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Der Unbekannte und die Schöne

Date post: 04-Jan-2017
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Chicago Band 2

Der Unbekannte und die Schöne

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Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›tro­cken gelegte‹ Nation konsumiert mehr Alkohol als jemals zuvor. Für den Nachschub sorgen gut organisierte Gangsterbanden, gegen die die Polizei einen vergeblichen Kampf führt. Nicht zuletzt, weil auch sie oft mit am Alkoholschmuggel verdient. Die Sitten sind rau und ein Men­schenleben zählt wenig, wenn es um viele Dollars geht. Die Gangster­bosse unterhalten ihre Privatarmeen von Killern und leben selbst wie Könige.

In Chicago versucht der Privatdetektiv Pat Connor nicht zwischen die Fronten zu geraten und trotzdem der Gerechtigkeit Geltung zu ver­schaffen. Um aber in diesem Haifischbecken zu überleben, muss man selbst auch die Zähne zeigen.

*

Aus irgendeinem Grund schmeckte mir der Kaffee an diesem Morgen nicht. Um wach zu werden, goss ich das Zeug trotzdem viel zu heiß in mich hinein. Als ich einen ersten Blick aus dem Fenster meines Apart­ments warf, sah die North Clarke eigentlich aus wie immer. Die meis­ten Geschäfte hatten bereits geöffnet, aber noch ließ anscheinend die Kundschaft auf sich warten. Jedenfalls hatten die Ladeninhaber Zeit, um auf dem Gehweg miteinander zu plaudern. Manche lehnten auch einfach nur in der offenen Tür und starrten in den Himmel, der sich noch nicht entschieden hatte, ob er es regnen oder die Sonne durch­kommen lassen sollte.

Der Typ fiel mir auf, als ich mir die erste Zigarette ansteckte. Er gehörte nicht hierher und er störte die träge Gemächlichkeit der Stra­ße. Er lief pausenlos auf und ab, etwa zwanzig Schritte hin, zwanzig Schritte her, den Blick stur auf den löchrigen Asphalt gerichtet. Doch nicht nur deshalb stach er mir in die Augen. Seine Jacke war, unter all den vorherrschenden Grau- und Brauntönen da unten, wie ein Faust­schlag ins Gesicht. Sie wirkte wie eine Pferdedecke, hatte ein großflä­chiges Muster aus Karos in schreiendem Orange und Violett und war ihm eindeutig zu groß. Sein Hals ragte aus dem Ding heraus wie ein Selleriestrunk.

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Entweder will er auffallen um jeden Preis, dachte ich, oder er hat einfach keinen Geschmack. Aber immerhin, diese komische Gestalt entlockte mir ein erstes Grinsen und die nächste Tasse Kaffee schmeckt mir dann schon ganz gut. Und natürlich vergaß ich ihn gleich wieder. Wenig später verließ ich die Wohnung, um ins Büro zu fahren. Nicht, dass dort dringende Aufträge auf mich gewartet hätten. Aber man soll ja die Hoffnung nicht aufgeben, sagte ich mir. Und vielleicht machte sich ja genau jetzt jemand auf den Weg, der dringend meine Hilfe brauchte. Da wäre es gut, wenn ich vor ihm im Büro wäre.

Auf dem Weg zu meinem Plymouth besorgte ich mir wie üblich in dem Drugstore nebenan Zigaretten und eine Zeitung. Es war schließ­lich immer gut zu wissen, worüber man sich in der Stadt gerade auf­regte und manches Mal hatte mich die Zeitungslektüre ja auch schon auf eine Idee und zu einem Auftrag gebracht.

»Harn Sie'n Moment Zeit, Mister?« Es war tatsächlich die grell karierte Pferdedecke, die mich da an­

sprach. Und zwar so heftig nuschelnd, dass ich zunächst kein Wort verstand. Ein Bettler?, überlegte ich. Aber dagegen sprachen seine gut geputzten Schuhe, die fleckenlose Hose aus dunkelbraunem Whipcord.

»Was wollen Sie von mir?« Ich warf ihm einen möglichst abwei­senden Blick zu.

»Nichts Besonderes«, nuschelte er und grinste breit. »Nur, dass Sie 'ne Kleinigkeit für mich tun. Wenn ich mich nicht irre, sind Sie De­tektiv.«

Ich mag es gar nicht, wenn jemand mehr über mich weiß als ich über ihn. »Ist das etwa in meine Stirn geritzt?« Ich beschloss, ihn zu ignorieren und ging zu meinem Auto.

Aber diese lächerliche Gestalt folgte mir. »Hören Sie, Connor, ich brauch wirklich Ihre Hilfe.«

»Ich gehe meinem Gewerbe nicht auf der Straße nach.« Der Typ ging mir jetzt wirklich auf die Nerven. Von vom und aus der Nähe er­innerte mich sein Gesicht nicht an einen Selleriestrunk, sondern eher an einen Kürbis. Mittendrin hing ein öliges Menjoubärtchen, die Augen glänzten in einem brackigen Braun und die schwarzen Haare ließen schon ziemlich viel Kopfhaut sehen. Er ging ohne Hut. Auf Anfang

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Vierzig schätzte ich ihn, mittelgroß, Fettansatz. Etwas seltsam Weiches ging von ihm aus, als sei er aus einer Materie geformt, die sich jeder­zeit auflösen könne.

Gleichzeitig mit den Wagenschlüsseln holte ich eine Visitenkarte aus meiner Tasche und schnipste sie ihm zu. »Vereinbaren Sie einen Termin. Aber überlegen Sie vorher, ob Sie fünfundzwanzig Bucks pro Tag übrig haben. Spesen natürlich extra.«

Ich ging davon aus, dass ihn dieses Honorar abschrecken würde. Aber auch, wenn die Geschäfte nicht so gut liefen wie derzeit, wollte ich an bestimmten Grundsätzen festhalten. Zum Beispiel daran, dass ich eben nicht unter fünfundzwanzig Dollar zu haben war. Es sei denn, gewichtige Gründe sprächen dafür, aber in diese Kategorie fiel die Pferdedecke eindeutig nicht.

Als ich den Motor startete und losfuhr, beobachtete ich ihn im Rückspiegel. Er sah sich um und als auf der anderen Straßenseite ein Taxi vorbeifuhr, winkte er. Mit dem Einsteigen wartete er kaum ab, bis es angehalten hatte.

Den seh ich nie wieder, sagte ich mir und überlegte, ob ich ange­sichts meiner Auftragslage nicht doch etwas weniger schroff hätte sein müssen. Mir fiel ein, dass ich meiner Sekretärin Betty noch den Wo­chenlohn schuldig war. Sie arbeitete zwar nur halbtags, aber natürlich tat sie auch das nicht umsonst. Und überhaupt, einfach nichts war umsonst zu haben in dieser Stadt.

Ganz falsch, stellte ich kurz darauf grinsendfest. Denn jetzt schaff­te es immerhin die Sonne durch die Wolkensuppe. Und weil mich das schließlich keinen Cent kostete, kurbelte ich das Fenster herunter und fuhr absichtlich langsam und auf Umwegen zu meinem Büro Ecke South Franklin/Monroe Street. Das war südlich des Chicago River, am Rande der Loop. Und die Geschäftigkeit, die im Businessdistrikt herrschte, besserte meine Laune.

*

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Noch bevor ich mein Büro betreten hatte, hörte ich Stimmen daraus auf den Flur dringen. Offenbar war Betty schon da - und nicht allein. Denn die zweite Stimme gehörte einem Mann.

Als Chef und inzwischen alleiniger Mieter des Büros stieß ich die Tür auf, ohne vorher anzuklopfen. Obwohl Joes verwaister Schreibtisch rechts von der Tür stand und damit von ihr halb verdeckt war, sah ich sofort, dass dort jemand saß. Und zwar die Pferdedecke.

»Morgen, Boss«, flötete Betty vom Schreibtisch links. Der Kaffeegeruch in der Luft verriet mir, dass sie zumindest einer

ihrer Aufgaben bereits nachgekommen war. »Wir haben schon Kundschaft«, ergänzte sie und wies mit dem

Kinn auf das Kürbisgesicht. »Weil ich nicht wusste, wann Sie kommen, hab ich ihm den Stuhl dort angeboten.«

Ich nickte und nahm meinen Hut ab. Auf Joes leerem Schreibtisch lagen ein Zwanziger und ein Fünfer. Der Pferdedecke war es also wirk­lich ernst. Mit der Zeitungslektüre würde ich warten müssen. Ich warf die Zeitung auf meinen Schreibtisch direkt gegenüber dem Eingang und Betty war tatsächlich so aufmerksam, mir meinen Mantel abzu­nehmen. Auch mit dem Kaffee war sie sofort zur Stelle. Ich setzte mich und ließ dabei eine Zigarette zwischen meine Lippen wandern. Dann nahm ich die Pferdedecke ins Visier. »Na also, es geht doch! Wieso nicht gleich so?«

»Bisschen viel los hier in der Gegend«, versetzte er und vernu­schelte den Satz zu einem einzigen Wort. »Das wollte ich gern vermei­den.« Er seufzte und fummelte an seiner Krawatte herum. »Aber na­türlich, Sie sind der Boss.«

Ich nickte zustimmend. Lernfähig war er ja immerhin. »Und wenn Sie mir jetzt vielleicht als Erstes verraten, wer Sie sind?« So lächerlich er auch aussah, ihn als Pferdedecke oder Kürbisgesicht anzusprechen, verbat sich angesichts von Jackson und Lincoln, die vor ihm auf dem Tisch lagen, von selbst.

Er verbog seine vorspringenden Lippen zu einem geraden Strich, was wohl ein Lächeln markieren sollte. »Sorry, aber damit kann ich nicht dienen.«

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»Ich hab ihn ja auch schon danach gefragt«, warf Betty ein und brachte ihre gut gerundeten Formen in Positur. »Wir haben uns dann vorerst einfach auf Mr. X geeinigt.«

Fast hätte ich laut gelacht. Mr. X - das war gewissermaßen das I-Tüpfelchen auf der Lachnummer, die der Typ in meinen Augen abgab. Nicht nur in meinen übrigens. Ich sah, dass auch Betty sich nur mit Mühe ein Grinsen verkniff und sich dabei an ihren wasserstoffblonden Haaren zu schaffen machte.

»Mister X also«, sagte ich und blies einen Rauchkringel in seine Richtung. Natürlich war das kindisch. Aber die Geldscheine waren ein Argument, darüber hinwegzusehen. »Wie heißt es so schön? Namen sind Schall und Rauch. Dann machen wir doch einfach weiter. Wieso sind Sie hier?«

»Weil Sie auf der Straße nicht mit mir reden wollten.« Spielte er jetzt auch noch den Scherzkeks? »Und weil dort, wo ich derzeit woh­ne, seit heute Nacht eine Leiche liegt.«

Er sah mich nicht an, sondern starrte wie schon die ganze Zeit Betty an. So langsam begann er mir gehörig auf die Nerven zu gehen. »Finden Sie das komisch?«, bellte ich ihn an.

»Absolut nicht«, erwiderte er und hatte nun doch immerhin einen kurzen Seitenblick auf mich übrig, bevor er seine Augen wieder auf Betty richtete. »War 'ne ziemlich unangenehme Überraschung, als ich nach Hause gekommen bin. Wobei - meine Wohnung ist das ja gar nicht. Hab da bloß ein paar Nächte gepennt.«

»Und wem gehört die Wohnung?«, fragte ich, denn irgendwo musste ich ja schließlich anfangen. Ich zog meinen Notizblock heran.

»Weiß ich nicht.« Er zwinkerte dabei Betty zu. »Ein Bekannter hat mir die Schlüssel gegeben. Aber dem gehört das Loch auch nicht. Und es sollte ja auch nur vorübergehend sein.«

Was wollte er - mit ihr flirten oder meine Hilfe? Eine nächste Ziga­rette bewahrte ihn vor meinem Wutausbruch. »Und wieso kommen Sie dann erst jetzt zu mir, wo es zu spät ist? Gestern hätte ich Ihnen ja vielleicht noch helfen können, das Problem anders zu lösen. Egal, wie Sie ihn umgelegt haben, Sie brauchen jetzt einen Strafverteidiger. Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse.«

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An die Geschichte mit der Leiche in seiner Wohnung glaubte ich noch immer nicht. Ich hatte das Gefühl, er wollte sich einfach wichtig machen.

»Genau da liegt doch das Problem«, erwiderte er. »Ich war das doch nicht. Ich hab ihn nur gefunden. Direkt gestolpert bin ich über ihn. Ein netter Empfang war das nicht, sage ich Ihnen. Ich war ja auch müde, wollte nur ins Bett. Aber dann lag der da. Der Länge nach gleich hinter der Tür. Was machen Sie eigentlich nach Feierabend?«

Die Frage galt natürlich Betty. Ich platzte beinahe. »Nichts, was für Sie von Bedeutung ist«, versetzte Betty und lä­

chelte honigsüß. »Oh, das kann man nie wissen.« Er kratzte sich hinterm Ohr. »Ich

könnte mir zum Beispiel vorstellen...« »Verdammt noch mal, jetzt reicht es mir aber!«, fuhr ich nun doch

aus der Haut. »Könnten Sie endlich...« »Aber ja doch.« In einer seltsam fließenden Bewegung wandte er

sich nun doch zu mir, griff dabei nach den Dollarnoten und faltete sie zusammen. »Ich war das wirklich nicht.« Sein Augenaufschlag sollte wohl treuherzig sein.

»Und wer ist der Tote? Wissen Sie wenigstens das?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Nie im Leben hab ich den gese­

hen.« »Und was erwarten Sie nun von mir?« Ich fragte mich, was er mit

dem Geld vorhatte. Wollte er es etwa wieder in seiner karierten Jacke verschwinden lassen? Das wäre eindeutig noch ärgerlicher gewesen als sein provozierendes Benehmen.

»Liegt doch auf der Hand, oder?« Er stand auf wie in Zeitlupe. »Sie sollen herausfinden, wer den kalt gemacht hat.«

»Und wieso bitten Sie nicht die Polizei darum? Im Allgemeinen sind die für so etwas zuständig.« Ich sagte mir, dass ich mir jetzt nicht anmerken lassen durfte, wie wichtig die Moneten im Moment für mich waren.

»Weil die doch garantiert denken, dass ich das war«, nölte er. »Wenn Sie es nicht waren, wird sich das bald herausstellen«, er­

widerte ich.

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Er nickte. »Schon, aber wer weiß, wie lange das dauert! Und man hat ja auch noch ein paar andere Dinge zu tun.« Er stand nun vor meinem Schreibtisch, strich die Dollarnoten glatt und ließ sie dann wie beiläufig fallen. »Ich glaube, für Sie wird das kein Problem sein.«

»Und wenn doch?« Ich durchbohrte ihn mit einem schlecht ge­launten Blick.

»Dann gibt's Nachschub, versprochen.« Er wies auf die Scheine. Dann drehte er sich um, anscheinend wollte er gehen.

»Moment mal!«, stoppte ich ihn. »Sie haben mir noch nicht mal gesagt, wo diese Wohnung liegt.«

»Stimmt.« Vor Betty blieb er stehen. »Da sehen Sie mal, wie durcheinander ich bin.« Betty hielt seinem Glotzen mit einem Lächeln stand, das nur noch an Zähnen und Brauen hing und jeden Moment endgültig herunterfallen konnte. »Wabash Ecke Einundfünfzigste. Drit­ter Stock. Bestimmt ist die Konkurrenz schon da und veranstaltet den üblichen Zauber. Das können Sie gar nicht verfehlen.«

Ich kritzelte die Adresse auf meinen Block. »Und wo erreiche ich Sie?«

Ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen, schüttelte er den Kopf. Von hinten sah er wieder wie ein Selleriestrunk aus. »Wird nicht nötig sein, ich verliere Sie schon nicht aus den Augen.«

Damit ging er und Bettys Lächeln lief in einer angewiderten Gri­masse aus.

»Meine Güte, was Sie aber auch für Leute kennen!« Vorwurfsvoll schaute sie mich an.

»Hatten Sie etwa den Eindruck, dass dem so ist?«, knurrte ich. »Mr. X pflege ich meine Bekannten nicht zu nennen.« Ich beugte mich über den Schreibtisch und sorgte dafür, dass die Dollarnoten endlich in meiner Tasche verschwanden.

Betty schien das nicht zu gefallen. »Hätte ich ihn etwa nicht rein­lassen sollen? Wir haben heute übrigens schon Donnerstag.«

»Ist mir bekannt.« Ich wusste, dass sie auf ihr Gehalt anspielte, das spätestens Morgen fällig wurde und rang mir ein versöhnliches Lächeln ab. »Aber immer hübsch eins nach dem anderen, meinen Sie nicht auch?«

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»Kann ich mitkommen auf die South-Side?«, erkundigte sie sich reichlich spitz. »Nicht, dass demnächst gleich auch noch ein Mister Y hier auftaucht.«

»Aus genau dem Grund bleiben Sie hier«, erwiderte ich und holte meinen Mantel. »Von mir aus können Sie den nächsten sogar Mister Z taufen. Wenn er nur halbwegs bei Kasse ist.«

Betty warf mir einen Blick zu, dem garantiert gleich eine Be­schwerde folgen würde. Ich verließ das Büro, bevor sie die nötige Luft dazu geholt hatte.

*

Auf der Fahrt zu der Adresse, die Mr. X mir genannt hatte, ließ ich mir durch den Kopf gehen, was von seiner Geschichte zu halten sei. Auf den Weg musste ich nicht groß achten, ich hielt mich einfach Richtung Süden, passierte die Chinatown und gelangte bald auf die South Wentworth Avenue. Einem Typ mit solch einem Bärtchen mitten im Kürbisgesicht war alles zuzutrauen, sagte ich mir. Wieso nicht auch ein Mord? Und er wäre auch nicht der Erste, der probiert hätte, sich bei mir als unschuldig zu verkaufen und es in Wahrheit gar nicht war. Ich musste grinsen über so viel Naivität. Wenn der glaubte, ich würde ihm für ein paar Dollars eine weiße Weste verschaffen, befand er sich auf dem falschen Dampfer.

Ich hätte wirklich zu gerne gewusst, womit er sein Geld verdiente. Und ich korrigierte mich - naiv war der Typ nun wirklich nicht. Sondern ziemlich gerissen. Es war ihm doch tatsächlich gelungen, mir absolut nichts über sich zu verraten. Deutete das vielleicht auf seinen Beruf hin? Noch einmal musste ich unwillkürlich grinsen. Sagte man solche Verschwiegenheit sonst nicht immer den Vertretern meines Gewerbes nach?

Während ich an immer armseligeren Gebäuden vorbeifuhr, fasste ich zusammen, was ich von ihm wusste. Ich begann mit dem Wichtigs­ten, mit dieser Leiche. Über sie war er gestolpert, in einer Wohnung, die gar nicht die seine war. Angeblich zumindest. Außerdem wusste ich noch, dass Mr. X ein höchst vorsichtiger Mensch war. Vermutlich hatte

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er mein Büro im Telefonbuch gefunden. Doch aus irgendeinem Grund war es ihm nicht ratsam erschienen, mich dort aufzusuchen. Er musste mir also gefolgt sein, zu meiner Wohnung.

Aber Moment mal! Wann war er mir gefolgt? Ich fingerte nach ei­ner Lucky und entzündete sie etwas nervös mit meinem Feuerzeug. Gestern Abend hatte ich das Büro verlassen und war ausnahmsweise direkt nach Hause gefahren. War er mir da schon gefolgt? Aber ges­tern Abend hatte es in der Wohnung von Mr. X noch gar keine Leiche gegeben! Zumindest wenn er mir die Wahrheit gesagt hatte. Um die Sache möglichst klar zu halten, ging ich erst einmal davon aus. Dann gab es nur einen Schluss – Mr. X kam war gar nicht wegen dieser Lei­che zu mir gekommen. Aber wieso dann? Ich beschloss, dieses Detail nicht aus den Augen zu verlieren.

Noch ein zweiter Punkt war merkwürdig. Wieso lief einer in so auf­fallenden Klamotten herum, dem es zugleich wichtig war, sich zum wandelnden Rätsel zu machen? Dem sogar ein Besuch in meinem Büro als problematisch erschien? Auch das passte nicht zusammen und ich verwahrte es in meinem Kopf als weiteres Puzzlesteinchen, das viel­leicht noch wichtig werden könnte.

Endlich erreichte ich die Einundfünfzigste und bog links ab. Schon zwei Querstraßen später war ich am Ziel. Auf das Straßenschild musste ich gar nicht schauen, ich erkannte die Adresse an den vielen Polizei­autos, die überall herumstanden. Und an Lt. James Quirrer, seines Zeichens einer der unfähigsten Mitarbeiter der hiesigen Polizei. Im Moment machte er sich an einem der kleinen Kästen zu schaffen, die überall auf unseren Straßen zu finden waren und nur Polizisten mit dem passenden Schlüssel den Zugang zu einem Telefon gewährten. Quirrer war hochrot im Gesicht, vermutlich kam er sich wieder einmal äußerst wichtig vor.

Ich parkte meinen Wagen so, dass ich zum Betreten des Eckhau­ses nicht an ihm vorbei gehen musste. Überall wimmelten Beamte herum und das sprach ganz dafür, dass Mr. X in diesem Punkt nicht gelogen hatte - offenbar gab es da wirklich eine Leiche. Alle waren so beschäftigt, dass niemand auf die Idee kam, mich am Betreten der Wohnung im dritten Stock zu hindern. Die Tür stand weit offen. Je­

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mand von der Spurensicherung zeichnete die Gestalt auf dem Boden gerade mit einem Kreidestift nach. Auf dem speckigen Boden war das gar nicht so leicht. Der Tote lag mit den Füßen zur Tür, ich erkannte Schuhe, die garantiert maßgeschneidert waren und als nächstes ein Jackett, das vom fast nur aus Blut bestand.

Dann verstellte mir eine massige Gestalt den Blick, schätzungswei­se einhundertzehn Kilo Knochen, Fleisch und Muskeln verteilt auf eine Größe von imposanten einhundertneunzig Zentimetern. Cpt. Morgan C. Hollyfield sah mich aus seinen schiefergrauen Augen seltsam be­kümmert an. Im Unterscheid zu Quirrer schätzte er mich in gewisser Weise, auch wenn er das meist hinter einer leisen Ruppigkeit verbarg. Heute allerdings nicht.

»Wie kommt so jemand in dieses Loch?«, sprach er mich an und verzichtete auf eine Begrüßung. Dann gab er mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich näher kommen könne.

Oh ja, auch ich erkannte den Toten sofort. Cyrus D. Waltman war ein stadtbekannter Industrieller. Er hatte in der Automobilbranche ein Vermögen gemacht, über dessen Ausmaße man nur spekulieren konn­te. Seinen guten Ruf verdankte er außerdem der Tatsache, dass er einen beträchtlichen Teil dieses Vermögens für karitative Zwecke aus­gab. Er war also nicht nur reich, sondern auch ehrenhaft, ein Beispiel an Fleiß, Moral und Bürgertugend.

Und so ein Mann lag nun mausetot in einer Wohnung, die ohne weiteres an ein Rattenloch denken ließ. Dieser Umstand war allerdings geeignet, an seinem honorablen Ruf unschöne Flecken zu hinterlassen. Damit erklärte ich mir auch Hollyfields bekümmerte Miene.

»Er wurde erschossen?«, fragte ich knapp. Ein leiser Seufzer lief durch Hollyfield. »Sieht jedenfalls danach

aus. Wobei man vor lauter Blut ja fast nichts sieht. Das muss ein ziem­lich großes Kaliber gewesen sein. Vielleicht auch jemand, der mit ei­nem Revolver nicht umgehen kann. Oder es war völlig anders, was weiß ich.« Noch ein Seufzer.

»Wie haben Sie ihn hier gefunden?«, ließ ich gleich noch eine Fra­ge folgen.

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»Jemand aus dem Haus hat uns informiert. Die Tür stand sperr­angelweit offen. Da hat es jemand ziemlich eilig gehabt.«

Der Beamte mit dem Kreidestift hatte sein Werk vollendet. Im gleichen Moment stürmte Quirrer herein. »Verstärkung wird gleich eintreffen, Chef!« Es sah fast so aus, als wolle er die Haken zusam­menschlagen und salutieren. Er war mehr als lächerlich in seiner Bef­lissenheit. Dann hielt er es für nötig, sich mir zuzuwenden. »Wie sind Sie hier hereingekommen? Das ist hier kein öffentliches Spektakel!«

»Lassen Sie es gut sein, Quirrer«, raunzte Hollyfield ihm zu. Dann betrat er den Raum, in den man links vom Kopf der Leiche kam.

