähnlich wie beim formell freiwilligen Engagement er-geben sich dabei erhebliche regionale Unterschiede. Vor allem in den Kantonen der Ost- und Zentralschweiz ist das informelle En-

M 2 Organisatorinnen, Organisatoren, Referentinnen und Referenten des Kon-gresses »Grenzen-Los!« in Konstanz 2009: (von links): Dr. Jeannette Behringer, Dr. Isabelle Stadelmann-Steffen, Professor Dr. Thomas Olk, Eva More-Hollerweger, Lothar Frick, Direktor der LpB Baden-Württemberg © Andreas Kaier, Esslingen

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Heft 65 · 2013

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gagement ausgeprägt, während in der Romandie und im Tessin ein deutlich geringerer Anteil von Personen informelle Freiwilli-gentätigkeit ausübt. Die informelle Freiwilligkeit kann dabei überwiegend mit persönlichen Hilfeleistungen für Freunde und Bekannte beschrieben werden: Rund zwei Drittel der informell Freiwilligen gehen im Rahmen ihres Engagements anderen Men-schen zu Hilfe. (…) Das freiwillige Engagement der Schweizerin-nen und Schweizer ist mehr als altruistisches Verhalten. Dies spie-gelt sich auch in den wichtigsten Motiven der Ausübung formell freiwilliger Tätigkeiten wider. Während uneigennützige, wohltä-tige Aspekte zwar eine wichtige Rolle für die Übernahme von frei-willigen und ehrenamtlichen Aufgaben spielen, sind stärker selbstbezogene Argumente wie das Zusammensein mit Freunden oder der Spaß an der Tätigkeit für viele der Hauptgrund ihres frei-willigen Engagements. Obwohl der Ausübung freiwilliger Tätig-keiten damit in erster Linie persönliche Motive zu Grunde liegen, kommt der Anstoß für die Übernahme freiwilliger Arbeiten den-noch häufig von außen. Hier bilden persönliche Kontakte und Netzwerke den hauptsächlichen Beweggrund für freiwillige Tä-tigkeiten in Vereinen und Organisationen. Allgemeine Hinweise aus den Medien oder durch Informations- und Kontaktstellen geben nur in Einzelfällen den Anstoß für ein freiwilliges Engage-ment.

© Isabelle Stadelmann-Steffen: »Topographie des freiwilligen Engagements in der Schweiz«, a. a. O.,S. 26ff., www.lpb-bw.de/6014.html

M 4 Eva More-Hollerweger: »Topographie des freiwilligen Engagements in Österreich«

Freiwilligenarbeit findet in Österreich – wie in vielen Ländern – in unterschiedlichsten Bereichen und Formen statt. Ebenso vielfäl-tig und facettenreich wie die Tätigkeiten sind die Personen, die sich ehrenamtlich engagieren und ihre Motive. Freiwilligenarbeit wird gerne als niederschwellige Möglichkeit gesehen, sich am ge-sellschaftlichen Leben zu beteiligen, die grundsätzlich allen Men-schen offen steht. Empirische Ergebnisse zeigen jedoch, dass diese Möglichkeit nicht von allen Bevölkerungsgruppen gleicher-maßen genutzt wird. Beispielsweise weisen erwerbstätige, besser gebildete Personen auch einen höheren Beteiligungsgrad bezüg-lich Freiwilligenarbeit auf. Die Entscheidung, sich freiwillig zu en-gagieren, ist nicht nur auf individuelle Präferenzen zurückzufüh-ren, sondern wird durch verschiedenste Faktoren beeinflusst. Der Überblick über das freiwillige Engagement in Österreich beleuch-tet die gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Rah-menbedingungen. Dabei wird auf Daten zurückgegriffen, die im Rahmen einer Zusatzerhebung zum Mikrozensus Ende 2006 erho-ben wurden und Aufschluss über das Ausmaß des freiwilligen En-gagements und die Beteiligungsstruktur in Österreich geben. (…) Für die Erhebung wurde folgende Definition gewählt: Freiwilli-genarbeit ist »eine Arbeitsleistung, die freiwillig (das heißt ohne gesetzliche Verpflichtung) geleistet wird, der kein monetärer Ge-genfluss gegenübersteht (die also unbezahlt geleistet wird) und deren Ergebnis Konsumentinnen und Konsumenten außerhalb des eigenen Haushalts zufließt«. (…). Im Gegensatz zu anderen Studien wurde in dieser Erhebung auch informelle Freiwilligenar-beit in Betracht gezogen, also auch jene Form von Freiwilligenar-beit, die in keinem organisationellen Kontext stattfindet. Dabei handelt es sich vor allem um die Nachbarschaftshilfe.Durch die Art der Befragung ist es jedoch möglich, zwischen in-formeller und formeller Freiwilligenarbeit zu unterscheiden.

