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Der Geist der lateinischen Literatursprache

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Olaf Schlunke Der Geist der lateinischen Literatursprache. Eduard Nordens verloren geglaubter Genfer Vortrag von 1926* «Sie werden da etwas machen, das uns allen etwas sagen wird.» 1 Diese Hoffnung ver- band sich für Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff in einem Schreiben an Eduard Norden mit dem Vortrag, den Norden wenige Tage später, am 14. Oktober 1926, in Genf halten würde. Im Sommersemester 1907 – Eduard Norden war erst seit einem Jahr Ordinarius an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität – besuchte der 22jährige André Oltramare, Sproß einer Genfer Familie von Latinisten, Nordens Kolleg zur «Geschichte der römischen Lite- ratur». 2 Obschon Oltramare bereits im folgenden Jahr nach Genf zurückkehrte, begrün- dete sein kurzer Berlin-Aufenthalt ein von Verehrung geprägtes Schülerverhältnis zu Nor- den. Auf dessen Anregung hin nahm er die Arbeit zu einer Thèse über «Les origines de la diatribe romaine» auf. 3 1924 war das Manuskript abgeschlossen, und Norden erreichte die Bitte von Oltramares Vater Paul Oltramare, zur Verteidigung der Arbeit (soutenance de thèse) nach Genf zu reisen und der Kommission anzugehören. 4 Ein geplanter Termin im Jahre 1925 kam wegen der politischen Verpflichtungen Oltramares – seit 1924 stand er für die Sozialdemokraten an der Spitze des Genfer Erziehungsdepartements – und wegen der sich verzögernden Drucklegung des Werks nicht zustande. So sollte es Sommer 1926 wer- * Ich danke dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für die Erlaubnis, den Vortrag zu veröffentlichen. Peter Norden (Berlin) teilte die Entdeckerfreude mit mir; er und alle weiteren Enkel Eduard Nordens unterstützten mich wie stets mit Interesse und Zustimmung. Ferner danke ich Frau Dominique Torrione-Vouilloz (Archives de l’Université de Genève) und Frau Barbara Prout (Bibliothèque de Genève) für die Erlaubnis, aus den Korrespondenzen Nordens zu zitieren. Bernhard Kytzler (Berlin / Durban), Wilt Aden Schröder (Hamburg) und Eckard Lefèvre (Freiburg i. Br.) habe ich für Gespräche und bereitwillige Hilfe zu danken. Hinweise von Bernhard Böschenstein, Hans-Jürgen Schrader und Dominik Müller von der Société genevoise d’études allemandes trugen dazu bei, den Anlass für Nordens Vortrag zu erhellen. Die Fernleihabteilung der FU Berlin war mir bei der Beschaffung entlegener Literatur von großer Hilfe. 1 Calder III / Huss 1997, 236 (Brief Nr.245 vom 12. Oktober 1926). 2 Zur Biographie Eduard Nordens (1868–1941) vgl. Mensching 1992, Schröder 2001 sowie knapp Schlunke 2011. Für André Oltramare (1884–1947) vgl. Schmitt 1994. 3 Oltramare 1926, 7. 4 Auf einen am 25.12. 1924 erhaltenen Brief von Oltramare fils antwortete Norden: «Alte liebe Erinnerun- gen werden wieder lebendig. Sie überschätzen gewiß den Einfluß, den ich auf Sie ausgeübt habe, aber ich freue mich doch, daß Sie mir als Ihrem alten Lehrer – so kurz die Zeit Ihrer Schülerschaft bei mir auch gewesen ist – ein so treues Andenken bewahrt haben. Menschliches ist mir stets wichtiger gewesen als Wis- senschaftliches, aber wenn beides sich verbindet, so ist es für einen Gelehrten das höchste Glück: das wis- sen Sie ebenso gut wie ich aus der Lektüre Platons. Und nun wollen Sie diesem schönen, uns beide ver- bindenden Gefühl ein öffentliches Denkmal setzen in einer für mich so ehrenvollen Form!» (Brief vom 12. 1. 1925 [Bibliothèque de Genève, Archives de la famille Oltramare Ms. fr. 7334, f. 9]). Brought to you by | Umea University Library Authenticated | 10.248.254.158 Download Date | 8/19/14 7:38 AM
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Eduard Nordens verloren geglaubter Genfer Vortrag von 1926 1

Olaf Schlunke

Der Geist der lateinischen Literatursprache.Eduard Nordens verloren geglaubter

Genfer Vortrag von 1926*

«Sie werden da etwas machen, das uns allen etwas sagen wird.»1 Diese Hoffnung ver-band sich für Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff in einem Schreiben an Eduard Nordenmit dem Vortrag, den Norden wenige Tage später, am 14. Oktober 1926, in Genf haltenwürde.

Im Sommersemester 1907 – Eduard Norden war erst seit einem Jahr Ordinarius an derBerliner Friedrich-Wilhelms-Universität – besuchte der 22jährige André Oltramare, Sproßeiner Genfer Familie von Latinisten, Nordens Kolleg zur «Geschichte der römischen Lite-ratur».2 Obschon Oltramare bereits im folgenden Jahr nach Genf zurückkehrte, begrün-dete sein kurzer Berlin-Aufenthalt ein von Verehrung geprägtes Schülerverhältnis zu Nor-den. Auf dessen Anregung hin nahm er die Arbeit zu einer Thèse über «Les origines de ladiatribe romaine» auf.3 1924 war das Manuskript abgeschlossen, und Norden erreichte dieBitte von Oltramares Vater Paul Oltramare, zur Verteidigung der Arbeit (soutenance dethèse) nach Genf zu reisen und der Kommission anzugehören.4 Ein geplanter Termin imJahre 1925 kam wegen der politischen Verpflichtungen Oltramares – seit 1924 stand er fürdie Sozialdemokraten an der Spitze des Genfer Erziehungsdepartements – und wegen dersich verzögernden Drucklegung des Werks nicht zustande. So sollte es Sommer 1926 wer-

* Ich danke dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für die Erlaubnis, denVortrag zu veröffentlichen. Peter Norden (Berlin) teilte die Entdeckerfreude mit mir; er und alle weiterenEnkel Eduard Nordens unterstützten mich wie stets mit Interesse und Zustimmung. Ferner danke ich FrauDominique Torrione-Vouilloz (Archives de l’Université de Genève) und Frau Barbara Prout (Bibliothèquede Genève) für die Erlaubnis, aus den Korrespondenzen Nordens zu zitieren. Bernhard Kytzler (Berlin /Durban), Wilt Aden Schröder (Hamburg) und Eckard Lefèvre (Freiburg i. Br.) habe ich für Gespräche undbereitwillige Hilfe zu danken. Hinweise von Bernhard Böschenstein, Hans-Jürgen Schrader und DominikMüller von der Société genevoise d’études allemandes trugen dazu bei, den Anlass für Nordens Vortrag zuerhellen. Die Fernleihabteilung der FU Berlin war mir bei der Beschaffung entlegener Literatur von großerHilfe.

1 Calder III / Huss 1997, 236 (Brief Nr. 245 vom 12. Oktober 1926).2 Zur Biographie Eduard Nordens (1868–1941) vgl. Mensching 1992, Schröder 2001 sowie knapp Schlunke

2011. Für André Oltramare (1884–1947) vgl. Schmitt 1994.3 Oltramare 1926, 7.4 Auf einen am 25. 12. 1924 erhaltenen Brief von Oltramare fils antwortete Norden: «Alte liebe Erinnerun-

gen werden wieder lebendig. Sie überschätzen gewiß den Einfluß, den ich auf Sie ausgeübt habe, aber ichfreue mich doch, daß Sie mir als Ihrem alten Lehrer – so kurz die Zeit Ihrer Schülerschaft bei mir auchgewesen ist – ein so treues Andenken bewahrt haben. Menschliches ist mir stets wichtiger gewesen als Wis-senschaftliches, aber wenn beides sich verbindet, so ist es für einen Gelehrten das höchste Glück: das wis-sen Sie ebenso gut wie ich aus der Lektüre Platons. Und nun wollen Sie diesem schönen, uns beide ver-bindenden Gefühl ein öffentliches Denkmal setzen in einer für mich so ehrenvollen Form!» (Brief vom 12. 1.1925 [Bibliothèque de Genève, Archives de la famille Oltramare Ms. fr. 7334, f. 9]).

