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DER NATIONALSTAAT ENTSTEHT

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96 spiegel special geschichte 1 | 2007 DER NATIONALSTAAT ENTSTEHT HAMBACHER FEST Auf die Massenkundgebung für ein freies und geeintes Deutschland Ende Mai 1832 im pfälzischen Hambach reagierte die Poli- tik harsch – mit der Unter- drückung der Presse- und Versammlungsfreiheit.
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DER NATIONALSTAAT ENTSTEHT

HAMBACHER FESTAuf die Massenkundgebungfür ein freies und geeintesDeutschland Ende Mai1832 im pfälzischenHambach reagierte die Poli-tik harsch – mit der Unter-drückung der Presse- undVersammlungsfreiheit.

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GEGENDIE

DYNASTIENZu Beginn des 19. Jahrhunderts war die

Nationalbewegung in Deutschland nur dieSache einer kleinen Elite. Aber schon

ehe es 1871 zur Reichsgründung kam, war der Glaube an eine schicksalhafte

Einheit zum Massenphänomen geworden.

Von Hans-Ulrich Wehler

Immer noch ranken sich Legenden um die Frage, wie eigentlich Na-tionen entstehen. Die Geschichtsforscher des 19. Jahrhunderts ga-ben einer Idee den Vorzug, und sie liest sich so: Völkerwanderungin Europa; als endlich die riesigen Stämme zur Ruhe kommen, da

habe sich allmählich ein Nationalgefühl entwickelt mit dem Ziel derMenschen, einen eigenen Staat zu errichten und darin eine eigeneKultur auszuleben. Dies habe gewissermaßen die göttliche Weltordnungvorgesehen.

Seit zwei Jahrzehnten stellt die moderne Nationalismusforschungsolch überlieferte Vorstellungen radikal in Frage. Sie geht von der un-gleich realistischeren Annahme aus, dass erst der Zerfall tradierterWeltbilder und gesellschaftlicher Ordnungssysteme die Suche nach ei-nem neuen, integrationsfähigen Weltbild auslöste. So gesehen, trifft diepointierte Formulierung des englischen Nationalismuskenners ErnestGellner den zentralen Punkt: Nicht etwa die Nation habe den Natio-nalismus hervorgebracht, sondern dasIdeensystem des Nationalismus habe sichseine Nationen geschaffen.

Diese folgenreiche Transformation warzumeist das Ergebnis fundamentaler Kri-sen, in deren Verlauf die bisher verbindli-

HANS-ULRICH WEHLER war bis 1996 Geschichts-professor in Bielefeld.Der 75-Jährige lehrteauch in Harvard.

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CHRONIK

VON WIEN NACH VERSAILLES

Preußische Attacke bei Königgrätz

1814/15 Napoleon hat Europa durcheinanderge-wirbelt, also muss nach seinem Sturz eine Neuord-nung her – sie wird auf dem Wiener Kongress be-schlossen, an dem rund 200 bis dahin eigenständi-ge Territorien teilnehmen.

1819 Der Germanist Jacob Grimm, mit seinemBruder Wilhelm der bekannteste Märchensammler(„Grimms Märchen“), legt den ersten Band seiner„Deutschen Grammatik“ vor. Das vierbändige,1837 abgeschlossene Werk ist ein Grundstein derdeutschen Sprachgeschichte.

1832 Rund 30 000 Menschen – vom Handwerkerbis zum Abgeordneten – ziehen im Mai hinaufzum Hambacher Schloss in der Pfalz, um für Ein-heit, Freiheit und Demokratie zu werben.

1833/34 Unter Preußens Führung organisiertsich die erste Wirtschaftseinheit – der Deutsche

Zollverein. Er umfassteine Länderfläche vonrund 425 000 Quadratkilo-metern, also knapp 70 000mehr als die heutige Bundesrepublik.

1837 König Ernst August von Hannover entlässtsieben Göttinger Professoren, unter ihnen die Ge-brüder Grimm. Sie hatten gegen die Aufhebung ei-ner recht fortschrittlichen Verfassung protestiert.

1840 Frankreich unterstützt Ägypten im Kampfgegen das Osmanische Reich, wird aber von ande-ren Nationen dafür gemaßregelt. Folge ist die„Rheinkrise“ – Paris beansprucht, gewissermaßenals Revanche für die diplomatische Niederlage,linksrheinische Gebiete. Das scheitert, befördertaber den Franzosenhass.

1842 Mit dem ersten KölnerDombaufest beginnt die Vollen-dung (1880) der größten deut-schen Kathedrale. FriedrichWilhelm IV., der protestantischePreußenkönig, bekennt sich inden katholischen Urlanden zurVersöhnung der Konfessionen.

1848 Der Funke der Revolu-tion springt aus Paris nachDeutschland (und Österreich)über, ab Mai tagt in der Frank-furter Paulskirche das erste demokratisch gewählte gesamt-

deutsche Parlament, die Nationalversammlung.Karl Marx und Friedrich Engels geben das „Kom-munistische Manifest“ heraus.

1849 Im März verabschiedet die Nationalver-sammlung eine Reichsverfassung, die das Erbkai-sertum festlegt. Friedrich Wilhelm IV. von Preußenlehnt die Kaiserkrone ab, weil er nur ein Monarchvon Gottes Gnaden sein will. Damit ist die Revolu-tion gescheitert.

1864 Unterstützt von Österreich, zettelt Preußeneinen Krieg gegen Dänemark an. Auf den „Düp-peler Schanzen“, einer Verteidigungslinie am Al-sensund, kommt es zur Entscheidungsschlacht. DieDänen verlieren – und büßen die HerzogtümerSchleswig, Holstein und Lauenburg ein.

1866 Nach Konflikten um die ehemals dä-nischen Gebiete verlässt Preußen den Deutschen Bund und erklärt Österreich denKrieg. Bei Königgrätz, etwa hundert Kilo-meter von Prag entfernt, werden die Österreichervernichtend geschlagen; als Folge entsteht der Norddeutsche Bund, der vom heutigen Saar-land bis nach Ostpreußen reicht (30 MillionenEinwohner).

1869 August Bebel und Wilhelm Liebknechtgründen die „Sozialdemokratische Arbeiterpar-tei“, eine Vorläuferin der SPD (1890).

1870 Beginn des Kriegs gegen Frankreich. Diesüddeutschen Länder schließen sich dem Nord-deutschen Bund an; Gründung der katholischenZentrumspartei.

1871 In Versailles lässt sich Wilhelm I. zum Deut-schen Kaiser ausrufen. Bismarck wird erster Kanz-ler im neuen Reich.

Friedrich Wilhelm IV.