Demnach beteiligen sich 44 Prozent der österreichischen Bevöl-kerung über 15 Jahren in irgendeiner Weise an Freiwilligenarbeit, 28 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher beteiligen sich an formeller Freiwilligenarbeit, 27 Prozent der Österreiche-rinnen und Österreicher leisten informelle Freiwilligenarbeit (…).Ehrenamtliche Arbeit ist per Definition eine Leistung für andere. Diese wird zwar nicht am Markt verkauft und hat daher keinen Preis, wohl aber einen ökonomischen Wert. Wie andere Aktivitä-ten jenseits des Marktes wurde ehrenamtliche Arbeit lange Zeit kaum als Beitrag zur Wohlfahrt wahrgenommen. Sie geht bei-spielsweise nicht in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts ein, das als wesentlicher Wohlfahrtsindikator gilt und gemeinhin zur Darstellung der wirtschaftlichen Situation eines Landes her-angezogen wird. Zwar existieren mittlerweile alternative Systeme an Kennzahlen, deren Ziel es ist, ein stärker ganzheitliches Bild der ökonomi schen Lage von Ländern zu zeichnen beziehungs-weise gibt es Bestrebungen, Nicht-Marktleistungen in das »sys-tem of national accounts« zu integrieren. Derlei Ansätze sind je-doch im Alltagsgebrauch wirtschaftlicher Kennzahlen noch wenig verbreitet. (…)Dies ist insofern problematisch, als unbezahlte Arbeit einen we-sentlichen Beitrag für das Funktionieren einer Gesellschaft und damit auch für die ökonomische Leistungsfähigkeit eines Landes leistet.Insgesamt werden von Freiwilligen in Österreich– hochgerechnet aus den Daten der Mikrozensuszusatzerhe-

bung– wöchentlich knapp 14,7 Millionen Arbeitsstunden geleistet,

knapp 8 Millionen unter Einbindung in eine Organisation, also in Form von formeller Freiwilligenarbeit, 6,7 Millionen Arbeits-stunden werden in Form von informeller Freiwilligenarbeit ge-leistet (| M 4 |). In Summe entspricht dies der Arbeit von rund 425.000 Vollzeitäquivalenten (40 Stunden). In Österreich kommt dies dem Arbeitsvolumen von 10,7 Prozent der un-selbstständigen Erwerbstätigen gleich.

© Eva More-Hollerweger: »Topographie des freiwilligen Engagements in Österreich«, in: Grenzen-Los!, a. a. O. S. 30ff., www.lpb-bw.de/6014.html

M 5 Wöchentliches Arbeitsvolumen der Freiwilligenarbeit nach Tätigkeitsbe-reichen in Österreich © Eva More-Hollerweger, Topographie des freiwilligen Engagements in Österreich, in: Grenzen-Los! (2009); S. 32

Bereich Stunden pro Woche

Katastrophenhilfsdienste 1.575.932

Kultur, Kunst, Freizeit und Unterhaltung 1.761.588

Umwelt-, Natur- und Tierschutz 349.906

Kirchliche und religiöse Dienste 1.026.121

Soziales und Gesundheit 564.689

Politische Arbeit und Interessensvertretung 640.905

Gemeinwesen 278.223

Bildung 302.910

Sport und Bewegung 1.418.408

Summe formelle FWA 7.918.683

Informelle FWA/Nachbarschaftshilfe 6.773.996

Gesamt 14.692.679

»Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur

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Heft 65 · 2013D&E

DeutschlanD & europa intern

D&E – Autorinnen und Autoren – Heft 65»Bürgerbeteiligung in Deutschland und Europa«

Abb. 1 Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteili-gung im Staatsministerium der baden-württembergischen Landes-regierung

Abb. 5 Professor Dr. Franz The-dieck, Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl

Abb. 9 Dr. Jan Kercher, Kommuni-kationswissenschaftler, Universität Stuttgart-Hohenheim, seit 2013 Referent beim Deutschen Akademi-schen Austausch Dienst (DAAD)

