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Das kranke Gesundheitssystem

Date post: 08-Jan-2017
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Page 1: Das kranke Gesundheitssystem
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DAS KRANKE GESUNDHEITSSYSTEM

KURZ

VOR DEM

EXITUS Zu teuer, zu bürokratisch,

ineffizient - nur noch eine adikale

Kur kann unser marodes

Gesundheitswesen retten.

Eine vierteilige Serie beschreibt

die Schwachstellen: Was läuft

falsch in Deutschlands Arztpraxen

und Krankenhäusern?

Wie verschwenderisch sind die

Kassen wirklich? Und was macht

die Pharmaindustrie so mächtig?

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ÄRZTE-LOBBY

Von LORENZ WOLF-DOETTINCHEM, GEORG WEDEMEYER und FRANK WACHE (Fotos)

inem toten Mann greift man nicht in die Tasche. Man nicht, Ulla Schmidt

schon. Die Gesundheitsministerin will das Sterbegeld für gesetzlich Krankenversi-cherte halbieren. Als letzte Leistung sollen die Kassen nur 525 Euro gewähren. Seit die Bundestagswahl vorbei ist, kennt die dauerlächelnde SPD-Politikerin keine Tabus mehr. Frei nach einem alten Motto aus ihrer Aachener Heimat: .Willst du jeman-dem die Zähne zeigen, versuche es mal mit Lachen."

In einer hektischen Notoperation ver-sucht die Super-Sozialministerin, mehr als drei Milliarden Euro einzusparen. So will sie den Anstieg der Kassenbeiträge auf einen Rekordstand von durchschnittlich 14,5 Pro-zent verhindern. „Wir brauchen Luft", sagt Schmidt, die Zeit für eine grundlegende Remedur gewinnen will.

Die ist auch dringend notwendig. Denn die Verschwendung ist nach wie vor gewal-tig, die Ausgaben wachsen ständig, und für die Alterung der Gesellschaft scheint keine Vorsorge getroffen. „Das deutsche Gesund-heitssystem steuert auf den Kollaps zu", warnt der Mannheimer Wirtschaftsprofes-sor Wolfgang Franz.

Zunächst aber bittet „Schwester Ulla" (Parteispott) zum Aderlass: Die Ärzte sollen im nächsten Jahr auf einen Zuwachs der Honorare verzichten, die Krankenhäuser ei-ne Nullrunde einlegen, die Krankenkassen ihre Verwaltungskosten einfrieren und die Zahnlabors die Preise um fünf Prozent sen-ken. Rund die Hälfte des Sparbeitrages muss die Pillenbranche leisten, die in den letzten Jahren „enorm verdient hat" (Schmidt). Pharmaindustrie, Großhändler und Apo-theken sollen durch niedrigere Preise und höhere Rabatte auf 1,4 Milliarden Euro ver-zichten.

ULLA GEGEN ALLE. Nur der Patient, so ver-spricht Schmidt, bleibt ungeschoren: „Es wird keine Erhöhungen der Zuzahlungen und keine Einschränkungen bei den medh '-nischen Leistungen geben."

Das glauben die 71 Millionen gesetzlich Krankenversicherte schon lange nicht mehr. Eine repräsentative Umfrage unter Kassen-mitgliedem ergab bereits im Frühjahr beun-ruhigende Werte. Zwei Drittel rechnen mit Qualitätsschwund und Leistungskürzun-gen. „Die Versicherten sind unzufrieden

Kassenhonorare Behauptung: „Seit Jahren sinken die Einkom-men der niedergelassenen Ärzte", sagt Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Ein Drittel der Praxen stehe vor der Pleite. Die „Ärz-te-Zeitung" barmt gar: „Das Honorar hat oft den Charakter eines Almosens." Tatsache: Die Krankenkassen überwiesen im vergangenen Jahr 22 Milliarden Euro auf die Konten der bundesweit 23 Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), 410 Millionen Euro mehr als im Jahr 2000. In den vergangenen zehn Jahren ist der Honorartopf der Ärzte um 43 Pro-zent gewachsen. Die Zahl der Kassenärzte nahm in derselben Zeit um 27 Prozent zu, so dass für jeden ein kleines Plus blieb. Ein Kos-tenvergleich des ZI-Instituts der Ärzte für das Jahr 1998 ergab: Jeder der 25000 westdeut-schen Allgemeinärzte erzielte im Durchschnitt einen Jahresumsatz vom 190000 Euro. Nach Abzug der Betriebskosten blieb dem Durch-schnittsarzt ein Bruttoeinkommen von 83 000 Euro übrig. Der Gewinn von Fachärzten liegt noch höher. Privathonorare Behauptung: Die Gebührenordnung für Privat-patienten stamme von 1977 und sei zuletzt 1982 geändert worden, klagt Professor Klaus Rehm, Direktor der Unfallchirurgie an der Uni-Klinik Köln, im Klartext: Ärzte behandelten Privatpatienten für das gleiche Honorar wie vor 25 Jahren. Tatsache: Die Gebührenordnung wurde 1988 und 1996 zugunsten der Ärzte geändert, wenn auch geringfügig. Die Ausgaben für ambulante Arztbehandlungen haben sich seit 1983 je Privatversicherten um 162 Prozent erhöht. Zum Vergleich: Für Kassenmitglieder stiegen die Aus-gaben nur um 80 Prozent. Arbeitszeit Behauptung: Die durchschnittliche Arbeitszeit, so klagt KBV-Chef Richter-Reichhelm, liege bei 47 bis 65 Stunden die Woche. Tatsache: Krankenversicherte stehen immer häufiger vor verschlossenen Praxistüren. Der Vorsitzende der KV Nordrhein, Leonhard Hansen, gibt intern zu: „In den Kreisstellen der KV werden unsere Mitarbeiterinnen zunehmend mit dem Phänomen konfrontiert, dass Patienten in absehbarer Zeit keine Termine bekommen, mit-ten am Tag der Anrufbeantworter lauft oder der gewünschte Doktor ohne jeden Hinweis einfach nicht da ist."

Arzneimittelbudgets Behauptung: Ärzte erzählen immer wieder, dass ihr Budget für Arzneimittel aufgebraucht sei, etwa für teure Aids- oder Multiple-Sklerose-Me-dikamente. Jetzt sei kein Geld mehr da. Wenn sie ihre „Richtgröße" überschritten, müssten sie dafür aus der eigenen Tasche zahlen. Tatsache: Teure Patienten mit Aids oder Multipler Sklerose sind „Praxisbesonderheiten" und gehen nicht zulasten der Arzneiausgaben für die übrigen Kranken. Außerdem hat Gesundheitsmi-nisterin Ulla Schmidt die strikte Budgetierung für Medikamente aufgehoben. Die in den Jahren zuvor aufgelaufenen Kollektivregresse wurden nie durchgesetzt. Ärztemangel Behauptung: Wegen niedriger Honorare und hoher Belastung v/olle bald niemand mehr Me-dizin studieren. In einem „Brandbrief" warnte Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärzte-kammer, das Gesundheitsministerium stehe vor einem „drohenden Versorgungsnotstand". Tatsachen: Der Ansturm der Abiturienten auf das Fach Humanmedizin ist nach wie vor groß. Bei der Zentralstelle zur Vergabe von Studien-plätzen meldeten sich zuletzt rund dreimal mehr Bewerber, als es Plätze gibt. Mit 23 651 Bewer-bern im Wintersemester 2002/2003 war dies die höchste Zahl seit 17 Jahren. Allerdings wol-len inzwischen nur noch 60 Prozent der fertig ausgebildeten Mediziner als Ärzte arbeiten, und diese verteilen sich sehr ungleich auf die ver-schiedenen Regionen und Einsatzgebiete. Kran-kenhäuser haben es oft schwer, Nachwuchs zu rekrutieren, und in manchen ostdeutschen Land-strichen herrscht genereller Ärztemangel. Ande-rerseits sind viele Regionen für viele Fachgebiete längst wegen zu hoher Arztdichte gesperrt. Krankenhaus Behauptung: Angestellte Ärzte müssten in Kran-kenhäusern für „katastrophale Vergütungen" ar-beiten, sagt etwa der Starnberger Mediziner Knut H. Sponer. Auch die Bereitschaftsdienste außerhalb der offiziellen Arbeitszeit würden nicht ordentlich bezahlt. Tatsache: Die zeitliche Belastung für Klinikärzte ist groß. Überstunden werden meist nicht vergütet. Lässt man die tatsächliche Stundenzahl außer Acht, sind die Gehälter allerdings nicht niedriger als die anderer Akademiker. Nach Abschluss des Studiums und einer Arzt-im-Prak-tikum-Zeit von anderthalb Jahren verdient ein lediger 28-jähriger Krankenhausarzt während seiner Weiterbildungszeit 3150 Euro im Monat.

Die Bluffs der Funktionäre Im Kampf um ihre Pfründe nehmen es manche Mediziner mit der Wahrheit nicht so genau. Acht Beispiele aus ihrer Trickkiste

E

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Röntgenraum der chirurgischen Ambulanz. Es wird zu viel untersucht, behandelt und abgerechnet

Ein verheirateter 35-jähriger Facharzt bekommt 4200 Euro. Für sechs Bereitschaftsdienste kön-nen noch rund 1500 Euro hinzukommen. Abrechnungsbetrug Behauptung: Falsch abrechnende Ärzte schädigten lediglich ihre Kollegen. Schließlich würden die Krankenkassen nur die festgelegte Honorarsumme an die Kassenärztlichen Vereini-gungen überweisen, argumentieren die Funktio-näre. Im Übrigen seien es immer nur Einzelfälle. Tatsache: Der Innungskrankenkassen-Vorstand Gernot Kiefer, Chef einer Untersuchungskom-mission, schätzt, dass bis zu 20 Prozent aller Arztrechnungen fehlerhaft sind - und sei es nur aus Unwissenheit. Laut Kriminalstatistik gab es im Jahr 2000 immerhin mehr als 17000 be-trugsverdächtige Fälle. Zuletzt sollen in Hessen 574 Ärzte Privatpatienten mit überhöhten Rech-nungen abgezockt haben. Auch die Behaup-tung, dass Kassenpatienten von betrügerischer Mehrabrechnung nicht betroffen seien, ist falsch: Denn dann steht für die übrigen Leistun-gen weniger Geld zur Verfügung. Selbstverständnis Behauptung: Laut offizieller Selbstdarstellung versteht sich die Bundesärztekammer „auch als Anwalt der Patienteninteressen". Tatsache: Funktionäre wie der Vorsitzende des Hartmannbundes Hans-Jürgen Thomas prangern immer wieder die „Vbllkasko-Mentalität" der Kran-kenversicherten an. Dahinter steht die Idee, dass die Kassenbeiträge nur für eine Grundversorgung reichen und die Patienten die Ärzte für zusätzliche Leistungen zusätzlich direkt honorieren sollen. Mit der so genannten Igel-Liste versuchen es die Mediziner bereits. Aber sogar bei notwendigen Impfungen verweigern manche Ärzte die Annahme der Chipkarte. So forderten gerade erst Berliner Ärzte von Patienten Bargeld für Impfungen, weil Verträge mit einzelnen Krankenkassen fehlten.

KURT KIESELBACH

und verunsichert", urteilt Hans Jürgen Ah-rens, Vorstandsvorsitzender des Bundesver-bandes der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK).

Dazu trägt auch das „Geschrei" (Schmidt) der Lobbyisten bei. Alle gegen Ulla. Bernhard Scheuble, Chef des Verban-des Forschender Arzneimittelhersteller, wet-tert: Weil moderne Medikamente bald nicht mehr zur Verfugung stünden, seien „vor allem die Patienten die Verlierer der Re-gierungspläne". Der Präsident der Bundes-ärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, kündigt als Folge der Sparoperation „wochenweise" Schließungen von Praxen an: „Diese irrwit-zige Politik geht auf die Kosten der Patien-ten." Und Jürgen Robbers, Hauptgeschäfts-führer der Deutschen Krankenhausgesell-schaft, barmt über die Nullrunde: „Das wird auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten ausgetragen."

So viel Fürsorge macht misstrauisch. Die Krokodilstränen der Anbieter sind näm-lich keineswegs uneigennützig. Verdi-Chef Frank Bsirske, selbst Interessenvertreter der Krankenschwestern, gibt zu: „Es geht um wirklich viel, viel, viel Geld." Genau genom-men um 220 Milliarden Euro, die jedes Jahr in Deutschland für Gesundheit ausgegeben werden. Rund vier Millionen Menschen arbeiten in der Boombranche. Um ihren Anteil am Medizinmarkt kämpfen 350 000 Ärzte und Zahnärzte, fast 500000 Sprech-stundenhilfen, 50 000 Apotheker und über eine Million Krankenhausbeschäftigte.