Eine schmuddlige Küche, wie ich erkannte, als ich Hollyfield folgte. »Sorgen Sie dafür, dass die Leiche jetzt weggebracht wird«, rief er Quirrer zu. Dann trat er an das schmutzige Fenster und begann, sich den massigen Schädel zu massieren. »Ich kann mir schon denken, was morgen in den Zeitungen stehen wird.« Er warf mir einen kurzen, maßlos resignierten Blick zu.

Ich nickte. »Sie denken da an die Gerüchte, wonach in letzter Zeit gleich beide Syndikate mal wieder versuchen, ihren Einflussbereich auszuweiten?«

Außer Leuten wie dem so ehrenhaften wie toten Waltman gab es nämlich noch andere einflussreiche Leute in unserer Stadt. Sie waren mindestens so gut organisiert wie Waltmans Unternehmen und ver­mutlich konnten es die führenden Köpfe auch leicht mit Waltmans Ver­mögen aufnehmen. Benito Rigobello, genannt ›Il Cardinale‹, war der Boss der Italienergang. Sean ›The Jar‹ O'Malley stand der Konkurrenz­organisation vor, der Gang der Iren, also Landsleuten von mir. Alle beide scheuten vor nichts zurück, wenn es nur Geld einbrachte. Sie betrachteten die gesamte Stadt in gewisser Weise als ihre ›Firma‹, in der sie und niemand sonst die Fäden in der Hand hatten und damit auch die Regeln bestimmten. In der Polizei sahen sie keinen ernsthaf­ten Gegner.

Wenn Hollyfield mit seiner Befürchtung Recht hatte, war sein Kummer also nur zu gut zu verstehen.

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»Wir sind da schon seit längerem dran«, sagte er jetzt leise. »Sie versuchen anscheinend derzeit, über manche Gewerkschaftsbosse ihren Einfluss auch auf seriöse Unternehmen zu erweitern.«

»Aber Cyrus D. Waltman soll doch mit den Gewerkschaften immer bestens zurecht gekommen sein«, warf ich ein.

»Eben.« Wieder seufzte Hollyfield und er streifte mich kurz mit ei­nem verhangenen Blick. »Gibt nicht genau das zu denken? Zumal er jetzt tot ist?«

Ich erriet, dass er in diesem Moment nicht glücklich war mit sei­nem Job. Auch ein Captain hing an gewissen Illusionen, zum Beispiel der, dass es wirklich noch so etwas gab wie rechtschaffene Bürger.

Draußen trampelten etliche Leute herum, es bereitete ihnen Mü­he, den Sarg in den engen Flur zu verfrachten. Als drei von ihnen Waltman hochhoben, erkannte ich, dass die Totenstarre schon voll­ständig eingetreten war. Auch das verkrustete Blut auf seiner Brust sprach dafür, dass er schon eine ganze Weile in diesem trostlosen Flur lag.

»Seit wann ist er tot?«, fragte ich Hollyfield. »Ich tippe auf etwa vierundzwanzig Stunden. Aber ich bin ja kein

Mediziner.« »Und wem gehört die Wohnung?«, fragte ich als Nächstes. So

schrecklich das mit der Leiche im Flur auch war, ich hatte ja eigene Interessen, die mich hierher geführt hatten. Vielleicht erhielt ich ja endlich doch einen Hinweis auf die Identität meines Mr. X?

»An der Tür steht kein Name«, brummte Hollyfield. »Aber was geht Sie das eigentlich an?« Er richtete sich kerzengerade zu voller Größe auf, wusste wieder, wer er war und schoss mir einen unwilligen Blick zu. »Im Ernst, Connor, wie kommen Sie hierher? Ich habe noch keine Meldung raus gegeben.«

»Reiner Zufall«, behauptete ich. Natürlich glaubte Hollyfield mir nicht. »Zufall, klar. Und dieses Jahr

fällt Weihnachten auf Ostern«, knurrte er. Dann wurde sein Tonfall beinahe väterlich. »Dann tun Sie doch mal so, als wären Sie rein zufäl­lig gar nicht hier gewesen. Und hätten also auch gar nichts gesehen. Wirklich, Connor, die Sache hier...«

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»Schon gut.« Ich winkte ab. Wenn eins der Syndikate oder gar beide hiermit zu tun haben sollte, würde ich nie und nimmer auf die Idee kommen, mich da einzumischen. Schließlich war ich nicht le­bensmüde.

Als ich ging, existierte Cyrus D. Waltmann nur noch in einem Krei­deumriss auf dem Flur. Quirrer tat noch immer sehr wichtig, trampelte überall herum und sorgte so garantiert dafür, den Leuten von der Spu­rensicherung ihre Arbeit zu erschweren. Im Treppenhaus erinnerte ich mich plötzlich noch an ein Detail. Das viele Blut hatte mich fast davon abgelenkt. Aber nun sah ich es wieder ganz deutlich vor mir – Mr. Waltmans Krawatte. Ihr Knoten war gelöst gewesen, reichlich schlaff hatte sie um seinen Hals gebaumelt.

*

Auf der Rückfahrt zum Büro hatte ich wieder reichlich Stoff zum Nach­denken. Hollyfield hatte völlig Recht. Es war mehr als seltsam, dass ein Waltman ausgerechnet in so einer Absteige zur Leiche geworden war. Zu einem wie Mr. X hingegen passte so eine Bleibe ganz gut. Aber in welcher Verbindung konnten zwei so grundverschiedene Menschen wie Waltman und Mr. X stehen?

Ich spürte, dass dies die entscheidende Frage war - und dass ich einen Vorteil vor Hollyfield hatte. Denn der wäre gar nicht auf den Ge­danken gekommen, diese Frage zu stellen.

Außerdem hielt ich fest, dass es durchaus möglich war, dass Mr. X mich belogen hatte. Seit gestern schon lag allen Anzeichen nach Walt­mans Leiche dort im Flur. Mr. X könnte sie dort also auch schon ges­tern entdeckt haben - falls nicht doch ein bisschen mehr dahinter steckte. Und dann hätte er auch die Zeit gehabt, mir vom Büro nach Hause zu folgen.

Und hatte er nicht erklärt, den Toten nicht zu kennen? Das war eindeutig eine Lüge. Denn einen wie Cyrus D. Waltman kannte wirklich jeder in der Stadt. Es war sogar richtig dumm von Mr. X, das geleug­net zu haben.

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Aber konnte ich Verlogenheit schon als Beweis dafür nehmen, dass er ein Mörder war? Hollyfields Verdacht, die Syndikate hätte ihre schmutzigen Finger im Spiel, war ebenfalls nicht zu verachten. Gele­gentlich hatte die Polizei ja auch einmal Recht. Das alles lief darauf hi­naus, dass ich zunächst einmal doch ein bisschen an Mr. X herumkrat­zen musste. Irgendetwas müsste doch auch über ihn herauszufinden sein! Und wenn er es tatsächlich war, der Waltman in diesen traurigen Zustand versetzt hatte, konnte ich immer noch früh genug Hollyfield einen Tipp geben und ihm Mr. X überlassen.

Ich gebe zu, da war auch ein bisschen Ehrgeiz im Spiel. Wäre es nicht nett, einmal mehr zu wissen, als die Polizei?

Als ich das Büro betrat, war Betty eben dabei, ihre Sachen zu­sammenzupacken. »Ich hab Feierabend«, glaubte sie mich aufklären zu müssen. »Und nur, damit sie informiert sind - ein Mister Y ist so wenig hier aufgetaucht wie ein Mister Z.« Sie grinste mich an und klimperte mit den schwarz getuschten Wimpern.

Ich hatte meinen Scherz von heute Morgen schon vergessen, mehr als ein müdes Lächeln entlockte er mir nicht mehr. »Bevor Sie gehen, machen Sie mir doch eine Verbindung mit Brendon Smith«, bat ich und holte die Packung Zigaretten aus der Tasche, bevor ich den Mantel auszog und über einen Stuhl warf.

Betty starrte mich an, als hätte ich sie zu einem Gewaltverbrechen aufgefordert. Dabei hatte sie den Vormittag über garantiert nichts ge­tan. Da konnte sie sich ihren Feierabend ja wohl mit dieser kleinen Gefälligkeit verdienen. Mit sehr spitzen Fingern wählte sie die Nummer der Vermittlung und bat um eine Verbindung mit der Chicago Tribune.

Dort arbeitete Brendon. Er war mit meinem Vater befreundet ge­wesen, vielleicht erklärte dies seine väterlichen Gefühle für mich. Er verdiente sich seine Brötchen als Sportreporter. Aber über seine Kolle­gen kam er natürlich auch an andere Informationen heran und gele­gentlich hatte ich davon schon profitiert. Der Mord an Waltman hatte bestimmt schon reichlich Staub aufgewirbelt. Vielleicht wusste man bei der Tribüne ja einige Dinge, die Hollyfield mir vorenthalten hatte?

Ich starrte dem Rauch meiner Zigarette hinterher, während Betty endlich mit jemand von der Zentrale der Zeitung sprach.

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»Nicht da? Tja, dann kann man nichts machen.« Sie legte den Hö­rer auf und grinste mich an, ganz so, als sei das eine gerechte Strafe für mich. »Sie haben es ja gehört. Bestimmt ist Ihr Freund beim Essen. Wie alle anständigen Menschen um diese Zeit.«

Damit ging sie. Ziemlich lang blieb mein Blick auf der Tür hängen, die unnötig laut hinter ihr ins Schloss gefallen war. Was nun? Vorläufig zumindest fiel Brendon als Informationsquelle aus. Aber vielleicht war es sowieso besser, ich notierte erst einmal alles, was mir während der Fahrt durch den Kopf gegangen war. Bevor ich damit begann, holte mich mir eine Tasse von dem kalten Kaffee, den Betty mir hinterlassen hatte. Er schmeckte so widerlich, dass ich mich an etwas erinnerte, was sich noch in einer Schublade meines Schreibtischs befinden muss­te. Der Flachmann war tatsächlich noch fast voll und wie immer verhalf mir schon der erste Schluck Whiskey dazu, dass ich zur nötigen Kon­zentration fand.

Bald war der Notizblock auf meinem Tisch dicht beschrieben. Hin­ter allem, was ich notierte, standen Fragezeichen. Aber ich wusste aus Erfahrung, das war besser, als vorschnelle Antworten zu finden. Und wie ich all diese Fragen auch miteinander kombinierte, am Ende liefen sie stets auf dasselbe Rätsel hinaus. Was hatte Mr. X mit Cyrus D. Waltman zu schaffen? Es war die erste Antwort, die ich finden musste. Sie ließ sich auch anders formulieren: Wer war Mr. X?

Anscheinend hatte ich darüber so angestrengt nachgedacht, dass ich irgendwann dabei eingeschlafen war. Ich wurde wach, weil es in meinen Händen kribbelte, auf die mein Kopf vorüber gesunken war. Vielleicht ja auch, weil ich nun einfach Hunger hatte. Es war fast schon fünf Uhr, stellte ich fest und dachte, dass sei genau die richtige Zeit für einen kräftigen Schluck. Und um das Nützliche mit dem Notwendi­gen zu verbinden, beschloss ich, noch einmal bei der Tribune anzuru­fen. Vielleicht war Brendon inzwischen ja da und hätte nichts gegen einen Schluck vor dem Abendessen?

Ich griff zum Telefon und fragte mich wieder einmal, wie es die Mädchen bei der Vermittlung schafften, immer in einem so leiernden Tonfall zu reden. Aber zu mehr als dieser Frage führte mein Versuch nicht, Brendon war noch immer nicht da.

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Aber verdammt noch mal, ich brauchte jetzt etwas zu trinken! Ich beschloss, das bei Dunky zu tun. Er betrieb eines jener Speakeasys, in die man nur eingelassen wurde, wenn man den Code kannte, um dann einen Whiskey von meist nur mittlerer Güte vorgesetzt zu bekommen. Aber manchmal konnte man Dunky zum Reden bringen und da seine Kneipe ein Ort war, an dem ich mir die Pferdejacke ohne weiteres vor­stellen konnte, wollte ich es zumindest nicht unversucht lassen.

Das ziemlich schmierige Etablissement empfing mich mit gähnen-der Leere. Und das um diese Zeit! Dunky tat so, als bemerke er mich gar nicht, als ich an den Tresen trat. »Schlechte Zeiten, was?«, be­grüßte ich ihn. Dann warf ich ein paar Münzen auf den Tisch und ver­anlasste ihn so dazu, nach einer Flasche zu greifen.

»Für andere sind sie noch schlechter«, kam ein Grunzlaut aus Dunkys fleischigem, fettig glänzendem Gesicht. »Die sterben sogar daran.« Er war ein auffallend kleiner Mann, was er mit einer gewissen Breite wettmachte. Seine schätzungsweise hundert Kilo mussten ja irgendwo untergebracht werden.

Aus seiner Bemerkung folgerte ich, dass Waltmanns unwürdiges Ende bereits publik geworden war. Vermutlich erklärte das auch, wieso Dunkys Kundschaft heute ausblieb. Die kleinen Gauner, die bei ihm verkehrten, hatten mit einem Mord dieses Kalibers eher nichts zu tun. Aber gerade die kleinen Leute mussten schließlich auf Nummer sicher gehen und an einem Tag wie heute riskierten sie natürlich, dass ihnen unangenehme Fragen gestellt wurden. Da blieb man also besser zu Hause.

»Ja, ich hab auch schon von der Sache gehört«, erwiderte ich und genoss dann das Brennen in der Kehle, das der erste Schluck mir ver­schaffte.

Dunky tat schon wieder, als sei ich Luft. Er schaute an mir vorbei, hielt sich mit seinen fleischigen Daumen mit den schwarz geränderten Fingernägeln an den zwischen lila und grün changierenden Hosenträ­gern fest und ließ sie leise schnalzen. Ich folgte diesem Rhythmus und leerte mein Glas in raschen kleinen Schlücken. Sobald ich es auf dem Tresen absetzte, füllte Dunky es wieder. Dann ließ er mich noch be­wundern, wie geschickt er sich mit seinen Wurstfingern eine Zigarette

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drehen konnte. Das Streichholz ließ er dann über seinen Daumennagel ratschen und bekam es auch tatsächlich an. Er ließ mich das zweite Glas leeren, ohne etwas zu sagen. Machte ihn vielleicht ein drittes ge­sprächiger? Ich fand in meiner Tasche noch ein paar Münzen und noch bevor sie neben meinem Glas landeten, hatte Dunky es wieder gefüllt. Der Whiskey bewirkte eine angenehme Wärme und ließ mich meinen Hunger vergessen. Bis ich auch dieses Glas geleert hatte, zog eine weitere Legion träger Minuten an mir vorüber.

Dunky begann, mit einem Lappen das rissige Holz des Tresens zu bearbeiten. Endlich sah ich ein, dass er heute nichts mehr sagen wür­de. Besser ich ging und versuchte, mir irgendwo ein Steak einzuverlei­ben. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich bereits, dass ich an diesem Tag nichts mehr erreichen würde. Aber da man die Hoffnung ja nicht so schnell aufgeben soll, fuhr ich zu Henry's Steak Diner. Es befand sich ganz in der Nähe der Chicago Tribune und ganz ausgeschlossen war es ja nicht, dass ich dort Brendon doch noch antraf.

Aber auch diese Erwartung zerschlug sich. Ich verspeiste mein Steak allein und trank noch etliche Gläser dazu. Eher früh traf ich in meinem Apartment ein und legte mich sofort ins Bett. Voller Whiskey und Enttäuschung schlief ich auch rasch ein und träumte ziemlich wir­res Zeug. Eine Krawatte kam immer wieder vor, aus feinem Tuch, aber grell kariert. Und wer es auch versuchte, sie wollte sich einfach nicht zu einem Knoten binden lassen.

*

Wer war Mr. X? Mit dieser Frage wachte ich auf. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ganz systematisch vorzugehen. Und das hieß, ich musste noch einmal auf die South-Side und die Nachbarn befragen. Ich wartete, bis anzunehmen war, dass Betty im Büro sei, um sie zu­vor noch anzurufen. Es nahm so lang keiner ab, dass ich schon wieder auflegen wollte. Da vernahm ich doch noch ihr atemloses »Ja, bitte?«

»Sie sollten endlich lernen, sich ordentlich zu melden«, entgegne­te ich.

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»Und Sie könnten guten Morgen sagen, bevor Sie herumme­ckern«, konterte sie.

Ich ignorierte ihre Aufsässigkeit. »Falls Mister X auftauchen sollte, halten Sie ihn irgendwie fest«, bat ich sie. »Und falls jemand von Hol­lyfields Leuten auftauchen sollte, wissen Sie nichts von Mister X. Hab ich mich klar ausgedrückt?«

»Dann hoffe ich mal, dass Mister X und Quirrer nicht gleichzeitig kommen«, versetzte sie süffisant. »Wie lauten Ihre Anweisungen in diesem Fall?«

»Das wird Ihnen dann schon einfallen«, knurrte ich. »Meines Wis­sens haben Sie ja mehr als einen Verehrer. Und so, wie Mister X Sie neulich angestarrt hat, freut der sich, wenn Sie ihn Schätzchen nen­nen.«

»Die Vorstellung gefällt mir nicht sonderlich«, beschied Betty mir im Ton einer Gouvernante. Dann fiel ihr Wichtigeres ein - ihr Gehalt. »Sie wissen doch hoffentlich, dass heute wieder mal Freitag ist? Und werden zurück sein, bevor ich gehe?«

Ich versprach ihr, mein Bestes zu tun. Dann legte ich auf und wappnete mich mit Mantel und Hut gegen den Nieselregen draußen. Ein böiger Wind blies ihn mir auf dem Weg zu meinem Plymouth wie spitze Nadeln ins Gesicht. Während der Fahrt überlegte ich, ob mir in der Wabash Hollyfields Leute in die Quere kommen würden. Vorsichts­halber parkte ich schon ein paar Blocks von meinem Ziel entfernt. Ein Polizeiauto war nirgends zu sehen.

Als ich das Haus betrat, war es im Treppenhaus so dunkel, dass ich bei der Suche nach einem Lichtschalter beinahe über den Spuck­napf gestolpert wäre. Und als das Licht endlich aufflammte, war es nur eine trübe Funzel. Allerdings war es auch nicht nötig, die Armseligkeit dieses Treppenhauses mehr zu beleuchten. Ich beschloss, in den Wohnungen ganz oben anzufangen. Die Tür in der Wohnung im drit­ten Stock, sah ich im Vorübergehen, war versiegelt. Hier konnte Mr. X also derzeit nicht wohnen.

Im sechsten Stock angekommen, holte ich erst einmal Luft und gegen den Gestank eine Lucky aus meiner Tasche. Dann stellte ich fest, dass es an den Wohnungen nicht einmal Klingeln gab. So klopfte

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ich an die erste Tür. Aber niemand öffnete, auch drang nicht das lei­seste Geräusch zu mir. Vor den nächsten beiden Türen erging es mir ähnlich. Ich stieg einen Stock tiefer und dort hatte ich mehr Glück. Es dauerte zwar sehr lang, aber dann wurde eine Tür doch geöffnet, zu­mindest einen Spalt breit. Eine Kette spannte sich zwischen Tür und Wand, dahinter wurde das runzlige Gesicht einer steinalten Frau sicht­bar. Sie trug einen braun und grün gestreiften Hausmantel und einen dicken Schal um den Hals. »Aber ich habe dem Lieutenant doch schon alles gesagt!«, rief sie mit piepsiger Stimme.

Das sah Quirrer ähnlich, diese arme Alte so einzuschüchtern! »Ja, ich weiß.« Ich lächelte sie an. »Es geht ja auch nur noch um eine Klei­nigkeit. Der Herr, der in letzter Zeit in der Wohnung gelebt hat, Sie wissen schon, der in der auffallend bunt karierten Jacke...«

»Aber nein!«, unterbrach sie mich da. »Er war immer sehr dezent gekleidet! Ein richtiger Gentleman, wenn Sie mich fragen. Ich hab gar nicht begriffen, wie der in dieses Haus kommt. Einmal hat er mir sogar meine Einkaufstasche herauf getragen! Wissen Sie, früher war es hier ja auch einmal besser...«

Anscheinend wurde sie nicht oft angelächelt. Sonst hätte meine Mimik bei ihr nicht gleich solch einen Redeschwall ausgelöst. Ich sagte mir, dass Mr. X natürlich noch andere Kleidungsstücke haben könnte als die Pferdejacke. Also unterbrach ich sie und beschrieb sein Gesicht. An das Bärtchen müsste die gute Frau sich doch erinnern können!

»Nein, der Herr aus dem dritten Stock war immer sehr gut ra­siert.« Als sie den Kopf schüttelte, müsste ich an eine Schildkröte den­ken. »Er hat ja auch immer so gut gerochen!«

Ich sah ein, dass ich hier nicht weiterkam, dankte ihr und wünsch­te noch einen guten Tag. Dann versuchte ich mein Glück an den ande­ren beiden Türen. Die Alte schloss ihre Tür noch immer nicht. »Da ist um diese Zeit nie jemand da!«, ließ sie mich wissen.

Aber eine der Türen öffnete sich doch. Vermutlich hatte der Typ nur reagiert, weil ich ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Er war noch ziemlich jung, bekam kaum die Augen auf und steckte noch im Schlaf­anzug. Während er herzhaft gähnte, wurde er anscheinend aber doch

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wach. »Ich kaufe nichts!«, rief er und wollte die Tür schon wieder schließen.

Ich verhinderte es, indem ich rasch einen Fuß in den Türspalt schob. »Deswegen bin ich auch gar nicht hier«, ließ ich ihn wissen. »Es geht um die Bewohner der Wohnung im dritten Stock. Sie wissen schon.«

Er sah jetzt richtig erschrocken aus, vermutlich hielt er mich wie die alte Frau für einen Polizisten in Zivil. »Ich bin da nie drin gewe­sen«, versicherte er.

»Aber vielleicht haben Sie mal jemanden getroffen, der dort wohnt?«, hakte ich nach und verzichtete diesmal auf jede Beschrei­bung.

Er stöhnte. »Wer soll hier schon wohnen? Arme Hunde, die aus dem Malochen nie rauskommen. So wie der aussah, hat der am Hafen gearbeitet.«

»Geht's vielleicht ein bisschen genauer?« Ich spürte, wie er den Druck gegen die Tür verstärkte, gegen meinen Fuß aber nichts aus­richten konnte.

Zäh wie Ahornsirup kamen die Worte aus seinem Mund. Größe und Statur entsprachen in etwa der von Mr. X. Eine grell karierte Jacke erwähnte er aber nicht, stattdessen einen Backenbart. »Wenn Sie mich fragen, der fährt zur See. Ich erkenne das an der Art, wie solche Leute gehen.« Er grinste flüchtig.

Auch das könnte zu Mr. X passen, ging es mir durch den Kopf, zu der seltsam weichen Art, in der er sich bewegte. Aber natürlich traf so eine Beschreibung auch auf unzählige andere zu. Mit einem leichten Kopfnicken zog ich meinen Fuß zurück und sofort warf der Typ im Schlafanzug die Tür zu. Die Alte an der Tür mit der Kette starrte mir noch hinterher, als ich einen Stock tiefer ging.

Auch dort fiel meine Befragung äußerst mager aus. Einmal öffnete ein etwa zehnjähriges Mädchen, das einen halbnackten Säugling in den Armen hielt, wie ein Puppe. Nur dass das Baby erbärmlich schrie.

»Ist deine Mama zu Hause?«, wollte ich wissen. »Ja, aber betrunken. Ich bin froh, dass sie jetzt schläft.« Die

Sachlichkeit, mit der die Kleine das sagte, ließ mich frösteln.

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Nur der Form halber klopfte ich auch noch an den beiden anderen Türen auf dieser Etage an, aber niemand öffnete. Der Misserfolg, der sich da abzeichnete, machte mich ganz wehrlos gegen den Gestank, der auch aus den so fest verschlossenen Türen kroch. Ich kämpfte mit einer weiteren Lucky gegen einen leisen Brechreiz an. Dann war ich wieder im dritten Stock.

Ich sah sofort, dass das Siegel an der Tür verschwunden war und ließ die Lucky nach einem hastigen Zug gleich wieder fallen. Dann stellte ich fest, dass die Tür offen war. So automatisch wie vergeblich tastete ich die Stelle ab, wo sich mein Revolver hätte befinden müs­sen. Nur tat er das wieder mal nicht, ich ging einfach nicht gern aus mit dem Ding. Wobei es mir im Moment vielleicht hätte nützlich sein können.

