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Das Recht im Denken der Sophistik () || Einleitung

Date post: 20-Dec-2016
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Einleitung „They were a set of charlatans ... professing to teach virtue, they really taught the art of fallacious discourse ..."* - „Les sophistes ont ete les professeurs du siecle de Pericles." 2 Der Unterschied zwischen diesen beiden Urteilen verdeutlicht treffend, wie sehr sich in den letzten ca. 100 Jahren der Blickpunkt gewandelt hat, aus dem die Forschung die sog. Sophisten betrachtet. Dabei ist das moderne Urteil - auch wenn nicht alle Gelehrten de Romillys Enthusiasmus teilen - nicht nur Ausdruck eines neuen, von der eigenen Zeit gepr gten Verst ndnisses vom Wirken der Sophisten, sondern zugleich das Ergebnis einer eingehenden Auseinandersetzung mit den erhaltenen Texten, die besonders in den letzten f nfzig Jahren deutlich zugenommen hat. Angesichts der gelungenen Rehabilitation der Sophisten und der zahlreichen Arbeiten aus j ngerer Zeit, die teils einzelne Ausschnitte, teils die gesamte Sophistik untersuchen, mag es problematisch erscheinen, eine Arbeit vorzustellen, die sich mit einem so zentralen Bereich dieses gut erfa ten Forschungsfeldes wie dem sophistischen Rechtsdenken auseinan- dersetzt. Dennoch ist ein solches Unterfangen aus drei Gr nden gerecht- fertigt: l. Die in den folgenden acht Einzelkapiteln besprochenen Texte werfen nach wie vor Fragen auf, die in der Forschung kontrovers diskutiert werden 3 : So ist im Falle des P r o t a g o r a s umstritten, weshalb er im Rahmen seiner »gro en Rede' in Platons Protagoras den Anspruch erhebt, die πολιτική τέχνη zu lehren, gleichzeitig jedoch mit seinem Mythos behauptet, die Menschen h tten ohnehin an ihr teil. Infolgedessen bietet die Forschung bislang keine inhaltliche Antwort auf die Frage, in welchem Sinne Protagoras die Begriffe αιδώς und δίκη (.R cksichts- un Rechts- empfinden') verwendet und ob er nicht m glicherweise verschiedene For- men .politischer Tugend' (πολιτική αρετή) unterscheidet. 1 So das Urteil von H. Sidgwick 1872 (zitiert nach Guthrie III 1969, 11). 2 de Romilly 1988, 48 3 Zu den Forschungsmeinungen im einzelnen vgl. die jeweiligen Kapitel. Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/4/13 3:26 PM
Transcript

Einleitung

„They were a set of charlatans ... professing to teach virtue, they reallytaught the art of fallacious discourse ..."* - „Les sophistes ont ete lesprofesseurs du siecle de Pericles."2

Der Unterschied zwischen diesen beiden Urteilen verdeutlicht treffend,wie sehr sich in den letzten ca. 100 Jahren der Blickpunkt gewandelt hat,aus dem die Forschung die sog. Sophisten betrachtet. Dabei ist das moderneUrteil - auch wenn nicht alle Gelehrten de Romillys Enthusiasmus teilen -nicht nur Ausdruck eines neuen, von der eigenen Zeit gepr gtenVerst ndnisses vom Wirken der Sophisten, sondern zugleich das Ergebniseiner eingehenden Auseinandersetzung mit den erhaltenen Texten, diebesonders in den letzten f nfzig Jahren deutlich zugenommen hat.

Angesichts der gelungenen Rehabilitation der Sophisten und derzahlreichen Arbeiten aus j ngerer Zeit, die teils einzelne Ausschnitte, teilsdie gesamte Sophistik untersuchen, mag es problematisch erscheinen, eineArbeit vorzustellen, die sich mit einem so zentralen Bereich dieses guterfa ten Forschungsfeldes wie dem sophistischen Rechtsdenken auseinan-dersetzt. Dennoch ist ein solches Unterfangen aus drei Gr nden gerecht-fertigt:

l. Die in den folgenden acht Einzelkapiteln besprochenen Texte werfennach wie vor Fragen auf, die in der Forschung kontrovers diskutiertwerden3:

So ist im Falle des P r o t a g o r a s umstritten, weshalb er im Rahmenseiner »gro en Rede' in Platons Protagoras den Anspruch erhebt, dieπολιτική τέχνη zu lehren, gleichzeitig jedoch mit seinem Mythos behauptet,die Menschen h tten ohnehin an ihr teil. Infolgedessen bietet die Forschungbislang keine inhaltliche Antwort auf die Frage, in welchem SinneProtagoras die Begriffe αιδώς und δίκη (.R cksichts- un Rechts-empfinden') verwendet und ob er nicht m glicherweise verschiedene For-men .politischer Tugend' (πολιτική αρετή) unterscheidet.