Für die Politik ein Dilemma: Gesundheit ist, so die Experten der Schweizer Prognos

AG, eine „Gewinnerbranche", die in den nächsten 20 Jahren doppelt so stark wachsen wird wie die anderen Branchen. Gleichzei-tig ist die gesetzliche Krankenversicherung ein Kostenblock, der Arbeit immer teurer macht.

Arbeitgeber und Arbeitnehmer bringen zurzeit 140 Milliarden Euro jährlich auf. „Das ist genügend Geld", wie Ulla Schmidt findet, die die Beiträge einfrieren will und deshalb die Ausgaben kappen muss. Ähnli-ches haben schon ihre Vorgänger von Her-bert Ehrenberg bis Horst Seehofer versucht. Gewirkt haben die Sparaktionen immer nur für ein, zwei Jahre. Irgendwie typisch: Be-handelt wurden nur die Symptome, nicht die Ursachen. 7000 Bestimmungen, 50 Gesetze und am Ende doch höhere Beiträge. „Wir haben immer Kostendämpftingspolitik ge-macht, aber an der Qualität nichts geändert", rügt der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach.

KAUM ZU GLAUBEN: Das deutsche System ist schlecht und teuer. Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung gibt Deutschland im in-ternationalen Vergleich am zweitmeisten für Gesundheit aus - übertroffen nur von den USA. Bei der Lebenserwartung erreichen die Deutschen aber nur den Durchschnitt der Industrieländer. Für die mittelmäßige Ver-sorgung zahlen sie zu viel. Anders gesagt: Die Gesundheitsindustrie liefert den Versicher-ten einen Golf zum Preis einer Mercedes-S-Klasse.

Der Sachverständigenrat für die Konzer-tierte Aktion im Gesundheitswesen hat in seinem Gutachten vom August 2001 die „Über-, Unter- und Fehlversorgung" ange-prangert. Beispiel Herzkatheter: In Deutsch-land wird diese Untersuchung doppelt so oft wie im europäischen Durchschnitt gemacht, aber trotzdem sterben 25 Prozent mehr am Herzinfarkt. Beispiel Brustkrebs: Weil bei den Mammografien zu schlampig gearbeitet wird, gibt es jedes Jahr 100 000 überflüssige Operationen. Beispiel Diabetes: Bei einer konsequenteren Betreuung der Zucker- -»

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kranken, wären 20000 Fußamputationen und 30 000 Schlaganfälle vermeidbar. Der Berliner Gesundheitsökonom Rolf Rosen-brock glaubt gar: „Ein Viertel der teuren Krankheitsfälle ließe sich glatt verhüten."

Die Ursachen für die deutsche Krankheit sind bestens analysiert. Ganze Regalwände voller Studien belegen, dass zu viel unter-sucht, behandelt und abgerechnet wird. Die größten Mängel sind: • Es gibt keine Transparenz: Der Patient weiß nicht, was die Behandlung kostet, der Arzt nicht, was er für die Therapie bekommt. Und die Kasse weiß schon überhaupt nichts, weil sie von der Kassenärztlichen Vereini gung nur eine Sammelrechnung bekommt. • Es gibt keinen richtigen Wettbewerb: Zwar wetteifern die Kassen mit ihren Beitragssät zen um Mitglieder, aber um die beste Ver sorgung der Kranken wird nicht konkur riert. Ein fataler Fehler, denn 80 Prozent der Mittel werden für nur 20 Prozent der Versi-cherten ausgegeben. • Es gibt keine Qualitätsstandards: Ärzte müssen nicht zum TÜV, auch wenn die Facharztausbildung schon 30 Jahre zurück-liegt. Patienten sind bei der Krankenhaus-

suche auf Mund-zu-Mund-Propaganda an-gewiesen. In den USA müssen Kliniken Operationsstatistiken veröffentlichen, inklu-sive Kunstfehler.

„Wir wollen den Wettbewerb um die bes-te Qualität", gibt nun Ulla Schmidt als Devi-se ihrer nächsten Reformstufe aus. Zudem soll die Prävention eine „eigene Säule" im Gesundheitswesen werden - vom Kinder-garten bis ins Seniorenheim. Obendrein will Rot-Grün das Ärztekartell knacken: Die Krankenkassen sollen „Direktverträge" (Schmidt) abschließen dürfen, „ohne dass

die Kassenärztlichen Vereinigungen das ver-hindern können". Erst dann lohnt es sich für Ärzte, statt viele Patienten husch-husch, wenige Patienten gut zu behandeln. Und die Krankenhauslandschaft wird durch eine neue Abrechnungsmethode verändert: Die Kliniken bekommen künftig keine Tagessät-ze mehr, die eine lange Liegedauer lukrativ machen, sondern eine Pauschale für jede Operation. Experten erwarten, dass vor allem kleine, wenig spezialisierte Kranken-häuser schließen müssen. Der im internatio-nalen Vergleich noch immer große Betten-berg würde etwas kleiner.

DEN DRUCK IM BEITRAGSKESSEL wird die Gesundheitsministerin - wenn überhaupt - allenfalls für wenige Jahre verringern können. Spätestens in einem Jahrzehnt wird die Alterung der Gesellschaft zu massiven Finanzproblemen bei den Kassen führen. Schon heute liegt deren Rentneranteil bei 30 Prozent. In den AOK sind es 40 Prozent - in der AOK Berlin gar 50 Prozent. Die Haupt-stadtkasse soll ab Januar den Beitragssatz auf den Rekordstand von 15,5 Prozent schrau-ben, sonst gibt es von Schwesterkassen kei-ne Unterstützungszahlungen mehr. Das ist zwar traurige Spitze, aber noch immer nicht

kostendeckend. Ohne die Hilfe der anderen AOK müssten es 17,8 Prozent sein. Und ohne den Finanzausgleich („Risikostruktur-ausgleich") unter allen Kassen weit über 20 Prozent.

Ältere Menschen verursachen im Schnitt 2,3-mal höhere Ausgaben, als sie Beiträge einzahlen. 182 Euro monatlich buttert die Versichertengemeinschaft für jeden Ruhe-ständler zu. Schon heute summiert sich der Solidarbeitrag der Jüngeren auf mehr als 33 Milliarden Euro - ein Viertel aller Ausgaben. Bis zum Jahr 2040 sagen Wissenschaftler einen Anstieg der Beitragssätze auf 20 bis 30 Prozent voraus. Hintergrund: Neben der steigenden Lebenserwartung muss der me-dizinische Fortschritt finanziert werden. „Die moderne Medizin heilt nicht", sagt der Berliner Medizin-Dekan Martin Paul, „son-dern führt dazu, dass die Patienten mit ih-rer Krankheit länger leben können." Ohne grundlegende Reformen, so prophezeit der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen, werde das System „binnen zweier Generationen" zusammenbrechen.

Das will Kanzler Gerhard Schröder nun mit einer neuen Reformkommission ä la Hartz verhindern. Chefsoll der umtriebige Darmstädter Wirtschaftsweise Bert Rürup werden. Die Expertentruppe soll vor allem auf Drängen der Grünen „die Nachhaltigkeit der SoziaLsysteme" unter die Lupe nehmen. Wenn die Kommission ihren Auftrag ernst nimmt, muss sie sich an all die Fragen heran-trauen, die SPD und Grüne im Koalitions-vertrag noch ausgeklammert haben: • Die Umverteilung in der Krankenversi cherung ist zu einem ziemlichen Kuddel muddel geworden: Eigentlich sollen die Ge sunden für die Kranken und die Besserver dienenden für die Geringverdiener zahlen. In der Praxis subventionieren aber die ar men Gesunden die reichen Kranken. Mehr noch: Privatversicherte beteiligen sich über haupt nicht am Solidarausgleich. Und von der kostenlosen Mitversicherung von Ehe partnern und Kindern profitieren ausge rechnet die höheren Einkommen am meis ten: Von den Pflichtversicherten sind nur die knappe Hälfte mitversicherte Familienange hörige, von den freiwillig Versicherten aber drei Viertel. • Der Lohn taugt immer weniger als Grund lage für den Beitrag. Wenn die Arbeitskosten bezahlbar bleiben sollen, muss der Arbeit geberbeitrag, der heute noch die Hälfte ausmacht, eingefroren werden. Auch eine Wertschöpfungsabgabe ist im Gespräch, um lohnintensive Betriebe zu entlasten. Oder -»

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DIE REGELN DES SYSTEMS

Was Patienten wissen sollten Jetzt wird der Wechsel zu den Privatkassen erschwert. Die wichtigsten Änderungen und Begriffe im Überblick

Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) Zurzeit gibt es in Deutschland 355 Kran-kenkassen, in denen nach den Regeln der 314 Paragrafen des Sozialgesetzbuchs V insge-samt 70,8 Millionen Menschen versichert sind. Nur 50 Prozent der Versicherten sind Pflicht-

Patient während einer Magenoperation. Ein Viertel der teuren Krankheitsfälle ließe sich verhüten

oder freiwillige Mitglieder, die derzeit im Schnitt rund 14 Prozent ihres Arbeitseinkom-mens an Beitrag zahlen. 22 Prozent sind Rentner mit ermäßigten Beiträgen. 28 Prozent sind als Familienangehörige beitragsfrei mit-versichert. Versicherungspflicht und Beitragshöhe Wer als abhängig Beschäftigter weniger als 3375 Euro brutto im Monat verdient, ist auto-matisch Pflichtmitglied der gesetzlichen Kran-kenversicherung. Die Verdienstgrenze wird jähr-lich neu festgelegt und steigt 2003 vermutlich auf 3450 Euro. Bis zu diesem Betrag werden die Beiträge prozentual vom Verdienst erhoben. Selbstständige oder Besserverdiener können freiwillig Mitglieder werden oder können sich privat versichern. Ab 2003 soll es voraus-sichtlich erst ab 3825 Euro Monatsverdienst möglich sein, zur Privatversicherung (PKV) zu wechseln. Kassenärztliche Vereinigung (KV) Zur gesetzlich vorgeschriebenen „Sicherstel-lung der vertragsärztlichen Versorgung" sind die rund 116000 niedergelassenen Ärzte Pflichtmitglieder in 23 regionalen Kassenärztli-chen Vereinigungen. Mit den KVen schließen die Kassen Verträge über das in der Region zu zahlende jährliche Gesamthonorar (Budget). Bundesweit waren das 2001 rund 43 Milliar-den Mark. Wie viel Geld der einzelne Arzt bekommt, regeln die KVen nach einem Punkte-system selbst. Die Kassen wissen im Regelfall nicht, welcher Arzt welche Leistungen für welchen Versicherten abrechnet. Wechsel der Versicherung Jedes Pflichtmitglied hat bisher das Recht, nach 18 Monaten Mitgliedschaft mit zweimonatiger Kündigungsfrist seine gesetzliche Kasse zu wechseln. Nach Beitragserhöhung ist sofortiger Wechsel mit Kündigungsfrist möglich. Freiwillige Mitglieder und solche, die wegen hohen Ver-dienstes zu einer privaten Krankenversicherung wechseln können, sind nicht an die 18-Monats-Frist gebunden. Eine Rückkehr von der Privatkas-se zur gesetzlichen Ist nur unter strengen Bedin-gungen möglich und nach dem 55. Lebensjahr prinzipiell ausgeschlossen. Diese Regelungen gelten auch für die Versicherten bei Ersatz- oder Betriebskrankenkassen. Risikostrukturausgleich Die Kassen sind verpflichtet, untereinander Kosten auszugleichen, die sich aus der unter-schiedlichen Risikostruktur ihrer Patienten (Alter, Verdienst Familienangehörige) ergeben.

andere Einkünfte aus Vermögen und Ver-mietung müssen herangezogen werden. Dies hätte zudem den Charme, dass Rentner mit üppigen Nebeneinkünften künftig hö-here Kassenbeiträge zahlen müssten. Heute zählt für den Kassenbeitrag nur die Rente. • Der Leistungskatalog muss überprüft wer den. Wohltaten wie das Mutterschaftsgeld, Haushaltshilfen oder das - künftig gekürz te - Sterbegeld gehören eigentlich nicht zu den Aufgaben der Krankenkassen, son dern in den allgemeinen Staatshaushalt. Die Finanzierung von Vorsorgekuren ist ein deutsches Unikat. In Ländern wie der Schweiz wurde die gesamte Zahnbehand lung ausgegliedert. Auch das Krankengeld ließe sich einfach in einer privaten Ver sicherung organisieren. Die Alternative zu Leistungskürzungen sind höhere Eigen beteiligungen.

