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Der Einfluss von Hartz IV auf die westdeutsche Stille Reserve – Ergebnisse auf Basis...

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AStA Wirtsch Sozialstat Arch DOI 10.1007/s11943-014-0138-5 ORIGINALVERÖFFENTLICHUNG Der Einfluss von Hartz IV auf die westdeutsche Stille Reserve – Ergebnisse auf Basis unterschiedlicher methodischer Ansätze Johann Fuchs Eingegangen: 26. April 2012 / Angenommen: 17. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 Zusammenfassung Der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit im Jahr 2005 wird teil- weise der Arbeitsmarktreform des Jahres 2005 (Hartz IV) zugeschrieben, die „ver- deckte“ Arbeitslosigkeit offengelegt hätte. Im folgenden Beitrag wird deshalb mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen und Datensätzen erstmals untersucht, wel- chen Umfang diese Umschichtung von verdeckter zu offener Arbeitslosigkeit hatte. Der Umfang des in Anlehnung an die ILO abgegrenzten sogenannten „Discoura- gements“ ist nach den Daten des Mikrozensus zwischen 2004 und 2005 tendenziell gestiegen, d.h. in der Querschnittsbetrachtung hat die auf diese Weise operationali- sierte Stille Reserve nach Hartz IV sogar zugenommen. Aufbauend auf einem am DIW entwickelten Konzept zeigten sich mit Daten des Sozioökonomischen Panels auch im Längsschnitt keine bedeutsamen Umschichtungen zwischen Stiller Reserve und Arbeitslosigkeit. Abschließend wurde mit Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eine Simulation gerechnet, die eine Situation ohne und eine mit Hartz IV abbildet. Auch diese Schätzung legt einen bestenfalls schwachen Einfluss von Hartz IV auf die Stille Reserve nahe. Alles in allem dürfte Hartz IV die west- deutsche Stille Reserve nur wenig reduziert haben. Die Resultate sprechen eher für die Annahme, dass Hartz IV in erster Linie das Erwerbspersonenpotenzial um bislang dem Arbeitsmarkt fern stehende Personen ausgeweitet hat. Schlüsselwörter Stille Reserve · Entmutigte Arbeitskräfte · Arbeitslosigkeit · Hartz IV-Reform JEL Klassifikationen E32 · J21 · J64 · J68 J. Fuchs (B ) Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Regensburger Straße 104, 90478 Nürnberg, Deutschland e-mail: [email protected]
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Page 1: Der Einfluss von Hartz IV auf die westdeutsche Stille Reserve – Ergebnisse auf Basis unterschiedlicher methodischer Ansätze; The impact of the Hartz IV labor market reform on hidden

AStA Wirtsch Sozialstat ArchDOI 10.1007/s11943-014-0138-5

O R I G I NA LV E RÖ F F E N T L I C H U N G

Der Einfluss von Hartz IV auf die westdeutsche StilleReserve – Ergebnisse auf Basis unterschiedlichermethodischer Ansätze

Johann Fuchs

Eingegangen: 26. April 2012 / Angenommen: 17. Januar 2014© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Zusammenfassung Der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit im Jahr 2005 wird teil-weise der Arbeitsmarktreform des Jahres 2005 (Hartz IV) zugeschrieben, die „ver-deckte“ Arbeitslosigkeit offengelegt hätte. Im folgenden Beitrag wird deshalb mitunterschiedlichen methodischen Ansätzen und Datensätzen erstmals untersucht, wel-chen Umfang diese Umschichtung von verdeckter zu offener Arbeitslosigkeit hatte.

Der Umfang des in Anlehnung an die ILO abgegrenzten sogenannten „Discoura-gements“ ist nach den Daten des Mikrozensus zwischen 2004 und 2005 tendenziellgestiegen, d.h. in der Querschnittsbetrachtung hat die auf diese Weise operationali-sierte Stille Reserve nach Hartz IV sogar zugenommen. Aufbauend auf einem amDIW entwickelten Konzept zeigten sich mit Daten des Sozioökonomischen Panelsauch im Längsschnitt keine bedeutsamen Umschichtungen zwischen Stiller Reserveund Arbeitslosigkeit. Abschließend wurde mit Daten des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung eine Simulation gerechnet, die eine Situation ohne und eine mitHartz IV abbildet. Auch diese Schätzung legt einen bestenfalls schwachen Einflussvon Hartz IV auf die Stille Reserve nahe. Alles in allem dürfte Hartz IV die west-deutsche Stille Reserve nur wenig reduziert haben. Die Resultate sprechen eher fürdie Annahme, dass Hartz IV in erster Linie das Erwerbspersonenpotenzial um bislangdem Arbeitsmarkt fern stehende Personen ausgeweitet hat.

Schlüsselwörter Stille Reserve · Entmutigte Arbeitskräfte · Arbeitslosigkeit · HartzIV-Reform

JEL Klassifikationen E32 · J21 · J64 · J68

J. Fuchs (B)Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Regensburger Straße 104, 90478 Nürnberg,Deutschlande-mail: [email protected]

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J. Fuchs

The impact of the Hartz IV labor market reform on hidden unemploymentin western Germany—results from different methodological approaches

Abstract Unemployment in Germany strongly increased in 2005. Beside other in-fluences a labor market reform that came into force in 2005 (Hartz IV reform) wasascribed to redistribute hidden to open unemployment. Using different methodologi-cal approaches and data sets this article analyses the scale of this change from hiddento open unemployment in West Germany.

Yet, the number of discouraged workers, due to the German Microcensus and fol-lowing ILO-definitions, increased from 2004 to 2005 when compared year by year.For a longitudinal analysis the data from the Socioeconomic Panel were used to es-timate the hidden unemployed based on a concept, which was developed at the Ger-man Institute for Economic Research (DIW). The results do not show any significantchange from hidden to open unemployment. As a final step our analyses isolated theinfluence of Hartz IV by a simulation study that compares the estimated number ofhidden unemployed for different labor market regimes. For this estimation data weused data from the Institute for Employment Research (IAB). The simulation onlyshows a weak impact of the reform on the scale of hidden unemployment. All in all,the Hartz IV reform did not have any strong effect on the hidden unemployment inWest Germany. The results are in favor of a different view, which says that above allthe labor force was expanded by the reform.

Keywords Hidden unemployment · Discouragement · Unemployment · Labormarket reform

1 Einleitung

Die Arbeitsmarktreformen in den Jahren 2003 bis 2005 (Agenda 2010) sollten dendeutschen Arbeitsmarkt flexibler gestalten. Der Sachverständigenrat zur Begutach-tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) führt einen Rückgang der struk-turellen Arbeitslosigkeit (NAIRU) um beinahe zwei Prozentpunkte teilweise auf diemit der Agenda 2010 einhergehenden verbesserten Angebotsbedingungen zurück(SVR 2008: 324f.). Arbeitslose seien nun eher bereit, vorhandene Arbeitsplätze zubesetzen (Kettner und Rebien 2007). Insbesondere habe sich der Matchingprozessdurch die Hartz-Reformen verbessert (Klinger und Rothe 2012).