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den, dass ein Tag für die Verteidigung bestimmt werden konnte.5 Auf Wunsch Nordenswurde der 15. Oktober 1926 festgesetzt.

Über den Verlauf von Eduard Nordens Reise nach Genf sind wir durch die für ihre Kin-der geschriebenen «Erinnerungen» seiner Frau Marie, die ihn begleitete, gut informiert.Vom Tag vor der soutenance berichtet sie: «Am ersten Tage Nachm. um 5 Uhr war EuresVaters Vortrag in der Universität festgelegt. Sein Thema lautete: ‹Geist der lateinischenSprache›, in deutsch gehalten. Er erregte vollste Anerkennung und Bewundrung mit star-kem Applaus.»6 In Kenntnis dieses Abschnitts der damals noch unveröffentlichten «Erin-nerungen» schrieb Walther Abel: «Gern wüßte man etwas über den Inhalt eines Vortragsmit dem Titel ‹Geist der lateinischen Sprache›, den Norden am 15. 10. 1926 anläßlich derPromotion seines früheren Schweizer Schülers André Oltramare an der Universität Genfgehalten hat. Ein Manuskript hat sich weder in Nordens Nachlass noch nach Mitteilung derGenfer Universität im dortigen Archiv gefunden.»7 Die Nachkommen Eduard Nordenshaben seinen Nachlass im Februar 2013 dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akade-mie der Wissenschaften übereignet, und eine genauere Durchsicht förderte an unvermute-ter Stelle – in einem Umschlag mit Sonderdrucken – das von Abel vergebens gesuchte, ver-loren geglaubte Manuskript von Nordens Vortrag doch noch zutage.8

Das Manuskript umfasst zwölf sehr akkurat mit schwarzer Tinte beschriebene karierteSeiten im Format 27 × 22,3 cm. Es weist keinen Titel auf. Auf dem Umschlag, in dem sichdie zwölf Bögen befanden, steht in rasch hingeworfener Schrift (wohl von Nordens eigener

5 Am 22. Februar 1926 informierte der Dekan, der Gräzist Victor Martin (1886–1964), Norden über einenneuerlichen Aufschub. Das hatte (wie schon im Jahr zuvor) eine abermalige Verschiebung von NordensFeriendispositionen zur Folge (vgl. seinen Brief an Martin vom 19. 8. 1926 [Archives administratives del’Université de Genève cote 1984/20/16/5]). Im Juni/Juli erfolgte die Drucklegung, und Martin bat Nordenam 16. Juli, den Termin für die soutenance selbst festzusetzen. Norden entschied sich für den 15. Oktober(Brief Nordens vom 24. 7. [ebd.]). Das Eintreffen der gedruckten Version verzögerte sich, offenbar ging daszuerst versandte Exemplar auf dem Weg nach Berlin verloren. Möglicherweise resultierte aus den mehrfa-chen Verschiebungen eine gewisse Unwilligkeit auf Seiten Nordens, nach Genf zu reisen. Wilamowitzschrieb ihm am 7. 6. 1926 (Calder III / Huss 1997, 233 f. [Brief Nr. 242]): «Ihre geringe Neigung, nun nachGenf zu gehen, verstehe ich durchaus, aber mir scheint doch, daß Sie sich kaum entziehen können. Artigwollen Sie es selbst tun und das geht, wenn amtliche Behinderung im Oktober fortfällt, höchstens mit kör-perlichem Befinden, das Sie nicht werden vorschützen wollen; es glaubt ja keiner und Verstimmung ist da.Die darf aber nicht aufkommen, denn wenn Oltramare auch nur seine Person durch Ihre Teilnahme ver-herrlichen will, ist es bei V. Martin die Absicht, Deutschland heranzuziehen (er wollte ja 24 mich holen).»Inwieweit Wilamowitz’ Vermutung zu Oltramares Motiven auch Nordens Ansicht widerspiegelt, lässt sichanhand der vorhandenen Zeugnisse nicht überprüfen.

6 Mensching 1993, 43 f. Marie Norden verfasste ihre Schilderung des Genf-Besuchs anhand eigener Notizen.7 Abel 1984, 461. Vgl. Rüpke 1994, 138 Anm. 37. – Es ist hier nicht der Ort, auf den weiteren umfänglichen

Bericht über den Aufenthalt des Ehepaars Norden in Genf und den Verlauf der erfolgreichen soutenanceOltramares einzugehen. Das soll – zusammen mit einer Edition der in diesem Zusammenhang erhaltenenKorrespondenzen – bei anderer Gelegenheit in einem größeren Zusammenhang geschehen.

8 BBAW-Archiv NL E. Norden Nr. 92 – Es erscheint fast tragisch, dass das Manuskript zum Greifen nahewar, Abel jedoch beträchtliche Anstrengungen unternahm, es in der Ferne aufzuspüren. Am 18. 12. 1982schrieb er an Gertrud Norden, die Witwe von Nordens Sohn Erwin: «Leider ist meine Suche nach einembestimmten Manuskript Ihres Schwiegervaters vergeblich gewesen. Die Genfer Universität hat mir auchnicht weiterhelfen können – obwohl es dort vielleicht noch Möglichkeiten gegeben hätte; aber nun dieseauszuschöpfen, müsste man an Ort und Stelle sein oder zumindest eine Vertrauensperson dort haben, dieden festen Willen hat, bei dieser Detektivspielerei zum Ziel zu kommen.» (BBAW-Archiv NL Ed. Nor-den Nr. 226). Abel vermutete, der Text des Vortrags sei von Norden selbst (oder von dessen Sohn) zusam-men mit anderen Inedita vernichtet worden.

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Eduard Nordens verloren geglaubter Genfer Vortrag von 1926 3

Hand) nur: «Vortrag Genf 1926 Oktober.» Ein Anhaltspunkt für den möglichen Titel warbislang nur in den oben zitierten «Erinnerungen» Marie Nordens zu finden.9

Sie gibt keinen Hinweis auf den unmittelbaren Anlass des Vortrags: Dieser fand auf Ein-ladung der Genfer Gesellschaft für deutsche Kunst und Literatur (Société genevoise d’étu-des allemandes) statt.10 Im Gesamtverzeichnis ihrer Vorträge führt die Gesellschaft Nor-dens Beitrag unter dem Titel «Der Geist der lateinischen Literatursprache» auf.11 Präsidentund Gründer der seit 1923 bestehenden Gesellschaft war der Germanist Gottfried Bohnen-blust (1883–1960). Dieser hatte 1904–1905 u. a. Klassische Philologie in Berlin studiert undwar dort ein Hörer Wilamowitz’ gewesen. Wilamowitz schreibt einige Monate vor demTermin der soutenance an Norden: «Und schließlich wird es vielleicht in Genf etwasschwierig, wo ich übrigens in dem Professor des Deutschen Bohnenblust einen Schülerhabe, der eine gewisse Rolle spielt.»12 Offenbar kennt Norden Bohnenblust zu diesemZeitpunkt nicht persönlich. So hat möglicherweise erst Wilamowitz den Kontakt herge-stellt und Bohnenblust den Vorschlag gemacht, Norden anlässlich seines Besuchs in Genfzu einem Vortrag einzuladen. Es gibt Hinweise, dass die Einladung hierzu erst spät zu-stande kam. Noch am 27. August fragt Norden bei Paul Oltramare an, wann er anreisensolle und ob es ausreiche, wenn er erst am 14. Oktober eintreffe.13 Am 29. September kün-digt er Victor Martin sein Eintreffen für den 13. Oktober an.14 Wilamowitz’ Formulierungin dem eingangs bereits zitierten Brief vom 12. Oktober, «[a]ber auch daß Sie ganz plötz-lich gezwungen sind ein so weit greifendes Thema zu behandeln und eins gefunden haben,das dem genius loci entspricht, ist mir eine Freude»,15 deutet darauf hin, dass allenfalls we-nige Wochen, wenn nicht sogar nur einige Tage zwischen Einladung und Vortrag lagen.