Private Versicherungsunternehmen wie die Allianz-Tochter Vereinte wittern bereits das große Geschäft. Sie hat sich von mehre-ren Wirtschaftsprofessoren Vorschläge für einen radikalen Systemwechsel ausarbeiten lassen, um „mehr private Reserven zu mo-bilisieren". Eine einheitliche „entschlackte" Grundabsicherung würde für jeden über 21 Jahre monatlich 200 Euro Prämie kosten, dazu eine obligatorische Selbstbeteiligung von 100 Euro im Jahr. Zahnbehandlung, Hörgeräte, Brillen und die Behandlung von Sporrunfällen würden ersatzlos gestrichen. Erst wer mehr als 15 Prozent seines Einkom-mens für Gesundheit aufwenden muss -immerhin das Doppelte von heute -, wür-de zusätzliche Staatshilfe bekommen.

So unterschiedlich die Ratschläge der Experten, die Wünsche der Lobbyisten und Entscheidungen der Politiker auch ausfallen - eines haben Professoren, Ärzte und Minis ter gemeinsam: Sie sind in der Regel nicht selbst Mitglied in AOK, Barmer und Co. Entweder verdienen sie zu viel, oder sie sind Beamte.

Über die Zukunft der gesetzlichen Kran-kenversicherung entscheiden Privatpatien-ten. Für die Kassenmitglieder nicht unbe-dingt eine beruhigende Vorstellung.

Mehr Infos bei stern.de Zahlen Sie zu viel? Vergleich der gesetzlichen Krankenkassen. www.stern.de/Krankenversicherung

Lesen Sie auf der nächsten Seite Teil l der Serie: Die Ärzte - wie eine Praxis hinter den Kulissen funktioniert

Page 8: Das kranke Gesundheitssystem

TEIL 1: DIE ÄRZTE

KEIN CENT DARF

ÜBRIG BLEIBEN

Ist Ihr Arzt ein guter Unternehmer?

Dann weiß er, was er tun

muss, um möglichst viel an Ihnen

zu verdienen. Wie gut das Ihrer

Gesundheit tut, ist allerdings eine

andere Frage. Hier erfahren

Sie, wie die Firma „Arztpraxis“

funktioniert - ein Lehrstück

aus der Planwirtschaft

Page 9: Das kranke Gesundheitssystem

Von WALTER WÜLLENWEBER und MARCUS VOGEL (Fotos)

er Klempner repariert meine Was-serleitung, um damit Geld zu ver-dienen. Der Kfz-Mechaniker repa-riert mein Auto, um damit Geld zu verdie nen. Der Glaser repariert meine Fenster-Scheiben, um damit Geld zu verdienen. Und der Arzt repariert mein gebrochenes Bein oder meine verfettete Leber, weil er ein guter Mensch ist. So hätten wir es ger-ne, wenn wir krank und hilflos im Warte-zimmer sitzen. Doch Ärzte sind auch Un-ternehmer. Ihre Firma nennen sie Praxis, ihre Kunden Patienten. Die typische Ärztehäuser, mit Apotheke im Erdge schoss, mit Massage und Krankengym-nastik im Hinterhaus, sind kleine Gewer begebiete. Wie das Geschäft des Klemp-ners oder Schlossers funktioniert, wissen deren Kunden. Aber kaum ein Patien versteht auch nur ansatzweise das kleine Einmaleins der Medizinbranche. Was macht einen Arzt zu einem erfolg reichen Unternehmer? Ein volles Warte zimmer? Dann müsste Jörg Inzelmann eil reicher Mann sein. Seit drei Jahren führ der 43-Jährige eine Hausarztpraxis in Hamburger Stadtteil Uhlenhorst. An ei-nem ganz normalen Herbstvormittag is das Wartezimmer so voll, dass ein Teil der Patienten im Gang steht, vor dem Tresen von Christiane Hoffmann. Das rechte Ohr der Sprechstundenhilfe glüht, denn pau-senlos muss sie Patienten am Telefon au: einen anderen Termin vertrösten. All« paar Minuten saust Jörg Inzelmann heran, wirft Christiane Hoffmann ein paar For-mulare und noch mehr knappe Anweisun-gen hin und verschwindet mit dem nächs-ten Patienten in seinem Sprechzimmer.

UNTERNEHMER INZELMANN müsste ju-beln. Der Laden ist voller Kundschaft, da-runter Rentner und Langzeitkranke. Viel Arbeit. Aber wenig Geld. Denn Inzelmann ist ein Hausarzt, und deren Leistung wird von den Krankenkassen pauschal bezahlt. „Im Prinzip bekomme ich 50 Euro für ei-nen Krankenschein, egal wie oft ein Pa-tient im Quartal zu mir kommt. Oder ich zu ihm", sagt Inzelmann. Der entscheiden-de Augenblick für seine Firma ist also die Sekunde, in der Frau Hoffmann die Chip-karte der Krankenversicherung in das Le-segrät hinter dem Tresen steckt. In diesem Moment bekommt Inzelmann alles, was er an einem Kunden verdienen kann. -»

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Mehr kriegt er nicht. Auch nicht, wenn der Patient ein zweites, drittes oder siebtes Mal zur Sprechstunde kommt.

Das ist ungefähr so, als bekäme die Autowerkstatt einen Einheitspreis, egal ob sie den Luftdruck in den Reifen misst oder das Auto nach einem Unfall abschleppt und wieder zusammen-schweißt. Bei diesem System würde die Werkstatt nur noch den Ölstand messen. Der Hausarzt misst den Blutdruck. Ergebnis: „Die durchschnittliche Beratungszeit beim Hausarzt beträgt in Deutschland nur ganze sechs Minuten. Das ist der niedrigste Wert in Europa", sagt Karl Lauterbach, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Köln und Berater der Bundesregierung. Alte und erst recht chronisch Kranke sind für den Hausarzt unwirtschaftliche Patienten. Die Hausarztfir-ma braucht keine Schwerkranken, sondern Kunden, die im Prinzip gesund sind, mit einem aktuellen Zipperlein, das man unproblematisch behandeln kann. Zur Si-cherheit kontrolliert der Doktor dann noch, ob die Therapie geholfen hat. Na-türlich erst im nächsten Quartal. Denn dann gibt's wieder 50 Euro.

IN DER PARALLELSTRASSE führt Inzel-manns ehemaliger Studienkollege Ronald Wesche eine Praxis. Auch Wesche hat sich vor drei Jahren selbstständig gemacht. Aber nicht als Hausarzt. An seinem Türschild steht „Facharzt für Physikalische und Re-habilitative Medizin, Naturheilverfahren". Dahinter verbirgt sich so etwas Ähnliches wie ein Orthopäde. Als Facharzt bekommt Wesche von der Krankenkasse keine Pau-schale, sondern kann jede Behandlung einzeln abrechnen. Für jeden Handschlag gibt es Punkte, für jeden Punkt bekommt er von der Krankenkasse Geld.

Dann kann sich also wenigstens die Facharztfirma Wesche freuen, wenn ein Schwerkranker ins Wartezimmer kommt. Viel Arbeit, viel Geld. Von wegen. Damit Wesche nicht des Verdienstes wegen über-trieben behandelt, alles macht, was Punk-te gibt, und somit unnötige Kosten verur-sacht, sind auch seine Einnahmen regle-mentiert. Wesche darf pro Patient nicht mehr Kosten für Behandlung und für Arzneimittel verursachen als der Durch-schnitt seiner Kollegen. Nur: Wie hoch ist der Durchschnitt, wann liegt er drüber?

Hausarzt Jörg Inzelmann beim EKG

„Ich bekomme Immer 50 Euro, egal was Ich mache"

Wesche zuckt mit den Schultern. „Ich muss mich ständig an Grenzen halten, die ich gar nicht kenne, weil sie erst im Nach-hinein festgelegt werden."

Der Facharzt darf also nicht mehr pro Patient verdienen als seine Konkurrenten, und die Anzahl seiner Patienten darf er auch nicht spürbar steigern. Ökonomisch ausgedrückt: Die Firma Wesche darf nicht wachsen. „Innerhalb des Kassensystems habe ich nur sehr begrenzt Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg meiner Pra-xis" sagt Wesche. „Eigentlich bin ich ein Unternehmer in der Planwirtschaft."

Wegen dieser Beschränkungen ist auch für die Facharztfirma der gesunde Patient der beste Patient. Um bei den Behand-lungskosten die Grenzen nicht zu über-schreiten, braucht Wesche viele Patienten, die er nur ganz wenig behandelt. Sie sen-ken die Durchschnittskosten pro Kran-kenschein: „Scheinverdünner", nennt man sie. „Um einen chronisch Kranken behandeln zu können, brauche ich einige nur wenig Kranke, sonst kann ich mir, wegen der Budgets, dessen Behandlung nicht leisten", sagt Wesche. In der Plan-wirtschaft des real existierenden Gesund-heitswesens, verdienen also Fachärzte und Hausärzte dann besonders gut, wenn sie möglichst viele eigentlich Gesunde in ihre Praxen locken. Und das alles, um zu sparen.

Und was ist mit den richtig Kranken, mit Patienten wie Martina Link? Mit „Höllenschmerzen" sitzt sie in Wesches Wartezimmer. Sie ist 37 Jahre alt und lei-det schon seit 20 Jahren unter schlimms-ten Rückenschmerzen. Erst in diesem Frühjahr fand ein anderer Arzt die Ursa-che: eine komplizierte Fehlstellung im Kreuzbein. „Seitdem kann ich endlich

richtig behandelt werden", sagt Martina Link.

Nur von wem? „Für meinen Hauptarzt bin ich viel zu teuer. Der kann mich nicht allein be-handeln", sagt Link. Als chro-nisch Kranke verbraucht sie -gemessen am Durchschnitt -das Vielfache an Arzneimitteln und

Therapiekosten. Kein Arzt vermag genügend „Scheinverdünner" aufzutrei-ben, um sie noch wirtschaftlich behandeln zu können. Also behandelt ihr Orthopäde nur den unteren Teil ihres Rückens, die Lendenwirbelsäule. 20 Jahre Schmerzen haben längst auch Schäden im oberen Teil der Wirbelsäule verursacht. Die behandelt Ronald Wesche. Und dann sind da noch die Folgeprobleme im rechten Fuß. Um die kümmert sich ein dritter Arzt. Drei Ärzte für einen Wirbelsäulenschaden, das ist medizinischer und wirtschaftlicher Irr-sinn. Drei Praxen produzieren mehr Kos-ten als eine, insbesondere im deutschen Gesundheitswesen. Denn am meisten Punkte bekommt der Facharzt stets für den Beginn einer Behandlung. Im Fall von Martina Link ist das Sparen eine teure Angelegenheit.

Das Gesundheitssystem lockt also die Gesunden in die Praxen und vernachläs-sigt die richtig Kranken. Die Methode, mit der Kosten reduziert werden sollen, pro-duziert am Ende immer neue Kosten. Aber ist das nicht immer so in der Plan-wirtschaft? Was in der DDR die staatliche Planungskommission war, ist für die nie-dergelassenen Ärzte die kassenärztliche Vereinigung. Ihre Funktionäre bestim-men, welcher Mediziner sich wo nieder-lassen darf, welche Behandlung wie viele Punkte wert ist, wie viel Geld ein Punkt bringt und letztendlich auch, wie viele Pa-tienten zu wie vielen Punkten ein Arzt ab-rechnen kann. Für den Arzt gibt es da kei-nen Anreiz, sich ökonomisch vernünftig zu verhalten. In der Planwirtschaft gibt es nur ein Ziel: Planerfüllung. Raushauen, was erlaubt ist. Alle Budgets ausschöpfen. Kein Cent darf übrigbleiben.

AUCH DER KASSENPATIENT hat nichts da-von, sparsam zu sein. Zahlen muss er so-wieso - jeden Monat, direkt vom Gehalt. Also ist den meisten das Beste gerade gut genug. „Manchmal wollen Patienten un-bedingt eine teure Kernspintomographie verordnet bekommen, weil der Nachbar das auch hatte", berichtet Ronald We- -*

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sehe. Eine solche Aufnahme kostet rund 400 Euro und ist nur sehr selten notwendig. Würde Wesche den Patienten nun zum Radiolo-gen überweisen, hätte er den Kun-den befriedigt und die Allgemein-heit geschädigt. „Aber wenn ich Patienten eine geforderte Leistung verweigere, dann gehen manche einfach zur Konkurrenz." Irgendjemand verschreibt es schon. Auf diese Weise wird die Anschaffung von medizinischen Geräten rentabel. Folge: „Es wird erheblich überdiagnostiziert, damit die teuren Geräte der Ärzte ausgelastet sind", sagt der Gesund-heitsökonom Lauterbach. „Wir haben ge-rade in einer Studie an unserem Institut nachgewiesen, dass jede dritte Röntgen-aufnahme in Deutschland überflüssig ist."