Einen Moment verharrte ich vor der einen schmalen Spalt breit ge­öffneten Tür und lauschte angestrengt. Kein Ton war drin zu hören. Kam ich etwa schon zu spät? Zentimeter für Zentimeter öffnete ich die Tür etwas weiter. Drin herrschte ein trübes Zwielicht, nicht einmal die Kreideumrisse auf dem Boden konnte ich erkennen. Endlich entschloss ich mich zu einem rascheren Vorgehen. Ein Schlag gegen die Tür, dann stand sie sperrangelweit offen und ich schon mitten im Flur.

Ich war aber doch etwas zu schell gewesen, begriff ich in diesem Moment. Denn die Tür war nicht gegen eine Wand geprallt, sondern gegen etwas Weiches. Ich nahm den Schatten hinter mir wahr, einen halben Kopf größer als ich. Genau wie Mr. X, dachte ich noch, dann traf mich schon ein unangenehm harter Schlag in der Magengegend. Ein Zweiter folgte, kein bisschen sanfter, er landete auf meiner linken Schläfe und ließ mich in die Knie gehen. Aber immerhin, als der Schat­ten, der über so erstaunlich harte Fäuste verfügte, aus der Wohnung rannte, erkannte ich meinen Auftraggeber: Mr. X. Heute ohne Bär­chen, ohne karierte Jacke, dafür mit einem Koffer in der Hand. Ich wollte ihm etwas zurufen, aber dafür reichte meine Luft im Moment nicht aus.

Ich ließ mir viel Zeit, wieder auf die Beine zu kommen und hörte, wie unten die Tür ins Schloss fiel. Ich sagte mir, dass es besser wäre, wenn ich nun auch das Haus verließ. Am Ende tauchte doch noch je­

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mand von Hollyfields Leuten auf und unterstellte dann mir, das Siegel aufgebrochen zu haben.

Ich dachte noch daran, nach meinem Hut zu suchen, der noch auf dem Boden lag. Aber ich setzte ihn lieber nicht auf, sondern presste meine Hand gegen die Schläfe. Es tat noch immer höllisch weh. Auch meine Magengegend fühlte sich an, als sei darin ein Feuerwerkskörper explodiert, nur mühsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Und selten war ich froher, aus einem Haus herauszukommen. Irgendwie schleppte ich mich die paar Blocks weiter zu meinem Plymouth und klemmte mich hinters Steuer. Wie gut es tat, hier nur ganz still zu sit­zen! Ich steckte mir eine Zigarette zwischen die Lippen und riskierte dann auch einen Blick in den Rückspiegel. Noch war an meiner Schläfe nichts zu sehen. Aber bestimmt ließ die Schwellung nicht lang auf sich warten.

*

Betty empfing mich unerwartet gut gelaunt. Sie legte eben den Tele­fonhörer auf, als ich das Büro betrat. Vermutlich hatte sie gerade eine für sie erfreuliche Verabredung fürs Wochenende getroffen. Während mein Magen sich schon beinahe wieder normal anfühlte, ratterten in meinem Kopf pausenlos Maschinengewehrsalven. Ich verzichtete dar­auf, meinen Mantel auszuziehen und ließ mich sofort auf die Couch gleich rechts neben der Tür fallen.

»Meine Güte, Chef, was haben Sie denn?«, dämmerte es Betty, dass ich im Moment nicht ganz auf der Höhe war. »Soll ich raten? Be­stimmt mal wieder der Kopf. Warten Sie, ich gebe Ihnen eine Tablet­te.«

Vielleicht half das ja wirklich? Ich ließ sie gewähren. Als sie mit ei­nem Glas Wasser und der Tablette dann vor mir stand, quiekte sie. »Aber das ist ja ganz geschwollen! Wie ist das denn passiert?«

Ich hatte keine Lust, ihr irgendwelche Erklärungen zu geben, schluckte die Tablette und spülte mit Wasser nach. Zum Glück begriff Betty, dass mir das allein nicht half. Manchmal war sie wirklich richtig nett, jetzt bot sie mir sogar einen Schluck aus der kleinen Flasche an,

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die sie aus ihrem Schreibtisch holte. Schreckliches Zeug, aber das Brennen in der Gurgel lenkte mich für einen Moment von dem Häm­mern in meinem Kopf ab. Und dann setzte auch schon eine angenehm betäubende Wirkung ein.

Betty kümmerte sich weiter um mich. Diesmal kam eins ihrer um­häkelten Taschentücher zum Einsatz, mit kaltem Wasser getränkt presste sie es gegen meine Schläfe. »In so einem Fall hilft nur Druck«, belehrte sie mich. »Das hätten Sie gleich machen müssen, um die Schwellung zu verhindern.«

»Ich hatte eben anderes zu tun«, ließ ich sie wissen. Endlich schob ich sie beiseite. Ein weiterer Schluck aus der Flasche und eine Zigarette würden mir jetzt besser helfen. Die Beule war sowieso nicht mehr zu verhindern und ich hatte an dem Tag ja auch nicht vor, mich an einem Schönheitswettbewerb zu beteiligen. »Und was war hier los?« Ich setzte mich auf, so langsam wie in Zeitlupe.

»Nicht viel«, entgegnete sie leicht schnippisch. Da ich mir nicht länger helfen lassen wollte, stellte sie auch ihr Mitgefühl gleich wieder ein. »Quirrer ist hier gewesen. Wollte wissen, wieso Sie gestern in der Wohnung im Southend waren. Sie wissen schon, wo...«

»Ja, natürlich weiß ich, wo ich war«, unterbrach ich sie. Der tu­ckernde Schmerz in meiner Schläfe machte mich gereizt. »Und was haben Sie ihm gesagt?«

»Was hätte ich ihm denn sagen können?«, reagierte sie beleidigt. »Ich wusste doch gar nicht, dass Sie da waren!« Sie tat fast so, als wären wir verheiratet und sie habe von Dritten erfahren, dass ich sie betrüge.

»Was wollte er sonst noch?« Sie zuckte die Schultern und begann, sich zum Gehen fertig zu

machen. »Fragen Sie lieber, was ich aus ihm rausgekitzelt habe!« Aha, da war gekränkte Eitelkeit im Spiel. »Genau das hatte ich

vor, Süße.« Ich grinste sie an, was meiner malträtierten Schläfe gar nicht gefiel. Das Trommelfeuer verstärkte sich.

»Dass Sie am Tatort waren, hab ich ja nicht gewusst«, setzte sie an, noch immer vorwurfsvoll. »Aber ich hab mir natürlich gedacht, dass Sie wissen wollen, was Quirrer inzwischen darüber weiß.«

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»Der weiß meistens weniger als irgend sonst jemand in dieser Stadt«, brummte ich.

Betty überging es. »Also hab ich ein bisschen auf den Busch ge­klopft. Man fahndet jetzt nach einem, der wohl zeitweilig in der Woh­nung gelebt hat. Name unbekannt, aber es soll ein Spieler sein.« Sie schlüpfte in ihren Mantel und präsentierte mir bei den dazu notweni­gen Bewegungen ihre ausgeprägt weiblichen Formen. »Sie könnten mir wirklich ein bisschen mehr sagen, Chef.« Ziemlich energisch zog sie den Mantelgürtel über ihrer Taille zusammen. »Dann hätte ich be­stimmt noch mehr aus Quirrer rausgekriegt. Na ja, der Typ jedenfalls, nachdem sie jetzt suchen, dieser Spieler – ich könnte wetten, das ist unser Mr. X.« Mit einer triumphierenden Geste drückte sie sich das winzige Etwas aufs blondierte Haar, das sie als Hut bezeichnete.

»Und wie kommen Sie darauf? Haben Sie vergessen, dass Sie kei­nem Menschen etwas von ihm erzählen sollten?«, herrschte ich sie an.

»Hab ich natürlich nicht, Chef.« Sie lächelte sehr von oben herab. »Ich hab Quirrer einfach dazu gebracht, dass er ein bisschen plaudert. Außerdem sollten Sie nicht so laut reden, das ist nicht gut für Ihren Kopf.«

Damit hatte sie Recht. Allerdings war auch ihre Stimme im Mo­ment nicht gut für mich. »Gehe Sie jetzt«, bat ich sie. »Über alles an­dere reden wir dann am Montag.« Ich sehnte mich im Moment nur danach, mich auf der Couch wieder der Länge nach auszustrecken. Dann wurde mir klar, wieso sie mich so unverwandt anlächelte und dabei auf den Füßen wippte. »Richtig, Ihr Geld!«

Ich griff in meine Manteltasche und gab ihr fast alles, was sich dort befand. Mir war klar, dass es nicht genug war und Bettys schlag­artig herab fallende Mundwinkel bestätigten es mir. »Den Rest gibt es ebenfalls am Montag«, ließ ich sie wissen und mich dabei endlich wie­der auf die Couch sinken.

Vermutlich sah ich bedauernswert genug aus, dass Betty auf je-den Einspruch verzichtete und das Büro sogar ohne größere Geräusch­entwicklung verließ. Ich schlief sofort ein.

Das Telefon ließ mich irgendwann hochschnellen wie einen Pfeil, der von einem Indianerhäuptling abgeschossen wurde. Mit der linken

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Hand überprüfte ich die Schwellung an meinem Kopf, mit der rechten brachte ich den Telefonhörer an mein Ohr. »Ja?«

»Pat, altes Haus!«, fuhr mir Brendons Stimme in den Schädel. »Ich frag mich schon die ganze Zeit, wo du steckst? Wie wäre es mit einem Schluck? Und was essen müsste ich auch. Mir steht heute hier in der Redaktion eine lange Nacht bevor. Na, du kannst dir ja vorstel­len, was hier los ist! Wer weiß, ob mir überhaupt noch Platz bleibt. Es gibt ja kein anderes Thema mehr als Cyrus D. Waltman.«

Das genügte, um mich vollständig wach zu machen. »In einer Viertelstunde am üblichen Ort?«, schlug ich Brendon vor.

*

War das Brummen in meinem Schädel drin oder außerhalb? Vermutlich beides, denn am frühen Freitagabend herrschte wie üblich Hochbetrieb in Henry's Steak Diner. Nachdem ich Brendon von meinem Missge­schick erzählt hatte, bestand er darauf, dass auch ich etwas essen müsse.

Aber das Hacksteak schmeckte mir nicht. Es erschien mir besser, mich an die braune, hochprozentige Brühe zu halten, die sich in der Kaffeetasse vor mir befand. Obwohl es nicht um Sport ging, war Bren­don so aufgeregt, dass er ohne Punkt und Komma redete. Klar, es kam nicht alle Tage vor, dass jemand wie Cyrus D. Waltman ermordet wurde, einer aus den so genannten allerbesten Kreisen. Allerdings wusste Brendon nichts, was mir nicht schon bekannt gewesen wäre, mal abgesehen von den vielen Gerüchten und Spekulationen, die sich schon um die Geschichte rankten. Ich ließ Brendon also reden, ohne etwas zu fragen.

Das ließ seinen Eifer dann allmählich doch ermatten. Vielleicht lag es auch an der Zufriedenheit nach dem Essen, die ihn allmählich ruhi­ger werden ließ. Als er sich seine übliche Zigarre entzündete, strahlte er rundum satte Zufriedenheit aus und zeigte fast das Wohlbehagen eines umhätschelten Säuglings. »So und jetzt mal zu dir«, meinte er schließlich.

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Sollte ich ihm erzählen, dass ich heute ausgerechnet in der Woh­nung zusammengeschlagen worden war, in der Waltman das Zeitliche gesegnet hatte? Irgendein Gefühl riet mir, das vorläufig für mich zu behalten. Schließlich war nicht anzunehmen, dass es da einen unmit­telbaren Zusammenhang gab. Höchstens einen mittelbaren und der hieß Mr. X. Ich begann einfach aufs Geradewohl und vermutlich dachte Brendon, ich faselte dummes Zeug. »Ein Mann ohne Namen, ohne Adresse. Ein Mann, von dem du einfach nichts weißt. Der anscheinend die Barttracht ebenso leicht wechselt wie sein Jackett. Verstehst du? Ein Mann ohne jede Identität. Beziehungsweise gleich mit mehreren.«

Nein, ich sagte das gar nicht wirklich zu Brendon. Es war eher ein Selbstgespräch, ein Versuch, gegen das Dröhnen in meinem Kopf an­zukommen und zugleich eine Art Fazit dieses Tages zu ziehen. Immer wieder ein Schluck aus der Tasse nehmend, hielt ich das eine ganze Weile durch, während Brendon mir gegenüber mehr und mehr in den Schwaden seiner Zigarre verschwand.

»So ein Typ hat dich zusammengeschlagen?«, fragte Brendon teil­nahmsvoll, als ich schwieg.

Ich wiegte den Kopf auf eine Weise, dass er sich aussuchen konn­te, ob das ein Ja oder ein Nein war. »Ich vermute inzwischen, er ver­dient sein Geld in Spielhöllen«, fuhr ich fort. »Gut möglich, dass noch ein paar andere Dinge dazukommen, die nicht ganz legal sind. Ein Typ wie ein Chamäleon, einfach nicht zu fassen. Er ist zu allem Überfluss ein Kunde von mir.«

»Und schlägt dich dann zusammen?« Brendon war verständlicher­weise empört.

Ich zuckte nur mit den Schultern. Denn ich sah, dass eines meiner Worte sich in Brendons Gehirnwindungen verfangen hatte. In solchen Momenten war es besser, ihn nicht abzulenken.

»Chamäleon«, brabbelte er endlich vor sich hin. »Irgendwie war da was. Ein Typ, der nicht zu fassen ist. Natürlich nichts Großes, a­ber...« Er stockte und warf einen Blick auf seine Uhr. »Komm doch gleich mal mit in die Redaktion. Ich müsste mich dort sowieso allmäh­lich wieder blicken lassen. Vielleicht lassen sie mir ja doch noch den Platz für einen Zehnzeiler. Und dann lasse ich dir die Artikel heraussu­

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chen, die mir zu deinem Problem durch den Kopf gehen.« Er sah mich mit einem sehr mitleidigen Blick an - armer Hund, sagte dieser Blick, nur gut, dass dein Vater nicht weiß, wie du dich durchs Leben schla­gen musst!

Wir tranken aus und Brendon war so großzügig, auch meinen Teil der Rechnung zu begleichen. Da Brendon zu Fuß gekommen war, ließ auch ich meinen Wagen stehen. Es war nicht weit bis zu dem impo­santen Hochhaus nur einen Block vom Chicago River entfernt, in dem die Tribune residierte und die frische Luft tat meinem Kopf spürbar gut. Überall wurden schon Extraausgaben verteilt. Sie zeigten ein Foto von Cyrus D. Waltman - nicht als Leiche, sondern bei einer Rede vor seinen Arbeitern. Die Schlagzeile neben dem Foto verkündete, sein grausamer Tod bedeute einen unermesslichen Verlust für die Stadt und das ganze Land.

Schon in der Eingangshalle der Tribune war die Hölle los und oben in der Redaktion erlebte ich, wie sich das noch steigern konnte. Klin­gelnde Telefone, ratternde Schreibmaschinen und überall standen Leu­te in Gruppen zusammen und diskutierten lautstark die neuesten Mel­dungen. Oder waren es doch nur Gerüchte?

Brendon schob mich zu seinem Schreibtisch, der inmitten des To­huwabohus wie eine Insel der Ruhe wirkte. »Dabei haben die ›White Socks‹ einen neuen Trainer«, grummelte er. »Und wer hat mit ihm ein Interview gemacht? Ich natürlich. Bloß interessiert das heute kein Schwein.« Er drückte mich auf einen Stuhl. »Zwei Minuten, ja? Dann bin ich aus dem Archiv zurück.«

Anfangs lauschte ich auf das allmählich doch leiser werdende Tu­ckern in meinem Kopf, dann drangen Fetzen des Gesprächs von einem Schriebtisch in der Nähe zu mir durch. Aber wirklich aufregend war das nicht, nichts, was sich nicht schon gewusst hätte.

Bis jemand ziemlich laut sagte: »Wabash Ecke Einundfünfzigste. Das Haus gehörte ihm ja auch.«

»Woher willst du das wissen?«, riefen gleich mehrere andere. »Im Polizeibericht ist davon nichts zu lesen!«

»Tja, ich weiß es halt.«

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Ich setzte mich ein bisschen auf, um zu sehen, wer diesen Clou aus dem Hut zauberte. Es war ein schmaler, ziemlich blasser Mann, dessen Hemd dunkle Schweißflecken trug.

»Und zwar aus absolut sicherer Quelle«, fuhr er fort. »Waltman hatte ja jede Menge Häuser. Und in manchen hat er seine Arbeiter zu günstigsten Bedingungen wohnen lassen. Aber man fragt sich doch, was er so in so einer Bruchbude gewollt hat. Etwa Mietschulden ein­treiben?«

Darauf lachten alle und gleich darauf stand Brendon wieder vor mir. Er wedelte mit gleich mehreren Artikeln. »Jetzt hab ich leider kei­ne Zeit mehr für dich«, erklärte er und stopfte die Ausbeute seiner eiligen Recherche in einen Briefumschlag. »Ich hab jetzt gleich 'nen Termin beim Chef. Anscheinend ist über den Fall Waltman eine Nach­richtensperre verhängt worden!« Er rieb sich zufrieden die Hände. »Und das könnte bedeuten, dass mein Interview heute doch noch ins Blatt kommt! Also, bis bald und pass gut auf dich auf!«

Gleich darauf hatte er mich schon vergessen. Ich ließ mir Zeit mit dem Gehen und lungerte noch eine Weile bei dem Schreibtisch des dünnen Blassen herum. Er telefonierte, nickte immer wieder mit dem Kopf und machte sich Notizen. Er war vermutlich ein Opfer der Nach­richtensperre, die Brendon zur gleichen Zeit so glücklich machte. Und natürlich konnte er nicht ahnen, welchen Gefallen er mir getan hatte. Waltmann war also in einem Haus zu Tode gekommen, dass ihm selbst gehörte! Wenn das Hollyfield und seine Leute im Moment noch nicht wussten, könnte es ja womöglich für mich von Vorteil sein.

Als ich das riesige Gebäude verließ, griff ich noch nach der neues­ten Ausgabe der Zeitung. Vielleicht stand da ja doch etwas drin, das mir nützlich sein konnte. Es ging mir eindeutig besser. Ich verspürte sogar Hunger und beschloss, auf dem Weg zu meinem Auto noch et­was zu essen.

*

Der Schmerz ließ ganz allmählich nach und mein Magen war gefüllt -es ist schon seltsam, wie wenig gelegentlich genügt, um einen zufrie­

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den zu machen. Aber das war ich tatsächlich, als ich etwa eine halbe Stunde später zu meinem Plymouth schlenderte. Ziemlich viele Men­schen waren unterwegs, für viele begann am Freitagabend ja schon das Wochenende. Ich achtete nicht auf das Gewimmel um mich her­um. Es fiel mir auch nicht sofort auf, als jemand auf gleicher Höhe mit mir ging und seinen Schritt dem meinen anpasste.

»Was da heute Morgen passiert ist, tut mir wirklich leid, Connor.« Ich blieb abrupt stehen und winkelte einem Reflex folgend auch

sofort die Arme an, die Hände zu Fäusten geballt. Denn die nuscheln-de Stimme von Mr. X erkannte ich sofort.

»Es ist einfach zu dunkel gewesen in dem Loch«, fuhr er fort. »Dass Sie das sind, hab ich erst kapiert, als es schon zu spät war.«

Ich ließ die Arme sinken, schließlich brachte er diese Entschuldi­gung geradezu treuherzig vor. Und glaubwürdig erschien sie mir auch.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht ernstlich verletzt?« Er schien ent­schlossen, an meiner Schläfe herumzufingern. Schnell trat ich einen Schritt zurück, auch, um ihn besser sehen zu können.

Er sah vollkommen anders aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. An­statt der grell karierten Jacke steckte er in einem betont unauffälligen taubengrauen Anzug, der jedem Stutzer zur Ehre gereicht hätte. Er trug Gamaschen und seinen Hals zierte ein Binder. Die Ähnlichkeit mit einem Kürbis konnte sein Schädel auch jetzt nicht ganz leugnen. Aber es gab keinen Bart mehr in diesem flächigen Gesicht. Natürlich, so etwas konnte man sich kaufen, sagte ich mir, in allen Formen und Far­ben. Mr. X war wirklich ein Chamäleon.

»Danke der Nachfrage«, antwortete ich endlich auf seine Frage. »Aber Sie sehen ja, ich hab es überlebt. Übrigens ist es gar nicht schlecht, dass wir uns treffen.«

»Natürlich, ich weiß.« Er griff in die Innentasche seines Jacketts, holte eine Brieftasche aus Seehundsfell heraus und entnahm ihr einige Scheine. Mein Honorar für drei Tage, fünfundsiebzig Dollar. Hatte ich meinen Tarif etwa zu niedrig angesetzt? So lässig, wie er mit den Scheinen umging, lag der Gedanke nahe. Noch etwas kam dazu.

»Man fahndet inzwischen nach Ihnen«, ließ ich ihn wissen.

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Er nickte. »Das war mir von Anfang an klar. Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen.«

Er tat wirklich so, als sei er ein Ehrenmann, was ihm in seiner der­zeitigen Verkleidung auch ganz gut gelang. »Und weshalb haben Sie mich belogen?« Ich wollte ihm zeigen, dass mich seine Kostümierung nur in Maßen beeindruckte. »Sie haben behauptet, den Toten nicht zu kennen. Dabei kennt den jedes Kind.«

Er führte die Hand vor den Mund und hüstelte. »Ich fand es nicht nötig, das zu sagen«, erklärte er dann. »Außerdem hab ich ihn wirklich nicht auf Anhieb erkannt. Es ist dort ja so dunkel. Und dann bin ich ja auch ganz schön erschrocken. So eine Leiche auf dem Flur...«

»D äs war nicht Ihre einzige Lüge«, fiel ich ihm ins Wort. »Sie ha­ben mir vor meiner Wohnung aufgelauert. Und das heißt, dass Sie mir am Abend davor gefolgt sein müssen. Und das wiederum bedeutet, dass Sie schon sehr viel früher vom Ableben Waltmans wussten.«

Er legte sein Gesicht in bekümmerte Falten. »Aber ich bitte Sie, kam es darauf denn an? Der Mann war schließlich tot. Natürlich setzte ich auf einen kleinen Vorsprung.«

»Einen Vorsprung vor der Polizei.« Ich nickte und wiederholte eine früheren Satz. »Man fahndet nach Ihnen und zwar, weil Sie als Mörder von Cyrus D. Waltman verdächtig sind. Wie kommen Sie auf den Ge­danken, dass ich...«

»Aber ich war es nicht!« Darauf ließ er etwas folgen, das wohl ein nervöses Lachen sein sollte, aber beinahe schon nach Weinen klang.

»Wer war es dann?« Sein hysterisches Gehabe widerte mich an. »Vielleicht haben Sie ja doch einen kleinen Tipp für mich? Und außer­dem wüsste ich gern, wieso Sie heute Morgen noch mal in der Woh­nung waren. Sie haben das Siegel der Polizei aufgebrochen.«

Er seufzte. »Was blieb mir denn anderes übrig? Ich musste doch meine Sachen holen!«

Ich sah ihn wieder als Schatten vor mir, wie er aus der Wohnung gerannt war. Ja, er hatte einen Koffer mit sich geschleppt. Sogar einen ziemlich großen.

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»Bitte, Mister Connor, lasen Sie mich jetzt nicht im Stich!« Er fleh­te mich geradezu an. »Ich leugne ja nicht, dass ich meine Fehler habe. Aber ein Mord, nein, so was kommt für mich nicht in Frage!«

Weil er mir immer mehr auf die Nerven ging und dabei doch auch halbwegs glaubwürdig wirkte, beschloss ich, diese Begegnung zu be­enden. Die ersten Passanten wurden bereits auf uns aufmerksam. Ich bewunderte Mr. X ein bisschen, wie wenig er sich dadurch gestört fühlte. Offenbar vertraute er ganz und gar auf seine Verkleidungsküns­te.

»Okay. Und wann sehen wir uns wieder?« Ich nahm endlich die Scheine aus seiner Hand und ließ sie in meiner Tasche verschwinden. »Wenn ich für Sie arbeite, dann muss das geregelte Formen anneh­men.«

Er nickte. »Genügt es, wenn wir uns alle zwei Tage sehen?« Sollte das heißen, er hatte das Honorar für mich von sich aus erhöht? »In Ihr Büro kann ich derzeit nicht kommen, das wer den Sie bestimmt ver­stehen. Aber keine Sorge, ich finde Sie schon.«

Möglicherweise war ich für eine Sekunde abgelenkt, weil ich nach einer Zigarette griff. Als sie dann zwischen meinen Lippen steckte, war Mr. X jedenfalls verschwunden, spurlos eingetaucht in die Menge der Passanten. Nicht, dass mir das angenehm gewesen wäre. Aber eine gewisse Bewunderung entlockte es mir doch.