Allerdings kam es 2005 zu einem sprunghaften Anstieg der registrierten Arbeits-losigkeit. Mit der Einführung des Sozialgesetzbuches II (SGB II) wurde das vorherigbestehende System aus Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe abgeschafft und durch eineGrundsicherung für Arbeitssuchende ersetzt. Diese als Hartz-IV bezeichnete Reformveränderte auch die Grundlagen der Arbeitsmarktstatistik grundlegend. So erklärt dieBundesagentur für Arbeit (BA) den zunächst sprunghaften Anstieg der statistisch re-gistrierten Arbeitslosigkeit mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und So-zialhilfe, d.h. bisherige Sozialhilfeempfänger wechselten das Fördersystem, wurdenaber nun bei den Arbeitslosen mitgezählt (BA 2006: 17).

Die registrierte Arbeitslosigkeit spiegelt jedoch nur einen Teil der Unterbeschäf-tigung wider. Ein weiterer, wenn auch kleinerer Teil steckt in der sogenannten StilleReserve. Dabei handelt es sich um nichtbeschäftigte Personen, die zwar arbeitsmarkt-

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Der Einfluss von Hartz IV auf die westdeutsche Stille Reserve

nah sind, sich aber nicht als arbeitslos registrieren lassen. Es könnte sein, dass derAnstieg der registrierten Arbeitslosigkeit im Jahr 2005 Ergebnis einer Umschichtungvon Stiller Reserve zu registrierter Arbeitslosigkeit war (SVR 2008: 468). Insofernwäre also bislang verdeckte Arbeitslosigkeit offen gelegt worden. Dem liegt eine bis-lang ungeprüfte These zugrunde, denn Sozialhilfeempfänger müssten vorher Teil derStille Reserve gewesen sein. In diesem Fall dürfte sich das Erwerbspersonenpoten-zial – die Summe aus Erwerbstätigen, Arbeitslosen und der Stillen Reserve – wegenHartz IV nicht verändert haben.

Eine alternative Erklärung für den Anstieg der Arbeitslosigkeit in 2005 wäre, dassseit Hartz IV dem Arbeitsmarkt vorher fern stehende Personen statistisch erfasst wer-den. Das bedeutet ein steigendes Erwerbspersonenpotenzial. Dieser Aspekt wurde injüngerer Zeit wieder bedeutsam, weil es vergleichsweise schwierig ist, Arbeitsloseaus dem Rechtskreis des SGB II dauerhaft wieder in Arbeit zu bringen (vgl. BA2012: 13f.).

Bislang wurden die Auswirkungen von Hartz IV auf die Stille Reserve nicht un-tersucht. Der vorliegende Beitrag will deshalb die Frage klären, ob die Zunahme derArbeitslosigkeit im Jahr 2005 mit einer Umschichtung innerhalb des (nichtbeschäf-tigten) Erwerbspersonenpotenzials oder mit einer Ausweitung des Erwerbspersonen-potenzials zu erklären ist.

Die Analyse basiert auf verschiedenen Ansätzen zur Bestimmung der Stillen Re-serve. Das erste Konzept geht auf eine international gebräuchliche Definition der„discouraged worker“ zurück (De La Fuente 2011; Hussmanns et al. 1990). Des Wei-teren wurde der Ansatz von Holst (2000) verfolgt, der mit Daten des Sozioökonomi-schen Panels (SOEP) eine Schätzung der Stillen Reserve zulässt. Schließlich ver-wendet die Analyse den Ansatz des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung(IAB), der anders als die beiden erstgenannten Ansätze auf der Basis von Erwerbs-quoten argumentiert (Fuchs und Weber 2005).

Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Um zu verstehen, wie und an welcher Stel-le „Hartz IV“ auf die Stille Reserve wirken könnte, wird die Stille Reserve zunächstunter theoretischen Gesichtspunkten näher beleuchtet. Bei der anschließenden Opera-tionalisierung werden die drei genannten Schätzansätze hinsichtlich ihrer Konzeptionund ihres Datenbedarfs beschrieben. Da die Ansätze unterschiedliche Werte für dieStille Reserve ergeben, diskutiert das Ergebniskapitel zunächst die Entwicklung derStillen Reserve während der Einführung des SGB II. Um die Forschungsfrage weiterzuzuspitzen, werden anschließend die Veränderungen näher beleuchtet. Weiter wurdeeine Simulation gerechnet, die unmittelbar eine Antwort gibt, ob die Stille Reserveaufgrund von Hartz IV zu- oder abgenommen hat. Die Zusammenfassung bewertetdas Ergebnis in Hinblick auf die beschäftigungspolitischen Konsequenzen.

2 „Discouragement“ und „added worker effect“

2.1 Das Phänomen zyklischer Schwankungen der Erwerbsquote

Die Arbeitslosigkeit nimmt nicht in dem Ausmaß zu, wie die Erwerbstätigkeit ab-nimmt und vice versa. Infolgedessen schwankt die Erwerbspersonenzahl, also dieSumme von Erwerbstätigen und Arbeitslosen, mit der Arbeitsmarktkonjunktur. Bei

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guter Arbeitsmarktlage ist die Erwerbspersonenzahl höher als bei schlechter. DiesesPhänomen konjunktureller Schwankungen ist seit langem bekannt (Holst 2000: 24ff.). Für die meisten Industrieländer liegen ähnliche Beobachtungen vor (z.B. OECD1995). In diesen Schwankungen, so wird argumentiert, zeige sich die Entstehung bzw.Auflösung der Stillen Reserve. Die Veränderungen von Arbeitslosigkeit und StillerReserve entsprechen zusammen – c.p. – denen der Erwerbstätigkeit.

2.2 Erklärungsansätze

In der Literatur wird das Phänomen mit Entmutigung („discouragement“) von Ar-beitskräften sowie dem Zusatzarbeitereffekt („added worker“-Effekt) erklärt. Obwohles keine geschlossene Theorie der Stillen Reserve gibt, lassen sich insbesondere ausder Haushalts-, der Humankapital- sowie der Suchtheorie wichtige Folgerungen fürdie Entstehung und Struktur der Stillen Reserve ableiten (für einen Überblick sieheHolst 2000: 50 ff. sowie van Ham et al. 2001).

Der „added worker“-Effekt (AWE) besagt, dass bei einer sich verschlechterndenArbeitsmarktlage Personen Arbeit suchen, die bei besserer Lage nicht arbeiten (wol-len). Dieses Verhalten wird mit der familiären Arbeitsteilung erklärt, bei der einePerson des Haushaltes einen Beruf ausübt, die andere den Haushalt führt (siehe Holst2000: 31ff.). Nach dem Haushaltsmodell des „breadwinners“, mit dem Mann als Ver-sorger der Familie, müssten die zusätzlichen Arbeitskräfte vor allem Frauen sein, diedas Familieneinkommen im Falle von Arbeitslosigkeit oder einer drohenden Arbeits-losigkeit des Mannes ergänzen (siehe van Ham et al. 2001).