Abb. 2 Professorin Dr. Patrizia Nanz, Professorin für Politische Theorie an der Universität Bremen und Vorsitzende des 2009 gegründe-ten »European Institute for Public Participation« (EIPP)

Abb. 6 Studiendirektor Dr. And-reas Grießinger, Fachreferent für Geschichte am Regierungspräsidium Freiburg (Gymnasien)

Abb. 10 Dr. Jeannette Behringer, bis 2009 Fachreferentin für Bürger-schaftliches und ehrenamtliches Engagement der LpB Ba-Wü; seit 2012 Fachstelle Gesellschaft & Ethik der ev.-ref. Landeskirche des Kantons Zürich

Abb. 3 Dr. Jan-Hendrik Kamlage, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im Bereich Verantwortungs-kultur

Abb. 7 Dr. Jan-Hinrik Schmidt, Wissenschaftlicher Referent für Digitale Interaktive Medien und Politische Kommunikation, Hans-Bredow-Institut für Medien-forschung, Hamburg

Abb. 11 Studiendirektor Jürgen Kalb, Fachreferent LpB, Fachberater für Geschichte, Gemeinschaftskunde und Wirtschaft am RP Stuttgart, Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium Stuttgart – Bad Cannstatt

Abb. 4 Professor em. Dr. Oscar W. Gabriel, bis 2012 Leiter der Abteilung »Politische Systeme und Politische Soziologie« an der Universität Stutt-gart

Abb. 8 Professor em. Dr. Klaus Hur-relmann, Jugendforscher, 1979–2009 Professor an der Universität Bielefeld. Seit seiner Emeritierung arbeitet er als Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin.

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D&ED & E – A u t o r i n n e n u n d A u t o r e n Heft 65 · 2013

Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77 [email protected], www.lpb-bw.de

Direktor: Lothar Frick -60 Büro des Direktors: Sabina Wilhelm -62 Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ -40

Stabsstelle Kommunikation und Marketing Leiter: Werner Fichter -63 Felix Steinbrenner -64

Abteilung Zentraler Service Abteilungsleiter: Kai-Uwe Hecht -10 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Personal: N. N. -13 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Klaudia Saupe -49Siegfried Kloske, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-137

Abteilung Demokratisches Engagement Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit: Sibylle Thelen* -30 Politische Landeskunde: Dr. Iris Häuser* -20 Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner* -25 Robby Geyer -26 Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32 Jugend und Politik: Angelika Barth* -22Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel* -35 Alexander Werwein-Bagemühl* -36Charlotte Becher*, Stefan Paller* -34, -37

Abteilung Medien und Methoden Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40 Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landes-kunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber -42 Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43 Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech -44Unterrichtsmedien: Michael Lebisch -47 E-Learning: Susanne Meir -46 Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-136 Internet-Redaktion: Klaudia Saupe, Julia Maier -49/-46

Abteilung Haus auf der Alb Tagungszentrum Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon 07125/152-0, Fax -100 www.hausaufderalb.de

Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Dr. Markus Hug -146 Schule und Bildung/Integration und Migration: Robert Feil -139 Internationale Politik und Friedenssicherung/ Integration und Migration: Wolfgang Hesse -140 Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel -147 Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann -121 Hausmanagement: Nina Deiß -109

Außenstellen Regionale Arbeit Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Veranstaltungen für den Schulbereich

Außenstelle Freiburg Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg Telefon: 0761/20773-0, Fax -99 Leiter: Dr. Michael Wehner -77 N. N. -33

Außenstelle Heidelberg Plöck 22, 69117 Heidelberg Telefon: 06221/6078-0, Fax -22 Leiter: Wolfgang Berger -14 N. N. -13

Außenstelle Tübingen

Die Außenstelle Tübingen wurde zum 1.5.2012 aufgelöst.

Projekt ExtremismuspräventionStuttgart: Stafflenbergstraße 38Leiterin: Regina Bossert -81Assistentin: Friederike Hartl -82

* Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart Telefon: 0711/164099-0, Fax -55

LpB-Shops/Publikationsausgaben

Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0 Montag bis Freitag 8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr

Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10 Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr

Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11 Dienstag, 9.00–15.00 Uhr Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr

Stuttgart Stafflenbergstraße 38, Telefon 0711/164099-66 Mittwoch 14.00–17.00 Uhr

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