Ein Typ wie ein Stück Seife, ging es mir durch den Kopf, als ich nun endlich meinen Wagen aufschloss. Ein Stück ausgesprochen glit­schiger Seife, für keine Sekunde zu fassen. Und wieder einmal fragte ich mich, welchen Beruf Mr. X mit diesem Talent ergriffen hatte. Es gab so manche Branche, in der so etwas gefragt war.

*

Als ich in meinem Apartment in der North Clarke eintraf, stellte ich mich auf einen ruhigen Leseabend ein. Lektüre hatte ich ja reichlich - die neueste Ausgabe der ›Tribüne‹ und dann war da ja auch noch die­ser Umschlag voller Zeitungsausschnitte, die Brendon für mich heraus­gesucht hatte. Ich war noch in Hut und Mantel, als das Telefon klingel­

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te. Betty meldete sich, was mehr als überraschend war. Um diese Stunde hätte ich sie in einer Revue vermutet, mit irgendeinem ihrer zahlreichen Verehrer.

»Hab bloß mal hören wollen, wie es Ihnen geht, Chef«, hörte ich sie sagen. »Ich hab das Büro ja ein bisschen plötzlich verlassen. Ging nicht anders, weil...«

»Schon gut, Betty.« Ich musste grinsen. Manchmal hatte sie sol­che Anfälle von Fürsorglichkeit und nie wusste ich, was davon zu hal­ten war. »Ich bin schon wieder halbwegs auf dem Damm.«

»Dann ist es ja gut.« Ich hörte sie tatsächlich aufatmen. »Aber da ist noch was, Chef.« Sie räusperte sich. »Ich hab Ihnen doch erzählt, dass Quirrer da gewesen ist.«

»Und nun ist Ihnen eingefallen, dass Sie ihm doch ein bisschen zu viel verraten haben?«, fürchtete ich.

»Aber nein, wo denken Sie hin!«, rief sie entrüstet. Dann senkte sie ihre Stimme wieder. »Quirrer hat doch die ganze Zeit von dem Mord an Mister Waltman geredet. Und er hat auch so Andeutungen gemacht. Dass da welche vom Syndikat dahinter stecken.«

»Quirrer ist ein hirnloser Angeber«, warf ich ein. »Das weiß ich selber.« Jetzt klang Betty beleidigt. Ich konnte mir direkt vorstellen, wie sie jetzt einen Schmollmund

zog. »Und, was sonst noch?«, wollte ich das Gespräch beenden. Da schaltete sie wieder auf besorgt um. »Quirrer hat auch noch

was anderes angedeutet. Er meinte, manche Sachen sind einfach eine Nummer zu große für einen kleinen Schnüffler.« Sie verstummte für einen Moment. »Ich hab einfach Schiss, dass ich bald gar keinen Chef mehr habe«, rutschte es ihr dann heraus.

Ein bisschen gerührt war ich da doch. »Schon gut, Betty, machen Sie sich keine Sorgen. Ich hab doch bislang immer aufgepasst auf mich, oder?«

Trotz all der Meinungsverschiedenheiten, die ich mit Joe oft genug gehabt hatte, in diesem Moment vermisste ich ihn plötzlich. Und natür­lich hatte er es nicht verdient gehabt, auf so grässliche Weise zu ster­ben. Um das Ganze nicht in Rührseligkeit ausarten zu lassen, beteuer­

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te ich Betty noch einmal, sie müsse sich keine Sorgen machen, dann beendete ich das Gespräch. Ich entledigte mich meines Huts, des Man­tels und gleich auch noch der Krawatte. Bewaffnet mit einem gut ge­füllten Glas, machte ich es mir dann auf meinem Bett bequem.

Die Sonderausgabe zu Cyrus D. Waltmans gewaltsamem Tod be­stand hauptsächlich aus Fotos. Der Unternehmer in allen Lebenslagen, als sorgsam planender Unternehmer, als liebender Familienvater, als flammender Redner, dem das Allgemeinwohl am Herzen lag. Seine Leiche wurde natürlich nicht gezeigt und was Hollyfield aus dem Poli­zeibericht zur Veröffentlichung frei gegeben hatte, war mehr als dürf­tig.

Ein Detail immerhin fand ich interessant. Aus der Wohnung, in der man den Industriellen gefunden hatte, war nichts gestohlen worden. Das war nicht weiter bemerkenswert, sie enthielt schließlich nur Schrott. Aber auch Waltmann war nicht beraubt worden. In seinen Taschen hatte man alles gefunden, was so ein Mann immer bei sich zu tragen pflegt: ein goldenes Zigarettenetui, das Feuerzeug ebenfalls aus Gold, genau wie die Taschenuhr. Auch seinen Ring hatte man ihm gelassen und dann noch, was ich besonders beachtlich fand, auch die krokodillederne und ziemlich üppig gefüllte Brieftasche. Eine exakte Summe war natürlich nicht genannt, aber die Umschreibung ließ doch vermuten, dass es reichlich Kohle war.

»Ein Raubmord war es also nicht«, zitierte der Artikel die Ansicht Hollyfields. Und daran schloss sich die Frage: Wieso war Waltman mit so viel Geld unterwegs? Weshalb hatte ihn das Schicksal in jener arm­seligen Wohnung ereilt? Und wieso war er überhaupt umgebracht wor­den, wenn es offenbar nicht um Geld ging?

Mich erleichterte vor allem diese letzte Frage. Denn auch, wenn ich noch immer erbärmlich wenig von Mr. X wusste, so sagte mir doch mein Gefühl - er hätte Waltmans Taschen garantiert geleert. War das nicht fast schon ein Beweis dafür, dass er dann auch als Mörder nicht in Frage kam?

Ich freute mich eine Weile an dieser Erkenntnis und starte dem Rauch meiner Lucky nach, der in blauen Schwaden im Zimmer hing. Endlich widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder der Zeitung. Doch

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mehr gaben die Berichte nicht her. Auch die Tatsache, dass Waltman in einem Haus ermordet worden war, das ihm selbst gehörte, war be­reits der Nachrichtensperre zum Opfer gefallen. Ob Hollyfield das ü­berhaupt schon wusste? Ich musste unwillkürlich grinsen. Bei einem Mann mit so weit verzweigtem Besitz wie Waltman existierte ja schließlich nicht eine Liste, in der alles säuberlich aufgeführt war. Und manches bekamen findige Reporter mit ihren nicht immer ganz legalen Quellen einfach schnell er heraus als ein Polizist. Womöglich hatte Hol­lyfield also mit dieser Nachrichtensperre ein Eigentor geschossen.

Ich ließ die Zeitung sinken, füllte mein Glas noch einmal auf und nahm mir dann den Umschlag von Brendon vor. Er enthielt jede Men­ge ziemlich kurzer Artikel, von der Art, wie man sie in der Rubrik ›Ver­mischtes‹ findet. Ich wusste von Brendon, dass seine Kollegen an manchen Tagen, an denen einfach nicht genug passierte, um das Blatt voll zu kriegen, sich einfach die Rapporte von sämtlichen Polizeistatio­nen vornahmen und sie fast unverändert abdruckten.

Zuerst entdeckte ich keinerlei Zusammenhang zwischen den Mel­dungen. Es ging um so ziemlich alles, womit ein Kleinkrimineller seinen Lebensunterhalt verdient. Trickbetrug, Taschendiebstahl, Falschspiel, Heiratsschwindel. Manchmal ging es auch um eine Schlägerei, aller­dings nie mit gravierenden Folgen. Einmal nur fiel das Wort ›Chamäle­on‹. Denn eine Frau war offenbar gleich dreimal hintereinander zum Opfer geworden und sie war davon überzeugt, es sei jedes Mal dersel­be Täter gewesen. Beweise dafür konnte sie allerdings nicht vorbrin­gen und ihren Beschreibungen nach hatte der Mann auch jedes Mal anders ausgesehen.

Als ich hierüber und vor allem über das Chamäleon stolperte, stieß ich einen leisen Pfiff aus. Brendon hatte mir ja wirklich gut zugehört und erstaunlich viel aus meinen doch eher vagen Überlegungen ge­macht! Und hatte nicht auch ich vorhin Mr. X beinahe nicht wieder erkannt?

Wie bei der Frage, ob Mr. X der Mörder Waltmans sei, war es auch jetzt nur ein Gefühl. Aber eindeutig eines von der Art, auf das ich mich noch immer verlassen konnte. Und dieses Gefühl sagte mir, dass alle diese Meldungen keinen anderen betrafen als Mr. X. Genau diese Art

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von Kleinkriminalität passte haarscharf zu ihm und seinen Fähigkeiten. Ich sah auch wieder vor mir, wie er ständig versucht hatte, mit Betty zu flirten, als er bei mir im Büro war. Und zwar auf eine so schmierige wie routinierte Weise, genau so, wie jemand, der genügend Erfahrung darin hatte.

Ich fand, dass dieser Erfolg am späten Abend noch ein weiteres Glas wert war. Dann kam ich auf die Idee, die Zeitungsausschnitte zu sortieren und zwar entsprechend der Delikte, von denen sie handelten. Vielleicht würde ich ja noch mehr über Mr. X in Erfahrung bringen? Es gelang mir erst, als ich auf das Datum der Meldungen achtete, worauf ich erst ziemlich spät verfiel. Aber dann stand es so gut wie fest. Mr. X hatte sich in der letzten Zeit eindeutig spezialisiert. Er machte als Hei­ratsschwindler Karriere.

Ich lachte zufrieden vor mich hin und sah ihn wieder vor mir in der grell karierten Jacke und ohne Hut. Das war natürlich nicht die geeignete Berufskleidung! Und erklärte das nicht auch, weshalb er das Risiko eingegangen war, das Siegel an der Tür aufzubrechen? Klar, er brauchte dringend seinen Koffer, stutzerhafte Anzüge wie jenen, in dem ich ihn vorhin gesehen hatte.

Ich fühlte mich ziemlich gut, hiermit zumindest ein Geheimnis von Mr. X gelöst zu haben. Bevor ich fand, für heute genug getan zu ha­ben, schaute ich noch in den Spiegel. Meine Schläfe schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Aber die Schwellung war schon deut­lich zurückgegangen.

Kurz bevor ich einschlief, wurde mir noch etwas klar. Mr. X war ohne jede Frage ein Gauner. Aber solche Leute eigneten sich meiner Erfahrung nach auf gar keinen Fall zum Mörder. Und das war noch ein Grund, um gut zu schlafen in dieser Nacht.

*

Die neue Woche begann leider nicht so gut, wie die alte geendet hat­te. Was ich auch anstellte, es wollte sich kein neuer Puzzlestein finden. Und ganz so, als wüsste er dies, ließ sich auch Mr. X nicht blicken. Ich rechnete inzwischen ständig damit, von ihm angesprochen zu werden,

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wenn ich irgendwo unterwegs war. Wollte er es nicht riskieren, weil nun die Zeitungen voll waren mit Beschreibungen des Verdächtigen? Hollyfield und seine Leute ließen offensichtlich nichts unversucht und quetschten die Bewohner des Hauses in der Wabash aus wie reife Zit­ronen. Na ja, vielleicht doch eher wie unreife Zitronen. Denn was da­bei herauskam, war mehr als widersprüchlich. Jeder beschrieb einen völlig anderen Mann.

Und außer mir und natürlich ihm selber wusste niemand, dass dies perfekt auf Mr. X passte. Aber geholfen war mir damit nicht. Ich konn­te mich nur damit trösten, dass Hollyfield auch nicht weiter war als ich.

Um überhaupt was zu tun und damit ein bisschen Geld hereinkam, nahm ich einen Routineauftrag an. Ein Geschäftsmann aus New Orle­ans, der für einige Tage in Chicago zu tun hatte, fühlte sich bedroht und bat um Begleitschutz. Ich holte ihn jeden Morgen in seinem Hotel ab und blieb den ganzen Tag an seiner Seite. Nie fiel mir auf, dass ihm jemand gefolgt wäre - er war auch schlichtweg uninteressant, eine durch und durch graue, nichts sagende Figur, wie ich in einigen Ge­sprächen mit ihm erfuhr. Gut möglich, dass er einfach sein Selbstbe­wusstsein etwas aufpeppen wollte durch meinen Begleitschutz. Mir konnte es Recht sein, er zahlte immerhin gut dafür, dass ich sein Kin­dermädchen mimte.

Dann endlich gab Hollyfield die Leiche frei zur Bestattung. Die Fa­milie hatte dafür schon alles vorbereitet. Alle Zeitungen waren voll da­von, welche Feierlichkeiten zu erwarten wären. Drei Senatoren, na­türlich der Bürgermeister, ansonsten alles, was Rang und Namen hat­te, sollte bei der Zeremonie dabei sein.

Natürlich war das auch für mich ein Pflichttermin. Die Beerdigung war auf den Morgen festgesetzt, an dem mein Klient wieder nach New Orleans abreiste und er bestand darauf, dass ich ihn zuvor noch zum Bahnhof brachte. Ich verfrachtete ihn also in sein Abteil wie ein frisch gelegtes Ei ins Nest und wartete auf seine Bitte sogar noch, bis der Zug sich in Bewegung setzte.

Dann machte ich mich auf den Weg in jenes Viertel der Northside, in dem die oberen Zehntausend leben und bestattet werden. Ich hatte nicht vor, an der Zeremonie im der Kirche teilzunehmen, sondern

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steuerte sofort den Friedhof an. Er befand sich unweit des Gill Parks. Ansonsten ist das eine sehr ruhige Gegend, doch an diesem Vormittag war ich nicht der Einzige, der dorthin wollte. Klar, es ging ja darum, einem verdienten Bürger dieser Stadt die letzte Ehre zu erweisen. Und während zum Gottesdienst nur geladene Gäste zugelassen waren, konnte man den Friedhofsbesuch keinem verwehren. Es sah aus, als würden sich aus allen Richtungen Prozessionen dem Friedhof nähern und es waren überwiegend einfache Leute, die zu Fuß ankamen oder mit einem Bus. Vermutlich trauerten sie um ihren Chef.

Auch der Friedhof war schon schwarz vor Menschen. Ich arbeitete mich so weit nach vorn, dass ich einen Blick auf das im Moment noch leere Grab hatte, aber auch alles andere gut überschauen konnte. Eine kleine Anhöhe schien mir für meine Zwecke bestens geeignet. Einen Nachteil hatte dieser Platz vielleicht - man sah mich dort sehr gut. A­ber es sprach ja auch nichts dagegen, dass jeder mich sah. Hollyfield zum Beispiel entdeckte mich sofort und nickte mir grüßend zu. Natür­lich war auch er gekommen und nicht nur Quirrer begleitete ihn. Ich sah seine Leute überall herumwuseln.

Endlich setzte das kleine Orchester zum Trauermarsch an, die Mu­siker gingen dem Sarg voraus. Er wurde von sechs Männern getragen. Darauf folgte der Pfarrer, nach ihm die Familie Waltman. Die schwarz verschleierte Witwe ließ sich links und rechts je von einem Senator stützen.

Alles in allem war es wirklich ein eindrucksvolles Schauspiel. Etli­che Reden wurden am offenen Grab gehalten, nicht nur vom Pfarrer, von den Honoratioren der Stadt, vom ältesten Sohn der Familie, der nun die Nachfolge in der Firmenleitung antreten würde. Als Letzter trat ein Mann vor den teuren und mit erlesenen Blumen geschmückten Sarg. Man sah ihm an, wie schwer ihm das fiel. Er war ein Arbeiter, wie seine ersten Worte deutlich machten und er war es nicht gewöhnt, vor großem Publikum Reden zu halten. Aber auch wenn er verlegen war und sich ein paar Mal verhaspelte, machte er seine Sache alles in allem doch gut und rühmte den Verstorbenen als vorbildlichen Chef, der für alle Kümmernisse seiner Leute stets ein offenes Ohr gehabt habe.

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Als dann der Pfarrer ans offene Grab trat und mit der eigentlichen Beisetzung begann, ließ ich meine Blicke schweifen. Täuschte ich mich, oder stand bei einigen anderen Honoratioren ein Mann, den ich gele­gentlich schon in Begleitung vom ›Iceman‹ gesehen hatte? Von Salva­tore Carpese also, der rechten Hand von ›Il Cardinale‹, dem Boss der Makkaroni-Gang? Ganz sicher war ich mir nicht, der ›Iceman‹ änderte seine Begleitung recht häufig, immer abhängig davon, worum es ge­rade ging. Dieser Typ jedenfalls, der relativ nahe beim Bürgermeister stand, war als Trauergast bestens geeignet. Ein aschfahles, längliches Gesicht, das von tief eingekerbten vertikalen Falten immer noch mehr in die Länge gezogen zu werden schien. Für meine Vermutung sprach immerhin, dass auch Hollyfield und seine Leute diesem Trauergast ganz besondere Aufmerksamkeit zukommen ließen.

Ich ließ meine Blicke weiter wandern. Aber wen suchte ich über­haupt? Dass Mr. X hier auftauchen würde, in welcher Verkleidung auch immer, damit war mit ziemlicher Sicherheit nicht zu rechnen. Inzwi­schen musste sogar einer wie er befürchten, auch unter seinen ständig wechselnden Masken erkannt zu werden. Im Übrigen trieb es höchs­tens Mörder zur Beerdigung ihrer Opfer.

Mein Blick blieb endlich an einer Frau hängen, an der auf den ers­ten Blick nur eines auffällig war - nicht mehr ganz jung, aber eine Schönheit. Dunkles, sorgsam hochgestecktes Haar, ein fein gezeichne­tes Gesicht mit großen, tief liegenden Augen. Ihr Hut verriet ebenso wie ihr Mantel, dass sie alles andere als gut betucht war. Das an vielen Stellen glänzende Schwarz des Mantelstoffs verriet, wie abgetragen er war. Auch schlotterte er etwas zu weit an der schlanken Gestalt. Sie stand auffallend alleine, hielt sich sehr gerade und ihre Mimik wirkte wie versteinert. Sie sah keinen Menschen an und sie bewegte auch dann nicht die Lippen, als die meisten anderen in das Gebet des Pfar­rers einstimmten. Leben kam genau in dem Moment in ihre Versteine­rung, als man begann, den Sarg in das Grab hinab zu lassen. Ich beo­bachtete, wie ihre Mundwinkel zuckten und es sah nicht aus, als wolle sie damit ein Schluchzen zurückhalten. Nein, für einen kurzen Moment war es eindeutig Verachtung, was ihre Lippen zum Ausdruck brachten.

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Und genau dies ließ es mir geraten erscheinen, ihr zu folgen, als sie nun den Friedhof verließ. Ja, sie ging schon jetzt, während man doch am Grab erst begann, Erde auf den Sarg zu werfen und der Pfar­rer sein ›Asche zu Asche‹ murmelte. Ich musste mich anstrengen, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Denn bis zum Ausgang des Friedhofs standen die Menschen dicht gedrängt, viele weinten oder beteten. Auch viele Kinder waren dabei, Halbwüchsige. Ich gebe es zu, etwas seltsam fand ich es schon, dieses Übermaß an Trauer, ganz als ob jeder dieser Leute einen sehr nahen und über alles geliebten Angehöri­gen verloren hätte.

Ich konnte von Glück sagen, dass die Beerdigung noch in vollem Gang war. Denn so war die Straße vor dem Friedhof menschenleer, bis auf die Frau. Sie ging in raschen, sehr energischen Schritten und sie drehte sich kein einziges Mal um. Ich beschloss, ihr zu Fuß zu folgen, dann würde sich leichter eine Gelegenheit finden lassen, mit ihr in Kontakt zu kommen. Die Chance ergab sich schneller als erhofft. Denn sie betrat, kaum zwei Blöcke weiter, einen kleinen Teesalon. Er war mir bei der Herfahrt aufgefallen, weil er so einfach war, dass er eigent­lich nicht in die vornehme Gegend passte.

*

Nur zwei der sechs einfachen Holztische waren besetzt und an einem davon saß sie.

»Verzeihung, Madam«, ich nahm meinen Hut ab, »ist hier noch frei?«

Obwohl sie mich äußerst unwillig ansah, war sie auch jetzt schön, aus der Nähe eher noch mehr als von weitem. Vermutlich hatte sie die Vierzig schon überschritten und so war ihre Schönheit in dem Stadium, das man so gern mit dem einer Blüte ganz kurz vor dem Verwelken vergleicht.

Sie warf einen kühlen Blick erst auf die freien Tische, dann wieder auf mich. »Und wieso ausgerechnet hier?«

Ich hatte es selten erlebt, dass eine Stimme so gut zu einem Ge­sicht passte. Es war eine Altstimme, volltönend und sie klang eigen­

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tümlich weich trotz ihrer abweisenden Worte. Ich konnte mir gut vor­stellen, wie sie noch vor wenigen Jahren die Männer reihenweise ver­rückt gemacht hatte, allein schon mit dieser Stimme.

»Weil ich gern mit Ihnen reden würde«, erwiderte ich. Aber ich setzte mich noch nicht. Eine seltsame Autorität ging von ihr aus, wes­halb ich lieber, abwartete, bis sie mich dazu auffordern würde. »Ich war auch auf der Beerdigung. Ach ja, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.«

Ich murmelte einen auf die Schnelle erfundenen Allerweltsnamen und behauptete zusätzlich, für irgendein Käseblatt zu schreiben. »Wol­len Sie meinen Ausweis sehen?« Ich griff in die Tasche, in dem sich so ein Ausweis natürlich nicht befand. Dafür aber eine Fünf-Dollar-Note.

Geradezu angewidert schüttelte sie den Kopf und wies endlich auf einen Stuhl an ihrem Tisch. Arm, aber nicht bestechlich und ziemlich stolz, notierte ich im Stillen. Es war eine nicht eben häufige Kombinati­on.

Nun kam es darauf an, dass ich meine Rolle als Reporter halbwegs gut spielte und die richtigen Worte fand, überzeugende Fragen stellte. »Sie scheinen den Verstorbenen ganz gut gekannt zu haben?«, impro­visierte ich auf gut Glück darauf los. Ich fröstelte beinahe unter dem Blick aus ihren dunklen Augen, mit dem sie mich nun regelrecht auf­spießte.

»Natürlich«, sagte sie leise und seltsam sachlich. »Ihm verdanke ich schließlich alles.«

»Sie haben demnach für Mister Waltman gearbeitet?«, hakte ich nach.

Eine Kellnerin brachte ihr Tee und erkundigte sich nach meinen Wünschen. Etwas anders als Tee gab es hier garantiert nicht. »Dassel­be«, bestellte ich daher knapp. Es war sehr lange her, dass ich Tee getrunken hatte. Genau genommen, konnte ich mich daran überhaupt nicht mehr erinnern.

»Ja, zeitweise habe auch ich für ihn gearbeitet«, antwortete sie und verrührte Zucker in ihrem Tee. »Aber vor allem mein Mann. Bis er in Mister Waltmans Fabrik einen Arbeitsunfall erlitt. Er ist an den Fol­gen gestorben.« Auch jetzt blieb sie sachlich und kühl.

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»Oh«, entfuhr es mir, ein bisschen aus dem Konzept gebracht. »Dann werden Sie Waltman vermutlich nicht besonders gemocht ha­ben.« Es wäre auch, ergänzte ich im Stillen, eine Erklärung für dieses abschätzige Zucken um ihre Lippen vorhin auf dem Friedhof.

»Aber wie kommen Sie denn darauf?«, fragte sie und sah mich wieder mit diesem seltsamen Blick an, der mich diesmal verlegen machte. Dass mir so etwas widerfuhr, lag mindesten so weit zurück wie der Tee, den die Kellnerin jetzt vor mir auf dem Tisch absetzte. »Auch nach dem Tod meines Mannes hat Mr. Waltman meiner Familie und mir auf jede erdenkliche Weise geholfen. Und für den Unfall konn­te er schließlich nichts.« Sie sprach genau im selben Ton wie alle auf dem Friedhof und wie aller Welt kamen auch ihr nur lobende Worte über den Verstorbenen über die Lippen.

Über sehr schöne Lippen übrigens, voll und leicht geschwungen. Während ich ihr auf den Mund starrte, verlor ich vollends den Faden.

»Mr. Waltman war in allem ein Vorbild«, fuhr sie fort. »Dass es ausgerechnet ihn treffen musste, ist wirklich ein schwerer Verlust.« Ihr Gesicht wirkte nun wieder so starr wie auf dem Friedhof vorhin.

»Darf ich fragen, wie Sie heißen?« Es war verrückt, aber diese Frau verunsicherte mich.