DIE POLITIK REAGIERT auf die Kostenstei-gerungen nicht mit einer Reform, die kos-tenbewusste Ärzte und Patienten belohnt. Stattdessen will Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Einkommen aller Ärzte schlicht auf dem heutigen Niveau einfrie-ren - das der Sparsamen und das der Ver-schwender gleichermaßen. Vielen Praxen drohe dann der Konkurs, behaupten Ärz-telobbyisten. Schon vor der Bundestags-wahl verkündete der oberste Arzt der Re-publik, der Präsident der Bundesärzte-kammer, Jörg-Dietrich Hoppe: „Jede drit-te Arztpraxis steht heute vor der Pleite."

Seit Jahren jammern Ärztefunktionäre über Praxispleiten. Woher das Wissen stammt, ist unklar, denn Zahlen dazu hat die kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die Vertretung aller niedergelasse-nen Ärzte, nicht. Angeblich. Nur diese: 1999 wurden etwa 1000 Praxen von Ärz-ten abgemeldet, die noch nicht das Ren-tenalter erreicht hatten. 1000 von 93 000,

Die Facharztpraxis Wesche schleust täglich rund 100 Patienten durch

„Der Betrieb einer Praxis ist risikolos"

also 1,1 Prozent. Wie viele davon wirklich aufgeben mussten und wie viele reich ge-heiratet haben, ausgewandert oder Pleite gegangen sind, weil sich die Inhaber an der Börse verzockt haben, all das will die KBV nicht wissen. „Entgegen aller Klagen der Ärztevertreter gehen in Deutschland prak-tisch keine Arztpraxen Pleite", sagt Ge-sundheitsökonom Karl Lauterbach. „Der Betrieb einer Praxis ist risikolos."

Bei den Ausgaben in ihrem Unterneh-men sind Ärzte traditionell knausrig: Arzt-helferin ist einer der am schlechtesten bezahlten Berufe überhaupt. Ihr Monats-gehalt liegt meist unter 2000 Euro brutto.

Größere Anschaffungen finanziert der geschäftstüchtige Arzt über die „Deutsche Apotheker- und Ärztebank", zu Konditio-nen, von denen kein Schreiner träumen kann. Und oft muss der Doktor auch nur wenig Miete für seine Praxis zahlen. Dafür sorgen die Apotheken. Für die sind viele Ärzte in der Nähe überlebenswichtig. Am besten alle im selben Haus. Das überlassen die Apotheker nicht dem Zufall. Oft bau-en sie die Ärztehäuser mit dem so genann-te Apotheken-Bauherrenmodell selbst. Dann locken sie die Praxen mit niedrigen Mieten, nicht selten ein Euro für die gan-ze Praxis. So profitieren beide: Der Arzt hat eine billige Praxis. Der Apotheker kriegt die Rezepte und setzt den Verlust bei der Miete von den Steuern ab.

Den vergleichsweise niedrigen Aus-gaben der Arztfirma stehen ordentliche Einnahmen gegenüber. Wie hoch die sind, das versuchen Ärztefunktionäre seit Jahren hinter einem Gebirge von Halb-wahrheiten zu verstecken. Tatsache ist: Allein von den Honoraren der Gesetzli-chen Krankenkassen bleiben einem west-deutschen Arzt, nach Abzug aller Kosten

für Praxis und Personal, im Durchschnitt knapp 100000 Euro brutto im Jahr. Mit der Hilfe des Steuerberaters dürften davon also etwa 5000 Euro netto im Monat übrig bleiben. Dazu kommen die Einnahmen von seinen Privatpatienten. Die

machen nicht selten ein Plus von 30 Pro-zent aus.

Und die Branche boomt. Zwischen 1991 und 2001 nahm die Zahl der nieder-gelassenen Ärzte um ein gutes Viertel zu. Die Ausgaben der Krankenkassen für Arzthonorare stiegen noch viel stärker, um 43 Prozent. Die Torte ist gewaltig an-gewachsen, so sehr, dass für jeden ein grö-ßeres Stück übrig bleibt. Und das, obwohl mehr Esser am Tisch sitzen. Welcher an-dere Wirtschaftszweig kann auf ein so fettes Jahrzehnt zurückblicken ?

Und dennoch klagen Ärztefunktionäre bei jeder Gelegenheit. Warum? Weil die Ärzte in der Planwirtschaft eine Steige-rung des Einkommens nicht durch Steige-rungen ihrer Leistung erreichen können, sondern nur durch eine Steigerung des Drucks auf das Politbüro. Bislang hat das immer geklappt.

Über Generationen war ein Einser-Abitur die Lizenz zum Reichwerden. Die Besten jedes Jahrgangs wurden Ärzte. Statt zu forschen oder richtige Unternehmen zu führen, werden sie heute in einer leis-tungsfeindlichen Bürokratie verheizt. Die schickt jedem Arzt zu Beginn eines Quar-tals ein etwa zwei Zentimeter dickes Päck-chen - neue Regeln, Gesetzesänderungen, Verordnungen. Kein Arzt kann alle Geset-ze kennen, an die er sich halten muss.

WER DES GELDES WEGEN Medizin stu-dierte, der versucht natürlich alles, um sei-nen Gewinn zu steigern - wie jeder ande-re Unternehmer auch. Für den Arzt heißt das: weniger Kassenpatienten, mehr Pri-vatpatienten. Für deren Behandlung sind die Preise höher, und vor allem: Es gibt keine Budgets. Viele Praxen haben inzwi-schen eigene Telefonnummern für Privat-patienten. Da läuft kein Band, und die Sprechstundenhilfe weiß schon beim Klingeln, dass noch Termine frei sind.

Ronald Wesche hat einen anderen Aus-weg gefunden: Akupunktur. Derzeit läuft ein Pilotprojekt zur Erprobung dieser Me-thode. In dieser Versuchsphase ist die Ver-schreibung von Akupunktur großzügig begrenzt. Ronald Wesche macht in- -»

Page 12: Das kranke Gesundheitssystem

ERSTE HILFE

Nicht rezept-pflichtig

Wie Ärzte und Patienten sparen könnten, ohne die Qualität der Behandlungen zu mindern. Vier Vorschläge

Erster Schritt: Mehr Integration Zusammenschlüsse von Ärzten verschiedener Fachrichtungen in Gemeinschaftspraxen müs-sen mit neuen, von den Kassenärztlichen Ver-einigungen unabhängigen Verträgen gefördert werden. Das Beispiel Schweiz zeigt: In solchen integrierten so genannten HMO-Zentren wer-den bis zu 35 Prozent Kosten gespart. Der me-

Warten, bis der Arzt kommt. Das Gespräch mit dem Doktor dauert durchschnittlich sechs Minuten

dizinische Standard und die Patientenzufrie-denheit sind hoch. Wer sich als Versicherter dort fest einschreibt, also auf die freie Arztwahl verzichtet, bekommt bis zu 20 Prozent Bei-tragsrabatt. Zweiter Schritt: Mehr Qualität Die Niederländer machen es vor: Dort wurden für die meisten Krankheiten qualitative Behand-lungsrichtlinien entwickelt. Ärzte müssen 40 Weiterbildungsstunden pro Jahr nachweisen, wenn sie ihre Zulassung behalten wollen (Stichwort Ärzte-TÜV). Das hilft, teure Fehl- und Dop-peluntersuchungen zu vermeiden. Dritter Schritt: Mehr Geld für gute Leistung Zurzeit lohnt es sich finanziell nicht, ein guter Arzt zu sein. Wer mit geringeren Kosten heilt, ver-dient nicht mehr. Neue Vergütungssysteme, zum Beispiel zusammengefasste Pauschalen je Pa-tient für ärztliche Leistung, Medikamente und Heil- und Hilfsmittel (Stichwort: Kombi-Budget), wären besser - belohnt würde, wer seine Mittel gut und sinnvoll einteilt. Vierter Schritt: Weg mit undurchsichtigen Abrechnungsposten Wer weiß schon, dass jeder niedergelassene Arzt jedes Quartal „Sprechstundenbedarf" in Höhe von durchschnittlich 2200 Euro direkt bei den Kassen geltend macht? Die Püderchen, Salben, Tampons, Tupfer und Binden summieren sich bundesweit auf eine runde Milliarde Euro jähr-lich. Neben diesem „Kleinkram" können zusätz-lich einzelfallbezogene „Sachkosten" berechnet werden, deren Definition so gummiartig ist, dass darüber keine einheitlichen statistischen Daten vorliegen. Kontrolle ist kaum möglich. Einspar-potenzial: 50 Prozent.

derleistungen" an: Ernährungsberatung, Rauchentwöhnung, Sportmedizin. Das müssen Kassenpatienten selbst bezahlen.

Damit das Nebengeschäft läuft, gleicht Imelmanns Wartezimmer beinahe einem Werbestand. Auf einem Regal stapeln sich Broschüren, an den Wänden kleben Pla-kate, in der Ecke flimmert ein Computer-bildschirm. Nonstop läuft dort das Pro-gramm der Firma „Eusana": Im Angebot sind Anti-Aging-Beratungen und Nah-rungsergänzungsmittel aus der Dose. In-zelmann ist so etwas wie der Vertreter von Eusana. Er hat sogar Gebietsschutz - kein anderer „Eusana-Arzt" darf sich in seinem Stadtteil niederlassen. Rund zehn Prozent

seines Umsatzes macht Inzelmann mit Sonderleistungen.

Vor dem Tresen der Sprechstunden-hilfe Christiane Hoffmann warten wieder zwei Menschen. Eigentlich sehen sie frisch und gesund aus. Beide tragen einen schwarzen Lederkoffer - Pharmavertreter. Sie sollen Ärzte von der Qualität ihrer Arz-neimittel überzeugen. Natürlich nur mit Argumenten. In vielen Praxen werden die „Referenten" an allen Patienten vorbei so-fort vorgelassen. Nicht so bei Jörg Inzel-mann. Der empfängt immer nur einen Vertreter am Tag, meist am Ende der Sprechstunde.

DIE PHARMA-LEUTE eröffnen dem Arzt neue Einnahmequellen. Eine davon haben sie „Anwendungsbeobachtungen" getauft. Der Arzt verschreibt Patienten ihr Präpa-rat, beobachtet, wie es wirkt, und füllt an-schließend einen Fragebogen aus. Obwohl das Medikament längst ausgetestet ist. Sonst wäre es nicht zugelassen. „Die An-wendungsbeobachtungen der Pharmain-dustrie bringen absolut keinen wissen-schaftlichen Erkenntnisgewinn", sagt Karl Lauterbach. Der Pharmakologe und Mit-herausgeber der Fachzeitschrift „Arznei-Telegramm" Peter Schönhöfer, hat he-rausgefunden, dass die Pharmaindustrie allein für die „nutz- und wertlosen" An-wendungsbeobachtungen rund 750 Mil-lionen Euro im Jahr zahlt. An die Ärzte. Da nicht alle Ärzte bei solchen Praktiken mitmachen und manche Fachärzte wie Orthopäden oder Augenmediziner wenig Medikamente verschreiben, bleibt für den Rest mehr übrig. Schätzungsweise 10000 Euro pro Jahr und Arzt, der mitmacht.

Am Ende holt sich die Pharmaindustrie das Geld über höhere Arzneimittelpreise wieder zurück. Von den Patienten. Genau-so wie die 1,2 Milliarden Euro für Ärzte-kongresse. So viel, schätzt Schönhöfer, sind den Arzneimittelherstellern die „Fortbil-dung" der Mediziner wert. Am besten lernt es sich freilich an den schönen Orten des Globus und wenn der Partner mit da-bei ist. Monaco zum Beispiel. Da war auch Jörg Inzelmann schon. Und Freitagnach-mittag bleibt die Praxis geschlossen, fn Einladung zum Kongress in Berlin. Btfl

Lesen Sie Im nächsten sterrr. Der Krankenhaus-Report -wie Patienten und Ärzte unter dem System leiden

zwischen etwa ein Drittel seiner Einnah-men mit den kleinen Nadeln. Außerdem arbeitet er als ärztlicher Leiter in einem ambulanten Reha-Zentrum im selben Haus. Für den ambitionierten Arzt sind das Auswege, um anspruchsvolle Medizin an richtig Kranken zu praktizieren und damit Geld zu verdienen.