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chen Weltbilder und soziopolitischen Ordnungs-kräfte ihre Überzeugungsmacht verloren hatten, sodass die Suche nach neuen, überlegenen Deutungendes Weltgeschehens vorangetrieben wurde. DiesesWeltbild musste aus dem überlieferten Gedanken-haushalt der Zeit konstruiert werden, auch und ge-rade im Hinblick auf seine utopischen Züge.

Angesichts der Dominanz des Christentums hatsich überall im europäisch-amerikanischen Kultur-kreis die altisraelische Überzeugung vom „auser-wählten Volk“ als Inkarnation der eigenen Nationdurchgesetzt. Dass sich auf diese Weise der Natio-nalismus als „Antwort“ auf eine prinzipielle „Her-ausforderung“ im Kontext der Englischen, Ameri-kanischen und Französischen Revolution herausbil-dete, wodurch die im 18. Jahrhundert ökonomischund politisch dominierenden Pionierländer des Wes-tens nationalisiert und ebendadurch auch zum Vor-bild wurden, ist von der Forschung überzeugend ge-zeigt worden.

Der Nationalismus ist daher keine Dauer-erscheinung seit archaischer Vorzeit, sondern durchund durch ein Phänomen der politischen Neuzeit.

In den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas– um 1789 existierten exakt auch 1789 größere Herr-schaftseinheiten und Zwerggebilde nebeneinander –hatte es damals bekanntlich keine Revolution gege-ben. Doch entstanden war eine Gemengelage poli-tischer und ökonomischer, sozialer und kulturellerModernisierungskrisen, die sich für die Regieren-den zu einer bedrohlichen Konstellation zusam-menballten, noch verschärft durch Napoleons Ex-port der Französischen Revolution Richtung Osten.Zugleich entfesselten die militärische ExpansionFrankreichs und der Erfolg seiner inneren Staatsbil-dung starke Energien, ein Vorgang, der offenbar nurmöglich war durch den Nationalismus eines revolu-tionierten Landes.

Auch in den deutschen Herrschaftsgebieten, indenen die französischen – und auch die amerikani-schen – Umwälzungen von einer aufgeschlossenenÖffentlichkeit aufmerksam verfolgt worden waren,formierte sich ein elitärer Zirkel aus Modernisie-rern, die für eine besondere Idee eintraten: den indieser Frühphase typischen Intellektuellennationa-lismus. Marschroute war, die politische Vielfalt desdeutschsprachigen Mitteleuropa in eine einheitliche

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Nation mit einem eigenen Nationalstaat zu verwan-deln. Nur so, glaubten die Erneuerer, könne daskünftige Deutschland im unerbittlichen Wettbewerbdes europäischen Staatensystems erfolgreich mit-halten, ja selbst wieder eine Führungsrolle über-nehmen.

Diese kleine deutsche Nationalgemeinde, dienoch keine mächtige Bewegung verkörperte, be-stand um 1800 aus einigen Professoren, Theologen,Schriftstellern, Studenten und Gymnasialschülern –nicht mehr als gut tausend, großzügig gerechnet.Freilich gehörten einflussreiche, wortgewaltigeMänner dazu, wie etwa Friedrich Schleiermacher,der bedeutendste protestantische Theologe des 19. Jahrhunderts, oder Wilhelm von Humboldt undFriedrich Schiller, natürlich Johann Gottlieb Fichte,Ernst Moritz Arndt und der „Turnvater“ FriedrichJahn. Dazu kamen Reformer wie der Freiherr vomStein und Schlüsselfiguren aus dem Umkreis despreußischen Ministers Karl August von Harden-berg, außerdem prominente Militärs wie die Ge-neräle Clausewitz und Scharnhorst, Gneisenau undBoyen.

Sie deuteten mit Nachdruck die kulturellen Tra-ditionen und Lebensformen der Deutschen im altenReich als nationale Vorgeschichte um. Zugleich be-schworen sie die Metaphysik der Nationalidee, in-dem sie die historische Mission Deutschlands, andessen „Wesen die Welt genesen“ sollte, als Panieraufpflanzten.

Unstreitig gab es vor diesem Intellektuellen-nationalismus schon jahrzehntelang angestrengteBemühungen um die Vorherrschaft der deutschen„National-Sprache“, um ein deutsches „National-Theater“, eine deutsche „National-Literatur“; sosollte im kulturellen Leben die Hegemonie der Fran-zosen durchbrochen werden. Aber erst die Krisen-situation seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ver-mochte die Schubkraft des frühen deutschen Natio-nalismus unwiderruflich zu entfesseln.

Sein Anspruch traf auf die Loyalität der Eta-blierten, erzeugt vom Landespatriotismus in denEinzelstaaten und den autonomen Städten. DieseBindung war jedermann in der Nationalgemeindebewusst, und man ging durchweg davon aus, dassauch jeder – modisch gesprochen – mit der doppel-ten Identität als Deutscher und Preuße oder Deut-

WIENER KONGRESSDie Gesandten tanztennicht nur – monatelangdebattierten sie 1814/15über die Zukunft Europasnach Napoleon. Ein Ergebnis:die Gründung des DeutschenBundes.Holzstich, um 1880.

Kölner Wirren1815 war in Wien dastraditionell katholischeRheinland dem eherprotestantischenPreußen zugeschlagenworden, und es ergabsich ein theologisch-menschliches Problem:die sogenannte Misch-ehe. In aller Regelwurden Kinder solcherPaare katholischerzogen. Doch Berlinverlangte, auf diesePraxis zu verzichten –was der Kölner Erz-bischof Clemens AugustDroste zu Vischeringverweigerte. Militärssetzten ihn deshalb 1837fest; dieser Gewaltaktlöste heftigste Protesteund Tumulte aus,schließlich musste dieRegierung klein beige-ben.

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scher und Bayer sehr wohl zu leben vermochte. Imlockeren Sprachgebrauch der Zeit wurde auch un-geniert von Preußen, Bayern, Hessen als „meinerNation“ gesprochen.

Als der Kampf gegen die napoleonische Vor-herrschaft in einen militärischen Großkrieg münde-te, wurden die Schlachten von Berufstruppen aus-getragen, keineswegs von national enthusiasmier-ten Massenheeren. In den Freiwilligenverbänden,den „Freikorps“ etwa, die später legendär wurden,überwogen auch nicht etwa nationalbegeisterte Studenten, viel mehr abenteuerlustige Handwerks-gesellen und Bauernsöhne.

Und als eine fast 25-jährige Kriegsepoche auf demWiener Kongress in eine Friedensordnung überge-hen sollte, konnte die kleine Gesinnungsgemein-schaft, die – wie etwa Wilhelm von Humboldt inder preußischen Delegation – für ein „geeintesDeutschland“ eintrat, keinen nennenswerten Ein-fluss gewinnen.