1 So das Urteil von H. Sidgwick 1872 (zitiert nach Guthrie III 1969, 11).2 de Romilly 1988, 483 Zu den Forschungsmeinungen im einzelnen vgl. die jeweiligen Kapitel.

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2 Einleitung

Zudem bleibt zu untersuchen, welche Folgerangen sich aus Protagoras'Homo-Mensura-Satz für dessen ethische und rechtliche Vorstellungenergeben. Kann Protagoras, wenn er mit diesem Satz wirklich die Möglich-keit einer absoluten Wahrheit bestreitet, im sittlichen Bereich feste Prinzi-pien bewahren?

Der platonische T h r a s y m a c h o s wird entweder zu den Vertreterndes sog. .Rechtes des Stärkeren' gezählt oder aber als zynischer Kritikerzeitgenössischer Moralvorstellungen gedeutet. Somit ist zu untersuchen, obsich im Text (Politeia I) Indizien finden lassen, die erklären, wie es zu denkontroversen Auffassungen kommen konnte, und darüber hinaus eineKlärung ermöglichen. Auch ist das Verhältnis des platonischen zumhistorischen Thrasymachos wert, näher betrachtet zu werden.

Platons Gorgias bietet hingegen ein eindeutiges Zeugnis für die Lehrevom .Recht des Stärkeren'. Weniger eindeutig ist allerdings, ob P o l o s ,den Platon in diesem Zusammenhang mit Sokrates über den Nutzen derUngerechtigkeit debattieren läßt, sich wirklich deshalb - wie allgemeinangenommen wird - in Widersprüche verwickelt, weil er gleichzeitigbehauptet, Unrechttun sei besser, aber auch schändlicher alsUnrechtleiden4. Im Falle des K a 11 i k l e s fragt es sich, ob er sich wirk-lich zu einem derartig rigorosen Hedonismus bekennt, wie in der neuerenForschung vielfach angenommen wird. Auch scheint das ,Recht desStärkeren' in der reinen Form, wie Platon es Kallikles in den Mund legt,von den Zeitgenossen weniger häufig vertreten worden zu sein, als häufigangenommen wird.

Der Sophist H i p p i a s seinerseits gilt - je nachdem, ob man seineRede aus Platons Protagoras oder das Gespräch, das Xenophon ihn inseinen Memorabilien mit Sokrates führen läßt5, zugrunde legt - alsBefürworter der , der Natur bzw. des Wesens einer Sache, oder alsFreund von Brauch und Gesetz, des , den er dann sowohl alsmenschliche Satzung als auch als .ungeschriebenes Gesetz' anerkennt.Folglich ist zu untersuchen, wie sich die relevanten Zeugnisse zueinanderverhalten: Ergänzen sie einander, oder sind sie in ihrem Quellenwertunterschiedlich einzuschätzen?

4 Plat. Gorg. 474c4ff.5 Plat. Prot. 337c-e, Xen. Mem. IV 4,5ff.

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Einleitung 3

Die rechtsphilosophisch bedeutsamen Papyri des SophistenA n t i p h o n 6 scheinen einerseits radikale und anarchische Kritik an denmenschlichen Konventionen, andererseits bestimmte ethische Maximen unddie Forderung nach einer nat rlichen Gerechtigkeit zu belegen. M glicher-weise ist eine dritte L sung nicht auszuschlie en, die unter Umst nden eineneue Bewertung seiner Stellung in der Entwicklung des sophistischenRechtsdenken erforderlich macht.

Auch das sog. S i s y p h o s f r a g m e n t bietet Anla zu unter-schiedlichen Deutungen: Zeugt es nur von einer rationalistischen Religions-kritik, oder bietet es auch eine emst zu nehmende Lehre von der Entstehungder menschlichen Gesellschaft?