Der AWE erwies sich empirisch oft als relativ unbedeutend. Dies dürfte auchfür Deutschland zutreffen, weil die traditionelle „Hausfrauenehe“ doch weitgehenddurch ein moderneres Frauenbild (mit einer stärkeren Erwerbsorientierung) abgelöstist (Holst 2000: 35, 91ff.). Dagegen lässt sich z.B. für Japan ein starker AWE nach-weisen (Kohara 2010). Es liegt möglicherweise an kulturellen Gründen, weshalb derAWE recht unterschiedlich eingeschätzt wird (Lenten 2000; Maloney 1991).1

Der Begriff „discouraged workers“ bezeichnet Arbeitskräfte, die sich nach einemArbeitsplatzverlust vom Arbeitsmarkt zurückziehen, weil sie ihre Beschäftigungs-chancen als schlecht einschätzen. Zum Messzeitpunkt sind sie weder beschäftigt nocharbeitslos.

Das „discouragement“ wird häufig aus einer suchtheoretischen Perspektive herauserklärt. Die Zahl der Entmutigten nimmt demnach mit steigenden Kosten der Jobsu-che zu (Blundell et al. 1998; Kollmann 1994). Mit höherer Arbeitslosigkeit steigendie Kosten der Arbeitssuche, weil weniger offene Stellen angeboten werden. Außer-dem sinken tendenziell die Löhne. Damit „lohnt“ sich die aktive Suche nicht, obwohlein Arbeitswunsch besteht. Deshalb nimmt die Zahl der Entmutigten zu, wenn sichdie Arbeitsmarktlage eintrübt.

Je höher die Qualifikation ist, umso höher ist der Einkommensverlust nach Verlusteines Jobs (steigende Opportunitätskosten der Freizeit). Aus diesem Grund suchen

1Einer Studie von Gong (2010) zufolge, der den „added worker“- und den „discouragement“-Effekt amBeispiel australischer Frauen untersuchte, ist es leichter, die Arbeitsstunden zu erhöhen als die Arbeits-marktaktivität zu erhöhen.

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Der Einfluss von Hartz IV auf die westdeutsche Stille Reserve

besser Qualifizierte intensiver nach Arbeit und geben weniger häufig als gering Qua-lifizierte entmutigt die Arbeitssuche auf (van Ham et al. 2001).

Die ausgewiesene Arbeitslosigkeit hat eine Signalwirkung, die dazu führen kann,dass man die eigenen Chancen schlechter bewertet (Gong 2010). Dies gilt umso mehr,wenn Personen mit ähnlichen Charakteristika, wie gering Qualifizierte, Migrantenusw., arbeitslos sind (van Ham et al. 2001).

Es gibt Hinweise auf ein ganz „tiefes“ Discouragement (Holst und Spiess 2002).Personen geben nicht einmal mehr einen Arbeitswunsch an, nehmen aber trotzdemeinen angebotenen Arbeitsplatz an. Van Ham et al. (2001) erklären dies aus einersozialpsychologischen Perspektive. Erfolglose Arbeitssuche führt zu kognitiver Dis-sonanz. Will man aber gar nicht arbeiten, reduziert diese Einstellung das unangeneh-me Gefühl. Für die psychische Konsonanz ist es besser, den Arbeitswunsch aus demBewusstsein zu „verdrängen“ oder einen rationalen Grund dafür zu haben, obwohlunbewusst der Wunsch zu arbeiten besteht.

Dieser knappe Überblick zeigt, dass neben ökonomischen auch sozialpsychologi-sche und soziologische Aspekte bei der Bildung der Stillen Reserve eine Rolle spielenkönnen. Ein sehr wichtiger Aspekt ist, wie gut man die eigenen Arbeitsmarktchancenbewertet und ob eine „Alternativrolle“ (z.B. Hausfrau, Rentner, Schüler/Student) zurVerfügung steht (siehe Benati 2001).

3 Operationalisierung der Stillen Reserve

3.1 Definition von Arbeitslosigkeit

Für die Messung der Stillen Reserve spielt es eine Rolle, wie man Arbeitslosigkeitdefiniert. Zahlen zur Arbeitslosigkeit werden in Deutschland von der Bundesagen-tur für Arbeit und vom Statistischen Bundesamt (StBA) veröffentlicht. Die bei denArbeitsagenturen gemeldeten (= registrierten) Arbeitslosen und die beim StBA imRahmen des Mikrozensus (MZ) erfassten Erwerbslosen werden in der Öffentlichkeit,aber auch in der Wissenschaft häufig synonym für die Arbeitslosigkeit verwendet,obwohl sich beide Gruppen in mehrerer Hinsicht unterscheiden.

Relevant ist hier: Bei den Arbeitsagenturen registrierte Arbeitslose müssen nach §119 des Sozialgesetzbuches (SGB) III eine Tätigkeit von mindestens 15 Stunden proWoche aktiv suchen. Sie müssen sofort verfügbar sein, können aber während ihrerArbeitslosigkeit bis zu 14 Wochenstunden arbeiten (Hartmann und Riede 2005).

Das StBA grenzt die Erwerbslosen entsprechend der Definition des Internatio-nal Labour Organization (ILO) ab (Rengers 2004). Erwerbslose sind Personen ohneArbeitsverhältnis, die für mindestens eine Wochenstunde Arbeit aktiv suchen und in-nerhalb von zwei Wochen Arbeit aufnehmen können (Hussmanns et al. 1990). EineMeldung bei den Arbeitsagenturen ist nicht erforderlich. Der Status der Erwerbslo-sigkeit wird aus den Eigenangaben der Befragten erschlossen. Wer mindestens eineWochenstunde arbeitet, gilt nach der ILO-Abgrenzung als erwerbstätig, nicht als er-werbslos.

Eine Besonderheit tritt bei Beschäftigungslosen auf, die an arbeitsmarktpoliti-schen Maßnahmen teilnehmen, z.B. an Umschulungen oder Frühverrentungspro-grammen. Diese potenziellen Arbeitskräfte sind nach der Gesetzeslage nicht arbeits-los. Zugleich ist unklar, wie sie im Mikrozensus erfasst werden. Umschüler könnten

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bspw. angeben, sie suchen aktiv Arbeit und sind verfügbar. Dann zählen sie zu denErwerbslosen. Sie könnten jedoch auch antworten, gerade keine Arbeit zu suchenund/oder nicht verfügbar zu sein. Denkbar ist sogar, dass ein Umschüler wegen sei-ner Teilnahme an einer Umschulung nicht einmal einen Arbeitswunsch äußert.

Im Weiteren wird die Stille Reserve von der Arbeitslosigkeit als ein arbeitsmarkt-naher Teil der Nichterwerbspersonen abgegrenzt, der nach ILO-Kriterien weder er-werbstätig noch erwerbslos ist. Zu bestimmen ist das Kriterium „arbeitsmarktnah“.