Nach der Andeutung eines Lächelns nannte sie ihren Namen. »Gwendolyn Bank. Das dürfte für Sie nicht von Interesse sein. Und wenn Sie mich nun entschuldigen?« Sie stand auf und kramte dabei ei­nige Münzen aus ihrer Tasche.

»Aber ich hätte Sie doch eingeladen!«, wandte ich ein, sprang e­benfalls auf und überlegte fieberhaft, wie ich sie noch zum Bleiben bewegen könnte.

Aber da verließ Mrs. Bank den Teesalon bereits, sehr gerade und mit hoch erhobenem Kopf. Es ging ungeachtet der eher schäbigen Kleidung eindeutig etwas Majestätisches von ihr aus.

Einen Moment verharrte ich unschlüssig. Was nun? Meinen Tee hatte ich noch nicht angerührt und von Gwendolyn Bank nichts Nen­nenswertes erfahren. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass da et­was zu erfahren sein musste. Ich legte dieselbe Summe wie sie auf den Tisch, dann stürmte ich hinaus. Auch wenn ich noch nicht wusste,

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wozu das gut sein sollte, hatte ich vor, dieser Frau auf der Spur zu bleiben.

Also folgte ich ihr. Auch später, als die Gehwege wieder belebter wurden, war es relativ leicht, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Denn niemand hielt sich so gerade wie sie, niemand schritt so ener­gisch aus und ohne je nach links oder rechts zu schauen, irgendwo stehen zu bleiben. Bald stellte ich fest, dass sie ziemlich gut zu Fuß war. Wohin ging sie so zielstrebig? Etwa bis in die Loop oder gar noch weiter - zu Fuß?

Es sah ganz danach aus. Vermutlich wollte sie das Fahrgeld für den Bus sparen. Aber wohin führte sie mich? Allmählich begann ich schon, an meinem Entschluss zu zweifeln. Und später würde ich noch mal zum Friedhof müssen, um mein Auto zu holen. Das Ganze sah immer mehr nach einer gottverdammten Zeitverschwendung aus. Ir­gendwann war immerhin klar, wohin sie wollte. Offenbar war die Westseide ihr Ziel, ein typisches Arbeiterviertel mit weit verzweigten Industrieanlagen. Auch Cyrus D. Waltman ließ hier seine Automobile fertigen, beziehungsweise inzwischen sein Sohn. Aber war das eine Überraschung? Natürlich wohnte Mrs. Bank hier. Sie war die Witwe eines Arbeiters, verdiente sich vermutlich etwas hinzu, um ihre Familie durchzubringen. Denn allzu üppig fiel die Unterstützung von Waltman ja vermutlich nicht aus.

Ich trottete also nur noch hinter ihr her, weil ich einmal damit be­gonnen hatte. In den Auslagen der kleinen Geschäfte wurden haupt­sächlich Kartoffeln, Kohl und Mais angeboten, Delikatessen verlangte hier niemand. Die Straßen wurden schmaler und belebter, überall rannten Kinder herum. Und da plötzlich war Mrs. Bank wie vom Erdbo­den verschwunden. Aber wohin? Welches dieser einfachen Häuser hatte sie betreten?

Ich schickte eine kräftigen Fluch zum Himmel. Offenbar half das. Denn dann fielen mir plötzlich die jungen Frauen auf, die teils an den Hauswänden lehnten, teils langsam die Straße auf und ab schlender­ten. Sowohl ihr Gang wie ihre Aufmachung und die übertriebene Art, in der sie sich geschminkt hatten, ließen keinen Zweifel übrig. Das waren Straßenmädchen, dicke, dünne, blonde, braune. Nicht alle waren häss­

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lich. Weil sie um diese Zeit wohl noch nicht mit Kundschaft rechneten, genossen sie die Sonnenstrahlen, plauderten miteinander. Eine feilte sich mitten auf der Straße ihre Fingernägel.

Ich war so verblüfft, dass ich lachen musste. Dann aber schüttelte ich den Kopf. Was hatte eine Frau wie Gwendolyn Bank hier verloren?

»Na, Süßer, wie wär's mit uns beiden?« Eine Rothaarige löste sich von der Wand und kam mit wiegenden Schritten auf mich zu. Noch bevor ich irgendwie reagiert hatte, nannte sie schon ihren Preis und wies auf die Tür des Hauses hinter ihr. Sie war noch sehr jung - ich schätzte sie auf höchstens siebzehn.

»Eigentlich hab ich eher Durst«, erwiderte ich. »Hast du nicht 'ne Ahnung, wo man hier einen ordentlichen Schluck bekommt?«

Sie lachte und hängte sich bei mir ein. »Wenn du mich einlädst?« Ihre Zunge ging schwer und wo sie mir nun so nahe war, roch ich

auch den Fusel. Die Kleine war bereits betrunken, obwohl es gerade erst Mittag war.

»Klar bist du eingeladen«, erwiderte ich. »Auf ein Glas soll es mir nicht ankommen.«

Sie zog mich auf die andere Straßenseite und dort ging es dann ein paar Stufen hinunter. Garantiert hatte ich noch nie im Leben eine üblere Spelunke betreten. Der Boden war mit schmutzigem Sand be­streut und es gab kaum Mobiliar.

»Kannst Dolly zu mir sagen«, ließ mich die Rothaarige wissen und kletterte schon auf einen der wackligen Barhocker am Tresen. Sie schien hier Stammgast zu sein, denn sofort füllte der Typ hinterm Tre­sen uns zwei Gläser.

Auf seine Art war er durchaus sehenswert. Sein Gesicht sah aus, als hätte jemand daran schnitzen geübt. Und zwar jemand, der dafür absolut kein Talent hatte. Er war unglaublich dünn und überragte mich um mindestens zwei Köpfe. Allerdings passte eins seiner Beine nicht zu dieser Länge. Er knickte bei jedem Schritt um etwa einen halben Meter ein.

»Nett hier«, wandte ich mich an meine Begleiterin. »Findest du?« Sie sprach die Konsonanten so weich aus, dass sie

fast nicht zu hören waren. »Ich kann mir was Netteres vorstellen. Aber

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was willst du, in so einer Gegend...« Sie erstickte ihren Seufzer mit einem ersten, alles andere als zimperlichen Schluck.

Was sich in den Gläsern befand, gehörte zur Kategorie Rachen­putzer. Mir jedenfalls nahm ein erster Schluck den Atem. Und wie schmierig das Glas war! Ich hoffte, der Inhalt würde wenigstens eine gewisse desinfizierende Wirkung entfalten. Es war in jedem Fall Zeit, dass ich zur Sache kam. Allzu lang wollte ich hier nicht bleiben.

»Eigentlich wollte ich hier jemanden besuchen«, begann ich. »A­ber ich weiß nicht, wo die Frau wohnt.«

Dolly kicherte. »Dann frag mich halt, Süßer! Ich kenn hier jedes Mädchen. Aber ich sag dir gleich, ich bin besser als die meisten. Und wenn du ein Stündchen Zeit hast, zeige ich dir, was ich meine.«

»Ein anderes Mal vielleicht«, wiegelte ich ab. »Die Frau, die ich suche, ist ja auch gar kein Mädchen mehr.«

Wieder kicherte Dolly in sich hinein. Es war unglaublich, wie rasch sie das Glas leerte. »Weißt du denn wenigstens, wie sie heißt? Oder wie sie aussieht? Beschreib sie mir.« Weil ihr Glas jetzt leer war, klopf­te sie mit den Fingernägeln daran, denen Reste von Nagellack ein gro­teskes Aussehen verliehen.

»Ist ja schon gut.« Mit einem Nicken signalisierte ich dem Ge­schnitzten hinter dem Tresen, ihr Glas noch einmal zu füllen. »Die Frau heißt Bank. Gwendolyn Bank. Kennst du sie zufällig?«

Ein seltsame Wandlung ging mit Dolly vor. Sie bemühte sich, et­was gerader zu sitzen, auch kicherte sie nicht mehr und etwas uner­wartet Kindliches trat in ihre Augen. Sie wirkte jetzt beinahe nüchtern. »Gwendolyn ist doch kein Mädchen!« Sie sah mich vorwurfsvoll an.

»Nein, das hab ich doch gesagt. Du kennst sie also?« »Jeder hier kennt Mrs. Bank«, ließ sie mich etwas herablassend

wissen. »Die ist nämlich etwas ganz Besonderes.« Sie sprach direkt ehrfürchtig. Dann seufzte sie und ihre Augen verengten sich zu Schlit­zen. Dann griff sie nach dem frisch gefüllten Glas und beim ersten Schluck verlor sie ihr bisschen Haltung schon wieder. Sie lallte nun noch mehr als zuvor. »Lass bloß die Finger von ihr, hörst du? Die ist nämlich zu gut für dich. Zu gut für alle! Das hat selbst der ehrenwerte Mister Cyrus D. Waltman begreifen müssen.«

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Der nächste Schluck war eindeutig zu viel für Dolly. Ihr Kopf fiel vornüber auf den Tresen und schlug dort ziemlich hart auf. Aber nicht einmal dadurch kam sie zu sich. Ich hörte sie schnarchen.

Das nahm ich als Signal, um nun schleunigst zu zahlen. Aus der Art, wie der Geschnitzte das Geld rasch an sich nahm, schloss ich, dass ich zuviel hingelegt hatte. Aber das war mir jetzt egal. Nur raus hier!

Die Luft draußen war gar nicht sonderlich gut, man roch allerlei, was in den Fabriken ringsum aus den Schornsteinen kam. Dennoch er­schien sie mir nach der stickigen Kneipe richtig gut. Ich atmete ein paar Mal tief durch. Die Mädchen waren noch immer da, erwartungs­voll grinsten sie mich an. Ein Taxi, dachte ich, weil mir jetzt einfiel, dass ich dank der Marotte meines Geschäftsmanns aus New Orleans ja beinahe reich war.

Aber ein Taxi war hier natürlich nicht zu kriegen. Ich musste erst einmal aus diesem Viertel raus.

*

Als ich endlich ins Büro kam, war Betty natürlich schon gegangen. Sie hatte mir eine Notiz hinterlassen. »Hollyfield bittet um Rückruf!«

Ich konnte nicht sehen, dass es damit besondere Eile hatte. Mir steckte noch immer die Bekanntschaft mit Dolly in den Knochen. Denn immerhin, sie war die Einzige, die in diesen Tagen nicht gut von Walt­man gesprochen hatte.

»Und sie hat ihn mit Mistress Bank in Verbindung gebracht«, murmelte ich.

Wobei das natürlich nicht viel zu bedeuten hatte, Gwendolyn selbst hatte ja ganz freimütig von dieser Beziehung erzählt. Und was war schon auf das betrunkene Geschwätz einer Prostituierten zu ge­ben!

Aber seltsam fand ich es doch, dass ich Mrs. Banks ausgerechnet in jener Straße aus den Augen verloren hatte, die mit Fug und Recht als Strich zu bezeichnen war. Wie passte sie dorthin? Was hatte sie dort zu tun?

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War sie vielleicht Puffmutter? Der Gedanke kam mir, als das Tele­fon klingelte. Hollyfield meldete sich.

»Endlich, Connor!«, bellte er in den Hörer. »Hat Ihre Sekretärin Ihnen nicht gesagt, dass ich...«

»Doch, hat sie«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich bin eben erst zurück­gekommen. Sehr eindrucksvolle Beerdigung, nicht wahr? Das war für Ihre Leute bestimmt ein netter Betriebsausflug.«

»Gehen Sie mir nicht auf die Nerven mit Ihren Witzen!« Hollyfield hatte sonst mehr Humor. Vermutlich stand er ziemlich unter Druck. »Ich wüsste gern, was Sie auf dem Friedhof verloren hatten. Und kommen Sie mir jetzt nicht wieder mit dem Zufall.«

»Na, aus Zufall waren da garantiert nicht so viele Leute«, erwider­te ich und konnte mir vorstellen, dass Hollyfield kurz vorm Platzen war.

»Was haben Sie dort gewollt?« Seine Stimme war gefährlich leise. »Connor, Ihnen ist doch klar, was für Dimensionen dieses Verbrechen hat? Sie gehen mir zwar gelegentlich auf die Nerven. Aber ich fände es doch schade, wenn Ihnen etwas Ernstliches zustoßen sollte. Und das könnte leicht passieren. Dann zum Beispiel, wenn Sie etwas wissen, das...«

Ich lachte. »Na hören Sie, wollen Sie mir drohen?« »Nicht ich, Sie Schafskopf!«, fauchte er. »Das ist eine ganz heiße

Kiste, kapieren Sie das doch endlich. Und deshalb sollten Sie mir sa­gen, was Sie wissen. Es ist in Ihrem eigenen Interesse, das schwöre ich Ihnen. Oder haben Sie wirklich nicht bemerkt, dass es auf dem Fredhof nur so gewimmelt hat vor gewissen Leuten?«

Druck war wohl doch ein zu schwaches Wort für das, was der gute Hollyfield durchmachte. Er tat mir fast leid. Aber was hätte ich ihm sa­gen können? Und wieso eigentlich? Er verriet mir ja auch nichts. Au­ßer, dass er nicht weiter wusste. Womit er so ziemlich in derselben Situation war wie ich. Aber wozu sollte ich ihm das auf die Nase bin­den?

»Ich weiß wirklich nichts, was mit Ihrer berühmten Leiche zu tun hat.« Ich schlug einen vergleichsweise liebenswürdigen Ton an. »Aber sobald sich das ändern sollte, sind Sie selbstverständlich der Erste, der davon erfährt.«

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Hollyfield war anscheinend nicht in der Lage, meine Freundlichkeit zu goutieren. Ich hörte noch etwas, das keineswegs höflich klang, dann war die Verbindung unterbrochen. Ich war ihm deswegen nicht böse. Mein Magen knurrte laut und vernehmlich und so beschloss ich, Brendon anzurufen. Er war da und er hatte ebenfalls Hunger. Wir ver­abredeten uns am üblichen Ort.

Als ich das Büro verließ und zu meinem Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Haus ging, rechnete ich wieder einmal damit, Mr. X werde irgendwo vor mir aus dem Boden wachsen. Das tat er aber nicht, ob­wohl ich mir absichtlich Zeit ließ mit dem Einsteigen.

Dann fuhr ich los und begriff - ich hatte ein zweites Rätsel zu lö­sen. Nicht nur die Identität von Mr. X war ungelöst, sondern auch die von Mrs. Bank. Zwei Rätsel, eine Lösung? Manchmal war das schon so gewesen.

Aber in diesem Fall schien ich das doch ausschließen zu müssen. Denn dass es zwischen diesen beiden eine Verbindung geben könnte, erschien mir so unvorstellbar wie ein sprudelnder Bergbach in der Wüste.

Wobei das mit der Wüste ein ganz gutes Stichwort war. Ich hatte fast noch mehr Durst als Hunger. Kein Wunder, nach dem schreckli­chen Gesöff vorhin. Als ich Henry's Steak Diner betrat, war Brendon schon da. Auch Getränke hatte er schon bestellt, als hätte er geahnt, wie nötig ich es hatte.

»Setz dich, alter Junge!«, begrüßte er mich überschwänglich. Brendon war eigentlich immer ein lebenslustiger Typ, aber so gut

gelaunt hatte ich ihn lange nicht erlebt. Auf den Grund dafür musste ich nicht lange warten.

»Auch wenn es für uns alle, für die Stadt und das ganze Land na­türlich ein schrecklicher Verlust ist«, er hob seine unverdächtig mit Schnaps gefüllte Kaffeetasse und grinste mich verschmitzt an, »für mich ist Waltmans Tod irgendwie doch ein Geschenk des Himmels!« Er lachte dröhnend. »Oder genauer gesagt diese Nachrichtensperre. Weißt du, was das heißt? Endlich richtig viel Platz für Sportnachrich­ten!« Er prostete mir zu. »Wobei es mir für die Kollegen natürlich Leid tut.« Er sah nicht aus, als sei das wörtlich zu nehmen. »Stell dir nur

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vor, nicht mal zum Leichenbegängnis sind die zugelassen. Die Walt­mans sind einfach zu fein. Und wollen mit der Presse derzeit nichts zu tun haben. Dabei begießen sie Cyrus D. Waltmans Ableben bei einer der besten Adressen der Stadt.«

»Wo?« Ich fragte eigentlich nur automatisch. »Eigentlich darf nicht einmal das bekannt sein.« Brendon schüttel­

te sich vor Lachen. »Aber unsere Jungs haben es natürlich rausge­kriegt. Auch wenn es ihnen jetzt nichts nützt. Im ›Maillard's‹ hat natür­lich nicht jeder Zutritt.«

»Und wann?« Diesmal fragte ich schon mit einem vagen Grund im Hinterkopf.

»Um acht Uhr soll's losgehen. Und wetten, da fließt der Champag­ner in Strömen?« Brendon lachte schon wieder. »Na, mich stört das nicht. Mir ist so ein guter ehrlicher Schluck sowieso lieber.« Er prostete mir noch einmal zu.

Dann bestellten wir unser Essen. Ich war fest entschlossen, am Abend beim ›Maillard's‹ an der Michigan Ecke Jackson Boulevard vor­beizuschauen. Deshalb störte es mich auch nicht, dass Brendon nach dem Essen gleich wieder in die Redaktion zurück wollte, um wer weiß wie viele Seiten mit Sportnachrichten zu füllen. Ich hatte nämlich auch zu tun. Mir musste etwas einfallen, wie ich mir zu dieser Nobelgesell­schaft Zutritt verschaffen konnte. Und vorher vielleicht auch noch den Anzug wechseln. Vielleicht befand sich in meinem Schrank ja doch einer, der halbwegs vorzeigbar war?

»Du bist heute so schweigsam«, fiel es Brendon auf, als wir uns verabschiedeten. »Du hast doch nicht etwa Probleme?«

Ich beruhigte ihn. »Wenn, dann weiß ich auf jeden Fall nichts da­von.«

Wir verabschiedeten uns mit einem Grinsen.

*

In meinem besten Anzug, einem blütenweißen Hemd und einer dezent gemusterten Krawatte machte ich mich am Abend auf dem Weg zum ›Maillard's‹. Sogar meine Schuhe waren frisch geputzt. Um in den E­

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delschuppen rein zu kommen, setzte ich nach einigem Nachdenken inzwischen auf die Methode ›Frechheit siegt‹. Hatte Brendon nicht erwähnt, die Familie Waltman habe nicht bekannt gegeben, an wel­chem Ort des teuren Verblichenen mit einem Dinner gedacht werden sollte? Ich hatte es überprüft, in keiner Zeitung wurde der Namen des Luxusrestaurants genannt. Die meisten Spekulationen unterstellten, die Feier finde vermutlich in der Villa der Waltmans statt.

Wenn ich dort also einfach aufkreuzte und ganz selbstverständlich so tat, als gehöre ich dazu, bestand eine realistische Chance. Meinen Plymouth parkte ich einige Blocks entfernt. Mit dem bejahrten Modell wäre mein Auftritt nicht glaubwürdig ausgefallen. Und natürlich saß jemand, der zum illustren Kreis der engsten Freunde der Waltmans gehörte, auch nicht selbst am Steuer, sondern beschäftigte einen Chauffeur. Viertel nach acht war ich da. Genau, wie ich erwartet hatte, trafen zu diesem Zeitpunkt die meisten Gäste ein. Jede Menge dunkel schimmernder Limousinen spuckten vor dem Restauranteingang ihre äußerst elegant gekleidete und mit teurem Schmuck behangene Fracht aus. Ununterbrochen öffnete der Doorman die Tür zum Restaurant, schloss sie wieder, hielt sie für die nächsten auf. Es war eine seltsam bizarre Szenerie. Ich richtete es so ein, dass ich gleichzeitig mit zwei älteren Herren am Eingang eintraf. Der Doorman musste davon aus­gehen, dass ich zu ihnen gehörte. Gleich darauf war ich drin, es war wirklich ein Kinderspiel.

Trotz der vielen Kristalllüster an der Decke herrschte ein eher schummriges Licht. Der große Raum war kreisrund, die verspiegelten Wände vervielfachten die sorgfältig gedeckten Tische ebenso wie die Gäste. Die meisten hatten noch nicht Platz genommen, sondern stan­den grüppchenweise beieinander und unterhielten sich gedämpft. Eine ganze Heerschar von Kellnern sorgte dafür, dass niemand verdurstete. Auch ich hielt bald ein Champagnerglas in der Hand. Nun kam es dar­auf an, dass ich mich immer wieder einer anderen Gruppe anschloss, ein paar nichts sagende Floskeln von mir gab und ansonsten meine Ohren spitzte.

Denn eine Frage beschäftigte mich. Wie konnte es geschehen, dass ein Mann wie Cyrus D. Waltman mindestens vierundzwanzig

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Stunden lang in einer heruntergekommenen Wohnung als Leiche he­rumlag, ohne dass ihn jemand vermisst hatte? So ein Mann hatte doch garantiert jede Menge Termine, einen ausgeklügelt geplanten Tages­ablauf. Und man hatte Waltmans Leiche ja nicht nach langem Suchen entdeckt, sondern weil Mr. X in seiner Panik die Wohnung verlassen hatte, ohne die Tür zuzumachen. Also ein Zufallsfund. Um hierauf eine Antwort zu finden, war ich hierher gekommen.

Mit jedem Glas Champagner, das geleert wurde, wuchs der Ge­räuschpegel im Raum. Ich achtete darauf, den engsten Familienange­hörigen nicht zu nahe zu kommen. Die hätten mir womöglich Fragen gestellt und herausgefunden, dass ich nicht dazu gehörte. In den meisten Gesprächen ging es um geschäftliche Angelegenheiten und um die Frage, ob Waltman junior den so plötzlich über ihn hereinge­brochenen Verpflichtungen auch gewachsen sei. Das war nichts, was mich interessierte. Ich überlegte mir gerade, dass ich mich wohl doch mit mehr als nur ein paar Floskeln ins Gespräch bringen musste, um das Thema aufzubringen, wie wohl der letzte Tag des allseits ge­schätzten Cyrus verlaufen sei. Da sah ich jemanden, den ich hier ga­rantiert nicht erwartet hätte.

Gwendolyn Bank sah in dem dunklen, auf Figur gearbeiteten Kos­tüm einfach umwerfend aus. Ziemlich fassungslos starrte ich sie an, das musste ihr irgendwann auffallen. Doch sie zuckte nicht mit der Wimper, als sie mich endlich bemerkte. Erkannte sie mich wirklich nicht? Oder tat sie nur so? Hatte sie sich hier eingeschmuggelt, so ähnlich wie ich? Oder zählte sie zu den geladenen Gästen?

Sobald ich mich halbwegs von meiner Überraschung erholt hatte, sprach ich einen noch ziemlich jungen Typ an, der mit blasierter Miene ganz in meiner Nähe stand. Gut möglich, dass es ein entfernter Ver­wandter Waltmans war, ich glaubte, in der markanten Nase eine ge­wisse Ähnlichkeit zu erkennen. Zur engeren Familie jedenfalls gehörte er nicht, da war ich mir sicher.

»Manche Frauen werden erst in einem gewissen Alter richtig schön.« Mit dem Kopf wies ich auf Gwendolyn Bank, die sich ein paar Meter entfernt angeregt mit einem älteren Mann unterhielt.

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»Cyrus verstand sich auf Frauen«, erwiderte er und grinste. Ich hatte offenbar den richtigen Ton angeschlagen. »Auch bei der Arbeit hatte er gern schöne Frauen um sich«, fuhr das Jüngelchen fort, of­fenbar stolz auf seine Kenntnisse.

»Von so einer Frau würde ich mir auch gern den Kaffee bringen lassen«, bemerkte ich und hoffte, ihm dadurch vielleicht noch Genaue­res über die Art ihrer Arbeit für Waltman zu entlocken.

»Das gehörte garantiert nicht zu den Aufgaben einer Privatsekre­tärin.« Das Jüngelchen wieherte leise und bedachte mich mit einem viel sagenden Blick.

Jemand, der hinter mir stand, gab ihm dann wohl ein Zeichen. Er nickte jedenfalls, murmelte eine vage Entschuldigung und ging.

Mir war das nur Recht, mehr hätte ich von dem Angeber sowieso nicht erfahren. Die schöne Gwendolyn Bank war also Waltmans Privat­sekretärin gewesen. Wenn das keine Überraschung war! Ich grübelte, was darunter wohl zu verstehen sei. Auf jeden Fall eines - sie musste Waltman gut gekannt haben.

Der Geräuschpegel war jetzt so laut wie bei jeder anderen Dinner­party. Die ersten setzten sich an die Tische und ich überlegte mir, wo für mich der günstigste Platz sei. Ziemlich überflüssige Gedanken, wie sich gleich darauf herausstellte. Denn plötzlich rückten mir zwei Män­ner unhöflich dicht auf den Leib, von links der eine, von rechts der andere. Die Art, wie sie ihre Pranken um meine Oberarme legten, er­innerte an die Sensibilität eines Schraubstocks.