Das vom österreichischen AußenministerKlemens von Metternich souverän gelei-tete Bollwerk der dynastischen Staatenerwies sich erst einmal als unerschütter-

lich. Rigoros gingen sie gegen die gefährliche Un-terminierarbeit der Nationaldenkenden vor. Die„Karlsbader Beschlüsse“ von 1819 boten ein hartesRegelwerk von Verfolgungsmaßnahmen auf, die biszu Berufsverboten und Festungshaft führten. Aller-dings war das System damals kein totalitäres. Sohatte, ein Beispiel, der radikaldemokratische Schrift-steller Arnold Ruge jahrelang in Haft gesessen – undnach der Entlassung sich sogleich erneut für seineIdeen einsetzen können. Wer Zivilcourage hatte,der ließ sich so schnell nicht beugen.

Dennoch, aus der Perspektive Metternichs undseiner konservativen Gesinnungsgenossen in denMitgliedstaaten des 1815 gegründeten DeutschenBundes konnte es, aller Skepsis zum Trotz, so aus-sehen, als würde die Ausschaltung gefährlicher Systemveränderer gelingen. Tatsächlich schafften siees nicht. Mithin ist die große Frage, warum sich auchder deutsche Nationalismus als politische Bewe-gungsmacht so durchsetzungsfähig erwies, dass er

schon vor der Revolution von 1848/49 gar nicht mehrübersehen werden konnte.

Für eine Antwort empfiehlt es sich, insbesonde-re auf drei historische Bedingungen zu blicken.

Erstens: Der Vorbildcharakter der nationalisier-ten Großstaaten wie Frankreich und England, gefolgtin der transatlantischen Welt von den USA, wirktesich im europäischen Staatensystem weiter stimu-lierend aus.

Ein Vergleich: Der einflussreiche amerikanischeWirtschaftshistoriker Alexander Gerschenkron hatdie europäische Industrialisierungsgeschichte ausdem Spannungsverhältnis zwischen England als ers-tem „Pionierland“ der industriellen Revolution unddem Zugzwang für die „Nachzüglerstaaten“ erklärt,diesen Vorreiter – etwa durch Imitation – einholenzu müssen, ja überholen zu wollen. Dieselbe Denk-figur lässt sich auch auf die Nationalisierungsge-schichte anwenden: Der Modernisierungsvorsprung,den, wie es schien, die neuen Nationalstaaten soüberzeugend gewonnen hatten, wirkte auf die an-deren Mitglieder des Staatensystems als hoch at-traktives Vorbild, geradezu als Modell, um das manin der Wettbewerbssituation nicht umhinkam. Unab-lässig wurde daher durch die bereits bestehendenNationalstaaten die Hoffnung auf den endlich zuschaffenden eigenen Nationalstaat wachgehalten.

Zweitens: Aufregende Krisen beschleunigten dasErstarken des deutschen Nationalismus. Hier sei anvier erinnert. So wurde der griechische Unabhän-gigkeitskampf gegen das Osmanische Reich (1821bis 1830) in der deutschen Öffentlichkeit, deren Bil-dungsbürger im Zeichen des Neuhumanismus oh-nehin griechenfreundlich eingestellt waren, als eineArt von Stellvertreterkrieg für die großartige Sacheder Nationalstaatsbildung unter äußerst schwieri-gen Umständen wahrgenommen. Das konnte durch-aus Vorbild sein.

Kaum war die Griechenbegeisterung etwas ab-geklungen, löste 1830 der polnische Aufstand gegendie russische Teilungsmacht durchaus vergleichbare,ja gesteigerte Sympathien aus. Wiederum ging esum den Stellvertreterkampf eines unterdrücktenVolkes, das – wie jedenfalls das Aufbegehren inter-pretiert wurde – um seine Existenz als eigene Nation

FÜRST METTERNICHDer gebürtige Koblenzer warals österreichischer Außen-minister Organisator desWiener Kongresses: intelli-gent, durchsetzungsfähig,aber auch ein Mann derRepression, gewandt gegenalles Moderne.

VORBILD ENGLANDIn Manchester und anderenStädten auf der Insel wurdeschon früh industriell produ-ziert. Bald aber zogen dieDeutschen am Pionierlandvorbei. „Made in Germany“errang schnell Weltruf.

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mit einem eigenen Nationalstaat schwere Opfer aufsich zu nehmen bereit war. Auch die schnelle Nie-derlage der Aufständischen reduzierte kaum dieemotionale innerdeutsche Mobilisierung.

Folgenreicher noch wirkte sich die Rheinkrise von1840 aus. In ihrer Nahostpolitik unerwartet gebremst,suchte die französische Staatsleitung, unterstützt von großen Teilen der öffentlichen Meinung, eineneigenartigen Ausgleich für die vermeintlicheSchwächung – sie forderte das linke Rheinufer als„Kompensation“, als Wiedergutmachung.

Mit unerwarteter Heftigkeit stemmte sich jedochden Pariser Chauvinisten und ihrer Annexionslustein deutschnationaler Protest entgegen, der sichrasch durch alle sozialen Klassen ausbreitete. ImSeptember 1840 veröffentlichte Nikolas Becker seinRheinlied („Sie sollen ihn nicht haben, den freiendeutschen Rhein“), dessen Siegeszug zu 200 Verto-nungen führte. Nicht minder populär war MaxSchneckenburgers „Die Wacht am Rhein“. Unterdem Eindruck der Drohung dichtete auch HeinrichHoffmann von Fallersleben sein „Deutschlandlied“,das später dann zur Nationalhymne wurde.

Der Rückzug der französischen Regierung ließdie Erregung zwar bald schon abklingen. Doch un-übersehbar zeigte die Rheinkrise einen deutschenNationalismus als Massenphänomen, das sich be-reits weit über den anfänglichen Intellektuellen-nationalismus hinausbewegt hatte.

Auf die Dauer ging eine mindestens ebenso mo-bilisierende Wirkung von dem Streit um die beidenHerzogtümer Schleswig und Holstein aus, der dieGemüter in den 1840er Jahren zunehmend beweg-te. Dieser Konflikt erwies sich geradezu als Magnet,der das nationale Ressentiment an sich band. Hol-stein gehörte dem Deutschen Bund an, Schleswigaber war außerhalb geblieben. Dennoch waren bei-de Territorien durch Personalunion seit langem auchin den dänischen Staatsverband eingebunden.

Gegen die spätabsolutistische Zentralisierung-stendenz der Kopenhagener Monarchie wehrte sichdie regionale Ritterschaft unter dem Banner ihrestraditionellen Landespatriotismus, und Kieler Pro-fessoren unterstützten wortreich ihren Autonomie-anspruch. Die dänische Sprachenpolitik goss nochÖl in das Feuer. Schrittweise wurde ein altständi-scher Autonomiewunsch in ein national begründe-tes Anschlussprogramm verwandelt, das die Auf-nahme der beiden norddeutschen Territorien in denDeutschen Bund forderte.