Sein Studienkollege, der Hausarzt Jörg Inzelmann, hat solche Möglichkeiten nicht. Darum liegt er nach drei Jahren mit eige-ner Praxis noch unter dem Durchschnitt von 5000 Euro netto im Monat. „Wenn ich das verdienen würde, wäre ich voll zufrie-den", sagt Inzelmann. Für ein paar Euro extra bietet auch er seinen Kunden „Son-

Page 13: Das kranke Gesundheitssystem

DAS GESUNDHEITSWESEN -TEIL 2: DIE KLINIKEN

In den folgenden Beiträgen beschreibt der stein die Situation

in den deutschen Hospitälern aus dem Blickwinkel von Ärzten, Ökonomen

und einem prominenten Patienten: Zufrieden ist keiner - doch was dem

einen als Lösung erscheint, schafft für die anderen neue Probleme

DAS

KRANKE HAUS

Überarbeitete Doktoren und vernachlässigte Patienten sind die Leidtragenden des planlosen

Kostenmanagements an unseren Kliniken. Zeit ist Geld - in Zukunft werden die Mediziner

Kranke noch schneller abfertigen müssen

Von ANIKA GEISLER, HORST GÜNTHEROTH und FRANK WACHE (Fotos)

kay, ich trage einen weißen Kittel, ha- Menschen, mit höchster Verantwortung. be ein Stethoskop um den Hals, und Hinter Klinikmauern werden wir geboren;

die Patienten nennen mich „Herr dort wird uns der Blinddarm rausoperiert, Doktor". Doch der Traum, Menschen in Not da suchen wir Hilfe nach Herzinfarkt oder

beizustehen, ist spätestens seit Ende meines Verkehrsunfall, da werden unsere Infek- Studiums und dem Beginn meiner Arbeit im tionen und Krebsgeschwulste behandelt. Krankenhaus geplatzt. Ich bin kein Helferge- Und für viele ist das Krankenhaus die worden, der Menschen Trost spendet und für letzte Station ihres Erdenlebens. sie da ist- ich bin ein Patientenverwalter. Über 53 Milliarden Euro verschlingen

Johannes Timm*, seit zwei Jahren As- die Stätten des Heuens und Linderns jähr- sistenzarzt auf einer internistischen Stati- lieh, den Löwenanteil der Gesamtausgaben on, ist einer aus dem Heer von 140 000 der Krankenkassen und rund zehn Milli- Medizinern, die an den 2250 deutschen arden Euro mehr als noch vor zehn Jahren. Krankenhäusern Dienst tun. Dienst am Der Finanzbedarf schwillt weiter an: Ein •Name geändert. Die Person ist nicht identisch mit dem Unaufhaltsames Wachstum tlOtZ allgemej- abgebüdeten Arzt. ner wirtschaftlicher Flaute - dafür sor- -»

O

Page 14: Das kranke Gesundheitssystem

re: Fließbandabfertigung der Patienten. Laut Untersuchung der Krankenhausärzte-Ge-werkschaft Marburger Bund hat die Belastung der Mediziner enorm zugenommen: Die Schar der Doktoren muss 16,5 Millionen Fälle jährlich betreuen, 19 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Tendenz zunehmend. Die Zahl zusätzlicher Arztstellen hält damit nicht Schritt. Also ist Mehrarbeit für Doktoren so normal wie der Desinfektionsmittel-Geruch auf dem Linoleumboden. Unbezahlte, versteht sich. Bis zu 30 Überstunden pro Woche kommen schnell zusammen. Meist werden sie gar nicht erst aufgeschrieben - aus Angst vor dem Verlust des Jobs in der streng hierarchischen Weißkittel-Ständegesellschaft, in der bei

Visiten nach „Dienstgrad" ins Patienten-zimmer getreten wird und der Chef sei-ne Untergebenen schon mal vor dem Kranken zusammenstaucht. Es müsse wohl am Arbeitstempo liegen, so poltert manch ein Klinik-Boss, wenn die Aufga-ben nicht in der normalen Dienstzeit bewältigt würden, die anderen Kollegen reichten schließlich auch keine Überstunden ein.

Der kaum zu ertragende Leistungs-druck ist neben dem relativ geringen Lohn (zum Beispiel Arzt im Praktikum: 1135 Euro brutto im Monat; 36-jähriger Assis-tenzarzt: 3500 Euro brutto im Monat plus Nachtdienstzulagen) der Hauptgrund da-für, dass immer weniger Medizinstuden-ten den Beruf ergreifen, der immer einige Jahre Pflichtstationen in Kliniken bedeu-tet. Nur 60 Prozent von ihnen wollen heute noch als Arzt arbeiten. Der Rest bricht die Ausbildung ab oder sucht sich nach dem Examen andere Jobs. Einige Verwal-tungschefs jammern bereits, dass ihre oh-nehin spärlichen Stellenangebote ver-schmäht werden: Vor allem Kliniken auf dem Land und im Osten haben Probleme, Vakanzen zu besetzen. Besonders abschre-ckend für den medizinischen Nachwuchs - und riskant für den Patienten - sind die elenden Nachtdienste.

Nach einem normalen Arbeitstag, der um acht Uhr in der Früh begonnen hat, bin ich von 19 Uhr bis zum nächsten Morgen der -»

gen die steigende Zahl alter, gebrechlicher Menschen, immer aufwendigere Me-thoden in der Medizin und verbreitetes Anspruchsden-ken der Patienten, für die das Beste gerade gut genug ist. Doch trotz des Mega-Umsatzes sind die Metall-betten-Burgen alles andere als Orte des Luxus. Nicht für die Kranken und nicht für die Männer und Frauen in Weiß.

Seit Arbeitsbeginn vor einer Stunde Stress und Hektik. 20 Patienten auf der Station muss ich allein betreuen: Blut abnehmen, In-fusionsnadeln legen, Tröpfe anhängen, im Ultraschallraum Lungenwasser punktieren, Röntgenaufnahmen und Computertomogra-phien organisieren. Dauernd stört das Tele-fon. Dann Visite: drei Stunden lang höchste Konzentration, vor den Zimmertüren studiere ich schnell die Akten. Hände drücken, Fragen beantworten, Ängste mildern - im Durchschnitt habe ich nicht mal zehn Minu-ten für einen Patienten. Schwerste Fälle sind darunter: Leberzirrhose, Lungenkrebs, Schlaganfall, Herzinfarkt. Bei dem netten Herrn mit Schnurrbart weiß ich noch immer nicht, wo der Tumor sitzt, der schon Leber-metastasen gestreut hat. Warte jetzt schon drei Tage auf einen Coniputertomogramm-Termin für ihn. Er wird langsam sauer. Zu Recht. Winde mich erneut mit Ausreden he-raus, weil ich es auch nicht ändern kann -Privatpatienten und Notfälle gehen vor.

Schaffe es wieder nicht, Mittag zu essen. Röntgenbesprechung, Laborbefunde durch-sehen, Blutkonserven bestellen, drei Neu-

Untersuchung: Mit dem Stethoskop prüft der Mediziner Herz und Lungen

aufnahmen untersuchen, rufe Hausärzte an. Vor dem Stationszimmer wartet die Ehefrau von dem Netten mit den Leberme-tastasen, will endlich wissen, was mit ihrem Mann ist. Andere Angehörige wimmle ich gereizt auf dem Flur mit Phrasen ab und vertröste sie auf morgen. Hasse mich selbst dafür und habe ein schlechtes Gewissen. Er-trinke im Papierwust, Anträge für Sozial-und Pflegedienste ausfüllen. Nach elf Stunden mache ich Feierabend. Entlas-sungsbriefe werde ich zu Hause diktieren, die Krankenakten dafür nehme ich mit. Das ist verboten. Die Patientenunterlagen müssen in der Klinik bleiben.

Die tragenden Säulen des Systems Krankenhaus, die jungen Ärzte, schwan-ken. Chronische Arbeitsüberlastung; zu wenig Personal, denn den Kliniken fehlt das Geld für mehr Stellen. Folge der Mise-

Teamwork: Im Medikamentenzimmer

„Keine zehn Minuten für einen Patienten

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nikbetrieb nur durch mehr ärzt-liches Personal realisieren. Wo allerdings das Geld dafür her-kommen soll - gerade ange-sichts der von Gesundheitsmi-nisterin Ulla Schmidt verordne-ten Nullrunde bei den Kassen-beiträgen -, ist für die Verwal-tungschefs der Häuser ein un-lösbares Rätsel.

Geld bringen die Privatpatienten, sagt mein Chef. Und die anderen nur dann, wenn sie möglichst schnell durchgeschleust werden. Ich finde es schrecklich, Menschen nach solchen wirtschaftlichen Gesichtspunkten abfertigen zu müssen. Täglkh rufen die Krankenkassen an, erkundigen sich nach jedem einzelnen Patienten und machen Druck, ihn möglichst bald zu entlassen. Wenn wir einen länger dabehalten, als die für nötig halten, gibt's Ärger. Und oftmals kriegen wir dann nicht die volle Liegezeit bezahlt. Der neuste Hit heißt DRG, „diagno-sis related groups".

Das bedeutet: Jede Diagnose und Therapie muss ich bei Aufnahme und Entlassung des Patienten in einem kompli-zierten Verschlüsselungsprogramm mit Ziffern festhalten. Ich übe für die Zukunft. Auf dieser Grundlage werden demnächst die Krankenkassen an die Klinik zahlen. Ein durchschnittlicher Blinddarm wird dann 5,6 Tage liegen dürfen, alles, was länger braucht, wird erst mal nicht erstattet. DRG ist für mich ein Mehraufwand von bis zu einer Stunde täglich, je nachdem, wie der Computer gerade mitmacht. Wir lernen, wie man am besten verschlüsselt, damit das Krankenhaus mehr Geld bekommt Wer da-nn gut ist, macht sich bezahlt. Sogar unsere Arbeitsbesprechungen, in denen es eigentlich um die Kranken gehen sollte, handeln da-von. Bürokratenkram, der mir kostbare Zeit für Patienten raubt. Dafür müsste unbe-dingt extra Fachpersonal her.

Noch ist das DRG-Modell in der Erpro-bung; nächstes Jahr sollen die deutschen Kliniken beginnen, auf das aus Australien stammende Modell umzustellen. Ziele sind eine möglichst kurze Verweildauer im Krankenhaus und geringere Kosten für die Kasse. So wird das Bett schnell frei für den nächsten Patienten. Grundsätzlich eine gu-te Idee: Warum soll ein Kranker - wie frü-her gang und gäbe - freitags einbestellt, aber erst dienstags operiert werden? Indes haben die Krankenhäuser in den ver- -»

einzige Internist im Haus. Allein für 260 Patienten und die Notaufnahme zuständig. Hoffe immer, dass nicht zwei auf einmal einen Herzkasper kriegen. Der Pieper geht dauernd, ich hetze die Treppen hoch und runter, von Station zu Station. Fahrstuhl nehmen ist nicht erlaubt, der könnte stecken bleiben und dann wäre ich „kaltgestellt". Krankeabhorchen, Schmerz- und Schlafmittel verordnen, Blutkonserven anhängen, der verwirrten 88-Jährigen erklären, dass sie jetzt mitten in der Nacht nicht frische Mettwurst kaufen kann.

Zwischendurch meldet sich immer wie-der die Notaufnahme: junge Frau mit ste-chenden Bauchschmerzen, randalierender Besoffener, eine Gallenkolik, eine Verstop-fung und wieder mal unser Stammgast mit dem Herzrasen. Stundenlang müssen die warten, bis sie drankommen. Inzwischen ist es zwei Uhr nachts, bin total fertig, zittrige Hände, schon ein paar Mal mit der Nadel daneben gestochen. Jetzt wird jeder Patient zum Feind. Habe seit morgens nichts geges-sen. Getrunken zuletzt mittags. Aber: Wer nicht trinkt, muss wenigstens nicht aufs Klo. Ob auf dem Patienten-Wagen noch Essens-reste sind? Finde eine Scheibe Brot, einen Jo-ghurt und zwei Radieschen. Verspeisen von Patientenessen ist ein Kündigungsgrund.

Lege mich mit voller Montur aufs Bett im Dienstzimmer. Um 4 Uhr 55 Pieper: Der Mann mit dem Bauchspeicheldrüsen-Tu-mor ist gestorben. Bewege mich in Zeitlupe hin, um den Totenschein auszufüllen und die Angehörigen anzurufen. Heule selber fast. Wie in Trance funktioniere ich weiter, als hätte ich ein Promille im Blut. Um zwölf Uhr mittags, nach der Visite, komme ich

Aderlass: Mit einer Kanüle zapft der Arzt Blut aus dem Arm eines Kranken endlich raus, 28 Stunden in der Klinik und davon drei Stunden Schlaf. Und morgen um acht Uhr muss ich wieder antanzen.