Erfolgten Einladung und Festsetzung des Themas tatsächlich erst kurz vor dem Terminder soutenance («ganz plötzlich»), so würde das erklären, warum der Vortrag in der demGenfer Aufenthalt vorausgehenden Korrespondenz mit Vater und Sohn Oltramare und mitdem Dekan Victor Martin überhaupt nicht erwähnt wird.16 Es mag auch erklären, warum

9 Mensching 1993, 43. Genau genommen spricht sie vom «Thema» des Vortrags, nicht vom «Titel», was dieSicherheit hinsichtlich des offiziellen Titels weiter einschränkt. Zudem ist Marie Norden in ihrer Wieder-gabe von Werktiteln nicht immer zuverlässig: «Der Kampf um Rom» statt «Ein Kampf um Rom» (Men-sching 1993, 21), «über die Geburt des Kindes» statt «Die Geburt des Kindes» (ebd. 36), «Heldenehrung»statt «Heldenehrungen» (ebd. 47).

10 Einen Hinweis gibt Marie Norden zum Ende ihrer Schilderung (Mensching 1993, 44): «Auf der Post holtenwir eine größere Blumenspende, die von der literarischen Gesellschaft in Genf durch Prof. Bohnenblust füruns in Caux angekommen, ab, […].» Der Vortragstext selbst enthält keinen Bezug zur Genfer Gesellschaftfür deutsche Kunst und Literatur, vielmehr erscheint die Rede durch die zweifache Erwähnung Oltramareseng mit dem Ereignis des folgenden Tages verbunden.

11 Schrader 2009, 7.12 Brief vom 7. 6. 1926 (Calder III / Huss 1997, 233 f. [Brief Nr. 242]).13 Bibliothèque de Genève, Archives de la famille Oltramare Ms. fr. 7325, f. 180.14 Archives administratives de l’Université de Genève cote 1984/20/16/5.15 Calder III / Huss 1997, 236 (Brief Nr. 245 vom 12. Oktober 1926).16 Aufschluss könnten die Briefe Nordens an Bohnenblust in dessen Nachlass im Schweizerischen Literatur-

archiv Bern geben; solche waren laut Inventar auch vorhanden, müssen aber nach Auskunft des Archivsvom 27. 6. 2013 seit dem letzten Archivumzug leider als verschollen gelten. Anzahl und Daten der Briefelassen sich nicht mehr ermitteln. Zwei Schreiben von Wilamowitz an Bohnenblust sind zwar erhalten, aberfür die vorliegende Fragestellung nicht relevant. Am 8. Dezember 1927 sprach Wilamowitz selbst auf Ein-ladung der Genfer Gesellschaft über «Eros» (Schrader 2009, 7); Anlass der Reise war die Verleihung derEhrendoktorwürde durch die Universität Genf.

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der Vortrag – bei aller Freude über seine Entdeckung – die hochgesteckten ErwartungenWalther Abels wohl nicht ganz zu befriedigen vermocht hätte – und seinerzeit ungedrucktblieb. Er variiert im Wesentlichen schon aus früheren Veröffentlichungen Nordens be-kannte Themen (s. u.); in seinen Ausführungen zum erzieherischen Wert der Caesar-Lek-türe übernimmt Norden sogar einen ganzen Abschnitt aus seinem Vortrag über «DieBildungswerte der lateinischen Literatur und Sprache».17

In biographischer Hinsicht ist sein Wert nicht zu bezweifeln: Nordens Genfer Aufenthaltund die mit ihm verbundene Ehrung seiner Person markierte eine wichtige Station auf sei-nem Weg zu einem Latinisten von Weltgeltung – «the most famous Latinist of the world»nannte ihn zehn Jahre später bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die HarvardUniversity deren Präsident James Bryant Conant.18

Dreizehn Jahre nach Genf (und drei Jahre nach seiner Harvard-Ehrung) sollte Nordendie Schweiz wiedersehen – diesmal unter weniger erfreulichen Umständen. Aus rassisti-schen Gründen aus Deutschland vertrieben und der Grundlagen seines wissenschaftlichenArbeitens weitgehend beraubt, gelang es Norden, für die letzten zwei Jahre seines Lebensin Zürich ein Exil zu finden.19 Eine Genfer Intervention zugunsten Nordens bei dessen Ver-such, 1938/39 in der Schweiz Aufnahme zu erlangen, ist bislang nicht belegbar. Es mag abersein, dass sich hinter den von Marie Norden in ihren «Erinnerungen» erwähnten dreiSchweizer Referenzen, die zu diesem Zwecke nötig waren, auch Bekanntschaften aus derZeit von Nordens Genf-Besuch verbergen.20

Eine eingehende inhaltliche Interpretation des Vortrags kann hier nicht erfolgen. EinPunkt wenigstens sei hervorgehoben: Nordens Betrachtungen zum Verhältnis der Graecazu den Latina hat man als Ausdruck einer «Latinistik des schlechten Gewissens»21 verste-hen wollen. Besonders in Nordens 1919 gehaltenem Vortrag über «Die Bildungswerte derlateinischen Literatur und Sprache auf dem humanistischen Gymnasium» finden sichÜberlegungen zum Vorrang des Griechischen und demgegenüber der Versuch, den Eigen-

17 So entspricht der Passus «Eine caesarische Periode … unvergleichlich lernen läßt» auf S. 2 f. des Manu-skripts mit nur wenigen Abweichungen Norden 1920, 12 f. (= Norden 1966, 588 f.). Norden selbst notiertden Verweis am Rand der Seite.

18 Mensching 1993, 55, vgl. Schröder 2001, 43.19 Zum Exil in Zürich vgl. Mensching 1992, 138–148. Genf wäre als Wohnort wohl aus sprachlichen Gründen

nicht in Frage gekommen.20 Schweizer Referenzen: Mensching 1993, 58. Zu denken wäre z. B. an William E. Rappard (1883–1958), zur

Zeit von Nordens Besuch 1926 Rektor der Universität Genf. 1927 besuchte Rappard Norden währendeines Berlin-Aufenthalts (Mensching 1993, 46; Marie Norden ordnet den «Herrenabend» für Rappardfälschlicherweise in den Kontext von Nordens Rektoratsjahr 1927/28 ein, tatsächlich fand er Anfang März1927 statt, wie ein Brief Nordens an Andre Oltramare vom 4. 3. 1927 zeigt [Bibliothèque de Genève, Archi-ves de la famille Oltramare Ms. fr. 7334, f. 13]). Ein weiteres Wiedersehen vermerkt Marie Norden bei der300-Jahrfeier von Harvard 1936, als Norden und Rappard die Ehrendoktorwürde verliehen bekamen(Mensching 1993, 55). Neben seiner Universitätslaufbahn seit 1919 in verschiedenen Funktionen für denVölkerbund (1928 bis 1939 als Schweizer Delegierter) sowie 1933–1942 als Vizepräsident des Comité inter-national pour le placement des intellectuels réfugiés tätig, hätte eine Fürsprache Rappards zugunsten Nor-dens sicherlich Gewicht gehabt; zu seiner Vita vgl. Monnier 1995. Aber auch Nordens Genfer SchülerAndré Oltramare kommt als Helfer in Frage. Seine Unterstützung für in Deutschland Verfolgte ist mehr-fach belegt, vgl. z. B. seinen Einsatz für den Historiker Arnold Berney (Matthiesen 2008) oder die Stel-lungnahme Peter Foerderreutters in: André Oltramare in memoriam, Genève 1948, 42–43. Kontakte Nor-dens zur Familie Oltramare nach 1927 sind mir bislang jedoch nicht bekannt geworden.

21 Mensching 1992, 151 sowie ebd. 13 u. 38–39, Schmidt 1995, 135.

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Eduard Nordens verloren geglaubter Genfer Vortrag von 1926 5

wert der lateinischen Studien zu betonen. Mit vielen Vergleichen – Norden selbst entschul-digt sich für die «Häufung der Bilder» – untermauert er diese Vorstellung: «Quell-» gegen«Brunnenwasser», «sizilischer Orangenhain» gegen «deutsche Orangerie», «Wein» gegen«Schnaps», eine «in verschwenderischem Reichtum prangende Königin» gegen eine «mitbescheidenem Vorrat haushälterisch wirtschaftende Bürgerfrau.»22 Im Genfer Vortrag be-rührt Norden zwar auch diese Problematik, bedient sich jedoch einer selbstbewussterenMetaphorik: Zwar hält keine andere indogermanische Sprache «an Reichtum des Wort-schatzes, der Formen und der Beweglichkeit» den Vergleich mit der griechischen aus,«[a]ber nur an einem König gemessen ist ein Großgrundbesitzer arm, reich ist auch er,wenn man sein Gut mit dem eines Bauern vergleicht.»23

Im Folgenden wird ein Lesetext geboten; eine großzügige Auswahl an inhaltlich interes-santen Varianten und Weglassungen findet sich in den Fußnoten.24 Alle Abkürzungen Nor-dens wurden aufgelöst. Nicht wiedergegeben werden konnten seine zahlreichen Unter-streichungen im Text. Neben Unterstreichungen mit Bleistift treten solche mit blauem undrotem Stift, wobei blau (in der Regel, aber nicht ausschließlich) die eingefügten französi-schen Bestandteile kennzeichnet und rot wohl der Hervorhebung von als besonders wich-tig empfundenen Namen und Aussagen beim Sprechen dient. In Französisch eingefügteBegriffe, Phrasen und Übersetzungen erweisen dem Gastgeber Reverenz.25 Zitate aus derantiken Literatur erscheinen häufig verkürzt und dienen dem Redner in dieser Form alsGedächtnisstützen.