Schlie lich verdienen auch die rechtsphilosophischen Ansichten, die denBruchst cken des sog. A n o n y m u s l a m b l i c h i und der sog.Δ ι σ σ ο ί Λ ό γ ο ι (.Zwiefache Reden') zugrundeliegen, eine n hereBesprechung. Dabei gilt es zu untersuchen, in welches Verh ltnis derAnonymus lamblichi die beiden Gr en νόμος und φύσις zueinander setzt,welches Staatsmodell er entwirft und ob er sich als Bef rworter derDemokratie bezeichnen l t. Zudem ist seine Auffassung des Begriffs.Tugend', der αρετή, weniger eindeutig, als es zun chst scheint.

Die Δισσοί Λόγοι wiederum greifen den zeitgen ssischen Relativismusauf eine Weise an, die deswegen n herer Erkl rung bedarf, weil dieserAngriff m glicherweise auf Mi verst ndnissen fu t. Dar ber hinaus wurdebislang der Frage zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, inwiefern dererhaltene Text R ckschl sse auf die Rechtsauffassung seines Verfassersgestattet.

In den folgenden acht Einzelkapiteln werden nun anhand einereingehenden Deutung der relevanten Texte Antworten auf die genanntenFragen vorgeschlagen. Dabei ist die gew hlte Reihenfolge zugleich alsVersuch zu verstehen, die betreffenden Texte bzw. die in ihnenausgesprochenen Thesen thematisch sinnvoll anzuordnen, ohne dabei diem gliche chronologische Abfolge zu sehr zu verletzen7. Auf bergreifende

6 VS 87 B 447 So d rften die Thesen des Hippias der rigorosen Lehre vom Recht des St rkeren

vorausgegangen sein, sollten aber doch in unmittelbare N he zu dem - m glicherweisesp teren - Antiphon gestellt werden. Der Anonymus lamblichi hingegen kann schwerlich,trotz seiner Anlehnung an Protagoras, im Anschlu an den Abderiten besprochen werden,

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4 Einleitung

Klassifizierungen wie .Vertreter des Rechtes des St rkeren', .Bef rworterdes νόμος' bzw. .Bef rworter der φύσις' wird - so sinnvoll sie zuweilensein m gen - deshalb verzichtet, weil sie h ufig Gefahr laufen, einenGesichtspunkt von vornherein ungeb hrlich zu betonen und einen anderenin den Hintergrund zu dr ngen: Beispielsweise mu , wer sich an der φύσιςorientiert, nicht zwangsl ufig ein rigoroser Gegner des νόμος sein.

Anstelle einer solchen Klassifizierung wird im Schlu kapitel der Versuchunternommen, in einer systematischen bersicht zu zeigen, wie dieeinzelnen Sophisten bestimmte, f r das Rechtsdenken des 5. Jh. zentraleBegriffe deuten, und in welchem Verh ltnis sie diesbez glich zueinanderstehen. So werden m glicherweise Gemeinsamkeiten und Unterschiedezwischen den jeweiligen sophistischen Rechtsanschauungen sichtbar, diebei einer einfachen Klassifizierung der Vertreter in den Hintergrund tr ten.Jedenfalls ist es angesichts der Vielschichtigkeit des sophistischenRechtsdenkens wenig angebracht, nach d e m sophistischen Rechtsbegriffzu suchen.

2. Obwohl es nicht an Darstellungen mangelt, die sich mit der Sophistikinsgesamt befassen oder speziell auf deren Rechts- und Staatsdenkeneingehen, steht eine Arbeit, die die Zeugnisse des sophistischen Rechts-denkens berwiegend philologisch deutet und eine systematische bersichtbietet, welche die in Kap. IX genannten Begriffe gleicherma enber cksichtigt, bislang aus. Zwar benennen manche der einschl gigenGesamtdarstellungen einige ihrer Kapitel nach bestimmten der in Fragestehenden Begriffe (νόμος-φύσις-Debatte, Vertragstheorie, Gleichheit derMenschen)8, doch schenken sie anderen, f r das sophistische Rechtsdenkennicht minder bedeutenden Begriffen (z.B. Wahrheit, Nutzen, Gerechtigkeit,Verfassungsformen) nicht die gleiche Aufmerksamkeit.

hnlich stellen diejenigen Werke, die sich auf das sophistische Rechts-und Staatsdenken konzentrieren, die jeweiligen Rechtsauffassungennebeneinander und bieten insgesamt statt einer systematischen Zusammen-schau eher eine personenbezogene Aneinanderreihung der jeweiligen

weil er eindeutig auch auf andere Lehren (z.B. das Recht des St rkeren) bezug nimmt undzeitlich in der Wende des S. zum 4. Jh. geschrieben haben d rfte.