Als der neue dänische Monarch im Januar 1848eine liberale Gesamtstaatsverfassung verkündete,welche die beiden Herzogtümer als gleichberech-tigte dänische Territorien behandelte, stellte sich imVorfeld der Revolution heraus, dass auch die Libe-ralität der Verfassung die nationale Erregung nichtentschärfen konnte. Noch im März 1848 kam eswährend der allerersten Phase der Revolution zueiner nationaldeutsch überhöhten Erhebung, diezum Krieg gegen Dänemark führte. Im politischenSpektrum von den Konservativen bis hin zu denRepublikanern und ersten „Social-Demokraten“war Konsens, dass der Waffengang zur Lösung einergenuin nationalen Aufgabe notwendig sei.

Drittens: Außer dem Wettbewerb des Staaten-systems und den zusehends tiefer greifenden Be-schleunigungseffekten, die von solchen Krisensitua-

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tionen ausgingen, ist als ein weiterer Einflussfaktorder fundamentale sozialgeschichtliche Prozess ei-ner gesellschaftlichen Organisierung des deutschenNationalismus ins Auge zu fassen. Um welche Kräf-te ging es dabei?

Da waren etwa die Turner, die mit viel Schwungdafür sorgten, dass ihr Nationalismus sich zu einerbreitenwirksamen Offensivideologie zu entwickelnbegann. Eine vergleichbare Funktion übernahmendie Männergesangsvereine, die keineswegs nur dermusischen Entspannung, sondern vor allem auchder Pflege des „patriotischen Liedes“ dienten – mitunüberhörbarem nationalpolitischem Anspruch.

In diesen Zusammenhang gehörten auch die or-ganisierten Schützen und besonders die früheBurschenschaftsbewegung, die von Anfang anauf die nationale Karte gesetzt hatte. Sie war in

der Folge Metternichscher Repressionspolitik ver-boten worden. Diesem Akademikernationalismuswurde dadurch zunächst die Spitze genommen.Aber im Selbstbewusstsein nicht weniger Studentenblieb die Überzeugung lebendig, dass sie als künfti-ge Angehörige der staatlichen Funktionseliten eineMultiplikatorenrolle übernehmen sollten.

Vorerst jedoch griff die „Demagogenverfolgung“rigoros zu. 1823 wurden die letzten Assoziationender politisierten Studenten zerschlagen. Wegen deretwas lockeren Verhältnisse in den süddeutschenVerfassungsstaaten kam es dort in den späten 1820erJahren schon wieder zu Neugründungen, und 1827forderte der Bamberger Burschenschaftstag dieGründung eines liberalen Nationalstaats.

Als einige radikal Gesinnte im April 1833 dieFrankfurter Hauptwache stürmten, griff die neue„Zentralbehörde“ zur Verfolgung von „Umtrieben“hart zu: 1200 Studenten wurden wegen Hochverratsangeklagt, Hunderte verurteilt. Doch ist es ein Zei-chen der Vitalität dieser Studentenbewegung, dasssie sich nur wenige Jahre später bereits in neuenVereinigungen regte und die Speerspitze einer libe-ralen Organisation mit eigener wagemutiger Publi-zistik bildete.

DÜSTERE SYMBOLIKEin Adler, das Wappentierdes zaristischen Russland,krallt sich fest in PolensPrometheus, den Hoffnungs-träger – soll heißen:Warschaus Freiheitskämpferhaben verloren (1830/31).Gemälde von Horace Vernet,1831.

Berliner„Normalzeit“Zeit ist nicht nur Geld,Zeit kann auch verwir-ren – wenn der Standder Sonne den Taktvorgibt oder aber jedesLand eine eigene Zeithat. Beispiel Bodensee,um 1860: Während esin Bregenz (Österreich)Punkt 12 Uhr mittagswar, zeigten die Uhrenin Romanshorn(Schweiz) 11.32 an, 11.36in Konstanz (Baden),11.39 in Friedrichshafen(Württemberg) und11.49 in Lindau(Bayern). Der immerstärker werdende Eisen-bahnverkehr zwangzu einer Einheitszeit,der „Normalzeit“;sie galt lange nur inPreußen. 1893 wurdein Deutschland dieMitteleuropäische Zeit(MEZ) eingeführt.

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Und schließlich lohnt sich der Blick auf einfluss-reiche akademische Organisationen, die sich, jedeauf ihre Weise, den Nationalgedanken zu eigenmachten. Wegen des Ansehens, das die Welt derUniversitäten und ihrer Professoren damals in dendeutschen Staaten genoss, ist der Einfluss solcher„strategischer Cliquen“ nicht gering zu schätzen.

An erster Stelle muss die 1822 gegründete „Ge-sellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ ge-nannt werden. Schon sein Gründer, der vielseitigeGelehrte Lorenz Oken, hatte auf Jahrestreffen mitwechselndem Tagungsort bestanden, damit die Wis-senschaftler, wie es bezeichnenderweise hieß, als„geistiges Symbol der Einheit des deutschen Volkes“wirken konnten. Auf 25 solcher Konferenzen, meistin den Universitäts- und Residenzstädten des Bun-des abgehalten, demonstrierten 650 prominente Mit-glieder den gesamtdeutschen Zusammenhang ihrerWissenschaften.

Seit 1837 ahmte die „Versammlung DeutscherLand- und Forstwirte“ die Naturforscher nach, dennauch auf ihren Versammlungen blieb das Zukunfts-ziel des „vereinigten Vaterlandes“ ein Dauerthema.1838 folgte der „Verein Deutscher Philologen undSchulmänner“, dem sich zahlreiche Gymnasiallehreranschlossen, so dass auf den Jahrestagungen einemeinungsbildende, durch gemeinsame nationalpoli-tische Vorstellungen verbundene Gruppe von er-heblichem Einfluss regelmäßig zusammenkam.

Fraglos noch mehr Aufsehen unter den Zeitge-nossen erregten aber die erst 1846 stattfindendenKongresse der „Germanisten“, zu denen all jeneWissenschaftler gehörten, die sich mit deutschem

Recht, deutscher Geschichte, deutscher Sprache unddeutscher Literatur beschäftigten. Neben der Kulturpflegten sie ein dezidiert nationalpolitisches Enga-gement. Deshalb blieben die Römisch-Rechtler undRomanistikprofessoren, kurz: die „Romanisten“, ri-goros außen vor.

Überdies wurde das wachsende nationale Enga-gement gerade in den 1840er Jahren durch eine Rei-he von mehrtägigen, überregionalen großen Festenmit Abertausenden von Besuchern aus allen deut-schen Staaten unterstützt. 1840 traf man sich zumGutenberg-Fest. 1843 wurde der Vertrag von Verdun1000 Jahre zuvor als Grundstein der ostfränkischenReichsbildung gefeiert. 1842 zog die Gründung des„Gustav-Adolf-Vereins“ die Aufmerksamkeit desprotestantischen Deutschland auf sich.