Das Krankenhaus - ein krankes Haus. Immer im Hochbetrieb, immer kurz vor dem Infarkt. Und der Patient mehr Stör-faktor als Sorgenkind. Wenigstens für das auslaugende Nachtdienst-Marathon ist Abhilfe in Sicht - doch das bringt neue Probleme: 15000 weitere Ärzte, so schätzt Frank Ulrich Montgomery, Chef des Marburger Bundes, werden in den nächsten Jahren von den Kliniken eingestellt werden müssen. Der Hintergrund: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass der nächtliche Bereitschaftsdienst nicht mehr wie bisher als Ruhezeit, sondern als Arbeitszeit zählt. Folglich muss demnächst das deutsche Recht geändert werden, das den derzeitigen Zustand er-möglicht. Weil Nonstop-Dienste dann verboten sein werden, lässt sich der Kli-

Schreibkram: Für die Untersuchung des

Der Kranke -Störfaktor statt Sorgenkind

Page 16: Das kranke Gesundheitssystem

ERSTE HILFE

Therapien für die Klinik

Teure Traditionen und gestrige Privilegien müssen aufgegeben werden, wenn es im Hospital wirtschaftlicher zugehen soll. Sechs Vorschläge zur Reform

kationsrate ist. Patientenbeiräte sollten über den humanen Umgang mit den Fallpauschalen wachen. Dritter Schritt Mehr Ambulanz Um ihre Pfründe zu sichern, haben die niedergelassenen Ärzte dafür gesorgt, dass die Krankenhäuser kaum ambulant tätig sein dürfen. Diese Beschränkung muss

fallen. Das ist medizinisch sinnvoll und hilft, Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Vierter Schritt Bessere Planung und mehr Wettbewerb Krankenhausplanung ist Län-dersache. Zentrale Richtgröße ist die Bettenzahl je Einwohner. Das ist veraltet. Es muss spezifischer nach Behandlungs- und Operationsbedarf berechnet werden. Zudem gilt derzeit: Was die Länder zu viel geplant haben, kommt die Kassen teuer zu stehen. Sinnvoller wären zum Beispiel Ausschreibungen, wer welche Operation am günstigsten anbieten kann. Nicht jede Kasse muss dann mit jeder Abteilung eines Krankenhauses zusammenarbeiten. Das fördert sinnvolle Spezialisierung und damit die medizinische Erfahrung und Qualität. Fünfter Schritt Chefarztsystem auflösen In Deutschland gilt meistens: einmal Chefarzt, immer Chefarzt. Für manchen ist das eine lebenslange Lizenz zum Geldscheffeln und Mitarbeiterschinden. In den USA

werden die Götter in Weiß nur für eine begrenzte Zert bestimmt. Sechster Schritt Humane Arbeitszeiten Neue Arbeitszeitmodelle, wie sie einige Kliniken schon praktizieren, müssen für alle ausgewertet und umgesetzt werden. So werden die auslaugenden Doppelschichten der Ärzte vermieden. GEORG WEDEMEVER

gangenen Jahren die Verweildauer bereits erheblich verkürzt: Während ein Patient 1990 noch durchschnittlich 15,3 Tage ein Hospital-Bett belegte, waren es 2000 nur noch 10,1 - also 34 Prozent Zeitersparnis.

Doch viele Schicksale lassen sich eben nicht in dieses System pressen. Was bei-spielweise soll ein Doktor mit der alten Da-me machen, die an der Supermarktkasse ohnmächtig wurde ? Und für deren Unter-suchung und Behandlung DRG 3,7 Tage zulassen wird? Der verantwortungsvolle Arzt steht vor dem Dilemma, entweder mit langwierigen gründlichen Untersuchun-gen die Ursache abzuklären und damit de-fizitär zu arbeiten; oder aber die Frau, der nach wie vor schwindlig ist, mit schlechtem Gewissen schnell heim zu schicken und sich den Rüffel vom Chef zu ersparen.

Die Folge: Das ohnehin schon scharf kalkulierende Krankenhaus mutiert voll-ends zum Wirtschaftsunternehmen - der Arzt zum Aushilfs-Betriebswirt. Vorbei die Zeiten des hippokratischen Eids, in dem die Zunft gelobt, alles ausschließlich „zum Nutzen der Kranken" zu tun. Vorbei die Zeiten, als ein wesentlicher Teil der Thera-pie noch intensive menschliche Zuwen-dung war. Jetzt geht es um kaum mehr als Kosten, Erlöse und Bilanzen, menschliches Leid gerinnt zu Ziffernfolgen. Und die Hospitäler werden sich - damit die Kasse stimmt - um Patienten reißen, die sie schnell und komplikationslos wieder ent-lassen können, also um die jungen „Gesun -den". Alte Morbide haben schlechte Karten. In Zukunft, so befürchten Kritiker, könnte sich gar die Frage stellen, ob sich bei einem kranken Menschen die „Reparatur" über-haupt noch lohnt - wie bei einem Auto.

Bis jetzt haben meine Kollegen und ich mit der Überzeugung geschuftet, dass wir es fürs Gemeinwohl tun. Und in diesem Be-wusstsein bei aller Mehrarbeit oft ein Auge zugedrückt, fetzt werden wir mit Brachial-gewalt darauf getrimmt, effizient bis zum Geht-nicht-mehr zu arbeiten, wie ein Kon-zern mit Profitgier. Da sehe ich aber auch nicht mehr ein, dass ich meine Überstunden dem System schenke.

Mahr Infos bei stern.de www.stern.de/krankenversicherung Großes Extra zum Thema Gesundheitssystem

Lesen Sie auf Seite 118 das Inter-view mit Ex-Gesundheitsminister Horst Seehofer: „Als Patient sieht man die Dinge anders"

Erster Schritt Fallpauschalen Der wichtigste Vorstoß zu mehr Effizienz ist bereits geplant: Vom nächsten Jahr an sollen Krankenhauser ihre Leistungen freiwillig nicht mehr über die Liegedauer und den Tagessatz, sondern durch eine pauschale Durchschnittssumme pro Fall abrechnen. Ab 2004

gilt das verpflichtend für alle Krankenhäuser, ab 2007 sind die Sätze jeweils innerhalb eines Bundeslandes einheitlich. Nachteil: Kliniken könnten versuchen, sich schwerer und daher teurer Fälle zu entledigen. Zweiter Schritt Mehr Transparenz und Patien-tenrechte Die Krankenhäuser sollten künftig Qualitäts-berichte veröffentlichen, damit Patienten sehen können, wie oft dort welche Fälle operiert werden und wie hoch die Kompli-

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GESUNDHEITSWESEN -TEIL3: KRANKENKASSEN UND KASSENÄRZTLICHE VEREINIGUNGEN

„WER DIE

DATEN HAT,

HAT DIE

MACHT"

Nach eigenen Regeln verteilen die Selbstverwaltungen der Ärzte die Milliarden, die ihnen die Krankenversicherungen jedes Quartal

überweisen. Die Kassen wissen kaum, wofür sie das Geld ausgeben - und am wenigsten wissen die

Patienten, was ihre Behandlung kostet. Das System verfuhrt zu Missbrauch und Schlendrian

Von BRIGITTE ZANDER und HARDY MÜLLER (Fotos)

rüher fragte sich Mike Schultheis, 29, geben seit dem Frühjahr ihren Patienten ei-

manchmal ärgerlich, wo denn die 77 ne Honorarabrechnung mit. Mike Schult - Euro bleiben, die ihm Monat für heis findet das gut. „Beim Autoschlosser Monat als AOK-Beitrag von seinem Lohn kriege ich ja auch eine ordentliche Rech abgezogen werden. Heute weiß der Bau- nung, wenn der meinen Wagen repariert." arbeiter aus Rheinland-Pfalz Bescheid: Für Auch Walter Bockemühl, Vorstands

seine sechs Besuche im vergangenen Ok- Vorsitzender der AOK in Rheinland-Pfalz, tober wegen Grippe, vereiterter Mandeln bei der Bauarbeiter Schultheis versichert . und Magenschmerzen verlangt sein Haus- ist, wüsste gern, was die Behandlung arzt 59,66 Euro Honorar. der einzelnen Patienten kostet. Doch der Üblicherweise erfahren die 71 Millionen AOK-Chef hat „keine Ahnung", wofür gesetzlich Krankenversicherten in Deutsch- genau die 2,7 Milliarden Euro ausgegeben land nie, was sie kosten. Schultheis ver- werden, die er in Form von „Kopfpauscha- dankt die Aufklärung einem Modellver- len" quartalsweise für seine 850 000 Versi- such: 100 Kassenärzte in Rheinland-Pfalz cherten an Ärzte und Apotheker über- -»

F

Page 18: Das kranke Gesundheitssystem

weist. Die Abrechnungsstellen der Mediziner - vier Kassen-ärztliche Vereinigungen (KV) und drei Zahnärztliche Vereini-gungen - schicken lediglich pauschalierte Quartalsabrech-nungen. Und das erst Monate nach den erfolgten Behandlun-gen. Nur die Kliniken schreiben für jeden stationär behandelten AOK-Patienten eine genaue Einzelrechnung.

DIE ZWEI KOLOSSE im Ge-sundheitssystem, die Kranken-kassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen, agieren nebeneinander, nicht miteinander. Das sorgt bei Koloss Nr. eins für Ärger. AOK-Chef Bockemühl klagt: „Ich kann nicht in meinem Computer nachsehen, was mit unserem Mitglied passiert ist: Wer und wie viele Ärzte wie oft an ihm herumkuriert haben, was sie gemacht und was ihm verschrieben haben." Die gesammelten Beiträge der Mitglieder verschwinden bei Koloss Nr. zwei wie in einem schwarzen Loch.

Auch Bockemühls 3300 Mitarbeiter sind nicht informiert. Beispielsweise Oliver Koch, einer der vielen AOK-Sozialversiche-rungs-Fachangestellten, „Sofas" genannt. „Von jeder KV bekommen wir nur ein ,Formblatt 3'", sagt er und zeigt ein paar DIN-A4-Seiten: Das ist die aktuelle Ab-rechnung der Kassenärztlichen Vereini-

Der „Einheitliche Bewertungs-

maßstab", die Honorarbibel der Kassenärzte. Für

jede medizinische Leistung gibt es

Punkte, für Punkte gibt es Geld

vom Code A999000 im Passus „Abrechnungsfälle". Daraus geht hervor, dass AOK-Versicherte im vierten Quartal 2001 990897-mal einen Arzt oder einen Psychotherapeuten aufgesucht haben. Koch

erfährt auch noch, wie viele seiner Mitglieder zur Krebsvorsorge, zur Gesundheitsberatung oder zum Impfen gegangen sind, wie oft sie geröntgt, ambulant operiert und zu Hause besucht wurden. Und was das alles unterm Strich kostet. Mehr aber nicht. Bei der Kassenärztlichen Vereinigung in Koblenz gibt es die Daten, die Koch so gern hätte. Was genau hat jeder Arzt an je-dem einzelnen AOK-Patienten getan und dafür in Rechnung gestellt? Doch das Gesetz verbietet den Datenaustausch. Ko-loss II darf Koloss I die Abrechnungen nur fallbezogen, nicht mit dem Namen des Behandelten liefern. Nur wenn sich Patienten über eine Fehlbehandlung beschweren - das passiert 500-mal im lahr -, kann die Kasse schriftlich Detailauskünfte verlangen. Alle Versuche, die Informationsblockade zwischen den Kolossen zu beseitigen, scheiterten bisher am Aufschrei der Weißkittel, die um ihre Therapiehoheit fürchten. Zuletzt erlebte das Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bei der umstrittenen Einführung einer verbesserten Betreuung chronisch Kranker mit Qualitätskontrolle. Dafür hätten die behandelnden Ärzte ihre Behandlungs- und Patientendaten der Kasse offenlegen müssen. Das wollte kei-ner. Was mit der Gefahr des „gläsernen Patienten" begründet wurde. Aber die Patienten wurden gar nicht gefragt.