22 Norden 1920, 5–7 (= Norden 1966, 584–586).23 Manuskript S. 6. Die Paginierung des Manuskripts erscheint im vorliegenden Abdruck des Vortragstexts in

eckigen Klammern.24 Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden dabei die Texte Nordens in den Fußnoten kursiv wiedergege-

ben (im Gegensatz zum Haupttext).25 So geehrt sich Norden ob der Einladung fühlte, so bedenklich war er angesichts der Tatsache, vor einem

mehrheitlich französischsprachigen Publikum zu reden. «Eine Sorge habe ich nur wegen der Sprache. DasLesen des Französischen macht mir keine Schwierigkeit, aber im Sprechen habe ich nicht die geringsteÜbung. Ich fürchte sehr, daß ich dort eine schlechte Figur machen werde.» (Brief an Paul Oltramare vom27. 8. 26 [Bibliothèque de Genève, Archives de la famille Oltramare Ms. fr. 7325, f. 180]). Am 4. 10. 1926bringt er seine Bedenken erneut vor (ebd. f. 181): «[…] ich würde viel darum geben, wenn ich diese Spra-che, neben der italienischen die schönste der modernen Welt, nicht nur lesen könnte (was mir keine Mühemacht), sondern auch sprechen!» Vgl. auch den Brief an André Oltramare vom 25. 1. 1925 (Bibliothèque deGenève, Archives de la famille Oltramare Ms. fr. 7334, f. 9). Marie Norden schreibt zu Nordens Kenntnisfremder Sprachen (Mensching 1993, 12): «[…] die modernen Sprachen hat er für wissenschaftliche Lektüregenügend beherrscht, später aber immer bedauert keine derselben zu sprechen zu können.» – Überhauptzeigen Nordens Briefe nach Genf sein Bemühen, sich in der fremden Umgebung ‹richtig› zu verhalten.Abgesehen von seinen sprachlichen Sorgen macht sich Norden z. B. Gedanken darüber, was er zu der sou-tenance anziehen soll: Frack u. Talar oder Anzug (Brief an Victor Martin vom 30. 9. 1926 [Archives admi-nistratives de l’Université de Genève cote 1984/20/16/5]).

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Eduard Norden

Der Geist der lateinischen Literatursprache

[1] … Buffon.26 Dies Wort will sagen: die Stilart, die ein Individuum schreibt, läßt aufseinen Charakter schließen. Aus vielen Individuen setzt sich ein Volk zusammen, und sosprechen wir auch von einem Volkscharakter. Wir können daher das Wort Buffons erwei-tern und sagen: der Charakter eines Volks prägt sich in seiner Sprache aus, oder, mit ei-nem anderen Bilde, die Sprache ist die Seele eines Volks. So einfach diese Idee an sich ist,so schwierig ist es, das Allgemeine in seiner Besonderheit zu erfassen, d. h. den Sprach-genius eines bestimmten Volks auf eine differenzierte Formel zu bringen. Vielleicht hatein derartiger Versuch noch die meiste Aussicht auf Erfolg bei der lateinischen Sprache:denn als solche ist sie zwar tot, kann also retrospektiv ein Object gelehrter Forschung bil-den, aber sie lebt fort in ihren Töchtern, den romanischen Mundarten, die einzelne Zügedes mütterlichen Gesichtes treu bewahrt haben. Als mir, meine Damen und Herren, dieEhre zugedacht wurde, vor Ihnen zu sprechen, habe ich in der Wahl des Themas nichtlang geschwankt. Denn was klänge einer Tochter lieblicher ins Ohr als das Lob der Mut-ter? Und wenn man gar mit Horaz sagen darf: o matre pulchra filia pulchrior27, so erhaltenMutter und Tochter beide ein Lob. Wie gern würde ich diesen Vortrag in Ihrer schönenSprache halten,28 aber ich kann sie nur lesend genießen, nicht lebendig sprechen. Und somuß ich Sie denn bitten vorlieb zu nehmen, wenn ich in meiner Muttersprache zu Ihnenrede.

[2] Wenn wir das Wesen des Römertums in 1 Wort fassen wollen, so muß es lauten:Kraft (forte, vigueur). Ihr verdankten es die Römer, daß sie sich den orbis terrarum unter-warfen in einem Umfange, der für die alte Welt völlig beispiellos war. Keine Kraft ohne Wil-len (énergie): wir bewundern an den alten Römern die Energie des Willens zur Macht, je-nes Willens, der sich gerade auch im Unglück manifestierte: es gibt in der Geschichte derVölker nicht vieles an Großartigkeit Vergleichbares wie die Haltung des Senats nach derNiederlage bei Cannae: merses profundo, pulchrior evenit29, um es wieder mit einem Wortedes Horaz zu sagen. Kraft und Wille müssen, wenn sie sich planmäßig auswirken sollen,geordnet sein, also tritt neben sie als dritter Faktor die disciplina, die Zucht und Ordnung.Sie kam zum Ausdruck in dem kleinsten und dem größten Verbande jeder menschlichenGesellschaftsordnung: Familie und Staat. Der Sohn ordnete sich mit unbedingtem Gehor-sam der väterlichen potestas unter, der Soldat dem Feldherren, und die Kompetenzen derMagistrate waren so genau bestimmt, daß sie nie miteinander in Konflikt kamen, sondernsich ergänzten zu jenem wunderbaren Staatsorganismus, in dem das Kleinste ein integrie-render Teil des Ganzen war; auch das Verhältnis der Menschen zu den Göttern, die religio,

26 Den Beginn des Vortrags markieren vier Auslassungspunkte. Der Name Buffon und die folgenden Aus-führungen zeigen an, dass Eduard Norden mit George Louis Leclerc de Buffons berühmtem Ausspruch inseiner Akademieantrittsrede von 1753 einsetzte: «Le style est l’homme même.» Die Geschichte von Buf-fons wirkungsmächtigem Aphorismus und die Entwicklung des dahinterstehenden Topos verfolgt Müller1977. Müller vermerkt übrigens ebd. 491 Anm. 11 auch Nordens Heranziehung des Dictums bei seinerBesprechung Senecas in der «Antiken Kunstprosa» (I, 306).

27 Hor. carm. 1,16,1.28 Danach gestrichen: der schönsten Europas,29 Hor. carm. 4,4,65. Vgl. Norden 1920, 42 (= Norden 1966, 606).