»Für dich ist die Party hiermit beendet«, zischelte es von links. »Mach möglichst wenig Aufsehen, das ist garantiert auch in dei­

nem Interesse«, schnaubte es in mein rechtes Ohr. Dann tasteten mich beide an der Stelle ab, an der sich auch heute

meine Smith & Wesson nicht befand. Es war insofern nicht von Belang, als sie mir in diesem Moment auch nichts genützt hätte.

Die beiden Typen waren von einer Farblosigkeit, dass es fast schon wieder interessant war. Ich konnte mich nicht erinnern, sie je­mals gesehen zu haben. Sie führten mich aus dem Raum hinaus, dann eine steile Treppe hinunter, die kein Ende zu nehmen schien. Endlich

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gelangten wir in eine Art Keller, Heizungsrohre säumten einen endlos langen, matt erleuchteten Flur.

»Durch den Haupteingang war ich schneller raus gekommen«, er­laubte ich mir eine Bemerkung.

Die Schraubstöcke an meinen Armen zogen sich noch etwas enger zu. »Sei froh, wenn du hier überhaupt irgendwie raus kommst!«, raunzte der Typ zu meiner Linken.

Immer wieder verzweigte sich der Flur, wir bogen mal links ab, dann wieder rechts. Es war unmöglich, in diesem verwinkelten unterir­dischen System die Orientierung zu behalten. Ich schätzte jedenfalls, dass über uns längst ein anderes Gebäude sein musste als jenes, in dem sich das ›Maillard's‹ befand. Was hatten die Jungs mit mir vor?

Hollyfields Warnung kam mir in den Sinn, aber das half jetzt auch nichts mehr. Sie rissen mich noch einmal rechts herum, dann versperr­te uns eine rostige Metalltür den Weg. Der Typ links ließ mich los und begann, in einem bestimmten Rhythmus gegen die Tür zu trommeln. Gleichzeitig bohrte mir der zu meiner Rechten etwas in den Rücken, was ziemlich leicht zu identifizieren war. Ich tippte auf ein eher kleines Kaliber.

Endlich wurde die Tür einen Spalt geöffnet, der Typ flüsterte et­was, das ich nicht verstand, zu jemandem, den ich nicht sah. Dafür hörte ich ihn gleich darauf.

»Seid ihr wahnsinnig? Ausgerechnet jetzt? Wir haben hier Wichti­geres zu tun!«

Offenbar war ich jenseits dieser Tür auch nicht willkommen. Ich verzichtete darauf, meinen Hinweis auf den Hauptausgang zu wieder­holen. Ich merkte jetzt, dass ein kühler Luftzug durch den Türspalt wehte - offenbar führte diese Tür ins Freie. Als ich meine Ohren spitz­te, vernahm ich auch Straßengeräusche. Die Verhandlungen über mich wurden jetzt von beiden Seiten nur noch flüsternd geführt.

»Also gut!«, sagte der hinter der Tür nach einer Weile laut. »Soll er eben zusehen, wie er da rauskommt.«

Kurz darauf wurde die Tür auch schon aufgerissen. Ein greller Lichtstrahl war auf mich gerichtet, so dass ich annähernd blind war. Aber der Rest meiner Sinne funktionierte. Ich verspürte einen

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schmerzhaften Tritt, der mir immerhin genügend Schwung verlieh, um eine steile Treppe hinaufzustolpern, immer auf dieses blendende Licht zu. Die eiserne Tür fiel mit einem dumpfen Knall wieder zu.

Aber anscheinend nahm ich mich zu wichtig, das grelle Licht galt gar nicht mir. Es erleuchtete eine Art Hinterhof, auf dem mehrere Schrottwagen herumstanden. Einer davon wurde mir zur rettenden Insel, als gleich darauf eine Kugel durch die Luft pfiff, sehr viel näher an mir vorbei, als mir lieb sein konnte. Natürlich blieb es nicht die letz­te Kugel, ein lebhaftes Pingpongspiel begann.

Der ganze Aufwand galt wirklich nicht mir. An das verbeulte Metall eines uralten Packards gepresst, erkannte ich den Mann, dem auf dem Friedhof die Aufmerksamkeit von Hollyfield und seinen Leuten gegol­ten hatte. Mein Verdacht war ganz richtig gewesen, er musste einer der Leute des ›Iceman‹ sein. Ich schloss es daraus, dass ich denjeni­gen, der seine Kugeln mit Gleichem vergalt, eindeutig als Mitarbeiter von Kirk Melcalve identifizierte, der rechten Hand von ›The Jar‹. Und mit wem konnten sich die Leute vom Boss des irischen Syndikats solch ein lautstarkes, bleischweres Spielchen liefern, wenn nicht mit denen des italienischen Syndikats? Die beiden waren so intensiv miteinander beschäftigt, dass sie mich vermutlich gar nicht bemerkten.

Doch was hatte ich davon, dass ich gar nicht gemeint war? Leider befand ich mich mitten drin. Wenn es hier um eine Tennismatch ge­gangen wäre, hätte ich ziemlich exakt das Netz markiert. Schon wieder prallte eine Kugel an dem rostigen Packard ab. Ich muss diese schieß­wütigen Knaben ablenken, überlegte ich. Aber so, dass ihre Aufmerk­samkeit nicht auf mich fällt. Ich tastete über das rissige Blech, auf der Suche nach einem nicht allzu kleinen losen Stück. Wenn es mir gelin­gen würde, es gegen ein etwas weiter entfernt stehendes Autowrack zu schleudern und wenn ich dann gleichzeitig zur Hauswand rannte, es an ihr entlang bis zur Straße schaffte, während die beiden die Störung an anderer Stelle vermuteten - eine gewisse Chance hatte ich.

Vielleicht war es ganz gut, dass ich das nicht überprüfen musste. Denn der von der irischen Seite landete einen Volltreffer. Als der Typ mit dem länglich gefurchten Gesicht zusammenbrach, lösten sich noch ein paar Schüsse aus seiner Waffe. Der Ire rannte da schon davon und

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mit ihm noch ein paar Männer, die ich bislang gar nicht bemerkt hatte. Auch um den schwer getroffenen Zuarbeiter des ›Iceman‹ scharten sich etliche Getreue. Aber nur so lang, bis die Sirenen der Polizei auf­heulten.

Da beeilte auch ich mich, möglichst rasch wegzukommen. Es war nicht nötig, Hollyfield schon wieder einmal rätseln zu lassen, weshalb ich hier war. Als ich auf die Straße trat, sah ich, dass ich etliche Blocks und zwei Parallelstraßen vom ›Maillard's‹ entfernt war. Auf dem Weg zu meinem Plymouth blieb mir also genug Zeit zum Nachdenken.

Wieder einmal hatte ich nichts als Fragen. Konnte es wirklich sein, dass ein Ehrenmann wie Cyrus D. Waltmann sich mit einem der beiden Syndikate eingelassen hatte? Wenn ja, mit welchem? Oder war er von ihnen nur benützt worden und hatte gar nicht geahnt, dass der eine oder andere seiner Mitarbeiter in Wahrheit einen ganz anderen Chef hatte?

Und dann Gwendolyn Bank. Wieso lebte sie in jener ärmlichen Straße auf der West-Side, wenn sie Waltmans Privatsekretärin gewe­sen war? Weshalb erschien sie auf der Beerdigung ihres Chefs als ärm­lich gekleidete Frau und markierte auf der zu seinen Ehren veranstalte­ten Dinnerparty die elegante Lady? Wer war diese Frau?

Als ich mir diese Frage stellte, drängte sich mir fast automatisch die Verbindung zu Mr. X auf. Zwar legte es die schöne Gwendolyn kein bisschen darauf an, in ihrer jeweiligen Verkleidung nicht erkannt zu werden. Aber wie Mr. X führte sie mehr als nur ein Leben. Warum?

Ich sagte mir, dass ich vielleicht doch etwas zu spitzfindig war, was Mrs. Bank betraf. Gut möglich, dass alles vollkommen harmlos war. Sie hatte ihren Mann verloren, durch einen Arbeitsunfall in Walt­mans Fabrik. Sie hatte mir erzählt, wie großzügig der Industrielle ihr unter die Arne gegriffen habe. Wieso nicht dadurch, dass er ihr unter der vorgeblichen Beschäftigung als Sekretärin regelmäßig Geld zu­kommen ließ? Denkbar war auch, dass die stolze Gwendolyn tatsäch­lich darauf bestand, für diese Zuwendungen zu arbeiten. Und machte es sich nicht gut, wenn die Witwe eines einstigen Arbeiters von Walt­man zu so einer Feier eingeladen wurde? Setzte sich nicht aus genau solchen Gesten Waltmans fabelhafter Ruf zusammen?

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Ich beschloss, mit meinen Überlegungen sehr vorsichtig zu sein, so weit sie Mrs. Banks betrafen. Außerdem war es nun höchste Zeit für einen kräftigen Schluck. Der Champagner hatte nur für ein flüchtiges Kitzeln in meinem Magen gesorgt. Als ich in meinen Plymouth stieg, um in eine Bar zu fahren, heulten noch immer die Polizeisirenen. An­scheinend hatte Hollyfield alles mobilisiert, was zwei Beine oder vier Räder hatte.

*

Hell, klar und sonnig begrüßte mich der nächste Morgen. Ich erwachte mit einem Scheuerlappen im Mund, der sich erst nach der zweiten Tasse Kaffee wieder wie meine Zunge anfühlte. Die Schlagzeile der Zeitung, die ich mir dann wie üblich kaufte, war für mich schon sehr kalter Kaffee. Nur, dass ich nun noch den Namen des Zuarbeiters vom ›Iceman‹ erfuhr. Doch was tat der noch zur Sache? Der Mann war tot, ›von Kugeln durchsiebt‹, wie das die Reporter so gern formulierten. Hollyfield wurde in dem Artikel zitiert, er bestätigte, was jeder sich denken konnte: die beiden Syndikate waren sich ins Gehege gekom­men, zumindest auf den unteren Ebenen. Gründe dafür nannte der Polizeichef nicht, vermutlich kannte er keine.

Die öffentliche Schießerei hatte zur Folge, dass für Meldungen ü­ber den Fall Waltman erst auf den hinteren Seiten Platz war. Neues enthielten sie aber nicht. Ich fuhr ins Büro, um Betty in paar Instrukti­onen zu geben. Dann wollte ich noch mal auf die West-Side. Denn die meisten Fragezeichen hatte bei meiner Bilanz am Abend zuvor Gwen­dolyn Bank erhalten. Also verdiente sie meine Aufmerksamkeit im Mo­ment am meisten.

Bevor ich das Sandsteingebäude Ecke South Franklin/Monroe Street betrat, ließ ich mir Zeit. Vielleicht verspürte mein Auftraggeber ja wieder einmal das Verlangen, mit mir in Kontakt zu treten? Aber Mr. X ließ sich auch an diesem Tag nicht blicken.

Immerhin, Betty war schon im Büro. Als ich eintrat, wandte sie mir ihre Rückseite zu, in gebückter und leicht verdrehter Haltung brachte

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sie die Nähte ihrer Strümpfe auf Linie. »Morgen, Chef!« Sie hielt es nicht nötig, für diesen Gruß ihre Haltung zu ändern.

Ich warf meinen Hut auf den Schreibtisch, den Mantel wollte ich gar nicht erst ausziehen. Während ich mir eine Lucky ansteckte, hoffte ich, dass Betty bald ansprechbar sei. Sie ließ sich auch nicht dadurch aus der Ruhe bringen, dass jetzt das Telefon klingelte. Also griff ich zum Hörer. Sobald sich Hollyfield meldete, setzte ich mich. »Was ver­schafft mir die Ehre?«

Er lachte, anscheinend war er heute entspannter als neulich. »Sie werden ja wohl schon Zeitung gelesen haben. Oder irre ich mich da?«

»Tun Sie nicht. Hab schon gelesen, dass Sie zu spät gekommen sind.« Den kleinen Seitenhieb konnte ich mir nun doch nicht verknei­fen.

Aber Hollyfields gute Laune war durch nichts zu erschüttern. Er lachte schon wieder. »Kann mir doch nur Recht sein, wenn die Kerle ich gegenseitig abknallen. Das erspart uns viel Arbeit. Übrigens...« Er senkte die Stimme und legte eine Pause ein. »Man hat wohl wirklich versucht, einen vom Syndikat bei Waltman einzuschleusen. Das lief über die Gewerkschaft. Aber Waltman selbst wusste nichts davon.«

Das also erklärte Hollyfields gute Stimmung. Sein Glaube an das Gute hatte kurz gewackelt, war aber noch einmal davongekommen. Doch was wusste er wirklich? Ich beschloss, ein bisschen auf den Busch zu klopfen. »Und wieso haben Sie ihn dann in diesem blutver­krusteten Jackett aufgefunden?«

»Wir vermuten inzwischen, dass er etwas bemerkt hat«, erwiderte Hollyfield. »Anstatt sich damit vertrauensvoll an mich zu wenden, ist er selbst aktiv geworden. Mutig, aber naiv. Auf jeden Fall ein Ehren­mann.« Er atmete hörbar ein und aus.

»Dann wissen Sie auch schon, wer es war?«, bohrte ich noch ein bisschen weiter. Wenn Hollyfield schon mal so redselig war, wollte ich das auch nützen.

»Habe ich Ihnen nicht schon genug erzählt?« Sein Lachen klang nun etwas knurrig und ich begriff - die Fragestunde war vorbei. »Ich finde, das ist eine Gegenleistung wert. Wieso waren Sie gestern Abend im ›Maillard's‹?«

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Dass Hollyfield dort ein paar seiner Leute postiert hatte, hätte ich mir eigentlich denken können. Ich verlegte mich dennoch aufs Leug­nen, zumal ich herauskriegen wollte, wie viel er sonst noch wusste. Hatte er etwa von meinem vorzeitigen und doppelt eskortierten Auf­bruch gehört? »Im ›Maillard's‹? Wo denken Sie hin.« Diesmal lachte ich. »Viel zu teuer für mich. Außerdem mache ich mir gar nicht so viel aus Champagner.«

»Connor, was soll der Quatsch?« Er war jetzt wieder gereizt wie so oft. »Meine Leute haben Sie doch eindeutig erkannt. Wenn Sie es anscheinend auch nicht lang dort ausgehalten haben...«

Er wusste nichts!, wurde mir in diesem Moment klar. Auch nicht, über welche unterirdischen Wege ich mitten in diese Schießerei hinein geraten war. Geriet damit nicht auch seine hoffnungsvolle Theorie über Waltmans Ahnungslosigkeit ins Wanken? Denn mehr als eine Theorie war das bestimmt nicht, vielleicht ein Köder, womit er mich hatte aus der Reserve locken wollen.

»Ich hab immer deutlicher das Gefühl, Connor, dass es da einige Dinge gibt, die Sie mir erzählen sollten.« Ich merkte ihm an, wie viel Mühe es ihn kostete, diesen jovialen Ton durchzuhalten. So beschloss ich, ihm behilflich zu sein. »Komisch«, murmelte ich und schüttelte den Telefonhörer. »Irgendwie ist die Verbindung gestört. Captain Holly­field? Hören Sie mich? Mist... ich Sie jedenfalls nicht mehr.«

Bevor ich den Hörer dann auflegte, hörte ich Hollyfield herzhaft fluchen.

Betty saß mittlerweile an ihrem Schreibtisch und grinste mich an. »Und wenn er wieder anruft?«

»Dann bin ich nicht mehr da«, knurrte ich. Dann gab ich Betty so viele Anweisungen, dass sie ihre Zeit im Bü­

ro halbwegs sinnvoll verbringen konnte und wollte gehen. »Moment noch, Chef!« Betty angelte nach ihrer Handtasche. »Be­

vor ich das noch vergesse...« Sie legte fünfundvierzig Dollar und ein paar Münzen auf den Tisch. »Mr. X lässt Sie auch schön grüßen.«

»Das hat er Ihnen gegeben? Wo?«

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»Nur 'n paar Blocks von hier. Der Arme wirkte schrecklich ner­vös.« Sie seufzte. Dann grinste sie mich an. »Ich hab gleich abgezo­gen, was Sie mir noch schuldig waren. Das ist doch okay?«

*

Es war wohl noch zu früh am Tag. Jedenfalls sah ich in der schmudd­ligen Straße auf der West-Side weit und breit keine von Dollys Kolle­ginnen. So trat ich in einen kleinen Gemüseladen und erkundigte mich dort nach Mrs. Banks Adresse.

Auch hier kannte man sie. »Die nächste links, zwei Blocks weiter dann rechts und immer geradeaus. Es ist eins der letzten Häuser in der Siedlung.« Die Frau schien gar nicht damit gerechnet zu haben, dass ich etwas kaufen könnte. Als ein etwa siebenjähriger Junge durch den Laden flitzte, hielt sie ihn fest. »Zeig dem Herrn mal, wie man in die Siedlung kommt«, forderte sie ihn auf. »Es gibt da nämlich 'ne Abkürzung«, wandte sie sich wieder zu mir.

Der Bengel hoffte vermutlich genau wie seine Mutter auf ein Trinkgeld, wenn er mir behilflich war. »Es ist nicht weit«, versicherte er mir.

Schon nach ein paar Schritten betrat er ein Haus, das garantiert ein Bordell war. Aber er führte mich durch einen Hinterausgang gleich wieder hinaus, quer über einen Hof, dann wieder in ein Haus, auf der anderen Seite befand sich dann eine Straße. So ging das noch ein paar Mal. Rattenlöcher, dachte ich, durch Rattenpfade verbunden.

»Das ist schon die Siedlung«, rief der Kleine endlich triumphie­rend. »Mrs. Banks Haus ist das mit den gelben Fensterläden.«

Ich drückte ihm einen Quarter in die schmutzige Hand, womit er zufrieden abzog. Die Siedlung an diesem Ort überraschte mich einiger­maßen. Nicht, dass es Prachtbauten gewesen wären. Aber die über­wiegend nur einstöckigen kleinen Häuser waren doch überraschend gut im Schuss. Nirgendwo blätterte der Putz ab, es gab sogar Andeu­tungen von Vorgärten. Auf dem Gehweg lag kein Müll. Im Vergleich zu der Straße, in der ich Mrs. Bank das letzte Mal aus den Augen verloren hatte, war dies hier eine erstaunlich geordnete Welt. Und es passte zu

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Gwendolyn Bank, hier zu wohnen - bescheiden, aber ordentlich. Wenn sie hier allerdings in jenem Kostüm spazieren ging, in dem ich sie im ›Maillard's‹ gesehen hatte, würde das für Aufsehen sorgen.

Das Haus mit den gelben Fensterläden befand sich dort, wo die gepflasterte Straße schon in einen Feldweg überging. Auf dem Brach­land, das durch einen Drahtzaun von Mrs. Banks Garten getrennt wur­de, wucherte allerlei Unkraut. Die paar Schritte bis zur Hautür hinge­gen waren von Stiefmütterchen und anderem dieser Art gesäumt.

Ich klingelte und gleich darauf wurde die Tür geöffnet. Gwendolyn Bank verzog keine Miene, nickte aber. Hatte sie mich etwa erwartet? Sie ging mir voran in eine kleine, aber sehr ordentliche Küche. »Neh­men Sie Platz«, forderte sie mich auf. »Möchten Sie einen Kaffee?«

»Danke, sehr gern.« Ich setzte mich an den Tisch, auf dem jede Menge Stoffreste lagen. Einige davon waren bereits in gleichmäßige Quadrate geschnitten und noch andere hatte Gwendolyn Bank schon zu einem etwa einen halben Meter langen Streifen vernäht. Offenbar arbeitete sie an einer Patchwork-Decke.

»Sie sind nicht lang geblieben gestern Abend«, sagte sie, als sie Wasser für Kaffee aufgesetzt hatte.

Immerhin, sie tat nicht so, als hätte sie mich nicht gesehen. »Nein, das ging leider nicht«, bestätigte ich. »Und Sie? War es noch nett?«

Eine Antwort hierauf fand sie wohl überflüssig. »Ich bin ebenfalls noch vor dem Essen gegangen. Ich weiß ja, dass Mistress Waltman es immer etwas übertrieben fand, wie ihr Mann sich um mich kümmerte.« Aus der Färbung ihrer Stimme war nicht zu entnehmen, ob dies ein Vorwurf sein sollte.

»Ich hab da zufällig gehört, dass Sie Waltmans Privatsekretärin waren?« Zu gern hätte ich sie einmal aus ihrer Ruhe gebracht. Aber es sollte mir wieder nicht gelingen.

»Das liegt schon eine ganze Weile zurück«, erwiderte sie ruhig. »Kurz nachdem mein Mann damals umkam, hab ich mir ein bisschen was durch Schreibarbeiten bei Mister Waltman dazu verdient. Es war mir anfangs unangenehm, dass er mir Geld für nichts geben wollte.«

»Anfangs?«, hakte ich nach.

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Sie brühte den Kaffee auf. »Na ja, bald hab ich dann ja begriffen, dass er eigentlich gar nichts für mich zu tun hat. Und ich vertrödle meine Zeit nicht gern. Und dann haben ja auch die von der Gewerk­schaft gesagt, es war ganz in Ordnung, dass er mir etwas zahlt. Die haben auch dafür gesorgt, dass ich gestern Abend eingeladen worden bin.«

Aha, also wirklich alles höchst harmlos. Halt, das Kostüm! Wie kam sie zu so etwas?

Gwendolyn Bank schien Gedanken lesen zu können. »Sah man dem Kostüm an, dass es geliehen war?« Ganz flüchtig lächelte sie, offenbar war sie Frau genug und eben doch nicht ganz uneitel.

»Ich hab es jedenfalls nicht bemerkt«, gab ich zu. »Sah ziemlich gut aus.«

Sie errötete sogar ein bisschen. Dann reichte sie mir eine Tasse Kaffee. »Es stört Sie doch nicht, wenn ich weiterarbeite?« Auch sie setzte sich jetzt.

»Aber nein«, versicherte ich. Dann sah ich das gerahmte Foto hin­ter ihr an der Wand. Es zeigte ein noch sehr junges Mädchen - war es Gwendolyn Bank selbst? Das Kleid des jungen Mädchens sprach eher dagegen, so etwas war vor kurzem noch fast modern gewesen.

Wieder antwortete Gwendolyn Bank, noch bevor ich gefragt hatte. »Meine Tochter. Auf dem Foto ist sie fünfzehn.«

»Und heute?«, fragte ich und wunderte mich über die frappieren-de Ähnlichkeit.

Diesmal erhielt ich keine Antwort. Mrs. Bank zuckte nur die Schul­tern und wieder einmal war ihrer Mimik keinerlei Deutung abzuringen. Womöglich war das schöne Töchterchen ja mit einem Mann durchge­brannt, der Gwendolyn nicht gefiel. Bestimmt nahm sie es sehr genau mit gewissen Dingen.

»Wie geht das denn für Sie nun weiter?«, wechselte ich das The­ma. »Ich meine, wo Mister Waltman nun ja das Zeitliche gesegnet hat. Werden Sie auch künftig...«

»Aber ja«, fiel sie mir ins Wort. Sie war die ganze Zeit über ihre Flickendecke gebeugt, in ihren Mundwinkeln klebten Stecknadeln. »Es gibt da inzwischen einen Fond. Den haben auch die Gewerkschaften

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durchgesetzt. Es kommt ja immer wieder einmal zu tödlichen Arbeits­unfällen.«

Ich nickte. »Und die Siedlung hier, die wird auch über diesen Fond finanziert?«

»Das dürfen Sie mich nicht fragen, so genau weiß ich das nicht.« Mrs. Bank stichelte eifrig, schon wieder hatte sich ihre Decke um etli­che Quadratzentimeter vergrößert. »Die Siedlung hier gibt es schon lang. Wir haben hier schon gewohnt, als mein Mann noch lebte. Und seit seinem Tod zahle ich keine Miete mehr.«

»Klingt alles wirklich sehr anständig«, stellte ich fest. Innerlich kämpfte ich gegen das Gefühl an, dass hier trotz allem etwas nicht stimmte. Auch wenn Mrs. Bank scheinbar auf alle meine Fragen so bereitwillig einging, so hatte ich doch immer mehr den Eindruck, dass sie mich dauernd ins Leere laufen ließ. Lag es an mir? Stellte ich ein­fach die falschen Fragen? »Diese Decke hier, machen Sie die für sich?«

»Aber nein.« Die Art, wie sie den schönen Mund verzog, konnte beinahe schon als Lächeln durchgehen. »Ich verkaufe sie. Dafür gibt es immer Abnehmer. Und ich liege nun mal nicht gern auf der faulen Haut.«

Fast schon erdrückend, so viel Fleiß! Allmählich wurde mir diese Mrs. Bank richtig gehend unheimlich. Entsprach sie nicht bis aufs I-Tüpfelchen dem Klischee von der armen, aber fleißigen und natürlich durch und durch anständigen Frau?