Die beiden Machtblöcke haben sich wenig zu sagen. Trotzdem empfängt AOK-Chef Bockemühl „acht- bis neunmal im lahr" die Vorstände der Ärztevertre tungen in seiner Direktion zu gepflegten Verhandlungen „in festgefahrenen Bah nen". Dann gibt es Kaffee, Saft, einen idyllischen Ausblick auf den Pfälzer Wald - und wenig zu entscheiden. Mal eine Impfaktion, mal eine neue Präventivmaß nahme oder die Zulassung eines neuen Kassenarztes. „Das könnte auch telefo nisch gehen", meint Bockemühl. -»

Walter Bockemühl, Chef der AOK in Rhein-land-Pfalz, verfügt über viel Geld und wenig Einfluss: „Unsere Spielwiese ist klein"

gung Koblenz. Sie stammt vom vierten Quartal 2001 und gilt als Sammelbeleg für 40,9 Millionen Euro, die von der AOK für diese Zeit an die Kassenärztliche Vereini-gung Koblenz überwiesen wurden. Genau 114,30 Euro für jedes der 357 778 Mitglieder. Koch sitzt im AOK-Hauptquartier im verträumten Eisenberg bei Mainz und bereitet den Zahlenwust im „Formblatt 3" statistisch auf. „Damit man sich ein grobes Bild machen kann." Beispielsweise

Übers Budget wird gar nicht erst verhandelt

Page 19: Das kranke Gesundheitssystem

Über den eigentlichen Knackpunkt, die Höhe des Budgets, reden die Herren nicht miteinander. Warum auch? Das Bundesgesund-heitsministerium legt jedes Jahr für ganz Deutschland nach der Einkommensent-wicklung fest, wie viel Geld im Topf ist. 2001 waren es 138,8 Milliarden Euro, fast vier Prozent mehr als im Jahr zu-vor. Und rund 90 Prozent der Kassenleistungen sind ohne-hin gesetzlich vorgegeben.

„UNSERE SPIELWIESE ist klein", klagt Bockemühl. Er würde gern neue Strukturen einziehen. Statt das Geld „nach dem Gießkannen-prinzip" zu verteilen, möchte er direkte Verträge mit qualifizierten Ärzten und Kliniken schließen. Engagierte Doktoren könnte er dann mit einem Bonus belohnen und auf die Hitliste empfehlenswerter Ärzte setzen. Das darf Bockemühl nicht, weil es unter das Werbeverbot fällt. Er darf seine Versicherten nicht mal vor den intern bekannten schwarzen Schafen der Zunft warnen, auch nicht auf Anfrage.

Obwohl die Kassen so wenig für ihre Mitglieder tun können, verschlingen sie Milliarden. Bockemühls AOK gibt für Per-sonal, Miete und Marketing pro Jahr 137 Millionen Euro aus. Das sind 5,23 Prozent der Gesamtausgaben, umgerechnet 160 Euro pro Mitglied. Bundesweit summier-ten sich im vergangenen Jahr die Verwal-

In der KV Koblenz, die mit 180 Mitarbeitern nahe dem Hauptbahnhof sitzt, hat es schon viel Krach ums Geld gegeben. Rund 433 Millionen Euro von rund 200 Kranken-kassen sind jährlich unter 2355 Ärzte und Psychothera-peuten zu verteilen.

Jede einzelne medizinische Leistung ist im „Einheitlichen Bewertungsmaßstab" (EBM), der kassenärztlichen Hono-rarbibel, festgelegt - nicht in konkreten Geldbeträgen, sondern in Punkten. Eine

Ganzkörperuntersuchung bringt 320 Punkte, eine aus-

führliche Beratung über zehn Minuten 300, ein Hausbesuch 400 Punkte plus Wegegeld und ein Einsatz nach 20 Uhr 300 Punkte Nachtzuschlag. Am meisten Punkte bringt der erste Arztbesuch eines Patienten im Quartal, danach wird's deutlich weniger. Wie viel ein Punkt wert ist, bestimmt die gewählte Vertreterversammlung. In Koblenz halten die Hausärzte traditionell die Mehrheit. Dort be-kommen Allgemeinärzte für jeden Punkt durchschnittlich 5,26 Cent, Fachärzte werden mit 4,09 Cent vergütet. Die Koblenzer stehen mit ihren Punktwerten im Vergleich zu den Kollegen in anderen Kassenärztlichen Vereinigungen noch gut da. In Berlin erhalten zum Beispiel die fachärztlichen Internisten nur 1,77 Cent pro Punkt, die Lungenfachärzte 1,90 Cent.

DAS SYSTEM VERLOCKT zum Tricksen: Besonders fleißige Doktoren rechnen bis zu 14 Arthroskopien (Kniegelenkspiege-lungen) am Tag ab, obwohl ein Orthopäde mit sieben schon gut ausgelastet ist. Ande-re melden regelmäßig bis zu 15 Notfälle pro Nacht. Patienten werden sehr ausführ-lich beraten - zumindest auf dem Papier. Zeitkontrollen der abgerechneten Leistun-gen ergaben, dass manche Weißkittel re-gelmäßig 28 Stunden am Tag kurieren.

Da das Budget gedeckelt ist, schädigen Punktehamsterer nicht die Krankenkasse, sondern ihre Kollegen. Der Ehrliche ist der Dumme. Trotzdem werden Betrügereien selten publik. Denn der Ruf der Zunft steht auf dem Spiel. Nur keine Staatsanwalt-schaft im Haus, heißt das oberste Gebot. -»

Michael Kann, Landarzt im Westerwald und neuer Chef der KV Koblenz, will das ramponierte Image seiner Zunft reparieren

tungsausgaben der 355 Kassen auf 7,6 Milliarden Euro, das ist so viel wie ein Drittel des Arzneimittelbudgets. Oder an-ders gerechnet: 50 Prozent mehr als 1989.

Ulla Schmidt will den Krankenkassen nun mehr Macht geben. Walter Bockemühl findet das richtig. Doch abschaffen soll sie die Kassenärzt-lichen Vereinigungen nicht. „Wir brauchen deren Abrechnungsapparat." Bockemühl würde die Honorare nur ungern selbst unter den Ärzten verteilen. „Das bringt nur Ärger."

Die Verwaltung verschlingt 7,6 Milliarden Euro

Page 20: Das kranke Gesundheitssystem

ERSTE HILFE

Ein bisschen Markt muss sein

Mehr Offenheit und Vertragsfreiheit für die Krankenkassen können Bewegung ins starre Gesundheitssystem bringen. Doch auch die Patienten müssen sich auf weitere Einschnitte gefasst machen. Die Solidargemeinschaft kann nicht mehr alles bezahlen

Leistungen kontrollieren dürfen. Versicherte, die sich nur innerhalb eines solchen Netzes bewegen und Immer zuerst einen Allgemeinarzt aufsuchen, zahlen weniger Beitrag.

Service für die Ärzte, Strafe für die Sünder Die Kassenärztlichen Vereinigungen sollten zu Dienstleistungszentren für Ärzte werden: mit Qualitätskontrollen, Zertifizierung, systemati-scher Weiterbildung (nicht nur im Punktesam-meln) und Sanktionen für die schwarzen Schafe der Branche.

Weniger Bürokratie, mehr Wettbe-werb Der Verwaltungsaufwand der gesetzlichen Kran-kenversicherungen muss gedrosselt werden. An-gesichts von 355 Einzelkassen sollte geprüft werden, wo Fusionen sinnvoll sind. Der Risiko-strukturausgleich zwischen „armen" und „rei-chen" Kassen animiert nicht zum sparsamen Wirtschaften. Krankenkassen brauchen keine Glaspaläste, Designerbüros und weißen Mar-morböden.

Leistungen überprüfen, die Patien-ten in die Pflicht nehmen Die Alterung der Gesellschaft stellt auch die gesetzliche Krankenversicherung vor erhebliche Probleme. Arte Patienten verursachen überpro-portional hohe Kosten, die durch die Versiche-rungsbeiträge der Rentner nicht gedeckt sind. Um diese Belastungen aufzufangen, muss der teils noch üppige Leistungskatalog der Kran-kenkassen für alle weiter abgespeckt werden. Andernfalls müssten die Beiträge noch stärker ansteigen. Eine Rundum-sorglos-Versorgung aus dem Gemeinschaftstopf ist nicht mehr zu bezahlen. So ist fraglich, ob etwa Kuren, Abtrei-bungen ohne medizinische Notwendigkeit, künstliche Befruchtungen, Sterilisationen oder Schlankheits- und Potenzmittel von der Soli-dargemeinschaft zu tragen sind. Auch Risiko-sportler oder Raucher müssen befürchten, stärker an den Folgen ihres Tuns beteiligt zu werden.

So waren auch die Gepflogenheiten bei der Kassenärztlichen Vereinigung Ko-blenz, bis Prüfärzte bei Routinekontrollen Berge von zweifelhaften Rechnungen ent-deckten. Diesmal funktionierte das Vertu-schungssystem nicht. Im November 2000 durchsuchte eine Hundertschaft Polizis-ten das Gebäude der Ärzte-Selbstverwal-tung, durchforstete Schreibtische und zog mit Kisten voller Disketten und Akten wieder ab. Die Presse buchstabierte da-nach „KV" wie „Kriminelle Vereinigung".

Noch laufen die Ermittlungen gegen 60 Ärzte und führende Funktionäre wegen Be-trugs und Vertuschung. Die Prüfärzte wur-den von Kollegen als „Nestbeschmutzer" beschimpft und von ihrem Amt entbunden. Bei einem flogen Steine durchs Fenster.

Und die KV Koblenz bekam einen neu-en Chef- Dr. med. Michael Kann, ein en-gagierter Mitvierziger, der das ramponier-te Image reparieren will. Vormittags küm-mert sich der bärtige Landarzt um seine Patienten in einer kleinen Westerwald-gemeinde. Wenn nachmittags ein Praxis-vertreter die Stellung hält, organisiert Kann in Koblenz Weiterbildungszirkel, Qualitätskontrollen, Gesundheitsförde-rung an Grundschulen und eben die Ho-norarauszahlungen an die Kollegen.

Alles für 4500 Euro Aufwandsentschä-digung monatlich. Das ist vergleichsweise bescheiden. Andere Provinzfürsten der Kassenärztlichen Vereinigungen kassieren richtig ab: Der Ex-Chef der KV von Sach-sen-Anhalt, Klaus Penndorf, bekam neben rund 9000 Euro monatlich noch 800000 Euro Übergangsgeld, das ihm das Landes-sozialministerium schließlich kürzte.

Solche Zuwendungen gehen vom Ein-kommen der niedergelassenen Ärzte ab, die alle Zwangsmitglieder in einer der 23 KVen sind. Den meisten Bundesländern reicht eine solche Körperschaft des öffent-lichen Rechts. Rheinland-Pfalz leistet sich vier. Alle Versuche, die zusammenzule-gen, scheiterten. Dann fielen ja drei Vor-standsriegen weg.

Die Kassenärztliche Bundesvereini-gung (KBV) hat allen Grund, sich um das Image ihrer Zunft zu sorgen. Im Jahr 2000 wurden 17 368 Fälle von Verdacht auf Ab-rechnungsbetrug bekannt und 2001 noch einmal 4695. In diesem Sommer legte die KBV deshalb verschärfte Prüfverfahren vor. Bei der KV in Koblenz wird seitdem jeder der 2,5 bis drei Millionen Honorar-scheine, die von Kassenärzten pro Quartal eingereicht werden, von den Mitarbei-

Mehr Transparenz schärft das Kos-tenbewusstsein Bislang wissen die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung nicht, welche Kosten durch ihre Behandlung entstehen. Patientenquittun-gen, in denen die einzelnen Leistungen aufge-führt sind, können das Kostenbewusstsein stär-ken und Missbrauch durch die Ärzte erschweren. Allerdings führen bessere Informationen allein nicht unbedingt zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den knappen Mitteln. Obligatori-sche Selbstbeteiligungen, etwa eine Zuzahlung von zehn Euro bei jedem Arztbesuch, würden zu-sätzliche Sparanreize schaffen: Nicht mit jedem Schnupfen muss man gleich zum Doktor gehen.

Kassen stärken, Qualität und Spar-samkeit belohnen Die Krankenkassen müssen Einzelverträge mit Praxisgruppen und Kliniken schließen und deren

Die Verwaltungsausgaben der Kassen entsprechen einem Drittel des deutschen Arzneibudgets

Page 21: Das kranke Gesundheitssystem

Gesetzliche Krankenversicherung Seit 1996 können die Mitglieder der gesetzli-chen Krankenversicherung (GKV) beliebig zwi-schen den 355 gesetzlichen Kassen des Systems wechseln. Da deren Leistungen fast identisch sind, lohnt das vor allem wegen teils beträchtli-cher Beitragsdifferenzen, allenfalls noch wegen Unterschieden beim Service und der Erreich-barkeit. Günstige Betriebskrankenkassen (BKK) sind oft nur per Internet und Telefon zu erreichen. Die derzeit billigsten bundesweit vertretenen Kassen verlangen 11,9 (siehe Tabelle), die teu-ersten wie die AOK Bayern, Berlin und Saarland 14,9 Prozent vom Bruttoeinkommen. So lassen sich je nach Verdienst bis zu 1200 Euro pro Jahr sparen. Davon profitiert zur Hälfte der Arbeit-geber, da er den halben Beitragssatz zahlt. Wechseln ist einfach. Man kündigt schriftlich zum Ende des übernächsten Monats - also jetzt im November zum Ende Januar. Nach zwei Wochen muss die Bestätigung der alten Kasse vorliegen. Mit dem Bescheid meldet man sich bei der neuen Kasse an; mitversicherte Famili-enmitglieder wechseln automatisch mit. Jede gesetzliche Kasse muss einen Neuling ohne Ge-sundheitsprüfung aufnehmen. Die Bindungsfrist beträgt für Pflichtversicherte 18 Monate. Die Zweimonatsfrist gilt auch für sie wieder, wenn die Kasse die Beiträge erhöht. Damit ist jeder-zeit zu rechnen. Da werden sparsame Kunden schnell zu Nomaden.