Regelmäßig traf sich der „Börsenverein deut-scher Buchhändler“, seine Aufmerksam-keit richtete er auf den gesamten deutsch-sprachigen Absatzmarkt. Auch die früheren

Wirtschaftsverbände griffen auf solche Vorstellungenvon „Nationalökonomie“ und „nationaler Arbeit“zurück, als sie den Markt gegen Konkurrenz schüt-zen oder als Freihandelszone öffnen wollten. Undnicht zuletzt: 1847 kam es zur Bildung des „Vereinsdeutscher Eisenbahnverwaltungen“, der die Koor-dination des rapide anwachsenden Eisenbahnver-kehrs übernahm; im Januar 1848 führte er die „Ber-liner Normalzeit“ für einen Großteil des außer-österreichischen Deutschland ein.

Wie in einem Knotenpunkt liefen die nationalenStrömungen während der Revolution von 1848/49

REVOLUTIONSJAHR 1848Feuer, Kugeln, Barrikaden –und Tote. In vielen Städtentobte im März 1848 eine ArtBürgerkrieg. Der Kampf amBerliner Alexanderplatz warbesonders verlustreich.Zeitgenössische Lithografie.

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zusammen. Ausgelöst durch die Initialzündung derneuen französischen Revolution, die sogenanntePauperismuskrise des deutschen Vormärz, den Ein-bruch der industriellen Konjunktur, die Enttäu-schung über die ausbleibende preußische Verfas-sungspolitik und das Erlahmen der Reformbeam-tenschaft ballte sich im März/April 1848 eine Auf-bruchstimmung zusammen, in der auch der Ruf nacheinem liberalen deutschen Nationalstaat immer lau-ter erscholl. Binnen kurzem bildeten sich in der Na-tionalfrage zwei große Lager heraus. Auf der einenSeite standen die „Großdeutschen“, die Österreichals im Kern deutschen Staat unbedingt mit einbe-ziehen wollten. Ihnen gegenüber standen die„Kleindeutschen“, die auf die Führungsrolle derpreußischen Hegemonialmacht unddas Schwergewicht der protestanti-schen Nord- und Mitteldeutschensetzten.

Während die knapp 600-köpfigeNationalversammlung, entgegen derLegende von der zeitvergeudenden„Schwatzbude“, in einem beispiel-losen Arbeitstempo an ihre Proble-me heranging, stellte sich schnellheraus, dass für beide Positionenkein Kompromiss akzeptabel war.Zwar setzte sich schließlich diepreußische Fraktion durch, doch Kö-nig Friedrich Wilhelm IV. lehnte dieWürde eines künftigen Erbkaisersals Staatsoberhaupt ab, und unmit-telbar danach hatten sich die Kräfteder konservativen Gegenrevolutionauch schon wieder durchgesetzt.

Es ist eine irreführende, wennauch oft wiederholte Auffassung,dass das Werk der Frankfurter Na-tionalversammlung hauptsächlich ander nationalpolitischen Kontroversezwischen Groß- und Kleindeutschengescheitert sei. Dieser Streit war nureiner unter vielen. Tatsächlich schei-terte die Nationalversammlung, zu-mal ihr nur wenige Monate lang ein„window of opportunity“ offenstand, an der Überlastung mit einerVielzahl von gleichzeitig auftretenden und zu lö-senden Modernisierungsaufgaben.

Da sollte ein liberaler Verfassungsstaat, eingroßzügiges Wahlrecht, eine moderne marktwirt-schaftliche Verfassung, ein zeitadäquates Recht, eineverständige Außenpolitik und noch vieles mehr ge-schaffen werden – und für all das reichten Kraft undZeit nicht aus.

Die nationalpolitische Kontroverse mit ihrerleicht begreifbaren Polarisierung der öffentlichenMeinung beschäftigte aber Parlament und Öffent-lichkeit gleichermaßen. In den Debatten mahntendie Befürworter des Nationalstaats stürmisch dieRealisierung ihres Programms an, ebenso entschie-den widersprachen die Konservativen. Dabei tratennicht nur die Vorzüge eines liberalen Nationalis-mus, sondern auch seine von der Opposition ver-zerrt dargestellten Gefahren zutage.

Zum Beispiel die feindselige Arroganz, mit derdie nationalen Selbständigkeitsbestrebungen der

CARL SCHURZMit 23 Jahren emRheinländer undRepublikaner naund machte hiererst als General,minister (1877 b

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Polen und Tschechen, der deutschen Kultur angeb-lich unterlegene „Völkertrümmer“ (Friedrich En-gels), abgeschmettert und der deutschnationale In-teressenegoismus auch in den gemischtnationalenSiedlungsgebieten Osteuropas durchgesetzt werdensollte.

Die Niederlage der Revolution führte dazu, dassAberhunderte der aktivsten Nationalstaatsverfech-ter ins Exil gingen, die Mehrheit nach Nordamerika,wo einige – wie etwa Carl Schurz oder FriedrichKapp – zu Amt und Würden kamen. Die Fluchtschien geboten, da erneut, wie seit 1819, eine Ver-folgungswelle einsetzte, die sich an Härte durchausmit dem ersten Repressionsschub 30 Jahre zuvorvergleichen ließ.

Dennoch gelang es in der neuenRestaurationsphase nur für eine er-staunlich kurze Zeit, den Nationa-lismus aus dem öffentlichen Lebenfernzuhalten. Denn das Vorbild voll-endeter westlicher Nationalstaatenblieb ja vor aller Augen bestehen.Außerdem handelte es sich bei demdeutschen Nationalismus um einejunge, schwungvolle, nur zeitweiligzu bremsende Bewegung. Zu Rechtpostulierte ein Vertreter der literari-schen Strömung des „JungenDeutschland“, der SchriftstellerHeinrich Laube, dass es in die Irreführe, wenn der „deutsche Patrio-tismus und das Verlangen nach ei-nem einigen Deutschland weit ... indie Geschichte“ zurückverlegt wür-den: „Diese Gesinnung und diesesBestreben sind modern.“ Laube hat-te den Übergang vom Intellektuel-lennationalismus zum Massennatio-nalismus selbst soeben miterlebt.