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Eduard Nordens verloren geglaubter Genfer Vortrag von 1926 7

war discipliniert. Kraft, Wille, Disciplin: diese in sich geschlossene Trias bildet die ersteund vornehmlichste Signatur des alten Römertums. Vielen Charakterköpfen gab sie dasGepräge, keinem in gleichem Maße wie dem des größten Römers, Caesars. Sie charakte-risiert auch seinen Stil. Eine caesarische Periode ist sozusagen ein Abbild des energischenMachtwillens, der unerbittlichen Konsequenz des Denkens und Handelns, mit der er Men-schen und Dinge, Völker und Verfassung meisterte.30 Die Analyse einer solchen Periodebesitzt einen geradezu erzieherischen Wert. Ein Schüler, der, anfangs von kluger Lehrer-hand geleitet, allmählich dazu vordringt, selbständig einen oft sehr langen Satz in seine Ge-dankenteile zu zerlegen, diese aus dem Ver- [3] hältnis der Unterordnung loszulösen, siedem Geiste der modernen Sprachen gemäß mit Partikeln aneinanderzureihen und dadurchdie Teile in ein zeitliches und logisches Verhältnis zu setzen – ein solcher Schüler hat einebeträchtliche Gedankenoperation vorgenommen, und durch Beobachtung der Verschie-denheit sprachlicher Ausdrucksformen wird er in die Schöpferwerkstatt seiner Mutterspra-che eingeführt. Dieser paedagogische Wert der Lektüre Caesars ist um so größer, als sich anihr auch die Methode konkreten Denkens unvergleichlich lernen läßt. Denn die geistige Re-sultante jener Trias Kraft, Wille, Disciplin ist die konkrete Plastik wie des Denkens so desmündlichen und schriftlichen Gedankenausdrucks, Straffheit und Sauberkeit, Konsequenzund Klarheit der Sprache, kurz eine gesunde Realität, fern von allem Phrasenhaften31 undSchwülstigem (enflé), eine Realität, die als besonderer Vorzug der lateinischen Literatur zubewerten ist. Unter den Propositions des M. André Oltramare lautet eine: «Un des prin-cipaux avantages éducatifs de l’étude littéraire de l’antiquité romaine est de mettre les jeunesgens en contact avec des esprits particulièrement indifférents aux préoccupations métaphy-siques.» Der illustreste dieser Geister ist wohl Caesar gewesen, der große Realpolitiker. Inden Schulen der Schweiz, Frankreichs,32 Deutschlands werden die33 Kinder in den Geistder lateinischen Sprache durch die Lektüre seiner Schriften eingeführt: die Seine, dieRhône, der Rhein treten im Rahmen großer Begebenheiten vor die Augen der Jungen, dieso auf einmal Sprache und Geschichte lernen. Mit welch stolzem Gefühl mögen wohl in Ih-rer Stadt, meine Damen und Herren, die Sätze gelesen werden, die fast im Anfang des bel-lum Gallicum stehen: ‹inter fines Helvetiorum et Allobrogum, qui nuper pacati erant, Rhoda-nus fluit … Extremum oppidum Allobrogum est proximum Helvetiorum finibus Genava. Ex eooppido pons ad Helvetios pertinet. … Caesar maturat ab urbe profisci et quam maximis potest[4] itineribus in Galliam ulteriorem contendit et ad Genavam pervenit …, pontem qui erat adGenavam iubet rescindit [sic].›34 Dieser in seiner schlichten Klarheit klassische Bericht desImperators ist der Auftakt zu einem der größten Ereignisse der Welt-Geschichte, der Civi-lisation Westeuropas; wie stolz dürfen Sie sein, daß der Name der alten Keltenstadt mitdiesem Ereignis verbunden ist.

Aber so reizvoll es wäre, unsern Blick länger auf die35 Schrift Caesars zu fixieren, somüssen wir ihn doch zu anderem schweifen lassen. Neben die Trias Kraft, Wille, Disciplin

30 Daneben, rot und schwarz unterstrichen sowie zweimal durchgestrichen: S. 12 f. Das bezieht sich auf denhier übernommenen Abschnitt aus Norden 1920, s. o. Anm. 17.

31 Danach gestrichen: Verstiegenem, Verschwommenen.32 Reihenfolge zuerst: Frankreichs, der Schweiz.33 Zuvor: unsere.34 Caes. Gall. 1,6,2–7,2.35 Danach gestrichen: monumentale.

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möchte ich eine zweite stellen: Würde, Ernst, Feierlichkeit (dignité, le sérieux, solennité).Sie begreifen: es ist eine zweite Trias nur der Zahl nach, in ihrer Wesensart jedoch eine, diejener anderen parallel läuft. Denn mit der Kraft ist die Würde, mit dem Willen der Ernst,mit der Disciplin die Feierlichkeit gepaart. Die Resultante dieser Trias ist36: das Monumen-tale, für das der Römer einen ausgeprägten Sinn hatte. Gravitätisch und ceremoniös schritter im feierlichen Faltenwurf der Toga über das Forum, gemessen in den Bewegungen desKörpers wie in den Mienen des Gesichts. Etwa so denke ich mir Tacitus. Wir dürfen ihnuns nicht nur als den Historiker vorstellen: er war ein angesehener Redner, Mitglied einerPriesterschaft und stand als hoher Staatsbeamter in unmittelbaren Beziehungen zu demKaiser Traianus. Von der Größe des Römertums war Tacitus so durchdrungen wie kaumein anderer Schriftsteller; besaß doch zu seiner Zeit das römische Reich die größte Ausdeh-nung, die es je gehabt hat: vom atlantischen Ocean bis zum persischen Meerbusen, vonGallien bis Arabien, und an der Spitze stand ein Kaiser, der in sich die echten Römertugen-den verkörperte, ein Caesar und ein Augustus in einer Person, gleich groß als Feldherr undPolitiker, ein Mann von seltner Hoheit und Adel der Gesinnung. Diese Gesinnung ist esauch, die Tacitus auszeichnet; sie repräsentiert sich auch in seiner Sprache und seinem Stil.Sein Freund, der jüngere Plinius, sagt einmal von einer Rede des Tacitus, er habe [5]�����« gesprochen:37 er bezeichnet mit dem griechischen Kunstausdruck den feierlichenErnst, die Erhabenheit (le sublime). Tacitus stand an der Wende der Zeiten: noch ragt dasImperium als imposanter Bau des orbis terrarum, aber schon sind die Gewalten am Werke,die dereinst bestimmt waren, seine Fundamente zu erschüttern, das neue Volk und dieneue Religion, Germanen- und Christentum. Tacitus hat gewußt38, daß auch dieses unge-heure Reich das Los alles Irdischen teilen werde, die Vergänglichkeit. ‹Roma aeterna›

(éterne): an diese Parole der Vielen hat er nicht geglaubt, ihr vielmehr ein anderes Wort ent-gegengestellt: ‹urgent imperii fata› (les sorts de l’émpire menarent ruine)39. Kein Mensch istProphet, aber der große Historiker antizipiert auf Grund von Symptomen ahnend die Zu-kunft. Es liegt ein tiefer Sinn40 darin, daß Tacitus dem neuen Volke eine Monographie ge-widmet hat: seine Germania ist der stolzeste literarische Besitz der Deutschen, und jenesdüstere Wort von dem drohenden Schicksal des Imperium steht eben in dieser Schrift. Unddas Christentum? Zum 1. Male in der lateinischen Literatur41 findet sich das Wort ‹Chris-tiani› in den taciteischen Annalen, inmitten eines der grandiosesten Gemälde, die der Pinseleines Schriftstellers gemalt hat, in der Beschreibung des neronischen Brandes, als dessenAnstifter viele die Christen bezeichneten. Tacitus begnügt sich nicht damit, das Gerücht zuverzeichnen, sondern er gibt einige Worte über die origo nominis: nirgendwo sonst in pro-faner lateinischen Literatur begegnet der Name Christus, nirgendwo der des Pontius Pila-tus. Ein paar Worte sind es nur, aber alles für den Leser Wichtige enthaltend. Das ist die be-kannteste Signatur des lateinischen Stils: die gedrängte Kürze, was sich am besten miteinem Worte der französischen Sprache wiedergeben läßt: ‹la concision›. Die Erhabenheitdieses Stils kommt auch in dieser seiner monumentalen Kürze zum Ausdruck. Um auch

36 Statt: Die beiden Triaden lassen sich vereinigen in dem Begriff.37 Plin. epist. 2,11,17.38 Statt: geahnt.39 Tac. Germ. 33.40 Statt: kein Zufall.41 Tac. Ann. 15,44,2–3. Mit Bleistift darüber: NB. Plinius.