3.2 „Discouragement“ nach ILO/Eurostat

Die ILO definiert die „discouraged workers“ als Personen ohne Arbeit, die zwar einenArbeitswunsch haben, aber gerade nicht aktiv Arbeit suchen (Hussmanns et al. 1990:107). Diese Abgrenzung ist weit verbreitet (z.B. Chagny et al. 2001; Gellner 1975;Jones und Riddell 1999; Kollmann 1994). Eurostat hat dies 2011 mit neuen Indikato-ren der Arbeitsmarktnähe (labour market attachment) ergänzt (De La Fuente 2011).Unter anderem werden dort Nichterwerbspersonen genannt, die zwar arbeiten möch-ten, aber weder suchen noch sofort verfügbar sind.

Mit diesen ILO-basierten Definitionen der „discouraged worker“ wird der tat-sächliche Entmutigungseffekt zu gering erfasst, weil sich erwerbslose Menschenals so chancenlos sehen können, dass sie auch die Frage nach dem Arbeitswunschverneinen (Holst und Spiess 2002). Sie werden im Weiteren als „tief Entmutig-te“ bezeichnet. Nun wurde das „discouragement“ in einer Reihe von Arbeiten miteinem weiteren Kriterium eingegrenzt, insbesondere durch die Angabe, aus wel-chen Gründen jemand nicht aktiv Arbeit sucht. Erst wenn ein Arbeitsmarktbezugvorliegt, wird auf „discouragement“ geschlossen (siehe Castillo 1998; Flaim 1973;Gregg 1994). Eine entsprechende Frage-Antwortkategorie im deutschen Mikrozen-sus (MZ) wäre beispielsweise, dass jemand nicht sucht, weil „der Arbeitsmarkt keineBeschäftigungsmöglichkeiten bietet“. In Verbindung mit diesem Grund wird in dieserArbeit die Gruppe der „tief Entmutigten“ herausgefiltert.

Im Folgenden wird dieser verbreitete Ansatz vereinfachend das „ILO-Konzept“genannt. Die konzeptionellen Unterschiede lassen sich durch eine entsprechende Un-tergliederung der Daten auffangen. Datenbasis ist der Labour Force Survey bzw. inDeutschland der Mikrozensus (MZ). Für die vorliegende Arbeit stand der ScientificUse File des MZ zur Verfügung, mit 70 Prozent des Original-Stichprobenumfangsvon rund 400.000 Haushalten, d.h. 800.000 Personen für Deutschland.

3.3 Das Stille Reserve Konzept des DIW

Holst (2000) hat am DIW ein Konzept zur Schätzung des Stillen Reserve entwickelt,das im Unterschied zur ILO als entscheidendes Kriterium die Zukunftserwartung ent-hält. Gibt die befragte Person an, sie würde (nach eigener Einschätzung) bereits imkommenden Jahr wieder arbeiten, zählt sie Holst zur „stark arbeitsmarktnahen“ Stil-le Reserve (SASR). Bei Angabe eines längeren Zeitraums (zwei bis fünf Jahre) giltsie als „gemäßigt arbeitsmarktnah“ (GASR). Darüber hinaus werden Nichterwerbs-personen „in (hoch-)schulischer Ausbildung im Alter zwischen 16 und 25 Jahren“(Holst 2000: 194) in keinem Fall zur Stillen Reserve gerechnet. Längere Studienzei-ten sieht Holst als konjunkturell bedingt an und rechnet deshalb ältere Studierende

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zur Stillen Reserve. Datenbasis war das Sozioökonomische Panel (SOEP). Als Al-tersabgrenzung legt Holst ein Intervall von 16 bis 59 Jahre zugrunde, schließt alsovor allem Altersrentner aus.

Für die vorliegende Arbeit wurde die Stille Reserve mit SOEP-Daten für den Zeit-raum 2004 bis 2006 berechnet. Lediglich die Altersabgrenzung bei den Personen inAusbildung wurde auf 30 Jahre hochgesetzt, um dem in Deutschland doch recht ho-hen Durchschnittsalter bei den Bildungsabschlüssen besser gerecht zu werden. Diesverringert vor allem den Umfang der GASR.

3.4 Das Stille Reserve Konzept des IAB

Im Gegensatz zu den beiden anderen Ansätzen beruht der Ansatz des IAB zur Schät-zung der Stillen Reserve auf Erwerbsquoten, nicht auf Individualdaten. Dieser ur-sprünglich in den USA entwickelte Ansatz nutzt die Abhängigkeit der Erwerbsbetei-ligung vom Arbeitsmarktgeschehen (Dernburg und Strand 1966). Bei der Schätzungdifferenziert das IAB nach 5er-Altersgruppen, Geschlecht, Deutschen/Ausländern(Fuchs und Weber 2005). Datenbasis für die Erwerbsquoten ist der Mikrozensus ab1970. Die Stille Reserve wird auf das Altersintervall 15 bis 64 Jahre beschränkt.

Die Erwerbsquote ajt wird als Funktion des Arbeitsmarktindikators K (z.B. derArbeitslosenquote) und sonstiger Einflussfaktoren (Vektor Z) aufgefasst. Für den Zu-sammenhang wurde ein logistischer Funktionsverlauf mit der Obergrenze Eins ange-nommen. Die Gleichungen sehen typischerweise wie folgt aus:

ajt = 1/(1 + exp

(−(βj0 + βj1Zt + γjKt )))

(1a)

Auf diese Gleichung wurde die sogenannte Logit-Transformation angewandt:

ln(ajt /(1 − ajt )

) = βj0 + βj1Zt + γjKt (1b)

ajt (=Erwerbspersonenj t /Bevölkerungj t ) ist die Erwerbsquote einer Subpopulationj im Jahr t . Kt ist ein Regressor, der als Indikator der Arbeitsmarktlage dient, z.B.die Arbeitslosenquote. Zt steht für die übrigen Einflussfaktoren. βj0, βj1, γj sind dieRegressionsparameter für die Subpopulation j .

Die linke Seite von (1b) wird als Logit bezeichnet. Die Logit-Transformation ga-rantiert, dass die geschätzte bzw. prognostizierte Erwerbsquote, also der Anteil derErwerbspersonen an der Bevölkerung der jeweiligen Gruppe, im Intervall zwischenNull und Eins bleibt.

Entsprechend der Zahl der Subpopulationen (Alter, Geschlecht, Nationalität) lie-gen 40 Gleichungen vor.2 Weil die Logits (wie auch die Erwerbsquoten) heteroske-

2Es ist möglich, dass die verschiedenen Gruppen über die Zeit miteinander korrelieren, z.B. weil die Indi-viduen älter werden und – mit ihrem Erwerbsverhalten – in die nächsthöhere Altersklasse wandern. Dieswurde im Originaldatensatz nicht ausreichend berücksichtigt. Mit den Daten von Fuchs und Weber (2005)wurde deshalb eine SUR („Seemingly Unrelated Regression“) gerechnet (mit dem Programm EViews,Version 7). Im Rahmen dieser Systemschätzung werden sämtliche Gleichungen zusammen geschätzt. DieSchätzung bestätigt das Ergebnis der Einzelgleichungen, d.h. die Parameter sind alle weiterhin signifikantund stimmen im Vorzeichen und dem Betrag nach weitgehend mit den Schätzungen aus den Einzelglei-chungen überein. Die Berücksichtigung der Interdependenzen dürfte also das Niveau der Stillen Reservekaum verändern.