In diesem Zusammenhang istwichtig und bemerkenswert, dass diepolitischen Verhältnisse in Italien fürDynamik in Deutschland sorgten. Sonahm sich der 1859 gegründete„Deutsche Nationalverein“ die Agi-tationszentrale der „Società Nazio-nale“ zum Vorbild. Der Nationalver-

ein ging aus dem Zusammenschluss liberaler unddemokratischer Politiker hervor, die einen deut-schen Nationalstaat unter preußischer Führung, alsodie Ausführung des kleindeutschen Programms, for-derten. Er verkörperte eine lockere Allianz aus Ho-noratiorenverband und demokratischer Massenbe-wegung. Zahlreiche Mitglieder der anschwellendenliberalen und demokratischen Opposition gegen denDeutschen Bund übten in seinen Reihen die Zu-sammenarbeit mit nationalpolitischen Zielen ein:Bundesstaat mit einheitlicher Führungsspitze undeinem gewählten Nationalparlament. Wegen der Er-eignisse von 1866/67 brach diese Allianz der Eliten,die auf die öffentliche Meinung nachhaltig einge-wirkt hatte, auseinander.

Währenddessen strahlte der italienische Eini-gungsprozess – in unmittelbarer Nähe und vor allerAugen – auf deutsche Öffentlichkeit und National-bewegung aus, und er stärkte die Zuversicht auchder deutschen Nationalpartei. Der Publizist Ludwig

rierte derberzeugte Amerika –arriere: ann als Innen- 1881).

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FRIEDRICH ENGELSZusammen mit Karl Marxgab der gelernte Kaufmannim Revolutionsjahr 1848 das„Kommunistische Manifest“heraus, es endet mit derberühmten Parole: „Proleta-rier aller Länder, vereinigteuch!“

„DeutscheLegion“Anfang März 1848 hattein Paris der EmigrantAdelbert von Bornstedtdie „Deutsche Demo-kratische Gesellschaft“gegründet. Daraus gingein militärischer Trupphervor, den der radikaleDichter Georg Herwegh(1817 bis 1875) anführte.Mit etwa 700 Mann,unter ihnen einigeeuropäische Söldner,wollte die „DeutscheLegion“ im April 1848aus Frankreich denbadischen Aufständi-schen um FriedrichHecker zu Hilfe eilen –und wurde aufgerieben.Herwegh flüchtete indie Schweiz, Bornstedtkam ins Gefängnis,Hecker emigriertespäter nach Amerika.

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August von Rochau, Erfinder des Modeworts „Real-politik“, verfocht in den Publikationen des „Natio-nalvereins“ und in anderen Presseorganen seineÜberzeugung: „Ideen haben immer gerade so vielMacht, als ihnen Menschen leihen“, dozierte er.„Daher ist eine Idee, welche, gleichviel ob richtigoder unrichtig, ein ganzes Volk oder Zeitalter erfüllt,die realste aller politischen Mächte.“ Dass auch derdeutsche Nationalismus zu einer solchen Idee auf-gestiegen sei, war die feste Überzeugung Rochausund seiner Leser.

Dieser Konsens wurde erneut auf großen öffent-lichen Festen bekundet und verstärkt. So gerietenetwa die Schillerfeste von 1859 zu machtvollen Kund-gebungen. Das Deutsche Schützenfest von 1862, dasDeutsche Turnfest von 1863, auch das Kölner Dom-baufest im selben Jahr und das Deutsche Sängerfestvon 1865 – sie alle präsentierten nicht nur demon-strativ die deutsche Nationalkultur, sondern über-wiegend unterstützten sie auch das nationalpoliti-sche Ziel einer Einigung unter preußischer Führung.

Gleichzeitig trat seit den 1850er Jahren eine neueSpielart des Intellektuellennationalismus zutage, alsprominenten preußisch-protestantischen Histori-kern, der sogenannten borussischen Schule, die Er-findung einer Tradition gelang. Ihr zufolge besaßPreußen die historische Mission, so lautete ihr hun-dertfach wiederholtes geschichtstheologisches Ar-gument, dem deutschen Volk den nationalen Ein-heitsstaat zu schenken.

Diese Aufgabe versuchten Droysen und Sybel,Mommsen und Treitschke mit ihren Anhängern inwissenschaftlichen Arbeiten, auf deren Qualität ihrRenommee beruhte, nachzuweisen. Vor allem aberscheuten sie sich nicht, die Gelehrtenstube im aka-demischen Elfenbeinturm zu verlassen, um in allenZeitschriften und Zeitungen, die sich ihnen öffneten,auf zahllosen Tagungen und Konferenzen ihre Auf-fassung immer wieder als historische Notwendig-keit zu verfechten.

Da in dieser Zeit die Geschichte die „Grundwis-senschaft“ des deutschen Bildungsbürgertums ver-

G

körperte, kann der Einfluss dieser Meinungs-macher kaum überschätzt werden. Sie bestimmtendas intellektuelle Klima. Und das umso eindeutiger,als die österreichisch-katholische Seite damals keine Gelehrten von vergleichbarem Rang besaß, so dass die relativ kleine, doch strategisch günstigpostierte borussische Elite einen erstaunlichen Multiplikatoreffekt erreichte. Ihr Netzwerk engerund persönlicher Beziehungen fungierte als effi-ziente „pressure group“, die mit intellektueller Passion und politischem Engagement ihrem Leit-stern folgte.

Dennoch waren es nicht die liberale Natio-nalbewegung, nicht die Führungselite derVerbände, nicht die borussische Schule,die einen deutschen Nationalstaat her-

beiführten, sondern die großpreußische Kriegspoli-tik eines Otto von Bismarck. Mit diesem Politikertrat eine politische Potenz sui generis auf die histo-rische Bühne. 1848/49 ein leidenschaftlicher Revo-lutionsgegner und Verächter des „Nationalitäts-prinzips“, sollte der Erzkonservative seit 1862 alspreußischer Ministerpräsident das alte Regime imVerfassungskonflikt vor dem Anprall der neuen Zeitretten. Zu welcher unbefangenen Analyse Bismarcksich im Stande zeigte, war jedoch bereits 1858 deut-lich geworden, als er einem Kontrahenten aus 48erTagen, dem inzwischen zum Eisenbahnunterneh-mer aufgestiegenen Liberalen Victor von Unruh,mit der für ihn typischen Offenheit gestand, dass sichgroße Politik nur mehr in Zusammenarbeit mit derNationalbewegung betreiben lasse.

Davon war zunächst nicht die Rede, aber schonder Krieg gegen Dänemark im Jahre 1864 zog dasgroße Lager der Schleswig-Holstein-Freunde auf sei-ne Seite. Und der Sieg im „deutschen Bürgerkrieg“,wie die Zeitgenossen die Auseinandersetzung mitÖsterreich um die Hegemonie in Mitteleuropa nann-ten, schien zu bestätigen, dass mit dem preußisch do-minierten Norddeutschen Bund der Kern für einenkleindeutsch-protestantischen Nationalstaat ent-stand. Da kurz darauf der Sieg von 1870/71 im Krieggegen Frankreich folgte, hat eine einflussreiche Ge-schichtsschreibung die Einbahnstraße einer natio-nalpolitischen Erfolgsgeschichte vorgezeichnet, mitBismarck gewissermaßen als Exekutor der Natio-nalbewegung und ihrer Pläne.