8 Vgl. z.B. Guthrie III1969, Kerferd 1981, Demandt 1993, Taureck 1995.

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Einleitung 5

Ansichten, die sie ggf. einem zentralen Leitgedanken unterordnen (s.u. zu3)9.

Andere Darstellungen, die die griechische Rechtsgeschichte untersuchen,gehen eingehend auf die jeweiligen Institutionen ein, erw hnen jedoch dassophistische Rechtsdenken - wenn berhaupt - nur am Rande10.Offenkundig stellt dieses einen eigenst ndigen und komplexen Bereich desgriechischen Rechtsdenkens dar, der sich in Untersuchungen, die sich aufdie historische Entwicklung des Rechtswesens konzentrieren, nicht dar-stellen l t.

Schlie lich bieten auch die zahlreichen Einzeldarstellungen keinenberblick ber das sophistische Rechtsdenken, weil sie von vornherein

darauf abzielen, das Denken einzelner Sophisten zu untersuchen bzw.bestimmte Fragen zu Einzelproblemen der Sophistik zu beantworten.

3. Auch wenn die neuere Forschung das Verst ndnis der Sophistikwesentlich gef rdert hat, neigen doch sowohl a) diejenigen Darstellungen,die das Rechts- und Staatsdenken der Sophistik in den Vordergrund stellen,als auch b) viele Gesamtdarstellungen dazu, die Sophistik einseitig untereinem bestimmten Gesichtspunkt zu betrachten.a) Die Gelehrten, die in erster Linie das Rechts- und Staatsdenkenuntersuchen, versuchen i.d.R., in ihm einen einheitlichen Rechtsgedankenoder eine einheitliche politische Linie zu erkennen. Beispielsweiseentwickelten nach W o l f die Sophisten in verschiedenen Stufen die Lehreeines φύσει δίκαιον11: Dabei sei aus den Ans tzen bei Hippias undAntiphon zun chst die Vorstellung eines nat rlichen Rechtes des St rkeren(Thrasymachos, Kallikles, Kritias) und darauf die eines nat rlichen Rechtesder Schwachen (Lykophron, Alkidamas) hervorgegangen; letztere h ttenschlie lich die demokratischen Modelle der Sp tzeit (Anon. Iambi.,Antiphon v. Rhamnus, Δισσοί Λόγοι) begr ndet. Wolf setzt damit f r dasgesamte sophistische Rechtsdenken einen nat rlichen Gerechtigkeitsbegriff

9 Vgl. z.B. Verdross-Drossberg 21948, Wolf II 1952, Falkenstein 1953 (engangelehnt an Nes e 21942), Dreher 1983.

10 Vgl. z.B. D.M. McDowell: The Law in Classical Athens, New York 1978,Triantaphyllopoulos 1985, P. Cartledge u.a. (edd.): Nomos. Essays in Athenian Law,Politics and Society, Cambridge 1990

11 Wolf II1952, 18ff.

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voraus, obwohl ein solcher sich für die meisten der Sophisten nichtnachweisen läßt.

H a v e l o c k stellt einen anderen Gedanken in den Vordergrund: Erverbindet das sophistische Rechts- und Staatsdenken weitestmöglich mitdem europäischen Liberalismus12. Doch abgesehen von den Schwierig-keiten, die sich grundsätzlich dann ergeben, wenn man Begriffe, die aus derneuzeitlichen Geschichte erwachsen sind (z.B. Aufklärung, Liberalismus),auf das Altertum überträgt, neigt Havelock dazu, gerade denjenigenSophisten, deren Namen mit der - -Debatte verknüpft sind, eineRadikalität zuzuschreiben, die sie möglicherweise gar nicht an den Taglegten13.