Wieder einmal las sie anscheinend in meinen Gedanken. Denn nun ließ sie ihr Nähzeug sinken. Sie öffnete die Schublade im Tisch und als sie sie wieder zuschob, befand sich eine Zigarette in ihrer Hand. »Sie haben doch bestimmt Feuer für mich?«

Ich war ihr mit meinem Feuerzeug behilflich und steckte mir selbst auch eine an. Sie inhalierte sehr tief, beinahe gierig und als sie den Rauch wieder ausstieß, tanzte ein Kringel vor ihr in der Luft. Auch wenn sie mir im Moment womöglich in erster Linie demonstrieren woll­te, dass auch sie ein kleines Laster hatte, so rauchte sie jedenfalls nicht zum ersten Mal.

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Mir schmeckte die Zigarette allerdings nicht besonders. Denn mit diesem Besuch hier hatte ich absolut nichts erreicht. Es war vollkom­men aussichtslos, Mrs. Bank noch eine Frage zu stellen. Sie würde sie mustergültig beantworten - und mir das Wesentliche doch verschwei­gen.

So stand ich auf und drückte meine Zigarette in dem Aschenbe­cher aus, den sie eben geholt hatte. Er stand direkt neben dem Berg von Flicken. Und was stach mir da ins Auge, grell kariert in Orange und Violett? Es war derselbe Stoff, aus dem auch die Jacke von Mr. X geschneidert worden war.

»Ziemlich gewagtes Muster«, bemerkte Gwendolyn Banks. »Aber zusammen mit den anderen Resten wird es gehen.«

»Auch ziemlich selten«, ergänzte ich und strich mit der Hand über den rauen Stoff.

»Das nun nicht gerade«, korrigierte sie. »Auf manchen Märkten bieten sie so was in riesigen Mengen an. Sogar in noch verrückteren Farben.«

Ich hörte fast, wie es pffffft machte - wieder einmal ließ Mrs. Bank die Luft aus etwas heraus, was mir eben noch als Indiz erschienen war, wofür auch immer.

Ziemlich schlecht gelaunt verabschiedete ich mich. Gwendolyn Bank hingegen zeigte, dass sie sogar richtig lächeln konnte, als sie mich zur Tür brachte.

*

Im Büro empfing Betty mich mit betont gelangweilter Miene. »Richtig nett, dass wir uns wenigstens noch kurz sehen. Ich hab jetzt gleich Feierabend.«

Ich brummte etwas vor mich hin und ließ mich auf meinen Stuhl fallen.

»Hier ist nichts weiter los gewesen«, ließ sie mich wissen und bohrte ihre seetangfarbenen Augen in mich.

Ich hatte noch immer keine Lust, etwas zu sagen. So begnügte ich mich damit, den Rauch meiner Zigarette in ihre Richtung zu pusten.

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Sie gab noch immer nicht auf. »Eigentlich wüsste ich schon ganz gern, woran wir derzeit arbeiten. Das tun wir doch, oder?«

Die Art und Weise, wie sie dieses Wir aussprach, sollte mir wohl verdeutlichen, dass sie unzufrieden war mit ihrem Chef. Genau wie ich im Moment auch. »Machen Sie mir doch eine Verbindung mit Bren­don«, bat ich sie knapp.

Sie zog die gezupften Augenbrauen hoch, als wolle sie zwei kühn gespannte Brücken über einen Fluss legen. Gleich darauf hatte ich Brendon an der Strippe.

»Hab heut keine Zeit zum Mittagessen«, empfing er mich. »Die ›White Socks‹...«

»Es geh um was anderes, Brendon«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich müsste dringend mal mit jemandem von der Gewerkschaft reden, die bei Waltman...«

Er unterbrach mich mit einem Pfeifen. »Meinst du nicht, das ist 'ne Nummer zu groß für dich?«

»Ich bin ja nicht an den Bossen interessiert. Am Besten wäre ei­ner, der gar nicht mehr dabei ist. Und gern ein bisschen plaudert. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Brendon gab einen Brummton von sich, dann schwieg er erst ein­mal. »Kennst du den Spielsalon Ecke Randolph/Wells Street? Da hängt immer einer rum, der ungefähr so angefressen ist, wie du es brauchst. Hat nicht nur seinen Job verloren, sondern auch den Funktionärspos­ten bei der Gewerkschaft. Kennt ein paar ganz gute Kartentricks und...«

»Und heißt wie?«, drängte ich Brendon, zur Sache zu kommen. Dass Betty mich unablässig anstarrte, ging mir allmählich ganz schön auf die Nerven.

»Warte mal... Wesley, Gordon Wesley. Aber wappne dich mit Ge­duld. Er ist ein richtiger Schwätzer. Wenn er erst mal loslegt...«

»Ich werd mir schon zu helfen wissen«, stoppte ich Brendon. »Ach ja, Danke auch.«

Ich legte den Hörer auf und stand dabei sofort auf. »Was soll das eigentlich alles?«, fragte Betty scharf.

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»Was schon? Sie tun Ihre Arbeit, ich die meine.« Damit griff ich zu Hut und Mantel. Als ich das Büro verließ, spürte ich, dass die gute Bet­ty kurz vorm Platzen war.

Die Kneipe, die Brendon mir genannt hatte, lag nur ein paar Blocks weiter nordöstlich. Ich beschloss, zu Fuß zu gehen. Gelegentlich half ein Spaziergang meinen grauen Zellen auf die Sprünge. Ich wüss­te ja noch gar nicht so genau, was ich von dem Typen von der Ge­werkschaft wollte. Auf die Idee war ich nur gekommen, weil es so ziemlich das einzig Handfeste war, was mein Besuch bei Mrs. Bank ergeben hatte.

Um die Mittagszeit herrschte überall reges Treiben. Als ich den Südarm des Chicago River überquerte, stieg mir ein leicht fauliger Ge­ruch nach Brackwasser in die Nase. In der Loop überwogen dann die Abgase aus den Autos, vermischt mit dem Staub auf den Straßen. Knapp eine halbe Million Menschen arbeiteten hier, da wurde so man­ches aufgewirbelt. Fast ständig hatte ich das Rattern der Hochbahnen in den Ohren, die den ganzen Bezirk umgeben. Ein bisschen wie ein Zaun und in dem auf diese Weise abgegrenzten Bezirk drängelten sich an die zweihundert Hochhäuser, wie eine in absurder Enge zusam­mengepferchte Herde.

In der Randolph Street, der Theaterstraße, war um diese Zeit nur wenig los. Das bunte Völkchen der Schauspieler schlief um diese Zeit noch und träumte vom Ruhm. Um in die Kneipe zu gelangen, musste ich ein paar Stufen hinuntergehen und sogar den Kopf einziehen. So­bald ich die Tür öffnete, schlug mir lebhaftes Stimmengewirr entge­gen, von hinten auch das Klacken der Queues. Dort wurde Billard ge­spielt, während sich die Kartenspieler um die Tische im vorderen Be­reich scharten.

Ich steuerte die Theke an, die auf der linken Seite des nur mäßig erhellten Raums beide Bereiche miteinander verband. Ich fragte nach einem ordentlichen Schluck und nach Gordon Wesley.

Der Mann hinterm Tresen, ein groß gewachsenes Muskelpaket, dessen Hemd so eng saß, dass ich unwillkürlich erwartete, es würde gleich platzen, wies auf einen Tisch in der Nähe. »Der Kiebitz«, ließ er mich dabei wissen.

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Gordon Wesley spielte also im Moment nicht mit. Womöglich war er knapp bei Kasse. Er war ein Mann mit eher zerfließenden Konturen, gelblicher Gesichtshaut und bereits schütterem Haar. Seine Augen sprangen nervös ständig im Raum herum, auch mich hatte er schon beim Eintreten gestreift. »Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«, rief ich ihm zu.

Er tat so, als falle es ihm schwer, sich aus der Runde loszueisen. Vielleicht war das auch nur eine Marotte von ihm, zwei Schritte in mei­ner Richtung, dann einen wieder zurück an den Tisch. Es dauerte trotzdem nicht lang, bis er die wabbelnde Masse seines Körpers auf den Stuhl neben mir schob. »Kennen wir uns?«

»Jetzt schon.« Ich grinste ihn an und wies fragend auf mein Glas. Natürlich nickte er, auch das Muskelpaket reagierte prompt.

»Hab gehört, dass Sie vor Kurzem noch einiges zu sagen hatten«, begann ich dann das Gespräch.

Sein trüber Blick aus schlammgrauen Augen erhielt etwas Glanz. Er schien auf so eine Frage nur gewartet zu haben und sprudelte los wie ein Bergbach bei der Schneeschmelze. Nur nicht so klar, ziemlich breiig quollen die Worte aus ihm heraus. Ich musste mich anstrengen, ihn zu verstehen. Wobei das alles gar nicht sonderlich spannend war. Er fühlte sich verkannt von aller Welt, sprach von seinen Verdiensten, von aufopferungsvoller Arbeit, die ihm keiner gedankt habe. Zwi­schendurch gurgelte er immer wieder mit Whiskey. Seinem ausufern-den Klagelied entnahm ich immerhin, dass er sich in Waltmans Unter­nehmen zumindest bis vor kurzem ganz gut ausgekannt hatte, eine mittlere Charge bei der Gewerkschaft. In der Firma hatte er nicht in der Produktion gearbeitet, sondern einen Bürojob gehabt.

»Dabei könnte ich Dinge erzählen, ha!« Er sah mich auftrumpfend an, dann ließ er die Eiswürfel in seinem leeren Glas aneinander schla­gen.

Mit einem Fingerzeig bat ich den Muskelprotz, unsere Gläser noch mal zu füllen. »Dann erzählen Sie doch ganz einfach mal«, schlug ich Wesley vor.

»Und was habe ich davon?« Als er seine wulstigen Lippen zu ei­nem Grinsen verzog, nahm sein Schädel die Form einer Birne an.

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»Kommt darauf an, was ich davon habe.« Ich ließ schon mal ein Zehn-Dollar-Note in meine Hand wandern. Auf mehr als einen Hamil­ton schätzte ich ihn nicht ein. Das würde ihm ausreichen für das eine oder andere Spielchen und für die ewig vergebliche Hoffnung, daraus im Lauf des Nachmittags ein Vermögen zu machen.

Noch etwas mehr Glanz trat in seine Augen, die sich an dem Ha­milton festbissen. »Fragen Sie doch einfach«, bellte er, ganz heiser vor Gier.

Ich beschloss, für den Anfang einfach mal einen Namen fallen zu lassen. »Gwendolyn Bank.«

Er tat nicht mal so, als müsse er nachdenken. Nach einem Schluck seufzte er. »Tja, Gwendolyn. Hat erst als schöne Witwe Karriere ge­macht, dann als Nutte. Oder war es anders herum?« Er kicherte in sich hinein. »So genau kann das keiner wissen.«

Ich glaubte ihm kein Wort. Die schöne Mrs. Bank mochte so man­ches Geheimnis haben. Aber eine Prostituierte, das war sie nie und nimmer. Ich erklärte es mir damit, dass dieser Wesley garantiert nei­disch war auf die Zuwendungen, die sie erhielt. Womöglich ja sogar auf Betreiben seiner Gewerkschaft. Die sich um ihn aber nicht küm­merte, weshalb auch immer. So was führt dann leicht zu Ressenti­ments.

»Ich weiß das ja alles auch erst, seit ich nicht mehr zu dem Hau­fen gehöre«, fuhr er fort. »Und es ist ja auch nicht so, dass ich das nicht verstehen könnte. Bei anderen jedenfalls. Ist ja nicht gerade viel, was die Arbeiter wöchentlich so nach Hause bringen. Und im Prinzip ist es ja auch nicht falsch, wenn ihre Frauen sich dann auch ein bisschen anstrengen.« Er grinste schmierig. »Aber Gwendolyn Bank - nein.« Er schüttelt geradezu angewidert den Kopf. »Die kann einfach den Hals nicht voll genug kriegen, verstehen Sie?«

»Nein«, versetzte ich und dachte, dass er den Hamilton doch nicht wert war.

Er sah bekümmert aus, als ich den Schein wieder in meiner Ta­sche versenkte. »Dann fragen Sie doch einfach mal dort nach ihr.« Er fingerte einen Zettel aus seiner Hosentasche, samt einem kleinen Stift. Die Adresse, die er mir dann zuschob, befand sich auf der West-Side,

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in einer Gegend, die aber als etwas besser galt und für ihre Edelpuffs bekannt war.

Er wollte den Zettel nicht loslassen. Besonders clever war er ein­deutig nicht. Er hoffte nach wie vor auf ein Tauschgeschäft. Dabei hatte ich die Adresse doch längst im Kopf. Dass ich den Schein trotz­dem rausrückte, hatte nur mit Mitleid zu tun und damit, dass ich einem so schmierigen Typen nichts schuldig sein wollte. Selbst wenn er für das bisschen Information einen Wucherpreis verlangte, wovon ich in diesem Moment noch überzeugt war.

Während ich die Getränke bezahlte, ging er schon zu den Karten­spielern. »So, dann wollen wir mal!«, machte er einen auf den großen Max.

Ich war froh, dass ich aus dem Schuppen herauskam. Nun erwies es sich doch als Fehler, dass ich zu Fuß unterwegs war. Ich musste erst noch mal zum Büro, um dann auf die West-Side zu fahren. Denn natürlich war ich neugierig, was ich in jenem Puff erfahren würde. Mrs. Bank als leichtes Mädchen, es war eine absurde Vorstellung.

*

Die Matrone wollte mich nicht hereinlassen. »Termine gibt es nur auf Anmeldung. Und Sie brauchen eine Empfehlung von einem Stamm­gast.« Sie hatte jede Menge Lockenwickler auf dem Kopf, links von ihrem Mund wackelte eine riesige Warze bei jedem Wort bedeutungs­voll hin und her.

»Gwendolyn Bank«, versuchte ich es noch einmal auf gut Glück. Die Matrone klimperte ein paar Mal mit den nicht sehr sorgfältig

getuschten Wimpern. Sie war sichtlich verblüfft. »Und Ihr Name?«, brummte sie endlich.

»Eigentlich tut der nichts zur Sache.« Ich zauberte ein Lächeln in mein Gesicht. »Aber weil Sie es sind...« Ich nannte einer spontanen Eingebung folgend den erstbesten Allerweltsnamen, der mir einfallen wollte.

»Gwendolyn ist nicht mehr im Geschäft«, brummte sie.

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»Aber Sie haben noch Kontakt zu ihr?« So wie sie mich anstarrte, musste ich wohl schon wieder nach einem Schein greifen. Auch diese Ausgabe verzeichnete ich in Gedanken auf der Spesenliste, für die Mr. X aufkommen musste.

Sie tat so, als sehe sie den Schein nicht, aber ihre Miene ent­spannte sich. »Gelegentlich schon. Worum geht es denn überhaupt?«

Ich zögerte nur deshalb mit der Antwort, weil ich jetzt improvisie­ren musste und nicht so recht wusste wie. »Genau genommen um die Tochter von Mrs. Bank.«

Die Alte plusterte die Backen auf und stieß ziemlich viel Luft aus. Ihr Blick wurde leicht glasig. »Die arme Gwendolyn.«

Ich nickte, was sie als Zustimmung nehmen sollte. »Es könnte sein, ich kann ihr helfen.«

Mit jedem meiner Worte hatte ich das Gefühl, im Nebel herumzu­stochern. In dem tauchte nun auch Mr. X auf, vielleicht hatte mein Gedanke an die Spesen die Verbindung hergestellt.

»Und was soll ich ihr sagen?« Eine erstaunlich rosige Zunge wurde kurz zwischen ihren rissigen Lippen sichtbar.

»Ich würde sie gern treffen«, fuhr ich fort und spürte, wie der Ne­bel in meinem Kopf ganz langsam zu einem Plan wurde. Einem Plan, der auf ziemlich viel Glück gründete, das war mir klar. Aber hatte ich allmählich nicht etwas Glück verdient, nach all diesem ergebnislosen Herumstochern?

Als Treffpunkt nannte ich der Matrone eine der Hochbahnstationen an der Loop. Dort würde es vor Menschen wimmeln, was günstig war, falls mein Plan klappte. »Morgen Abend, Punkt sechs«, ergänzte ich. »Möglicherweise kann ich nicht ganz pünktlich sein. Es wäre nett, wenn Mistress Bank dann auf mich wartet.«

Dann staunte ich, mit welcher Geschicklichkeit der Lappen seinen Besitzer wechselte. Ich hatte meine Hand, in der er sich die ganze Zeit über befand, noch kaum aus der Tasche gezogen, als sie sich den Schein schon mit einer gewissen Eleganz um zwei ihrer Finger wickelte und noch ein Blinzeln später war er schon in ihrem Dekollete ver­schwunden. So brachte eben jedes Gewerbe gewisse Fertigkeiten mit sich.

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»Und wenn Sie sonst mal Bedarf haben«, schlug sie dann einen freundlichgeschäftsmäßigen Ton an, »einfach vorher einen Termin vereinbaren, ja?«

»Das werde ich mir überlegen, Lady.« Ich tippte an meinen Hutrand. Sie schaute mir nach, bis ich in meinen Plymouth einstieg. Vermutlich machte sie sich angesichts des wirklich nicht mehr taufri­schen Modells Gedanken über meine Zahlungsfähigkeit.

*

Weil ich nun schon mal auf der West-Side war, beschloss ich, mal in Cyrus D. Waltmans Firma vorbeizuschauen. Ich hatte das Gefühl, all­mählich immer mehr Puzzlesteine beieinander zu haben. Allerdings er­gab sich daraus noch immer kein Bild für mich. Aber ich war kurz da­vor, es zu erkennen, das spürte ich.

Vor Waltmans Fabrik gab es natürlich einen Pförtner und der woll­te mich nicht ins Werk lassen. Damit hätte ich eigentlich rechnen müs­sen. Ich durchforstete mein Gehirn nach einer Ausrede. Noch bevor sie sich einstellen wollte, erkannte ich hinter dem Schlagbaum am Ein­gang zu einer großen Halle Hollyfield. Das war zwar nicht, was ich er­wartet hatte, ganz im Gegenteil. Ich beschloss dennoch, den Polizei­chef zu meiner Ausrede zu machen.

»Hab 'ne Nachricht, ziemlich dringend, für den Chef. Also für Cap­tain Hollyfield«, flüsterte ich dem Pförtner zu.

Er musterte mich einen Moment skeptisch, dann zuckte er die Schultern. »Tja, wenn das so ist...«

Während er zu dieser Entscheidung kam, hatte ich überall auf dem Gelände Hollyfields Männer entdeckt. Es herrschte ziemlich Hek­tik. Alles sah verdammt nach einer Razzia aus.

Als ich dann zu Hollyfield hinüber schlenderte, tat ich das betont langsam und mit einer Miene, als hätte ich ihn genau hier zu treffen beabsichtigt. Schon von weitem sah ich ihm an, dass er höllisch nervös war und dementsprechend gereizt. Im letzten Moment vertrat mir der unvermeidliche Quirrer den Weg.

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»Hier kann jetzt keiner durch!«, raunzte mich Hollyfields hoff­nungslos unfähiger Adlatus an. »Schon gar nicht einer wie Sie!«

Sein Chef schien das anders zu sehen. »Connor, Sie schon wie­der!« Er winkte mich zu sich.

Quirrer musste mir aus dem Weg gehen, was er mit einem Ge­sichtsausdruck tat, als habe er ein halbes Fass giftiger Nattern ver­schluckt.

Hollyfield bestätigte meinen Verdacht mit der Razzia. »Nur war das nicht meine Idee«, ergänzte er knurrend. »Der Oberstaatsanwalt macht sich mal wieder wichtig mit irgendwelchen Ermittlungen.«

Ich begriff, welche Schlappe das für ihn bedeutete. Zwischen ihm und dem Oberstaatsanwalt bestand naturgemäß eine gewisse Konkur­renz. Dazu kam, dass dieser Oberstaatsanwalt ein eher gelackter Typ war, der absolute Gegensatz zu Hollyfields umgänglicher Hemdsärme­ligkeit. Die beiden hassten sich wie die Pest.

»Dabei ist Waltman kaum unter der Erde.« Wütend paffte Holly­field seine Zigarre. »Und kann sich jetzt nicht mehr wehren. Ich mei­ne, bei einem so großen Unternehmen ist es doch klar, dass es da einige schwarze Schafe gibt.«

Mir dämmerte, dass Hollyfields Weltbild einmal wieder erschüttert wurde und dass er noch immer eisern entschlossen war, in Cyrus D. Waltman einen Ehrenmann zu sehen. Was sein Gegenspieler in der Justizbehörde offenbar anders einschätzte.

»Dabei stecken da doch bloß ein paar gierige Gewerkschaftsbosse dahinter!«, schimpfte er weiter. »Die versuchen doch immer, aus allem Kapital zu schlagen. Hatte es einer wie Waltman denn nötig, sich mit Prostitution zu befassen?«

Hoppla, dachte ich. Dann ärgerte sich Hollyfield wohl über seine Redseligkeit. »Woher

wissen Sie schon davon? Das Ganze läuft strikt geheim. Und wieso hat man Sie überhaupt aufs Gelände gelassen?«

»Ich hab Sie gesehen und mich auf Sie berufen«, gestand ich ganz offen. »Und von der Razzia hab ich erst durch Sie erfahren.« Mir war klar, dass mein Lächeln ihn nur provozieren konnte.

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»Was wollen Sie hier?«, schrie er mich an. Aber er war eben doch ein Mann mit Manieren. Gleich darauf bemerkte er, dass er sich im Ton vergriffen hatte. Er seufzte und legte sein Gesicht in lauter Querfalten. »Ach, das verraten Sie mir ja doch nicht.« Seine Stimme klang resig­niert, aber er schrie nicht mehr. »Wissen Sie was? Gehen Sie einfach. Damit ich hier arbeiten kann.«

Als ich abzog, folgte mir Quirrer, bis zur Schranke beim Pförtner. Er tat so, als würde ich alleine den Weg nicht finden. Aber zum Glück sagte er wenigstens nichts.

Glück, das würde ich nun in nicht zu geringer Portion wirklich brauchen. Auf der Rückfahrt zum Büro ging ich noch einmal durch, was ich inzwischen wusste. Es war gar nicht wenig. Aber die entschei­denden Bindeglieder fehlten noch immer. Und was nützte es mir, wenn Gwendolyn Bank meine Nachricht tatsächlich erhielt und dann auch wirklich morgen zum vereinbarten Treffpunkt kam?

»Gar nichts«, brummte ich, schnippte den Rest einer Lucky aus dem Fenster und entzündete mir gleich die nächste. »Gar nichts, wenn Mr. X sich nicht endlich mal wieder blicken lässt.«

Ich überlegte, ob ich vielleicht besser sofort nach Hause fahren sollte. Es war wieder einmal nichts als Gefühl, das mich dann doch noch im Büro einen Zwischenstopp einlegen ließ. Und da erwartete mich eine Notiz von Betty.

»Mister X hat angerufen, kurz nachdem Sie gegangen sind. Er möchte Sie treffen und schlägt vor, dass Sie bei sich draußen 'n paar Besorgungen machen.«

Eine Zeitangabe war nicht vorhanden und überhaupt war das eine mehr als vage Verabredung. Dennoch verspürte ich ein Glücksgefühl, als ich das Büro dann wieder verließ.

Vor meinem Apartment angekommen, parkte ich den Plymouth und überlegte, was ich zu besorgen hätte. Eine gute Flasche könnte auf keinen Fall schaden. Es sah ganz danach aus, als hätte ich an die­sem Abend noch etwas zu begießen.

Wie es seine Art war, wuchs Mr. X ganz plötzlich neben mir aus dem Boden. Ich war kaum ein paar Schritte gegangen und betrachtete mir erst einmal, welche Verkleidung er heute gewählt hatte. Braune

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Sergehosen, Tweedjackett unter dem offenen Mantel. Auch der Hut war unauffällig. Er sah gut und gern aus wie ein Verkäufer aus einem der kleinen Läden.

»Lang nicht gesehen«, begrüßte ich ihn. Er nickte. »Hab ziemlich viel Ärger derzeit. Wissen Sie denn nun

endlich, wer es war?« Er schien wirklich nervös zu sein, ständig drehte er sich um.

»Bin kurz davor«, behauptete ich, vielleicht ein klein bisschen kühn.