Bismarck ging es aber an erster Stelle nicht umdie Verwirklichung nationaler Hoffnungen, sondernum preußische Machtexpansion auf Kosten des tra-ditionellen Rivalen Österreich. Und zum Zweitenhing die Entscheidung vom Schlachtglück ab. Alssich die beiden Kontrahenten nahe Königgrätz ge-genüberstanden, hatte Helmuth von Moltke als Ge-neralstabschef zwar eine nahezu perfekte Planungzustande gebracht, die erstmals auf der schnellenTruppenbewegung mit der Eisenbahn beruhte.

Doch die Schlacht neigte sich zugunsten derÖsterreicher, da die dritte preußische Heeresgruppewegen technischer Schwierigkeiten stundenlangnicht auftauchte. Wäre deshalb die Entscheidunggefallen, wären alle kleindeutsch-großpreußischenPläne im Wind zerstoben. Bismarck hätte, wie erunkte, sofort sein Amt verloren, Österreich hättedie mitteleuropäischen Verhältnisse gemäß seinerInteressenlage als multinationaler Staatsverband neu

KÖLNER DOM632 Jahre dauerte sein Bau,1880 war er endlich fertig.Vor dem Festzelt verlasKaiser Wilhelm I. am 15. Oktober die Vollendungs-urkunde. Im Hintergrund:der Turm der romanischenKirche Groß St. Martin.

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AK

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DüppelerSchanzen

Sedan

Königgrätz

Berlin

Wien

Florenz

1866

1870

1864Grenzen von 1815

KÖNIGREICHPREUSSEN

KAISERTUM**

ÖSTERREICH

KIRCHENSTAAT

OSMANISCHESREICH

FRANK-REICH*

KGR. DERVEREINIGTENNIEDERLANDE

KGR. DÄNEMARK

Deutsches Reich1871

EntscheidendeSchlachten

Bukarest

Lemberg

Belgrad

Sarajevo

München

Königsberg

Aachen Breslau

Trient

Prag

Warschau

GrazSCHWEIZ

Deutscher Bund1815

MachtkampfPreußen in Europa

* 1815 bis 1848Königreich

1848 bis 1852Republik

1852 bis 1870Kaiserreich

seit 1870Republik

Lauenburg

KGR.SARDINIEN-PIEMONT

„KONGRESS-POLEN“

SERBIENseit 1817 demOsmanischen Reichtributpflichtig

KAISERREICHRUSSLAND

Rom

** 1867 bis 1918DoppelmonarchieÖsterreich-Ungarn

s

AKG

Loreley-Darstellung, 1850

geordnet – mit Sicherheit aber keinen deutschenNationalstaat auf seine Bahn gesetzt.

Gerade noch rechtzeitig tauchte die Heeresgrup-pe auf. Österreichs Armeeführung resignierte, undihr Rückzug bedeutete Preußens Sieg. Der Weg fürdie Gründung des Norddeutschen Bundes war frei.Als es Bismarck dann noch schaffte, Paris mit einerHohenzollernkandidatur in Madrid so unter Druckzu setzen, dass Napoleon III. den Krieg erklärte,vollendete der Sieg im Krieg von 1870/71 nicht nurdie preußisch-deutsche Hegemonie in Europa, son-dern auch das Ende eines nationalen Integrations-kriegs.

Hatten 1866 nicht wenige deutsche Staaten nochauf der Seite Österreichs gekämpft, schweißte siejetzt der militärische Triumph zusammen. War es1866 für die erdrückende Mehrheit der Deutsch-sprechenden in Europa noch eine Selbstverständ-lichkeit gewesen, dass die Österreicher in ihrenKernlanden und in Böhmen zu den Deutschengehörten, mit denen sie eine 800-jährige Geschich-te verband, orientierten sie sich nun mehrheitlichnach Berlin. 1871 entstand das Kaiserreich auf einergroßpreußisch-kleindeutschen Basis, welche die be-siegten Österreicher ausschloss, doch von der libe-ralen Nationalbewegung als der ersehnte deutscheNationalstaat begrüßt wurde.

Nun hatte es vor der Zeremonie in Versailles imJanuar 1871 durchaus Tendenzen gegeben, die aufeine künftige kleindeutsche Herrschaftseinheit hin-wiesen. Da arbeitete die preußische Politik unent-

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wegt an der Expansion. Der von Berlin gelenkteZollverein zog, während Österreich ausgeschlossenblieb, die ökonomischen Verbindungen enger. Diejungen Industriereviere vertieften die Umrisse ei-nes kleindeutschen Markts. Der Kulturnationalis-mus stützte sich auf eine blühende Literatur in hoch-deutscher Sprache, auf reformierte Universitätenund Gymnasien, auch Aberhunderte Buchhandlun-gen (während sie in Österreich noch der Zensur un-terlagen). Das alles konnte schon als kontinuierlicherEntwicklungsprozess gedeutet werden, wie es dieborussische Schule auch tat.

Dennoch bleibt richtig, dass die Nationsbildungim kleindeutschen Reich erst seit 1871 eine neueund damit entscheidende Stufe erreichte. Währendder Reichstagsdebatten der siebziger Jahre sprachendie Abgeordneten noch ganz selbstverständlich von„Waldeck, meine Nation“, „Hessen, meine Nation“.Jedes Individuum lebte mit mehreren, mit multi-plen Identitäten in seiner Brust: Der MünchnerHandwerksgeselle etwa war Katholik, Städter, Kol-ping-Sohn, Bayer, Deutscher zur selben Zeit. Und jenach den lebensgeschichtlichen Umständen fiel erauf die eine oder andere Identität zurück und han-delte ihr entsprechend.

Dass aber jeder Angehörige des Kaiserreichs einereichsdeutsche Identität gewann, die möglichst denPrimat besitzen sollte, wurde zur Aufgabe einer um-fassenden Nationalisierungspolitik. In den Volks-schulen und Gymnasien wurden die Lehrbücherumgeschrieben. An den Universitäten wurde, wie

Mythos RheinEr ist Deutschlandslängster Strom – und,sozusagen, der deut-scheste. Das DeutscheEck in Koblenz, derDom zu Speyer alsGrabstätte der Kaiserund somit ein Symboldes alten Reichs, aberauch Karneval undLoreley, hier vermeng-ten sich Weinseligkeitund patriotischesBekenntnis. DieRomantiker verklärtenden Fluss, aber derRhein war stets auchein Politikum. Seit dem17. Jahrhundert galter den Franzosen als„natürliche“ Demarka-tion, für Nationalistenwie Ernst Moritz Arndtfreilich war er „Teutsch-lands Strom, aber nichtTeutschlands Gränze“.Übrigens: Die erstenTouristen im burgenrei-chen Rheintal zwischenBonn und Mainz warenEngländer.