Ähnlich problematisch ist es, mit D r e h e r die Sophistik zu derhistorischen Entwicklung der Polis (insb. der attischen) in Parallele zusetzen14, denn die Zeugnisse der Sophistik, die sich mit der Entstehung dermenschlichen Gemeinschaft befassen, bieten kein Bild der tatsächlichenhistorischen Entwicklung, sondern stellen nur allgemeine Überlegungen anmit dem Ziel, die Prinzipien der Gemeinschaftsbildung aufzuspüren,b) Nicht anders als die soeben genannten Gelehrten verfahren die meistenGesamtdarstellungen, denn auch sie ordnen das sophistische Denken einemLeitgedanken unter. Dabei lassen sich im wesentlichen drei Tendenzenunterscheiden: a) Die einen vergleichen die Sophistik mit der Aufklärungdes 18. Jh.; ß) andere hingegen versuchen sie aus ihrer Gegensätzlichkeitzur idealistischen Philosophie Platons zu verstehen; ) gegen diese zweiteDeutung wendet sich schließlich eine dritte Gruppe von Gelehrten, die diephilosophische und die pädagogische Leistung der Sophisten hervorhebt,a) N e s t l e s Deutungsansatz, die Sophisten als Aufklärer des Altertumszu verstehen, übte wesentlichen Einfluß auf die Forschung derNachkriegszeit aus: Nestle weist der Sophistik eine wichtige Stellung in derEntfaltung des griechischen rationalen Denkens zu und bezeichnet ihreVertreter als „Propagandisten und Enzyklopädisten der von der ionischen

12 Havelock 21964, 17f.13 Vgl. ebd. insb. 255ff.14 Dreher 1983,7f.

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Einleitung 7

Philosophie entfachten Aufklärung"15. Seine auf den ersten Blickbegründbare Überzeugung wird u.a. von V e r d r o s s - D r o s s b e r g ,S o l m s e n , M ü l l e r , T e n b r u c k und U e d i n g 16 geteilt, wobeiTenbruck seine Ansicht damit rechtfertigt, man müsse der Gefahrentgegentreten, die Sophistik nicht mehr als ,,geschichtliche[n] Vorgang" zubegreifen, sondern „auf die Lehrmeinungen der Sophisten" zu reduzieren.

Sicherlich ist die Bedeutung, die die Sophistik für die griechische„Paideia" (Jaeger) geleistet hat, unbestritten, und es wäre verfehlt, dieVielschichtigkeit dieses Phänomens in eine Vielzahl unverbundenerEinzelaspekte zu zerlegen17, doch besteht deswegen noch keine Berech-tigung, die Sophistik mit der neuzeitlichen Aufklärung gleichzusetzen. Inneuerer Zeit hat denn auch T a u r e c k mit guten Gründen auf dieUnterschiede zwischen moderner und antiker .Aufklärung' hingewiesen:Die Sophistik habe sich weder gegen eine kirchliche bzw. eine sich auf dasGottesgnadentum berufende königliche Herrschaft erhoben, noch sei sie ausdem Bestreben erwachsen, Metaphysik durch Erkenntniskritik zuersetzen18. Dem ist hinzuzufügen, daß die Sophistik - im Gegensatz zu denfranzösischen Enzyklopädisten - nicht grundsätzlich naturrechtlich dieGleichheit der Menschen begründete, sondern gerade auch die gegenteiligeBehauptung ermöglichte, die Menschen seien von Natur nicht gleich. DieSophistik läßt sich folglich nicht - wie die Aufklärung des 18. Jh. - alsÜberwindung bestimmter Institutionen, sondern eher als Mißachtungbestimmter Konventionen verstehen und ist weniger in ihren Inhalten alsvielmehr in ihren Interessen und Methoden eine einheitliche geistigeBewegung.ß) In der Forschung der Nachkriegszeit hat sich zunächstU n t e r s t e i n e r mit dem Versuch hervorgetan, die Sophistik an derplatonischen Philosophie zu messen: In seinem zuerst 1949 erschienenenWerk / sofisti deutet er unter dem Einfluß der Philosophie Benedetto Crocesdie Sophistik als Versuch, mit antiidealistischem Skeptizismus deneinzelnen Menschen in Stand zu setzen, die Fülle seiner oft gegensätzlichen

15 Nestle 21942, 26116 Vgl. Verdross-Drossberg 21948, 40ff., Solmsen 1975, 3, Müller 1976, 239ff.,

Tenbruck 1984, 24ff. und Ueding 1995, 20-4.17 Vgl. dagegen Barnes 21982,448ff.18 Taureck 1995, 38

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und widersprüchlichen Erfahrungen handelnd zu bewältigen19. Dabei ist esjedoch problematisch, eine Bewegung, die dem Aufkommen eineridealistischen Philosophie (sc. Platon) voraufgeht, antiidealistisch zunennen, und es fragt sich zudem, ob der Begriff des Skeptizismus deneinzelnen Sophisten überhaupt gerecht wird, zweifelten diese doch oftgenug nicht grundsätzlich an der Erkenntnisfähigkeit des Menschen,sondern lediglich an der Richtigkeit überkommener Vorstellungen.