»Wie kurz?«, wollte er wissen. Ich tat, als müsse ich nachdenken. »Morgen Abend zum Beispiel,

so gegen sechs? Haben Sie da schon was vor?« Ich ahnte, dass es ihm nicht gefiel, wenn nun ich die Termine

machte. Aber diesmal ging es nicht anders. »So genau kann ich das nicht sagen«, versuchte er mich erwar­

tungsgemäß abzuwimmeln. »Es wär aber gut, wenn Sie das könnten«, beharrte ich. »Es wird

auch nicht lang dauern. Und es ist ein harmloser Ort. Musste Ihnen eigentlich ganz gelegen kommen.« Ich nannte ihm die Station der Hochbahn.

»Und was soll ich dort?«, fragte er und suchte an mir vorbei die Straße ab.

»Einfach bloß da sein.« Ich grinste ihn an. »Der Rest wird sich fin­den.«

Er war noch immer misstrauisch. »Stellen Sie mir auch keine Fal­le? Ich weiß, ich müsste mal wieder ein paar Scheine rausrücken für Sie. Aber heute geht es noch nicht.« Endlich einmal blieb sein nervöser Blick an mir hängen. Er hatte etwas so Gehetztes, dass er mir beinahe leid tat.

»Ach, das sehe ich nicht immer so eng«, erwiderte ich. »Ich mei­ne das mit den fälligen Scheinen. Da verlass ich mich ganz auf Sie. Und seh ich vielleicht aus wie ein Fallensteller?«

Nun hatte ich eigentlich alles Nötige gesagt und wäre Mr. X gern wieder los gewesen. Schon deshalb, weil mein Bedürfnis nach einem

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Schluck immer dringender wurde. Und weil ich den, Mitleid hin oder her, doch nicht mit ihm teilen wollte.

»Werde mal sehen, was sich da machen lässt«, murmelte er end­lich.

Dann war ich gespannt, mit welchem Trick er sich heute in Luft auflösen würde. Er tat es nicht, sondern tippte sich einfach an seinen Hut und überquerte dann eine Kreuzung. Sogar auf der anderen Stra­ßenseite sah ich ihn noch. Mr. X befand sich augenscheinlich derzeit in einem Tief. Aber sollte ich mir davon den Abend verderben lassen?

*

Der nächste Tag bestand eigentlich nur darin, dass ich ihn vergehen ließ. Ich hatte nur einen wichtigen Termin und zwar um sechs Uhr Abends. Dann, wenn das Gedränge an der Hochbahnstation besonders dicht sein würde. Um mir die Zeit bis dahin zu vertreiben, ließ ich mir immer wieder durch den Kopf gehen, was ich alles wusste. Betty ließ nichts unversucht, um mich in ein Gespräch zu ziehen. Als es ihr nicht gelang, beendete sie ihren Dienst von sich aus, vorzeitig und ohne Erklärung. Ich ließ sie ziehen.

Mittags stärkte ich mich in Henry's Steak Diner, wo ich auf Bren­don traf. Er war heute nicht so guter Laune wie sonst. »Ab morgen ist Schluss mit der Nachrichtensperre im Fall Waltman«, erzählte er mir. »Kannst dir ja denken, was das für mich heißt. Die Kollegen sind wie Bluthunde und haben schon jede Menge Artikel fertig. Und das gerade heute!«

Ich tippte ganz richtig, dass ein wichtiges Spiel der ›White Socks‹ anstand. Natürlich war Brendon bekümmert, dass sein Bericht darüber unter diesen Umständen nicht die nötige Aufmerksamkeit finden wür­de.

Ich schlug ihm vor, die Enttäuschung mit einer Stärkung hinun­terzuspülen, was ihn gleich ein bisschen aufmunterte.

»Was werden deine Kollegen über den Fall Waltman denn schrei­ben?«, versuchte ich, einen Stein ins Rollen zu bringen.

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Brendon aber seufzte nur und paffte an seiner Zigarre. »Tut mir leid, diesmal weiß ich wirklich nichts. Die tun alle so, als ginge es um ein Staatsgeheimnis. Und als ob sie eine Lunte in der Hand hielten, um demnächst allerlei hochgehen zu lassen.«

Ich tippte darauf, dass es um die Enttarnung eines Ehrenmanns ging. Aber ich sagte nichts. Brendon war daran im Moment sowieso nicht interessiert. Er fieberte dem Spiel der ›White Socks‹ entgegen.

»Willst du mitkommen?«, schlug er mir vor. »Ich kenn doch den neuen Trainer ganz gut. Der kann da bestimmt was arrangieren.«

»Nett von dir, aber heute geht es nicht«, bedankte ich mich. Ich wollte Nachschub bestellen, aber Brendon winkte ab.

»Ich muss in die Redaktion zurück. Sonst lassen Sie mir gar kei­nen Platz.«

Er verabschiedete sich und so leerte ich die nächste Tasse allein. Ich war erfüllt von jener wundervollen Ruhe, die ich mir aus Erfahrung so deutete, dass eine Überraschung unmittelbar bevorstand.

Am vereinbarten Treffpunkt war ich dann viel zu früh. Aber es störte mich nicht. Ich überlegte lang, welcher Platz am Besten geeig­net sei und entschied mich endlich dafür, auf der Bank links vom Ein­gang zur Hochbahn zu warten. Von dort aus hatte ich einen ganz gu­ten Überblick über das Gewimmel. Ich rätselte, wer wohl zuerst kom­men würde. Mrs. Bank? Oder Mr. X? Ein bisschen kam ich mir vor wie ein Chemiker, der drauf und dran ist, zwei Flüssigkeiten zusammen zu kippen, ohne sie wirklich zu kennen. Fest stand nur - es würde bei der Vermischung zu einer Reaktion kommen. Und die würde höchst auf­schlussreich sein.

Um Mr. X stand es wirklich nicht gut. Ich sah ihn schon von wei­tem kommen, genau so gekleidet wie am Tag zuvor, auch den gehetz­ten Blick hatte er beibehalten.

»Und jetzt?« Schwer atmend ließ er sich neben mich auf die Bank sinken. »Hab nicht viel Zeit.«

»So sehen hier alle Leute aus, finden Sie nicht?« Ich war unver­schämt gutgelaunt. »Irgendwie erinnert mich das Gewimmel an einen Ameisenhaufen. Wobei das bei denen ja bloß so aussieht, als würden

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sie sinnlos durcheinander laufen. Bei denen ist aber alles bestens ge­ordnet.« Ich hatte anscheinend meinen naturwissenschaftlichen Tag.

Mr. X neben mir grunzte Unverständliches und saß keinen Moment still. Ich versuchte ihn und gleichzeitig die Straße im Blick zu behalten. Dass mein Experiment in die entscheidende Phase trat, erkannte ich daran, dass Mr. X plötzlich sehr blass wurde und sich rechts von mir so klein wie nur möglich machte.

Der Grund dafür kam von links. Gwendolyn Bank hatte sich an­scheinend wieder mal ein Kostüm ausgeliehen. Von jemandem, der genau dieselbe gute Figur hatte wie sie und dem das schilffarbene Wollkostüm garantiert nicht so gut stand. Im Moment war sie für mich von größerem Interesse als Mr. X. Würde ich es endlich einmal erle­ben, dass sie wenigstens ein kleines bisschen aus der Fassung geriet? Ich war recht guter Hoffnung.

Zuerst allerdings blieb sie gelassen wie immer, sie sah ja nur mich – Mr. X war es wichtig, sich von mir verdecken zu lassen. Durch ein angedeutetes Kopfnicken ließ Mrs. Bank mich wissen, dass sie mich gesehen hatte. Mit gleichmäßig energischem Schritt kam sie näher. Der richtige Zeitpunkt, um das Experiment zu beschleunigen, dachte ich mir und sprang auf.

Mr. X reagierte, als habe ihn jemandem mit einem Handgriff sämt­licher Kleider beraubt. Das war durchaus sehenswert. Aber noch in­teressanter war die Reaktion von Mrs. Bank. Sie tat plötzlich so, als sei ich Luft - kaum zehn Meter war sie da noch entfernt. Dann überquerte sie die Straße, ohne nach links oder rechts zu sehen. Ein Hupkonzert war die Folge, wodurch sie sich aber nicht aufhalten ließ. Gleich darauf stieg sie in einen Bus.

Wenn das kein Erfolg war! Mr. X starrte dem Bus hinterher, offen­bar war er erleichtert.

»Wenn Sie wollen, gehen wir ein paar Schritte«, schlug ich ihm vor.

»Jetzt, wo es hier gerade nett wird?« Ganz allmählich fand er sei­ne Fassung wieder oder tat jedenfalls so. Nervös war er noch immer, denn er sprang sofort auf.

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»Seit wann kennen Sie Mistress Bank?«, wurde ich gleich ganz di­rekt.

Er schluckte, schnappte dann nach Luft. »Ich bestehe darauf, dass Sie es mir erzählen«, versicherte ich

ihm. »Und wenn das mit einer kleineren Gaunerei zusammenhängt -geschenkt. Daran bin ich nicht interessiert.«

Ich schlug den Weg zur State Street ein, der Hauptgeschäftsstra­ße der Loop, in der sich Warenhaus an Warenhaus reihte. Aber ich achtete darauf, dass Mr. X mir auch folgte.

Er tat es und es sah dann ganz so aus, als habe er sich im Bezug auf Mrs. Bank schon lang einmal einiges von der Seele reden wollen.

»Das ist ein ganz ausgekochtes Luder, sage ich Ihnen!« Wieder einmal musste ich ganz schön die Ohren spitzen, denn Mr. X machte in seiner Aufregung aus jedem Satz einen Bandwurm, in dem ein Wort das nächste auffraß. »Erst hab ich gedacht, sie war 'ne Nutte. In so einem Etablissement hab ich sie jedenfalls zum ersten Mal gesehen. Und sie hat sich auch so benommen. Mich richtig heiß gemacht, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber als ich dann zur Sache kommen wollte - nix zu machen. Verschlossen wie ein Tresor. Damit hat sie mich na­türlich erst recht zum Kochen gebracht.«

Er verstummte, anscheinend überließ er sich seinen überhitzten Erinnerungen. »Und dann?«, hakte ich nach.

»Dann hab ich sie erst mal aus den Augen verloren. Und mich mächtig darüber geärgert. Ich mag nämlich keine halben Sachen.« Er seufzte schon wieder. »Und als ich sie dann wieder gesehen hab, das war reiner Zufall. Es war in meiner Stammkneipe. Da, wo ich ganz gern mal hin geh, wenn ich grad was in der Tasche hab. Also kein Ka­schemme. Und da kreuzte sie auf. Zusammen mit einer Freundin. Sie ist ja nun mal 'ne Frau, die man in jeder Verkleidung sofort erkennt. Wirklich, wie eine Lady sah sie aus. Dann ging die Freundin und sie schien sich zu freuen, als ich sie zu einem Drink einlud. Sie hat so dies und das fallen lassen, was mich dann auf eine andere Idee gebracht hat. Das klang nach einer nicht ganz unvermögenden Frau, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

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Ich verstand ganz gut und überlegte, ob ich ein netteres Wort für Heiratsschwindel finden könnte. Wo Mr. X mal so schön im Fluss war, wollte ich ihn nicht durch eine Kränkung aufhalten. Aber er sprach unentwegt weiter.

»Wir sind dann ein paar Mal ausgegangen. Ich hab natürlich im­mer bezahlt, ohne Investitionen läuft das Geschäft nicht. Und sie hat sich wirklich interessiert gezeigt.« Seine Laune besserte sich spürbar, als er mir diese Phase schilderte. »Und mir hat sie richtig gut gefallen. Sie war kein bisschen etepetete, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber betucht, für so was hab ich ein Gespür. Ich hab sie dann sogar einmal eingeladen, in die Wohnung auf der South-Side, Sie wissen schon.«

Ich nickte. »Und dann?« »Sie ist gekommen, zweimal sogar. Und hat so getan, als würde

sie das Elend dort nicht sehen. Aber zugeknöpft bis oben hin!« Mr. X strich sich mit der Handkante über die Kehle. »Bei ihrem zweiten Be­such hat sie die Wohnung aufgeräumt. Okay, hab ich gedacht, sie hat eben ihre Bedingungen und will es gern proper haben. Und dann hab ich mit ihr vereinbart, dass sie jederzeit kommen kann. Für den Woh­nungsschlüssel war Platz genug in so 'ner Ritze neben der Tür. Das Treppenhaus dort ist ja nicht grade gut im Schuss.« Er grinste mich treuherzig an.

Ich nickte wieder, hängte wieder zwei Worte an. »Und dann?« Mr. X zog eine bekümmerte Miene. »Ich glaubte ja, ganz kurz

vorm Ziel zu sein. Aber dann lag da diese Leiche. Und Gwendolyn war wie vom Erdboden verschwunden. Und überhaupt... Von diesem Mo­ment an hatte ich nur noch Pech.«

Nun verfiel Mr. X in Schweigen, er war so niedergeschlagen, dass alle Nervosität von ihm abfiel.

»Wie sind Sie eigentlich an jene Jacke gekommen?«, fragte ich da. »Sie wissen schon, diese Karierte, orange und violett.«

»Eigentlich nicht mein Stil«, gab er zu und grinste ein bisschen schief. »Das war in dem Puff. Von mir wollte Gwendolyn ja nichts wis­sen. Deshalb war ich mit einem Mädchen zugange, als es plötzlich eine Razzia gab. Und deshalb war mein Aufbruch ein bisschen plötzlich. Unten war Gwendolyn, sie hat mir diese Jacke gegeben. Und irgend­

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wie hing ich dann an dieser Jacke. Man ist ja manchmal ein bisschen sentimental. Blöd war natürlich, dass ich ausgerechnet diese Jacke trug, als dann Waltman in der Wohnung auf der South-Side lag. Aber daran hab ich nicht gedacht, als ich über seine Leiche gestolpert bin. Wissen Sie, Sachen wie Mord sind für meine Geschäfte ganz schlecht.«

Wir hatten inzwischen den Mündungsarm des Chicago River er­reicht. Mr. X machte auf mich den Eindruck, als hätte es ihm gut ge­tan, sich mal so einiges von der Seele zu reden. Aber plötzlich kniff er die Augen zusammen. »Wissen Sie es nun endlich?«

»Was?«, stellte ich mich dumm. »Wer Waltmann umgebracht hat natürlich!«, zischte er mir zu. »Ich glaube schon.« Es war inzwischen schon fast dunkel gewor­

den. Dunkel genug, dass man den Mond auf dem Fluss schaukeln sah. »Und?«, drängte Mr. X. »Sie nicht.« Ich lächelte ihn an und legte ihm sogar eine Hand auf

die Schulter. »Aber das habe ich Ihnen doch von Anfang an gesagt!«, regte er

sich da auf. »Und dafür bezahle ich Sie?« So ganz nebenbei hatte er mir in der letzten halben Stunde ja ge­

standen, dass er sich als Heiratsschwindler durchs Leben schlug. Aber richtig ernst konnte ich das im Moment nicht nehmen. »Nein, dafür natürlich nicht«, antwortete ich ihm. »Vielleicht treten Sie in der nächsten Zeit einfach mal ein bisschen kürzer? Man wird bei der Polizei allerlei Fragen stellen. Und garantiert auch auf Sie stoßen. War ganz gut, wenn Sie dann nicht weiter auffällig werden.«

Damit verabschiedete ich mich von ihm. Und ich konnte mir vor­stellen, dass er mir nachschaute, ohne irgendetwas begriffen zu ha­ben. Clever war er wohl nur, wenn es um seine Art von Geschäften ging. Aber immerhin, er war kein Mörder.

*

Am nächsten Tag schrieen es sämtliche Schlagzeilen der Zeitungen in die Welt. Was da geschah, war mehr als die Enttarnung eines Ehren­manns. Es war ein Schlachtfest. Alles, was Hollyfield nicht hatte wahr

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haben wollen, war Wirklichkeit geworden. Der honorable Cyrus D. Waltman hatte eben auch so seine abgründigen Seiten. Und bei den Gewerkschaften gab es ehrgeizige Leute, die mühelos auch gleichzeitig zwei Chefs zu Diensten waren. Oder auch dreien? Es war noch nicht ganz klar, ob beide Syndikate in die Sache verwickelt waren oder doch nur die Makkaronis. Auch ließ sich nicht eindeutig festmachen, wer und wann auf die Idee gekommen war. Nahe liegend war sie allemal. Denn die Einwanderer, die sich an Cyrus D. Waltmans Fließbändern zum Zwecke der Automobilherstellung verdingten, hatten ja fast alle Ehefrauen. Und hübsche Töchter. Und wenn dem nicht so war, dann konnte man nachhelfen. Mädchenhandel war neben den Gewinnen, die sich aus der Prohibition schlagen ließen, so ziemlich das einträglichste Geschäft, wenn man es mit den Gesetzen nicht so genau nahm.

Und der ehrenwerte Mr. Waltman, das hatten die Gewerkschafts­bosse ganz richtig erkannt, lieferte dafür die perfekte Maske. Wie hatte man ihn überzeugt? Gut möglich, dass dabei Gwendolyns Schönheit eine gewisse Rolle gespielt hatte und natürlich auch ihr beklagenswer­tes Schicksal als Witwe, wofür sich Waltman womöglich tatsächlich verantwortlich fühlte.

Auf diesem Stand ungefähr war ich, als ich am nächsten Morgen ins Büro kam - wobei Mrs. Banks in all den Zeitungsberichten keine Rolle spielte. Dass sie bei mir im Büro saß, überraschte mich kein biss­chen. Betty war sichtlich beeindruckt von ihr, was sich darin äußerte, dass sie ihr bereits Kaffee angeboten hatte.

Als ich eintrat, straffte sich Gwendolyn. Ohne jedes Lächeln reich­te sie mir die Hand. »Kann ich... unter vier Augen mit Ihnen reden?«

»Klar«, versicherte ich und sah, wie auf Bettys Stirn Gewitterwol­ken entstanden. »Meine Sekretärin ist so gut wie blind. Wir sind sozu­sagen ganz unter uns.«

Während Betty sich entspannte, verhärteten sich Gwendolyns Zü­ge. »Ich nehme an, Sie wissen inzwischen das Meiste. Dann können Sie auch noch den Rest erfahren.«

Ehrlich gesagt, ich hätte auf diesen Rest ganz gern verzichtet. Bet­ty begann schon nach den ersten Sätzen von Mrs. Bank wie ein Schlosshund zu heulen und wüste Beschimpfungen auszustoßen.

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Gwendolyn achtete nicht darauf, es war, als würde sie einen Text her­unterleiern, den sie in- und auswendig kannte. Was sie aussprach, war gewissermaßen das Fleisch zu dem, was sich an diesem Tag in den Zeitungen so wichtig machte.

Denn sie hatte nicht nur ihren Mann durch einen Arbeitsunfall ver­loren. In gewisser Weise musste sie den Verlust ihrer Tochter ebenfalls Cyrus D. Waltman ankreiden. Dass man ihre Tochter zur Prostitution zwang, im zarten Alter von sechzehn Jahren, erfuhr sie zur selben Zeit, als sie Witwe wurde. Sie erfuhr auch, dass ihrer Tochter damit gar nichts Besonderes widerfuhr. Nicht immer musste ein Arbeiter durch einen Arbeitsunfall sein Leben verlieren, bevor die Ehefrauen und Töchter davon zu überzeugen waren, wie auch sie etwas zum kargen Lebensunterhalt beisteuern konnten. Was Gwendolyn erzählte, ließ vermuten, dass das Geschäft mit dem Mädchenhandel und mit der Prostitution fast so viel abwerfen musste wie der Verkauf der Automo­bile.

»So ein Schwein!« Betty durchpflügte unermüdlich das Büro und immer wieder stieß sie diese Worte aus. Ich fand, dass sie ein ganz passender Kommentar waren zu Mrs. Banks Bericht.

»Ich hab das alles herausgefunden, weil ich mich zum Schein da­rauf eingelassen habe«, erzählte sie und wurde dabei ein bisschen rot. »Aber wirklich nur zum Schein. Dass ich dann Mr. Smith kennen ge­lernt habe, war reiner Zufall. Aber ich hab gleich gemerkt, dass er mir nützlich sein kann.«

»Moment«, unterbrach ich sie und bot ihr eine Zigarette an. »Wer ist Mister Smith?«

»Joe Smith, den kennen Sie doch!«, rief sie und inhalierte tief. »Mit dem saßen Sie doch gestern auf dieser Bank bei der Hochbahn.«

Fast hätte ich gelacht. Mein Mr. X hieß einfach Joe Smith! Manch­mal schlug das Leben schon seltsame Kapriolen.

»Er ist ein Gauner«, fuhr Gwendolyn fort. »Das war mir ziemlich schnell klar. Aber verdient hat er es eigentlich nicht. Ich meine, wenn man ihn zum Beispiel mit Mister Waltman vergleicht. Aber er war ge­nau der Richtige für mich.«

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»Sie haben sich ganz zielstrebig mit ihm angefreundet und so ge­tan, als wüssten Sie nicht, dass er...«

»Ja, ein Kleinkrimineller und Heiratsschwindler«, unterbrach mich Gwendolyn mit einer wegwerfenden Geste. »Aber das hat mich nicht interessiert. Die Wohnung auf der South-Side dagegen schon. Da ich ja über gewisse Kontakte zu Mister Waltman verfügte, war es leicht, ihn dorthin zu bestellen. Ich konnte mir sicher sein, dass Joe nicht da sein würde.«

»Und dann haben Sie Cyrus D. Waltman erschossen?«, fragte ich und fand, dass Gwendolyn Bank schöner aussah denn je.

»Ja. Aber erst, nachdem ich ihn erdrosselt hatte. Mit seiner eige­nen Krawatte. Irgendwie war das so schnell gegangen und ich war noch so wütend. Und wo ich mir den Revolver schon mal besorgt hat­te... Ich hab einfach drauflos geballert. Und gestaunt, wie das Blut nur so rausgespritzt ist aus ihm.«

»Das Schwein hat es nicht besser verdient!« Betty hielt in ihrem wütenden Auf und Ab inne, direkt vor Mrs. Bank. Nach kurzem Zögern umarmte sie Gwendolyn.

Ich konnte Betty so gut wie selten verstehen. Allerdings befand ich mich in einer kniffligen Situation. Nicht nur jener Oberstaatsanwalt, auch Hollyfield sah inzwischen den Fall Waltman als gelöst an. Den Mörder vermuteten sie im Syndikat der Makkaronis.

»Wenn Sie jetzt von mir verlangen, eine Verbindung mit Hollyfield zu machen, werde ich mich weigern.« Betty baute sich vor mir auf, mit energischer Miene, blitzenden Augen und in die Hüften gestemmten Armen. »Und wenn Sie diese Frau zwingen sollten, jetzt irgendwo hin­zugehen, dann...« Sie präzisierte ihre Drohung nicht, spreizte aber schon mal ihre Hände mit den sorgfältig lackierten Fingernägeln. Ein Tiger, zum Angriff bereit.

Da stand Gwendolyn Bank auf und wischte einen Krümel gar nicht vorhandener Asche von ihrer Kostümjacke. »Sie werden wissen, Mister Connor, wohin Sie mich jetzt bringen müssen. Tun Sie's. Ich wollte nur, dass Waltman bekommt, was er verdient. Alles andere ist jetzt unwichtig.«

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Sie lächelte mich an und es war, als würde die Sonne aufgehen. Was für eine Frau! Betty stieß eine Verwünschung nach der anderen aus und alle galten mir.

Ich steckte mir eine Zigarette an, aber das half nicht gegen den schalen Geschmack in meinem Mund. Gwendolyn stand schon an der Tür, hoch erhobenen Hauptes, lächelnd.

»Bringen Sie sie weg!«, rief Betty mir zu. »Immer nach Süden. Zur Not bis nach Mexiko! Wenn Sie das nicht tun...«

»Schon gut, Betty.« Ich war ganz ihrer Meinung. Dann hielt ich Gwendolyn Bank die Tür auf und genoss bis zum

Auto jeden Schritt an ihrer Seite. Ich half ihr in den Wagen. »Lang wird es leider nicht dauern bis zum Polizeipräsidium.«

»Von mir aus können Sie ja einen Umweg machen, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Aber am Ende bleibt ja doch nur dieses Ziel.«

Als ich mich hinters Steuer klemmte, entschloss ich mich, doch auf direktem Weg zu Hollyfield zu fahren. Wer weiß, ob ich die Route sonst nicht doch noch geändert hatte, ungefähr in der Richtung, die Betty angedeutet hatte. Aber wer war ich, um mich einem Wunsch von Mrs. Bank zu widersetzen?

Ende

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