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hier wieder ein Beispiel aus der Geschichte Ihres Volkes zu wählen, meine Damen42 undHerren. Die Helvetier werden nach Caesar zum 1. Male wieder in den Historien des Taci-tus erwähnt, als die Stürme der Revolution des Jahres 69 auch über die Schweiz hinweg-brausten, in einer freilich nur kurzen Episode. Da findet sich, zur Orientierung der Leser,ein kurzes Wort über die Helvetii ‹Gallica gens, olim armis virisque, mox memoria nominisclara.› (nation gauloise, célèbre autrefois par des armes et des hommes, ensuite par la me-moire du nom).43 Was liegt alles darin: ein Hinweis auf den alten Kriegsruhm und die großeVolkszahl der Helvetier, also eine Art von Citat des caesarischen Berichts, dann aber auch:nach jener Katastrophe, die ihnen Caesar bereitete, lebt nur noch die Erinnerung an dengroßen Namen (la memoire du nom).44 [6] Caesar und Tacitus, so grundverschieden sie alsSchriftsteller sonst sind, haben in ihrem Stil doch das Gemeinsame, daß sie Sparer mitWorten sind (des menagers de paroles [sic]). Ihnen wollen wir als dritten anreihen dengrößten Künstler der lateinischen Prosa Cicero. Sein Stilideal war nicht die Sparsamkeit (leménage), sondern die Fülle (l’abondance). Um auch diese Stilart aus dem Geist des Römer-tums zu begreifen, müssen wir Folgendes bedenken. Neben der ersten Trias Kraft, Wille,Disciplin und der zweiten Würde, Ernst, Feierlichkeit stand eine dritte: Ostentation, Rhe-torik, Pathos.45 Die lateinischen Sprachtheoretiker, die ihre Sprache mit der griechischenverglichen, klagten oft über die römische Armut und neideten den Hellenen den Reichtumder Sprache. Wer wollte läugnen, daß sie im Grunde Recht hatten? gab es doch unter denindogermanischen Sprachen keine, die mit der griechischen an Reichtum des Wortschatzes,der Formen und der Beweglichkeit den Vergleich aushält. Aber nur an einem König gemes-sen ist ein Großgrundbesitzer arm, reich ist auch er, wenn man sein Gut mit dem einesBauern vergleicht. Wie reich auch die lateinische Sprache war, zeigt uns in der Poesie Plau-tus. Mit welcher Virtuosität spielt er auf der Klaviatur des Wortschatzes, welche Fülle derFormen, wie beweglich wird in seiner Künstlerhand die Sprache: sie ist, verglichen mit derdes Menander, sicher dürftiger an Stimmungsgehalt, an psychischer Feinheit, an geistigemGehalt, aber eher reicher als ärmer, und er breitet diesen Reichtum sogar mit einem gewis-sen Behagen aus, indem er seine Personen in Worten schwelgen läßt. Es ist das, was ichvorhin die Ostentation römischer Wesensart nannte, eine gewisse Neigung, sich wie einvoller Strom in die Breite zu ergießen, durchaus im Gegensatz zu der feinen Subtilität atti-scher Wesensart. Vergleichen wir ferner die Fragmente der Tragödien des Ennius, eines un-gefähren Zeitgenossen des Plautus, mit den griechischen Originalen, so finden wir, daß eroft an die Stelle ihrer inneren Bewegung Rhetorik, an die Stelle des Ethos, also einer See-lenstimmung, Pathos, einen leidenschaftlichen Affekt, hat treten lassen. Diese Trias,

42 Im Manuskript hat sich Norden bei seiner sonst üblichen Abkürzung m. D. u. H. verschrieben und daszuerst gesetzte m. H. zu m. D. verbessert. Das sei hier vermerkt, da es einer anderweitig belegten ReserveNordens dem Frauenstudium gegenüber entspricht, die ihn noch um 1930 seine Hörer mit «Meine Herrenund Damen» ansprechen ließ (Mensching 1992, 48).

43 Tac. hist. 1,67.44 In Rot und in flüchtiger Schrift beigeschrieben: Zurzach? Nach der Reise schrieb Norden an André Oltra-

mare: «Gestern bin ich zurückgekehrt, nachdem ich mir vorgestern noch das kleine Schweizer StädtchenZurzach am Oberrhein (2 St. östl. von Basel) angesehen hatte: die alte keltische Festung Tenedo, die inmeinem Germanenbuch (über Tacitus [Kap. 4.2.4 «Geschichte des Kastells Tenedo (Zurzach)»]) einegewisse Rolle spielt. Durch Autopsie bestätigt zu finden, was man auf Grund literarischer Überlieferungerschlossen hat, ist stets angenehm» (Bibliothèque de Genève, Archives de la famille Oltramare Ms. fr.7334, f. 11r [Brief vom 23. 10. 1926]; vgl. Mensching 1993, 45).

45 Danach gestrichen: Eleganz.

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10 Olaf Schlunke

Ostentation, Rhetorik, Pathos ist die Dominante ciceronischen Stils, freilich in höchsterkünstlerischer Vollendung, und temperiert durch eine Stiltheorie, die durch griechischePhilosophie geadelt war, temperiert auch durch die Klarheit und Straffheit juristischerSchulung. Also Disciplin und Würde, jene Faktoren unserer ersten und zweiten Trias, ha-ben ihn davor bewahrt, sich ins Uferlose zu verlieren und ihm die Fähigkeit [7] zu jenerFormenstrenge gegeben, die ihn neben Caesar, seinem politischen und literarischen Geg-ner, zum Klassiker der Prosa machte. Ein so bedeutender Kritiker wie Quintilianus hat dasbekannte Wort gesprochen: ‹ille se profecisse sciat›46 u.s.w. In der Tat ist das aesthetische Ge-fallen an einer Rede Ciceros auch für uns noch ein Gradmesser des Verständnisses für For-menschöne der eloquentia Romana. Wir müssen uns und unsere Schüler dazu erziehen, vordem Feuer, das einige Reden gegen Catilina und Antonius durchtobt, zu erschrecken, das47

Pathos grade wegen seiner verstandesmäßigen Discipliniertheit zu bewundern und uns ander Eleganz der Form, die nie zum Spiel ausartet, zu entzücken; ja, wir müssen versuchendahin zu gelangen, daß wir über der Form den Inhalt, der die Probe auf die objektive Wahr-heit48 nicht immer besteht, völlig vergessen. Freilich dürfen wir, um dahin zu gelangen,nicht nur mit den Augen lesen, sondern müssen mit den Ohren hören, d. h. wir müssenlaut lesen, denn seine Reden sind rhythmisch stilisiert. So kurz auch die mir noch verfüg-bare Zeit ist, einen Augenblick bitte ich doch bei diesem wichtigen Punkt verweilen zu dür-fen, grade vor Ihren Ohren, meine Damen und Herren, die durch die Musik Ihrer Sprachehierfür besonders49 geschult sind50. Zwar gibt es wohl keine Sprache, die in ihren Wortendie Tonstufen nicht irgendwie differenzierte, also solche, die nur monoton wären. Aber aufdas Mehr oder Weniger kommt es an. So klang- und gesangreich wie die griechische warkeine andere unsres Kulturkreises, aber auch die lateinische entbehrte dieses musikalischenElementes nicht; sonst hätten die römischen Grammatiker das Wort ���9�� nicht zurBezeichnung der sprachlichen Tonstufen übernehmen können: das aber taten sie, indem siees mit ‹accentus› übersetzen. Sie wissen, daß l’accent ursprünglich bedeutet: der Zugesang.Es ist unbedingt glaubhaft überliefert, daß C. Gracchus, der größte Redner der vorcicero-nischen Zeit, einen Flötenspieler (joueur de flûte) hinter sich stehen ließ, der ihm auf sei-nem Instrument die Tonhöhe und Tonstärke angab, mit der er, der Redner, zu sprechenhatte. Eine so beschaffene Sprache war dem Rhythmus zugänglich, der ja den Takt zur Me-lodie gibt. Die Griechen hatten längst für ihre Kunstprosa in Theorie und Praxis eineRhythmisierung ausgebildet, die nur von den Römern mit gewissen Modifikationen herü-ber- [8] genommen wurde. Erlauben Sie mir, Ihnen das an einer Probe zu Gehör zu brin-gen. Ich wähle den Anfang der 1. catilinarischen Rede. Beachten Sie dabei, bitte, daß die Pe-rioden nach Abschnitten gegliedert sind, an deren Schlüssen, den Sinnespausen, dieRhythmen besonders deutlich zu Gehör kommen; Komma oder Kolon hieß ein solcherAbschnitt, je nachdem er kürzer oder länger war: wir haben, obwol wir nur noch gram-matisch interpungieren, die Namen unserer Interpunktionszeichen daher übernommen.

46 Quint. inst. or. 10,1,112: Hunc igitur spectemus, hoc propositum nobis sit exemplum, ille se profecisse sciat, cuiCicero valde placebit.

47 Danach gestrichen: gebändigte.48 Statt: seinen Gehalt.49 Statt: besser.50 Danach gestrichen: als die Ohren eines Deutschen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die griechische Sprache

einen stark musikalischen Typus repräsentierte.