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der Historiker Jacob Burckhardt in Basel spottete,die deutsche Geschichte „schwarz-weiß-rot“ ausge-malt. Im Militär wurde der Nationalismus Gegen-stand des Unterrichts. Die Millionen Mitglieder derKriegervereine kultivierten nationale Erinnerungen.

Ungeachtet aller innenpolitischen Konflikte mitSozialdemokraten und Katholiken galt in der öf-fentlichen Meinung der junge Nationalstaat als Er-füllung der deutschen Geschichte. Folgerichtig wur-de die deutsche Sprache als Schul- und Geschäfts-,Kirchen- und Amtssprache verbindlich gemacht; siegalt auch für die drei Millionen preußischer Polen,die französischsprechenden Elsass-Lothringer unddie dänischsprechenden Nordschleswiger.

Kurzum, von vielen Seiten unterstützt, lief ein ge-waltiger Sozialisationsprozess ab, der aus ost-preußischen Bauern, bayerischen Forstarbeitern,hanseatischen Schauerleuten und rheinischen Intel-lektuellen allmählich Schritt für Schritt eine ziemlichhomogene Nation machte. In den Reichstagsdebat-ten seit den 1890er Jahren dachte dann kein Abge-ordneter mehr daran, „Waldeck, meine Nation“ zubeschwören. In der politischen Semantik tauchteder Nationsbegriff zwar in Überfülle auf, doch ge-meint war nur mehr die neue Reichsnation von 1871.

In dieser Formationsperiode des Reichsnationa-lismus wirkten auch noch andere Einflüsse auf ihnein. Zum einen war da die konfliktbeladene inter-nationale Situation, denn das neue Deutschlandmusste sich erst im Staatensystem arrangieren, dieNachbarmächte mussten sich mit der über Nachtaufgetauchten Hegemonialmacht abfinden. Die la-tente Bedrohung durch Konflikte vertiefte den Na-tionalismus mit seinem Stolz auf das endlich voll-endete Werk.

Andererseits ging von innenpolitischen Kontro-versen eine nationalisierende Wirkung aus. Bismarckführte unter dem Stichwort des Kampfs gegen die„Reichsfeinde“ gewissermaßen noch zwei innere Ei-nigungskriege: einmal gegen den politischen Katho-lizismus, dem Kritiker eine Aversion gegen das Reich,Österreichfreundlichkeit und Bindung an die katho-lische Habsburgerdynastie, in schriller liberaler Ton-lage auch Hörigkeit gegenüber dem Vatikan vorwar-fen. Für die protestantische Zweidrittelmehrheit un-ter der Reichsbevölkerung gewann die Nation nochmehr die Züge eines evangelischen Verbands – eines„protestantischen Reiches deutscher Nation“.

Die Regierung Bismarck unterstützte auch einenleidenschaftlichen Kampf gegen die Sozialdemo-

kratie als Feind der bürgerlichen Gesellschaftsord-nung, vor allem aber auch als Verteidiger einerLoyalitätsbindung, die dem internationalen Prole-tariat, nicht aber der sakrosankten eigenen Nationgalt. Obwohl der antikatholische „Kulturkampf“und die Verfolgung der Sozialdemokratie schließlichdurch Kompromisse entschärft wurden, gewanndoch der reichsdeutsche Nationalismus in dieserGründungsphase der 1870er bis 1880er Jahre, als ineinem neuen Staatswesen die Weichen in vielfa-cher Hinsicht, auch für die politische Mentalität,neu gestellt wurden, eine doktrinär antikatholischeund zugleich antisozialdemokratische Komponente,die dem Ziel der nationalen Einheit krass wider-sprach.

Bismarck selbst hat die fatalen Nachteile seinerinneren Kampfpolitik in Kauf genommen, da er dieVerankerung von „Reichstreue“ für wichtiger hielt.

Schließlich bahnte sich in den Jahren bis 1890ein genereller Wandel im deutschen Nationalismusan. Trotz aller fremdenfeindlicher Äußerungen undeiner Erbfeind-Rhetorik war doch der deutsche Na-tionalismus bis 1871 überwiegend liberal geprägt.Für die Zeitgenossen war er ein Teil jener großenfreiheitlichen Bewegung, der angeblich auch inDeutschland die Zukunft gehörte.

Im neuen Reich aber veränderte sich sein Cha-rakter. Er wurde zunehmend nicht nur durch kon-servative, arrogante, expansionistische Elemente be-stimmt, im Schatten heftiger industrieller Depres-sionen geriet der Nationalismus auch zum Kom-pensationsmittel, das über die Widrigkeiten des All-tagslebens hinweghalf: Die neue Nation werde sichüber die Misere hinwegsetzen, ja ihre historischeMission durch eine neuartige „Weltpolitik“ bekräf-tigen. Dem lag der Stolz auf das Erreichte, der Glau-be an die Überlegenheit des deutschen Wegs in dieModerne, das Kraftgefühl einer demografisch undökonomisch aufstrebenden Nation zugrunde.

Das war der Nährboden, auf dem sich ein radi-kalisierter Nationalismus entfalten konnte, wie ihndie Alldeutschen und die nationalen Interessenver-bünde verfochten. Bis in den politischen Katholi-zismus hinein, der das Image der „Reichsfeinde“ soschnell wie möglich vergessen machen wollte, bis indas Lager der Sozialdemokratie hinein, die den hä-mischen Vorwurf der „vaterlandslosen Gesellen“durch ihr Verhalten dementieren wollten, blieb derdeutsche Nationalstaat das Nonplusultra eines mo-dernen Herrschaftsverbands. ✦

Garibaldi

RisorgimentoDer Begriff geht zurückauf die Turiner Zeitung„Il Risorgimento“ (etwa„Wiedererstehen“), dieder spätere sardisch-piemontesische Minis-terpräsident CamilloCavour 1847 mitgegrün-det hatte. Unter seinerFührung gelang es,unterstützt von Frei-heitskämpfern wieGiuseppe Garibaldi, dieeigenständigenFürstentümer undRegionen der Apennin-Halbinsel zu einemStaat, dem KönigreichItalien, unter ViktorEmanuel II. 1861 zuvereinen. Für vieledeutsche Patrioten galtItalien als Vorbild – undso zeigten sie sich aufFesten hierzulande auchin der Uniform Garibal-dis, was die Zuschauerbegeistert feierten.

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DÜPPELER SCHANZENDie Feuerkraft ihrer Kanonen entlangder Verteidigungslinie half den Dänen

nichts – sie verloren 1864.

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