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dastisch sind, wurden die Gleichungen mit WLS geschätzt. Viele Gleichungen ent-halten die verzögerte endogene Variable als Regressor, womit zeitliche Abhängig-keiten innerhalb der Gruppen abgebildet werden. Tests ergaben nur für eine einzigeGleichung (15- bis 19jährige deutsche Frauen) eine auf dem 5 %-Niveau signifikanteserielle Korrelation. Falls allerdings stärkere Korrelationen beobachtet werden, solltedie Schätzung von Mixed-Logit-Modellen in Betracht gezogen werden.

Als Kovariable gingen – neben Trends – die Teilzeitquote, die Verheiratetenquote,die Geburtenziffer, eine (altersspezifisch formulierte) Relation Frauen zu Kinderzahl,die Bildungsbeteiligung der Jüngeren, das durchschnittliche Rentenzugangsalter undals Lohnvariable altersspezifische reale Bruttolöhne (Median des preisbereinigtenTagesentgelts der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten) ein.3 Damit wird zumeinen die trendhafte Entwicklung der Erwerbsquoten modelliert, zum anderen bil-den einige Variable unmittelbare Entzugseffekte ab, die sich beispielsweise durch dieVeränderungen in der Bildungsbeteiligung oder im Rentensystem ergeben (für diegenaue Spezifikation der Gleichungen siehe Fuchs und Weber 2005, Anhang, Seite47–54.).

Jede Gleichung wurde mit einer Variablen K geschätzt, die die Beschäftigungssi-tuation abbildet. Neben der allgemeinen Arbeitslosenquote wurden auch spezifischeArbeitslosenquoten für Frauen, Teilzeitbeschäftigte, Jugendliche und Ausländer ver-wendet. In fast allen Fällen steht in den Gleichungen aber nur eine einzige Arbeits-losenquote, d.h. die Gleichungen für die Frauen enthalten meist nur die Arbeitslo-senquote der Frauen, aber nicht noch die allgemeine Arbeitslosenquote. In anderenGleichungen wiederum steht nur die allgemeine Arbeitslosenquote.

Eine höhere Arbeitslosigkeit sollte erwartungsgemäß die Erwerbsquoten nach un-ten drücken, d.h. der Parameter γ müsste negativ sein. Ein umgekehrtes Vorzeichenwürde als Überwiegen des „added worker“-Effekts interpretiert.

Die Stille Reserve löst sich annahmegemäß auf, wenn Vollbeschäftigung herrscht.Es sei Kv ein hypothetischer Vollbeschäftigungswert der Arbeitslosenquote. Ersetztman in den Gleichungen (1a) bzw. (1b) den in einem Jahr t tatsächlich gemesse-nen Wert Kt durch den Vollbeschäftigungswert Kv , dann ergibt das die geschätzteErwerbsquote unter Vollbeschäftigungsbedingungen av

j t .Aus der Differenz von „Vollbeschäftigungs-Erwerbsquote“ av

j t und geschätzterErwerbsquote aj t errechnet sich die Stille Reserve-Quote rjt , also der Anteil derStillen Reserve an der Bevölkerung der betrachteten Subpopulation.

rjt = avj t − aj t (2)

Hochgerechnet mit der Bevölkerung folgt daraus die gesamte Stille Reserve.aj t und av

j t unterscheiden sich lediglich hinsichtlich des Indikators der Arbeits-marktlage. Bei aj t geht der geschätzte Wert von Kt ein, bei av

j t der „Vollbeschäfti-gungswert“ Kv

t .Der kritische Punkt des Verfahrens ist die Bestimmung des Vollbeschäftigungs-

wertes Kv . Die Arbeitslosenquote dürfte bei „Vollbeschäftigung“ zwar sehr klein

3Beim vorliegenden nichtlinearen (logistischen) Regressionsmodell ist der Effekt einer Variablen auf dieErwerbsquote vom Niveau der Kovariablen abhängig. Fuchs/Weber schätzen diesen Effekt bei ihrem Da-tensatz auf der Basis einiger Simulationen jedoch als schwach ein (Fuchs und Weber 2007: 13 und 23).

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werden, aber aus friktionellen und strukturellen Gründen deutlich über Null liegen.In einer Schätzung für einige OECD-Länder nahm Agbola (2005) einen einheitlichenVollbeschäftigungswert von zwei Prozent an. Mitchell (2000) sieht für Australien so-wie die USA „full employment“ bei vier Prozent Arbeitslosigkeit erreicht. In einerspäteren Arbeit ging er sogar von zwei Prozent aus (Mitchell 2007). In einem Mo-dell für die EU-15 Länder glätteten Chagny et al. (2001) zunächst die tatsächlichenErwerbsquoten, um diese von zyklischen Einflüssen zu befreien.4 Anschließend de-finierten sie eine maximale Erwerbsquote, indem sie auf die geglätteten Werte 3,5Prozentpunkte aufschlugen. Die Höhe der „hidden unemployment“ bestimmten sieaus der Differenz von geglätteten (einschließlich der 3,5 %) zu tatsächlichen Er-werbsquoten, so dass ihre „hidden unemployment“ maximal 3,5 Prozent betragenkann (Chagny et al. 2001). Tachibanaki und Sakurai (1991) gingen für die Varia-ble „Offene Stellen zu Arbeitslose“ von einer Relation von Eins als Vollbeschäfti-gungswert aus. Solche willkürlichen Setzungen wurden schon früh kritisiert (Mincer1973).

Ein brauchbarer Ansatz scheint ein regionales „Benchmarking“ zu sein (Arm-strong 1999). Dies unterstellt implizit, dass unter gleichen rechtlichen und gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen das Arbeitsangebotsverhalten regional in etwagleich ist. Regionale Unterschiede der Erwerbsbeteiligung seien damit weitgehendder unterschiedlichen Arbeitsmarktlage geschuldet. Da seit den 80er Jahren regio-nal eine Arbeitslosenquote von etwa 2,5 Prozent erreichbar war, nahmen Fuchs undWeber (2005) diesen Wert ab 1985 als Benchmark an (siehe Tab. 1).5

Die Arbeitsmarktreform von 2005 (Hartz IV) führte zu höheren Anforderungenan die Arbeitsbereitschaft und Verfügbarkeit von Personen, die vorher Sozialhilfebezogen haben, d.h. ehemalige Sozialhilfeempfänger mussten ab Januar 2005 in er-höhtem Maße zu einer Arbeitsaufnahme bereit sein. Zwischen Dezember 2004 undJanuar 2005 stieg die registrierte Arbeitslosigkeit in Westdeutschland von 2,86 Mio.auf 3,26 Mio. Arbeitslose. Nach Angaben der BA waren in Westdeutschland 2005im Jahresdurchschnitt ca. 340.000 Menschen mehr arbeitslos, als es ohne Hartz IVgewesen wären, d.h. die westdeutsche Arbeitslosenquote hat sich durch Hartz IV umrund einen Prozentpunkt erhöht (BA 2006).