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Eduard Nordens verloren geglaubter Genfer Vortrag von 1926 11

Schon Aristoteles hat gelehrt, daß diese Abschnitte, Kola und Kommata, das Substrat derrhythmischen Kunstrede seien.51

Diese skizzenhafte Charakteristik des Stils dreier Literaturgrößen der lateinischen Prosamuß genügen. Es wäre sonst reizvoll, noch andere Kreise der Prosaliteratur zu berühren,beispielsweise52 das unvergleichlich klare, präcise Juristenlatein. Aber wir würden für unserThema nicht viel Neues daraus entnehmen können. Überall würde uns begegnen die jenach dem Stoff mehr oder minder stark betonte Ausdrucksweise eines kraftvollen, willens-starken und disciplinierten Volkes, das sich seiner Würde bewußt war und in ernsterPflichterfüllung die Aufgabe des Mannes sah, bieder, brav und gesund, etwas nüchtern, ver-standesmäßig und den Daseinsrealitäten zugeneigt, das Nützliche, Praktische höher be-wertend als das Ideelle und Phantasievolle, dessen Werte nicht realisierbar sind, lernbegie-rig und fremdem Gute gegenüber sehr anpassungsfähig, ihm aber die nationale Eigenartaufprägend, kurz eines Volkes das die Begriffe virtus und officium, religio und pietas, honosund gloria, dignitas und respublica, auctoritas und imperium prägte und – wenigstens in sei-ner guten Zeit – bemüht war sie aus dem Begrifflichen in die Tat umzusetzen. Aber stattdies für die Prosa weiter zu verfolgen, wollen wir lieber noch einen Blick auf die Poesiewerfen.

Der nationale Dichter ist Virgil gewesen. Wenn also jene drei Triaden römischen Wesenszu Recht bestehen, so müssen wir erwarten, daß sie in der Aeneis, dem Nationalepos, vor-zugsweise in Erscheinung treten. So ist es auch. Das Gedicht ist auf einen Ton höchster Fei-erlichkeit gestimmt, ja es hat religiösen Charakter. Aeneas ist freilich keine Heldennatur he-roischen Maßstabes – eine derartige wäre ja auch unrömisch gewesen, selbst wenn derDichter sie zu schaffen vermocht hätte –, aber Aeneas trägt in seinem durch Selbstzucht be-herrschten Willen, seiner in Momenten der Gefahr gesammelten Kraft, seiner gottergebe-nen Frömmigkeit das Gepräge [9] römischen Wesens. Dabei brauchen wir nicht in Abredezu stellen, daß der weiche, gemütvolle, ja zur Schwermut neigende Dichter Züge dieser eig-nen Wesensart auf seinen Helden übertragen hat; aber vielleicht liegt grade in diesem Wi-derspiel von Zuversicht und Resignation, von Energie und Entspannung ein größerer Reiz,als wenn der Dichter einen abstrakten Typus geschaffen hätte, der ohne Lebenswahrheitgewesen wäre. So zeigt denn auch der Stil dieses Epos eine wohltuende Mischung. Zwardie Erhabenheit, das Feierlich-Ceremoniöse, die maniera grande wird niemals preisgege-ben, aber das Pathos ist durch Ethos temperiert, die Rhetorik ist nicht die Herrin, sondernein dienendes Werkzeug der Poesie. Es fehlt diesem Stil nicht durchaus an Ostentation, jaer hat gelegentlich etwas prunkhaft Paradierendes (il fait parade des môts), aber in derHand eines solchen Meisters ist dieses Moment nur eine durch die römische Wesensart be-dingte Begleiterscheinung, nicht, wie bei den späteren Epikern, die Dominante. So sehenwir in allem, wie dieser Dichter es in einzigartiger Weise verstand, dem Genie seines Volkesden Stempel seines eignen Naturells aufzuprägen und das Römische53 durch54 Helleni-

51 Drei waagerechte rote Striche zeigen an, dass Norden das Cicero-Zitat hier wohl aus dem Gedächtnis ein-fügte: Cic. Cat. 1,1–2: Quousque tandem abutere Catilina patentia nostra? etc. (vgl. Norden 1920, 15 u. 43 f.[= Norden 1966, 590 u. 606 f.]).

52 Danach folgt mit Bleistift, nachträglich eingeklammert, aber nicht durchgestrichen: (das derbe Bauernlateindes alten Cato oder).

53 Statt: autochthon-Italische, über der Zeile ergänzt und gestrichen: das ihm durch seine bäuerliche Abstam-mung im Blute lag,.

54 Danach gestrichen: ein.

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12 Olaf Schlunke

sches55 zu veredeln.56 Keiner war daher so wie er befähigt, dem Gegensatz der beiden Na-tionen solchen Ausdruck zu geben, wie es in jenen berühmten Versen geschieht, die dieHeldenschau des VI. Buches der Aeneis beschließen: der Primat in Wissenschaft und Kunstwird den Hellenen eingeräumt, aber die Unterwerfung des orbis terrarum durch Waffen undStaatskunst und seine Civilisation durch Sitte und Recht ist die weltgeschichtliche Aufgabedes Römers. Lassen Sie mich Ihnen diese Verse recitieren, in denen Inhalt, Stil und Sprachesich zu monumentaler Einheit zusammenschließen (Voilà la proclamation du génie grec etde la majesté du peuple Romain, majestas populi Roma‹n›i )

excudent

credo equidemorabunt causasostendent radiotu regere57

Dem Norditaliker Virgil war der Süditaliker Horaz freundschaftlich verbunden. Mochtensie noch so verschieden geartet sein: der Geist der großen Zeit, das Pflichtbewußtsein ihrnach Kräften dienen zu müssen, die gleiche philosophische Weltanschauung und die Ehr-furcht vor der Muse ließ sie eine Seelengemeinschaft eingehen. Der prachtvolle Vers desHoraz ‹dis te minorem quod geris, imperas›58 ließe sich wie eine Art Motto der Aeneis vo-ranstellen. [10] Auch Horaz legte, wenn Stoff und Stimmung es mit sich brachten, dasDichtergewand in feierliche Falten: einige seiner Oden sind die ernstesten Gedichte der ge-samten lateinischen Poesie. Auch er besaß Sinn für das Monumentale des Stils: si fractus …,alme Sol …, und Sentenzen wie diese dulce …, dignum laude … sind unvergesslich.59 Aberin diesem grandiosen Feiertagsstil sah er selbst nicht die Eigenart seiner Begabung; diese lagauf einem anderen Gebiete. Um auch sie im Rahmen ihrer nationalen Bedingtheit würdigenzu können, müssen wir hier, schon fast am Schluß unserer Betrachtungen angelangt, dendrei Triaden eine vierte hinzufügen: Spiel60, Spott, Humor (jeu, moquerie, humeur). DieseTrias ist die Kehrseite der zweiten: Würde, Feierlichkeit, Ernst. Das Antithetische läßt sichetwas so begründen: die vierte Trias ist italisch, die zweite römisch. Der italische Bauer gabsich, wie es Virgil in den Georgica so schön schildert, nach der harten Werktagsarbeit anFeiertagen dem Spiel hin: da gab es Gesang61 und Scherz, Neckerei und Ausgelassenheit62

55 Danach gestrichen: Pfropfreis.56 Danach gestrichen: Er stammte aus bäuerlichen Kreisen, und seine facies rusticana sehen wir im Bilde vor uns.57 Verg. Aen. 6,847–853: excudent alii spirantia mollius aera – / credo equidem –, vivos ducent de marmore vol-

tus; / orabunt causas melius, caelique meatus / describent radio, et surgentia sidera dicent: / tu regere imperiopopulos Romane memento – / haec tibi erunt artes – pacique inponere morem, / parcere subiectis et debellaresuperbos. Die vier Versanfänge sind von «excudent» durch drei waagerechte rote Striche auf derselben Höheabgetrennt.

58 Hor. carm. 3,6,5.59 Hor. carm. 3,3,7–8: si fractus inlabatur orbis, / inpavidum ferient ruinae; carm. saec. 9–12: alme Sol, curru

nitido diem qui / promis et celas aliusque et idem / nasceris, possis nihil urbe Roma / visere maius; carm. 3,2,13:dulce et decorum est pro patria mori; carm. 4,8,28: dignum laude virum Musa vetat mori.