Trotz dieser Schwierigkeiten greifen verschiedene Gelehrte den Ansatz,die Sophistik von der platonischen Philosophie her zu verstehen, wiederauf: Für G u t h r i e wird der „empiricism and scepticism" der Sophistikerst vor dem Hintergrund der idealistischen Philosophie Platonsverständlich20 und H ö s l e begreift sie in seiner hegelianischen Deutungder Geschichte der griechischen Philosophie sogar als „Antithesis" zureleatischen Lehre, die erst mit der sokratisch-platonischen Philosophieüberwunden werde21.

Von diesen Vorstellungen sind auch die Ansätze B u c h h e i m s undT a u r e c k s nicht weit erntfernt, inofern sie die Sophistik alspraxisorientiertes Denkmuster auffassen, das der theoretisch-idealistischenDenkform entgegenstehe. Im einzelnen versteht Buchheim die Sophistiknicht als speziell griechisches Phänomen, sondern sieht in ihr „eineverbreitete Einstellung markanter Art", getragen von der Absicht, „sichdurchzubringen durch die wechselhaften Laufte des Lebens", zu der sich dieplatonische Denkform „antipodisch" verhalte22. Auch Taureck mißt dieSophistik letztlich an der eleatischen und der sokratisch-platonischenPhilosophie, wenn er urteilt, die Sophisten „hätten das zum Vorscheingebracht, was ihre Vorgänger und Nachfolger eher versteckt zu bietenpflegen: Aussagen, die überzeugen, nicht mehr, aber auch nicht weniger."23

Dieser Ansatz, die Sophistik an der eleatischen und der sokratisch-platonischen Philosophie zu messen, birgt jedoch die Gefahr in sich zuübersehen, daß die Sophistik selbst in ihrem weiteren Verlauf die

19 Untersteiner I 21967, l If.20 Guthrie III 1969, 9; ähnlich kritisieren auch Ueberweg/Praechter 121926, 112,

die Sophistik lasse objektive Verhaltensmaßstäbe vermissen.21 Hösle 1984, 244ff.22 Buchheim 1986, Vllf.23 Taureck 1995,151

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Grundlagen dafür schuf, ihren Relativismus, der durchaus als Angriff aufdie eleatische Seinslehre verstanden werden kann, zu überwinden, indemsie die zu einem Prinzip erhob, aus dem sich letztgültige Aussagenergeben. Ohnehin scheint die Sophistik bereits mit Protagoras wenigstensim Bereich des Nutzens stets dem tatsächlich Nützlichen nachgegangen zusein und hat gerade in dieser Frage das sokratisch-platonische Denkenentscheidend beeinflußt24. Folglich verdeckt die „antiidealistische" Interpre-tation, wieviel die nachsophistische Philosophie der Sophistik im Grundeverdankt.

) Mit guten Gründen treten denn auch andere Gelehrte der geradegenannten Deutung entgegen: Beispielsweise versucht K e r f e r d , dieSophisten gegen die Vorwürfe der pro-idealistischen Interpreten in Schutzzu nehmen, indem er ihre philosophischen Leistungen hervorhebt und ihnenkeinen geringeren Wert beimißt als den übrigen Vorsokratikern25. Mitähnlicher Absicht betont de R o m i 11 y den pädagogischen Erfolg derSophisten26, doch verknüpfen beide, Kerferd und de Romilly, dieSophistik einseitig mit dem perikleischen Zeitalter27.