In einer Aktualisierung der Schätzungen der Stillen Reserve nahmen Fuchs undWeber (2010) deshalb an, dass sich mit Hartz IV der alte Benchmark für den ge-schätzten Vollbeschäftigungswert um diesen Prozentpunkt erhöht hat. Anstelle von2,5 Prozent Vollbeschäftigungswert wurde ab 2005 ein Wert von 3,5 Prozent bei derBerechnung der Stillen Reserve zugrunde gelegt, d.h. erst ab diesem Wert baut sicheine Stille Reserve auf (siehe Tab. 1).

4Angewandt wurde ein Hodrick-Prescott-Filter mit dem für Jahreswerte üblichen Glättungsparameterλ = 100.5Die Benchmarks für die spezifischeren Arbeitsmarktindikatoren schätzten Fuchs und Weber (2005) mit-tels einer Regression zwischen der allgemeinen Arbeitslosenquote und den spezifischen Arbeitsmarktindi-katoren.

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Tab. 1 Arbeitslosenquote und „Vollbeschäftigungsquote“ in Prozent, ausgewählte Jahre

Amtliche Arbeitslosenquotea Angenommene „Vollbeschäftigungsquote“

1970 0,70 0,70

1980 3,60 1,99

1990 6,90 2,50

2000 7,80 2,50

2003 8,40 2,50

2004 8,50 2,50

2005 9,90 3,50

2006 9,10 3,50

aArbeitslose bezogen auf zivile Erwerbspersonen

Quelle: Fuchs und Weber 2010

4 Umfang der Stillen Reserve zwischen 2003 und 2006

Für alle drei Ansätze liegen Schätzungen der Stillen Reserve für den Zeitraum 2003bis 2006 vor (Tab. 2). Die Niveauwerte sind leider nicht völlig vergleichbar, da nebender konzeptionell unterschiedlichen Altersabgrenzung auch die regionale Zuordnungnicht übereinstimmt. SOEP und IAB enthalten Berlin-West, die MZ-basierten Zahlenwurden – um den Unterschied zu minimieren – einschließlich ganz Berlin gerechnet.

Auf Basis des Eurostat-basierten Konzepts nahm nach den Daten des Mikrozensusdie Stille Reserve zwischen 2004 und 2005 um 63 Prozent zu (Tab. 2). Von diesemAnstieg sind alle Teilgruppen betroffen, die man zur Stillen Reserve zählen kann.

So bejahten im Mikrozensus 2004 hochgerechnet 773.000 Nichterwerbspersoneneinen Arbeitswunsch. Im Jahr der Hartz IV-Reform 2005 waren es fast 300.000 mehr.Auch in 2006 lag ihre Zahl mit über einer Million auf höherem Niveau als 2004.

Besonders stark stieg die Zahl derjenigen, die nur deshalb aktiv keine Arbeit such-ten, weil ihnen der Arbeitsmarkt keine Beschäftigungsmöglichkeiten bot („tief“ Ent-mutigte). Allerdings ist die Zunahme von 27.000 in 2004 auf 250.00 in 2005 so ex-trem, dass man – neben einem starken Signaleffekt aufgrund der Meldungen vonüber fünf Mio. Arbeitslosen in Gesamtdeutschland – auch an andere Erklärungsmus-ter denken sollte. Vielleicht hat die Einführung von Hartz IV die Interviewten so sehrverunsichert, dass dem „amtlichen Interviewer“ aus Unsicherheit heraus eine arbeits-marktbezogene Begründung für das „Nichtsuchen“ und „Nichtwünschen“ gegebenwurde. Immerhin lag der Wert in 2006 mit 69.000 zwar deutlich über 2004, abertrotzdem wieder auf geradezu normalem Niveau. In jedem Fall übertrifft die in An-lehnung an ILO/Eurostat abgegrenzte Stille Reserve nach der Einführung von HartzIV frühere Werte deutlich.

Auch die mit Daten des SOEP berechnete Stille Reserve stieg zwischen 2004und 2005. Die Zunahme um 78.000 Personen war aber deutlich schwächer als beimILO-basierten Konzept. Während die sogenannte „stark arbeitsmarktnahe Stille Re-serve“ (SASR) zwischen 2004 und 2005 erheblich zunahm, sank die „gemäßigt ar-beitsmarktnahe Stille Reserve“ (GASR) sogar etwas. Die SASR stieg 2006 noch ein-mal geringfügig. während die GASR unter ihr früheres Niveau sank. Man sollte die

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Der Einfluss von Hartz IV auf die westdeutsche Stille Reserve

Tab. 2 Vergleich der Schätzungen für die westdeutsche Stille Reserve, in 1000 Personen

2003 2004 2005 2006

Stille Reserve im Mikrozensusa 800 800 1.304 1.129

• Personen mit Arbeitswunsch 777 773 1.054 1.055

davon:

– ArbeitsuchendeNichterwerbspersonen

446 422 504 637

– Sofort verfügbare Personen ohneaktive Arbeitssuche, aber mitArbeitswunsch

331 351 550 418

• „Tief“ Entmutigteb 24 27 250 74

Stille Reserve im SOEPc,d 833 870 948 940

• SASRd 488 510 592 619

• GASRd 345 359 356 321

Stille Reserve des IABe 998 1.053 1.099 987

Nachrichtlich: registrierte Arbeitslose 2.753 2.781 3.247 3.007

Nachrichtlich: Erwerbstätige 31.552 31.684 31.695 31.880

aILO- bzw. Eurostat-basiertes Konzept. Berechnung mit Daten des Scientific Use File des Mikrozensus(1 %-Haushaltsstichprobe) mit rund 70 % des MZ-Umfangs. In Westdeutschland werden mehr als 300.000Personen erfasst; die Fallzahlen für die Stille Reserve liegen je nach Jahr bei 5000 bis 6000 Personenb„Tief Entmutigte“ suchen nicht aktiv Arbeit und haben keinen Arbeitswunsch; zur Begründung geben siean, der Arbeitsmarkt biete keine BeschäftigungsmöglichkeitencGesamte Stichprobengröße des SOEP für Westdeutschland liegt bei rund 12.000 Personen, Fallzahlen fürdie Stille Reserve etwa 400 BefragtedStille Reserve nach Holst 2000: 189 ff., SASR: stark arbeitsmarktnahe Stille Reserve, GASR: gemäßigtarbeitsmarktnahe Stille ReserveeFallzahlen basieren auf dem Mikrozensus

Quellen: Fuchs und Weber (2010), Bach et al. (2008) sowie eigene Berechnungen mit Daten des Mikro-zensus und des Sozioökonomischen Panels

SOEP-basierten Daten wegen der geringen Fallzahlen zwar mit größerer Vorsicht in-terpretieren, aber da das Konzept an Zukunftserwartungen anknüpft, könnte hinterdieser Zunahme der SASR in 2006 sogar die Erwartung vieler Befragter stehen, dassder sich besserende Arbeitsmarkt wieder eine Perspektive bietet. Trotzdem meldetensich mehr Personen als 2004 nicht arbeitslos, obwohl sie entsprechend dem DIW-Konzept als „arbeitsmarktnah“ gelten.