60 Statt: Witz.61 Statt: Frohsinn.62 Statt: Derbheiten.

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aller Art; in diesen ländlichen Belustigungen lagen die Wurzeln des possenhaften63 Sing-spiels, das auf italischem Boden längst bestand, bevor die formstrenge attische Komödiedorthin verpflanzt wurde. Der italische Witz war nicht fein wie das attische Salz, sondernbeißend wie Essig: Horaz spricht einmal vom Italum acetum (vinaigre).64 Dieses dem Ita-lertum angeborene, echt volkstümliche Wesen mischte der schwerflüssigen römischen Son-derart einen Tropfen leichten Blutes bei.65 Im öffentlichen Leben sehr bedacht auf Wahrungder gravitas und des decorum, legte der Römer im Hause, zumal auf der Villeggiatur das ce-remoniöse Wesen gern ab, um sich dem harmlosen Frohsinn hinzugeben.66 Erlauben Siemir, Ihnen folgende zwei Geschichten zu erzählen, die beide gut beglaubigt sind. Scipio Na-sica, ein Cousin des älteren Africanus, besuchte einst den Dichter Ennius; aber die Magddes Ennius sagte an der Pforte, ihr Herr sei nicht zu Hause. Nasica merkte, daß sie das nurauf Befehl des Herrn sage und daß dieser doch zu Hause sei. Wenige Tage darauf kam En-nius zu Nasica, um ihm einen Gegenbesuch zu machen. Als Ennius an der Tür nach ihmfragte, rief Nasica aus dem Innern: «Ich bin nicht zu Hause (chez moi).» Darauf Ennius:«Was? ich erkenne dich ja an deiner Stimme!» Da Nasica: «Nein, du bist doch gar zu un-verschämt. Neulich bei meinem Besuch bei dir habe ich deiner Magd geglaubt, daß du nichtzu Hause seist; und du glaubst es mir nicht!» [11] Die andere Geschichte betrifft den jün-geren Scipio. Nach anstrengender amtlicher Tätigkeit67, etwa einer langen Senatssitzung,war Scipio in Begleitung seines Freundes, des Dichters Lucilius, nach Hause gekommen.Der Tisch stand gedeckt da, sie machten es sich bequem, legten die Toga ab und lösten dieTunica. Während sie auf die Gäste warteten, neckte Scipio den Lucilius. Da nahm dieserseine Serviette, wickelte sie in einem Knoten um seine Hand und ging damit auf Scipio los.Dieser riß aus, aber Lucilius hinter ihm her rings um die für die Gäste bereiteten Plätze. Indiesem Augenblick trat Laelius der Weise ins Zimmer. Tableau. – Es ist nicht zu verwun-dern, daß in der römischen Literatur68 diese italische Wesensart zum Ausdruck kam, dennviele ihrer bedeutendsten Vertreter entstammten dem Bauernstande. In den Fragmentender Reden des alten Cato erfreut uns oft ein derber, grobkörniger Humor (une humeurgrosse et rude),69 der sich mit dem Grundton des Eifern‹s›, Scheltens, Polterns ganz wohlverträgt. Das Werk des Varro, eines Gesinnungsgenossen Catos, über den Landbau ist nichtbloß in der Rahmenerzählung humoristisch, sondern oft streut er auch in den nur fachwis-senschaftlichen Teilen solche Körner aus, ja dies geschieht hin und wieder sogar in seinemsprachwissenschaftlichen Werk über die lateinische Sprache. Und wer könnte verkennen,daß auch im Wesen Ciceros, dessen Großeltern70 italische Bauern waren, diese Seite starkhervortritt? In einigen Reden ist er ein liebenswürdiger Causeur, der sein Publikum mitgeistreichen Scherzen unterhält, was ihm von rigorosen Männern verdacht wurde: «o was71

63 Statt: heiteren.64 Hor. serm. 1,7,32.65 Danach gestrichen: wie denn noch der heutige Reisende sich wie in eine andere Welt versetzt glaubt, wenn er

aus der feierlichen grandezza Roms Es ist sehr reizvoll zu beobachten [kein weiterer Text].66 Danach gestrichen: Wie reizend ist doch die folgende Erzählung:.67 Statt: Tagesarbeit [nicht gestrichen].68 Danach gestrichen und durch das Folgende ersetzt: grade bei ihren besonders bodenständigen Vertretern Spu-

ren dieser Veranlagung [statt: Wesensart] begegnen.69 Danach gestrichen: und wie viele bonmots kursierten von ihm.70 Darüber: ?71 Darüber: Citat?

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für einen amüsanten Consul haben wir?» sagte ein Pedant.72 Der größte73 Teil des II. Buchesüber den Redner ist eine Abhandlung über den Witz, die ausführlichste die wir aus dem Al-tertum besitzen (in ihr steht jene Geschichte von Ennius und Scipio Nasica). Wie viele sei-ner Briefe sind auf diesen Ton gestimmt, wie oft hat er in trostloser Lebenslage sich selbstdurch ein Scherzwort zu trösten versucht.74 [12] Aber wie alles italische Wesen, so war auchdiese seine Seite längst durch das griechische verfeinert worden: die rustikane Derbheithatte sich zur urbanen Grazie umgewandelt (la rudesse rurale s’était transformée en élé-gance urbaine);75 der Witz war, wie wir aus Ciceros Theorie und Praxis sehen, ein Elementder humanitas geworden (la plaisanterie un élément de l’humanité). Das war die Geistes-welt, in der sich Horaz wohl fühlte. In ihr wurde er76 der liebenswürdige, gutmütige, men-schenfreundliche, alle Welt und nicht am wenigsten sich selbst ironisierende Humorist, wieihn uns seine Satiren zeigen. In ihnen ist zwar das konstruktive Element griechisch, aber derGrundton so stark italisch wie in keiner anderen Dichtungsgattung lateinischer Sprache.Die schönsten Satiren sind die, deren Scenen auf dem Landgut des Dichters spielen; icinous respirons l’air de la campagne italique; denken Sie nur an die entzückende Fabel von lasouris rurale et urbaine. Das ist auch der tiefere Grund dafür, daß wir alle übrigen, aus demAltertum in die modernen Literaturen herübergekommenen Dichtung‹s›gattungen mitgriechischen Worten bezeichnen – Epos, Lyrik, Drama mit ihren Unterarten –, nur die Sa-tire mit einem lateinischen Wort.

In diesem Zusammenhang möchte ich schließen mit einem Wort des Dankes an M. An-dré Oltramare. Ein Kapitel seiner Thèse behandelt die horazischen Satiren, vor allem ihregriechischen Elemente.77 Möchten Sie trotz Ihrer Stellung als hoher Staatsbeamter Zeit fin-den, Ihre großen Kenntnisse und Ihren feinen literarischen Geschmack auch einmal in denDienst der italischen Muse, der Camene, zu stellen. Sie sehen, M. Oltramare, heute sindSie noch mon ami, demain matin pendant la soutenance des propositions je serai votre en-nemi furieux, mais l’après-midi, j’espère, de nouveau votre ami sincère.

72 Darüber: ?73 Darüber: ?74 Danach gestrichen: – Auch Horaz, um wieder auf ihn zurückzukommen, gehört in diese Reihe; ja man wird

sagen dürfen, dass er einer der größten Humoristen der Weltliteratur ist. In der von Lucilius begründeten, vonihm selbst verfeinerten Satire fand er, das süditalische, dann nach Rom verpflanzte Bauernkind, die seinemWesen kongruenteste Dichtungsart. Hier ist er am meisten er selbst, der alle Welt, sich selbst miteingeschlossen,ironisierende liebenswürdige, gutmütige Spötter. Da sich nun in seinen Satiren mit der scherzhaften Art eine leb-haft-ernste, moralisierende zu einem organischen Ganzen vereinigt, so wird man sagen dürfen, dass dieseGedichte die italisch-römische Wesensart so vollkommen repräsentieren wie [kein weiterer Text].

75 Danach gestrichen: die grobe Art Catos zum Humor und zur Ironie.76 Danach gestrichen: einer der größten Humoristen aller Zeiten,77 Oltramare 1926, 138–152.

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Eduard Nordens verloren geglaubter Genfer Vortrag von 1926 15

Letzte Seite des Vortragsmanuskripts (BBAW-Archiv NL E. Norden Nr.1 92).

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16 Olaf Schlunke

Literaturverzeichnis

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