Gewiß läßt sich schwerlich der Einfluß leugnen, den das perikleischeAthen auf die frühe Phase der Sophistik ausübte, in der beispielsweise einProtagoras moderate Staatsvorstellungen entwickelte, doch kamen die fürdie Sophistik nicht weniger typischen radikalen Strömungen - nicht zuletztdie - -Debatte - erst nach dem Tod des Perikles auf, fanden dannaber, obwohl ein zweiter Perikles fehlte, der die Sophistik in die gemäßigtenBahnen der frühen Phase hätte zurücklenken können, auch wiederdeutlichen Widerspruch bei anderen Sophisten28. Diese .Reaktion' ebenfallsauf Perikles zurückzuführen, hieße, dessen Einfluß auf das zeitgenössischeGeistesleben - insbesondere nach seinen Tod - zu überschätzen. Folglichempfiehlt es sich eher, die historischen Bedingungen Athens während dergesamten zweiten Hälfte des 5. Jh. gleichermaßen zu bedenken und im

24 Beispielsweise läßt sich der sokratische Gedanke, ein Übeltäter schade seinerSeele, als Weiterentwicklung des sophistischen Strebens nach Eigennutz verstehen.

25 Kerferd 1981,12-426 de Romilly 1988, 17ff.27 Kerferd 1981, 175f, de Romilly 1988,47f.28 Vgl. z.B. Anon. Iambi. VS 89 6,2-5.

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übrigen nicht zu vergessen, daß die Sophisten, sofern sie sich alsWanderlehrer betätigten, nicht ausschließlich in Athen wirkten.

Wie aus diesem Überblick ersichtlich, sind die genannten Deutungenproblematisch, weil sie die Sophistik einseitig unter einem bestimmtenGesichtspunkt betrachten. Dieser Schwierigkeit versucht zwar D e m a n d tzu entgehen, indem er einerseits die Leistung der Sophisten im Bereich der„politischen Aufklärung" preist, andererseits „die selbstmörderischenKonsequenzen ihrer Kritik" rügt29. Im Grunde verbindet er jedoch lediglichdie bereits besprochenen Deutungsrichtungen (a) und (ß) miteinander, ohnedabei deren Einseitigkeit wirklich zu überwinden.

Um dem Phänomen des sophistischen Rechtsdenkens wirklich gerechtzu werden, ist es nötig, sich bestimmte seiner Eigenarten zu vergegen-wärtigen, die den genannten Deutungen entgegenstehen, anstatt es einemLeitgedanken unterzuordnen:1. Das sophistische Rechtsdenken steht zwar in gewissem Gegensatz zurspäteren sokratisch-platonischen Philosophie, hat diese aber auchentscheidend beeinflußt.2. Wie seine Fähigkeit beweist, bestimmten extremen Standpunkten ebensoextreme Standpunkte entgegenzustellen, ist es in sich gegensätzlich:Beispielsweise bestreiten die einen die Möglichkeit absoluter Wahrheit, dieanderen setzen diese unter Berufung auf die als selbstverständlichvoraus; die einen akzeptieren den als notwendiges Korrektiv, dieanderen kritisieren ihn als bloße Konvention, die einen behaupten einenatürliche Ungleichheit, die anderen eine natürliche Gleichheit derMenschen. Folglich wäre es müßig, nach d e m sophistischen Rechts-begriff zu suchen.3. Die Sophistik stellt mit ihrem Interesse für die menschlichenAngelegenheiten, mit ihrer empirischen Methode und mit ihrer Absicht,nicht nur rein theoretische, sondern umsetzbare Modelle zu bieten, in derTat eine bestimmte praxisorientierte Denkform dar, die eigenen bzw.menschlichen Interessen zu wahren und das Leben zu meistern. Insofern istbeispielsweise Buchheim (s.o.) Recht zu geben.

29 Demandt 1993, 68f.

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Einleitung 11

4. Das sophistische Rechtsdenken ist aber (und darin ist Buchheim zuwidersprechen) nicht nur wegen seiner Methode, sondern gerade wegenseiner Inhalte von allgemeinmenschlichem Interesse, denn es entwickelte diezentralen Fragen, die das Rechtsdenken bis heute beschäftigen:- Was ist Gerechtigkeit? Eine Konvention oder ein natürlich Gegebenes?- Worauf gründen sich die menschlichen Sitten und die menschlichenGesetze?- Sind die Menschen von Natur gleich oder nicht?- Wie ist das Leben in der Gemeinschaft möglich?- Wie läßt sich das Interesse des einzelnen mit dem seiner Mitmenschenverbinden?- Wie sind Gewalttaten (öffentliche und heimliche) zu verhindern? WelchenSinn hat eine Strafe?- Welches ist die beste Verfassungsform?

Die folgenden philologischen Interpretationen versuchen zu zeigen,welche Antworten die jeweiligen Sophisten auf die genannten Fragen boten.

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