Auch die am IAB berechnete Stille Reserve stieg 2005, um im Folgejahr 2006wieder leicht zurück zu gehen. Die Veränderungen zwischen 2004 und 2005 sind al-lerdings schwächer als bei den beiden anderen Konzepten. Hier kommt wohl zumTragen, dass die Stille Reserve des IAB den „discouragement„- und den „addedworker„-Effekt zusammenfasst. Das ILO-basierte und das Holst-Konzept erfassendagegen den reinen „discouragement„-Effekt, d.h. die „added-worker“ werden nichtabgezogen.

Trotz einiger Unterschiede besagen die Ergebnisse übereinstimmend, dass die Stil-le Reserve im Jahr 2005 zugenommen hat und erst im darauf folgenden Jahr – wie

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J. Fuchs

auch die registrierte Arbeitslosigkeit – wieder sank. Dieser eindeutige Befund istüberraschend, denn mit der Hartz IV-Reform sollten alle erwerbsfähigen Menschenohne Arbeit bei den Arbeitsagenturen registriert werden. Allerdings wirken auf dieStillen Reserve neben Hartz IV noch weitere Einflüsse ein. Zeitweilig über fünf Mio.Arbeitslose in 2005 dürften eine deutlich entmutigende Signalwirkung entfaltet ha-ben.

5 Quantifizierung des Hartz IV-Effekts auf die Stille Reserve

Bewirkt die Hartz IV-Reform, dass bisher zur Stillen Reserve zählende Personensich nun bei den Arbeitsagenturen registrieren lassen, dann hätten sich Stille Re-serve und Arbeitslosigkeit c.p. gegenläufig verändern müssen. Weil die vorliegendenDaten (Tab. 2) dem widersprechen, deutet sich an, dass Hartz IV erhebliche neue Po-tenziale aus dem Kreis der „sonstigen Nichterwerbspersonen“ aktivierte, was an denBrutto-Bewegungen erkennbar sein müsste.

Um diesen Aspekt näher zu beleuchten, wurde das SOEP im Längsschnitt2004/2005 ausgewertet (Tab. 3). Von den Arbeitslosen des Jahres 2004 gehörten einJahr später hochgerechnet 122.000 zur Stillen Reserve. Umgekehrt kamen in 2005hochgerechnet 124.000 Arbeitslose aus der Stillen Reserve. Man kann also nichtvon einer bedeutsamen Umschichtung zwischen Stille Reserve und Arbeitslosigkeitsprechen. (Mehrfachwechsler innerhalb eines Jahres werden allerdings nur einmalerfasst.)

Auch aus dem Kreis der sonstigen Nichterwerbspersonen (NEP) rekrutierten sichmit 42.000 Personen nur wenige Arbeitslose im Jahr darauf. Der Wechsel aus derArbeitslosigkeit zu den NEP ist demgegenüber mit 107.000 schon deutlich stärker.Dabei wurden Personen, die das 60. Lebensjahr erreichten, sowie diejenigen, dieeine Ausbildung absolvierten, gesondert gezählt. Nicht ganz so stark, aber ähnlichsieht die Veränderung bei der Stillen Reserve aus: Es sind mehr Personen der StillenReserve zu den NEP gewechselt. Die SOEP-Daten deuten also weder eine stärke-re Umschichtung zwischen Arbeitslosigkeit und Stiller Reserve an, noch zeigt sich

Tab. 3 Übergänge zwischen Arbeitsmarktkonten – Längsschnittauswertung des SOEP 2004 und 2005(Alter 16 bis 59 im Jahr 2004, in 1000 Personen (hochgerechnet))

Erwerbsstatus 2004 Erwerbsstatus 2005

StilleReserve

Arbeitslose Sonstige Nichterwerbs-personen

Erwerbstätigkeitoder Ausbildung

Stille Reserve 357 124 153 222

Arbeitslose 122 1.185 107 690

SonstigeNichterwerbspersonen

100 42 1.614 153

Erwerbstätigkeit oderAusbildung

263 808 217 21.228

Quelle: Eigene Berechnungen mit SOEP-Daten

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Der Einfluss von Hartz IV auf die westdeutsche Stille Reserve

ein größerer Zufluss aus den NEP. Sieht man von denjenigen ab, die schon zuvorarbeitslos waren, stammt der größte Teil der Arbeitslosen aus Erwerbstätigkeit oderAusbildung.

Anders als das SOEP bietet der große Datensatz des Mikrozensus nur sehr ein-geschränkte Möglichkeiten der Längsschnittanalyse.6 Zwei Fragen eignen sich füreinen Jahresvergleich, wobei sich die Antwortkategorien allerdings sehr unterschei-den und die Ergebnisse deshalb nur sehr eingeschränkte Hinweise auf die Stille Re-serve geben können.

Betrachtet man die Altersgruppe der 30- bis 54-Jährigen,7 dann wechselten zwi-schen 2004 und 2005 mit 7,5 Prozent aller Hausfrauen (und -männer) etwas mehrin die „offiziell“ ausgewiesene Erwerbslosigkeit, als im Zeitraum 2003/2004, in demes nur 5,6 Prozent waren. Allerdings sank mit 10,9 Prozent gegenüber 10,5 Prozentauch der Übergang aus der Hausfrauenkategorie in Beschäftigung. Diese deskriptiveAnalyse des MZ zeigt weiterhin, dass in beiden Jahren 6,3 Prozent der Arbeitslosenin die Kategorie „arbeitsuchende Nichterwerbspersonen“ wechselten. Insgesamt ge-sehen deuten auch diese Veränderungen nicht auf einen klaren Rückgang der StillenReserve im Jahr der Einführung von Hartz IV hin.

Nachdem die Stille Reserve beim IAB-Konzept ausschließlich von der Abwei-chung der Arbeitslosenquote und der Vollbeschäftigungsquote abhängt, eröffnet sicheine Möglichkeit, die isolierten Auswirkungen von Hartz IV auf die Stille Reservegrob abzuschätzen. In den Berechnungen des IAB wurde der Vollbeschäftigungswertder Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt erhöht. Ohne den höheren Vollbeschäf-tigungswert hätte sich ab 2005 eine noch höhere Stille Reserve ergeben. Dies folgtaus den Gleichungen (1a), (1b) und (2) in Verbindung mit dem Anstieg der registrier-ten Arbeitslosigkeit.

Unter dem neuen Arbeitsmarktregime ist die Stille Reserve nach den vorliegendenSchätzungen zwischen 2004 und 2005 um 46.000 Personen gestiegen (Tab. 4). Setztman anstelle des neuen Wertes in den vom IAB geschätzten Gleichungen den umeinen Prozentpunkt niedrigeren (= alten) Wert ein, wären es 115.000 mehr gewesen.8

Die Differenz von −69.000 Personen wird hier als Hartz IV-Effekt auf die StilleReserve interpretiert. Um diesen Teil nahm die Arbeitslosigkeit infolge der HartzIV-Reform aus der Stillen Reserve heraus zu.9

Diese Zahl liegt nahe an dem Ergebnis einer Auswertung von Sozialhilfe- undArbeitslosenhilfestatistiken (BA 2005). Danach gab es im Dezember 2004 rund 4,13Mio. Empfänger von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe. Im Januar 2005 zählte die BArund 4,5 Mio. erwerbsfähige Hilfebedürftige im SGB II. Aufgrund unterschiedlicher

6Für den Mikrozensus liegen zwei Paneldatensätze vor, die jedoch nur die Zeiträume 1996–1999 und 2001bis 2004 abdecken. Zudem bestehen einer Machbarkeitsstudie von Böhm (2011) zufolge größere Problememit der Längsschnittgewichtung.7Die Beschränkung auf die 30- bis unter 55-Jährigen erfolgt, weil beim Erwerbsstatus im Vorjahr nicht dieArbeitsbereitschaft (Erwerbslos, Arbeitsuchend) abgefragt wird. Möglicherweise konfundieren die Anga-ben deshalb bei Älteren und Jüngeren mit Ruhestands- bzw. Bildungsentscheidungen.8Diese Berechnungen basieren auf den von Fuchs und Weber (2005) publizierten Gleichungen.9Wie bereits angesprochen wurde, ergibt sich ein Teil dieses Anstiegs aus der Interaktion zwischen derArbeitslosigkeitsvariable und den übrigen Kovariaten.

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Tab. 4 Übergänge zwischen Arbeitsmarktkonten – Längsschnittauswertung des MZ 2003 bis 2005 (Alter30 bis 54, in 1000 Personen (hochgerechnet))

Erwerbstätig Erwerbslos(nach ILO-Definition)

ArbeitsuchendeNichterwerbs-persona

SonstigeNichterwerbs-person

Gesamt

Daten des Mikrozensus 2005

Status 2004 Status 2005 im Vergleich zum Vorjahr (Vorjahr = 100 %)

Hausfrau/-mann 10,9 % 7,5 % 1,1 % 80,5 % 100 %

Arbeitslos 25,8 % 61,3 % 6,3 % 6,6 % 100 %

Daten des Mikrozensus 2004

Status 2003 Status 2004 im Vergleich zum Vorjahr (Vorjahr = 100 %)

Hausfrau/-mann 11,5 % 5,6 % 0,9 % 82,0 % 100 %

Arbeitslos 23,1 % 65,7 % 6,3 % 4,9 % 100 %

aDiese Kategorie wurde in der MZ-Erhebung 2004 mit „sonstige Erwerbslose“ bezeichnet

Quelle: Eigene Berechnungen mit dem MZ-Scientific Use File

Tab. 5 Westdeutsche Stille Reserve bei unterschiedlichen Annahmen zum Vollbeschäftigungswert (IAB-Konzept)

Stille Reserve in 1000 2004 2005

ab 2005 1 %-Punkt höherer Vollbeschäftigungswert (3,5 %) 1.053 1.099

Beibehaltung der früheren Annahme (2,5 %) 1.053 1.168

Differenz zwischen beiden Annahmen −69

Quelle: Eigene Berechnungen mit IAB-Daten

Definitionen und Anspruchsvoraussetzungen sind diese Unterschiede mit den Diffe-renzen von Tab. 5 nicht völlig vergleichbar, aber es deutet sich auch damit an, dasses mit Hartz IV vor allem zu einer Ausweitung des Erwerbspersonenpotenzials kam,weniger zu einer Reduzierung der Stillen Reserve.

Analysen mit Daten der BA legen nahe, dass sich der Hartz IV-Effekt im Laufeder Zeit wieder abbaut (BA 2006). Gegen Jahresende 2005 dürfte der Effekt auf dieArbeitslosigkeit grob geschätzt bei 80 bis 90 Prozent des jahresdurchschnittlichenEffekts liegen (Deutschland insgesamt). Inwieweit sich dies auf die Stille Reserveauswirkt konnte mangels geeigneter Daten nicht quantifiziert werden.

6 Schlussfolgerungen

Der Beitrag untersuchte, wie sich die Stille Reserve in jüngerer Vergangenheit ent-wickelt hat und welche Rolle dabei die einschneidenden Änderungen aufgrund derArbeitsmarktreform des Jahres 2005 (Hartz IV) hatten. Nach den vorliegenden Schät-zungen stieg die Stille Reserve trotz der Arbeitsmarktreform. Auch der isolierte Ein-fluss von Hartz IV war nicht besonders stark. Sowohl die auf Basis des SOEP sichtba-

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Der Einfluss von Hartz IV auf die westdeutsche Stille Reserve

re Fluktuation als auch die Modellrechnung mit IAB-Daten zeigen einen bestenfallsschwachen Hartz-IV-Effekt – verglichen mit dem starken Anstieg der registriertenArbeitslosigkeit.

Dieser angesichts von „Fordern und Fördern“, dem Motto von Hartz IV, etwasüberraschende Befund lässt sich erklären, wenn man bedenkt, dass auf die Stille Re-serve mehrere Faktoren einwirken. Der wichtigste Faktor ist die Arbeitsmarktlageselbst. Zwar hat sich die Erwerbstätigkeit 2005 gegenüber 2004 kaum verändert, d.h.die Zahl der Arbeitsplätze ging nicht bedeutend zurück, aber die Arbeitslosenquo-te hat auch eine Signalwirkung. Der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit in 2005, mitzeitweilig über fünf Mio. Arbeitslosen in Gesamtdeutschland, dürfte viele potenzielleArbeitskräfte entmutigt haben. Zudem könnten die in der Öffentlichkeit verbreitetensehr negativen Meldungen zur Hartz IV-Reform viele Menschen veranlasst haben,sich nicht bei den Agenturen zu melden.

Weiter darf nicht vergessen werden, dass ein nicht unerheblicher Teil der StilleReserve an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnimmt. Im Jahr 2005 waren fast49 Prozent der westdeutschen Stillen Reserve Maßnahmeteilnehmer; in 2004 warenes 43 Prozent (Bach et al. 2008). Hartz IV konnte sich hier nicht auswirken.

Alles in allem zeigen die vorliegenden aktualisierten Schätzungen, dass es nebender offenen Arbeitslosigkeit immer noch eine nicht unerhebliche Stille Reserve anPersonen gibt, die prinzipiell arbeitsbereit sind. Mit Daten der amtlichen Statistik zurregistrierten Arbeitslosigkeit wird die „wahre“ Unterbeschäftigung auch nach HartzIV nicht in ihrem vollen Umfang erfasst.

Untersuchungen anhand des SOEP zeigen, wie arbeitsmarktnah die Stille Reserveist (Holst und Schupp 1997, 2000). Ob dies auch für die aufgrund von Hartz IV nunneu gewonnenen Erwerbspersonen gilt, ist offen. Der hohe Sockel an schlecht qualifi-zierten Arbeitslosen, die im SGB II verharren, spricht gegen diese Interpretation (BA2010). Insofern könnte Hartz IV den Arbeitsagenturen ein schwieriges zusätzlichesArbeitskräftepotenzial beschert haben.

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