Private Krankenversicherung Wer im nächsten Jahr mehr als 3825 Euro brut-to im Monat verdient, kann in eine private Kran-kenversicherung (PKV) wechseln. Die Privaten locken vor allem junge, gesunde, männliche Singles mit günstigen Prämien und besseren Leistungen. Beim Marktführer DKV zum Beispiel kostet die Police für einen 30-jährigen Mann monatlich 285 Euro, für eine gleich alte Frau 399. Kleinere Private wie die HUK-Coburg bie-ten ähnliche Policen für 234 beziehungsweise 317 Euro an. Es gibt Hunderte verschiedener Ta-rife mit erheblichen Leistungsdifferenzen: Jeder kann sich seinen Tarif maßschneidern lassen. Wie hoch soll die Erstattung bei Zahnersatz sein? Will man Krankentagegeld, im Krankenhaus ein Einzelzimmer, Chefarztbetreuung, weltweiten Ver-sicherungsschutz, Heilpraktikerbehandlung? Ta-rife mit 300 Euro Selbstbeteiligung im Jahr sind monatlich 30 bis 40 Euro billiger. Und wer ein Jahr lang keine Rechnungen einreicht, bekommt ein bis zwei Monatsbeiträge zurück. Für Alleinverdiener mit Familie ist die GKV oft dennoch die bessere Wahl, weil bei den Privaten jedes Familienmitglied extra versichert werden muss. Ältere Wechsler zahlen sehr hohe Prämi-en. Vorerkrankungen kosten Risikoaufschläge. Wer bei den Fragen nach seinem Gesundheits-zustand mogelt, riskiert eine Kündigung. Der Wechsel zwischen Privaten wird teuer, denn in der PKV bildet man mit seinem Beitrag eine Altersrückstellung, die beim Wechsel nicht mit-genommen werden kann. In der PKV steigen die Prämien im Alter oft erheblich. Manche Billigprämien sind Köderangebote, Hitlisten von Versicherungsmaklern nicht unbedingt objektiv. Als gute Privatversicherer ermittelte die Stiftung Warentest unter anderem die HUK-Coburg, Alte Oldenburger, Arag, Debeka, Hallesche-Nationale, LVM und DBV-Winterthur. Sie sucht auf Anfrage auch gegen Gebühr eine individuell passende Versicherung (Stiftung Warentest, Analysen PKV, 10773 Berlin)

Mehr Infas Im Internat www.stlftung-warentest.de Unter „Versicherung + Vorsorge" lässt sich die monatlich aktualisierte Liste aller Beiträge in der GKV kostenpflichtig herunterladen www.stern.de/krankenverslchentng Großes Extra zum Thema Gesundheitswesen

tern der Abteilung Abrechnungsprüfung systematisch kontrolliert.

Alle Abrechnungen laufen im Compu-ter durch eine Prüfsoftware, die den Kon-trolleuren am Bildschirm Ungereimthei-ten mit drei Frage/eichen anzeigt. Das passiert, wenn ein Augenarzt Hühnerau-genbehandlungen abrechnet oder wenn bei einem Patienten drei gebrochene Ell-bogen geschient wurden.

Es erscheinen drei Fragezeichen, wenn auf einem Honorarzettel eine „ausführliche ärztliche Beratung bei nachhaltig lebens-verändernder oder lebensbedrohender Er-krankung" abgerechnet und dem Patienten danach ein Schnupfenspray verschrieben wurde. Oder wenn ein Gynäkologe die EBM-Ziffer 100 - „Mutterschaftsvorsorge" für 1850 Punkte - ankreuzt und gleichzeitig noch eine Ultraschalluntersuchung für 400 Punkte, denn die ist Teil der Vorsorge. „Es mussten folgende Korrekturen vorgenom-men werden..." heißt es dann im standar-disierten Abrechnungsbescheid.

Feinere Tricks fallen seltener auf. Wenn sich etwa die Kollegen in Praxisgemein-schaften gegenseitig ihre Patienten zuschie-ben und jeder noch einmal deren Chipkar-ten durchzieht, bleibt das oft unentdeckt.

Problemfälle landen vor einem Prüfungs-gremium, das paritätisch mit Kassen- und KV-Vertretern besetzt ist. Für Bockemühl eher eine Show von Koloss II: „Wir bekom-men ja nur die in der KV aufbereiteten Zah-len. Das ist, als wenn der TÜV seine Mängel-liste nur der betroffenen Autofirma zeigt, den Käufern aber eine geschönte Bilanz."

Das wollen die Ärztefunktionäre frei-willig auch nicht ändern. „Wer die Daten hat, hat die Macht", sagt der stellvertreten-de KBV-Hauptgeschäftsführer Andreas Köhler. Das System soll bleiben, wie Bis-marck es geschaffen hat. Notfalls schickt die KBV dafür ihre Ärzte auf die Straße und animiert zum Arbeitsboykott.

Um sich bei den Patienten beliebt zu machen, die zumeist mit dem Kürzel „KV" wenig anfangen können, hängt seit neuestem in vielen Praxen ein Werbe plakat der Kassenärztlichen Vereinigung: ein Damen-Po mit einem rosa Pflaster. Darunter der Slogan „Damit Ihnen nichts fehlt, wenn Ihnen etwas fehlt". Die eroti sche Sympathiewerbung kostet allein &n dieses Jahr 2,1 Millionen Euro. Ctfl

Lesen Sie Im nächsten stern: Wie die Pharmaindustrie Kranken-kassen und Patienten schröpft

WELCHE KASSE IST DIE RICHTIGE?

Im Labyrinth des Wettbewerbs

Durch die richtige Wahl der Krankenkasse lässtsich viel Geld sparen. Der Wechsel zu einer privaten Versicherung muss allerdings wohlüberlegt sein

Page 22: Das kranke Gesundheitssystem

DAS GESUNDHEITSWESEN - TEIL 4: DIE PHARMAINDUSTRIE

DIE

PILLEN-ANDREHER

Mit einem Heer von Vertretern und einem

Füllhorn voller Aufmerksamkeiten schaffen es die

Arzneimittelkonzerne, ihre Medikamente in

die Praxen zu bringen - und damit an die

Kranken. 50000 Präparate überschwemmen

den deutschen Markt, viele davon sind

zu teuer oder ganz überflüssig

Von ANIKA GEISLER, HORST GÜNTHEROTH und MARCUS VOGEL (Fotos)

tellen Sie sich vor, es klingelt an voller Tabletten und Dragees, Cremes und Ihrer Tür. Etwa 170-mal im Jahr. Salben in Praxis und Klinik präsentieren. Und jedes Mal ist es ein Staubsau- Immer unterwegs im Dienste der Arznei

gervertreter. Mal versucht er, Ihnen das konzerne. Etwa 15 000 von ihnen ziehen Modell „Ecken-King" anzudrehen, mal Tag für Tag durch die Republik und ma- den neuen „Bodengold" und mal die In- chen allein den rund 120000 niedergelas- novation „Clean Champion". Würden Sie senen Medizinern ihre Aufwartung - eine sich jedes Mal das Gequatsche aufs Neue regelrechte Landplage. Jährlich 20 Miüio- anhören? Ihren Saugerpark bis zum nen Stippvisiten spult das Heer der Pillen- Gehtnichtmehr aufrüsten? Bestimmt Pusher ab - das sind durchschnittlich 170 würden Sie ziemlich bald durchdrehen Besuche pro Doktor, und der Nervensäge die Tür vor der Nase Der aufgeblähte Außendienst rentiert zuschlagen. sich: Pharma ist kerngesund. Konjunktu- Wenn Sie Arzt sind, haben Sie das Prob- rellen Einbrüchen zum Trotz wachsen die lern - mit den Pharmareferenten. Men- Umsätze der profitabelsten Industrie der sehen, die immer lächeln und Köfferchen Welt weiter. Mehr als 21 Milliarden -»

S

Page 23: Das kranke Gesundheitssystem
Page 24: Das kranke Gesundheitssystem

Immerhin soll mit Hilfe der Positivliste und geänderter Zulassungsverfahren das gigantische Angebot von derzeit 50 000 erstattungsfähigen Präparaten auf rund 20000 reduziert werden. Kränker wird dadurch keiner: In Schweden haben Ärzte und Patienten nur die Wahl aus 3500 Arzneien, in Frankreich aus 7700. Eine Radikalkur gegen die deutsche Pillenflut ist das anvisierte Tabletten-Register allerdings nicht. Auch mit ihm wird es für jede Krankheit alles noch x-fach geben, mit nahezu identischen Wirkungen. Auch dann noch werden beispielsweise Dutzende Beta-Blocker und ACE-Hemmer gegen Bluthochdruck sowie ganze Sortimente von Schmerztabletten um die Gunst

von Arzt und Patient konkurrieren. Das treibt die Kosten für Vertriebslogistik, Lagerhaltung und Personal in die Höhe, die dann an den Kunden weitergegeben werden. Dringend muss auch der Dschungel der so genannten Pseudo-Innova- tionen gelichtet werden. Denn Pharma-firmen bringen regelmäßig teure, angeb-lich revolutionär wirkende Medikamente heraus, die sich in Wahrheit nur unwe-sentlich von ihren Vorgängern unter-scheiden. Allein im Jahr 2001 wurden in Deutschland 2496 neue Arzneien zugelas-sen. Oftmals liegt diesen „Neuerungen" kaum Forschungsfortschritt zugrunde. „Fast alle der Wirkstoffe, die jedes Jahr auf den deutschen Markt kommen, sind nur minimale und klinisch irrelevante Veränderungen der alten", sagt Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des Berliner „Arznei-Telegramms", eines pharmakriti-schen Info-Blattes für Ärzte. „In den letz-ten fünf Jahren gab es nicht mal ein hal-bes Dutzend pharmakologische Entwick-lungen, die wirklich relevant waren." Doch alle anderen Neuen sind, sofern pa-tentgeschützt und zugelassen, den weni-gen echten Innovationen gleichgestellt: Der Hersteller legt den Preis fest, die Kasse muss ihn erstatten. Für Mittel, deren Exklusivrecht abgelaufen ist, zahlt die Kasse dagegen deutlich weniger. -»

Euro gaben allein die gesetzli-chen Kassen im vergangenen Jahr für Medikamente aus -vier Milliarden Euro mehr als noch fünf Jahre zuvor und fast ebenso viel wie der Etat des Bundesverteidigungsmi-nisteriums. Erstmals über-stiegen damit die Medika-mentenkosten die Ausgaben der Krankenkassen für Arzt-honorare. DAS SORTIMENT IST RIESIG. Cholesterinsenker und Diabetes-Tabletten, Schmerz-und Hochdruckmittel, Herz- und Magen-Arzneien, Stimmungsauiheller und Ein-schlafpillen, Hämorrhoiden- und Fuß-pilzsalben quellen aus den Regalen, jeweils zigfach. Rund eine Milliarde Schachteln, Tuben und Fläschchen gehen Jahr für Jahr über die Tresen der knapp 22000 Apotheken im Land. So gelang es den Apothekern im vergangenen Jahr, gegen den allgemeinen Trend eine Stei-gerung ihres Einkommens zu erwirt-schaften.

Pharma ist ein undurchsichtiger, über-frachteter Markt, der ausgemistet werden muss, um mehr Klarheit für den ver-schreibenden Doktor zu schaffen und die Beitragszahler zu entlasten. „20 Prozent der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Kassen könnten eingespart werden, ohne dass die medizinische Versorgung leidet", sagt der Heidelberger Pharmakologie-Professor Ulrich Schwabe. „Das macht 4,2 Milliarden Euro im Jahr."

Doch wie können Einsparungen durchgesetzt werden? Vom Sommer 2003

Rund eine Milliarde Arzneien gehen pro Jahr über die Tresen der 22 000 Apotheken an soll in Deutschland eine Arznei-mittel-Positivliste gelten, so jedenfalls will es Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Allerdings mögen viele Ex-perten kaum daran glauben - seit Ewig-keiten geistert die Idee einer solchen Pillen-Bibel durch Politikerhirne und wurde doch nie Realität -zu heftig war der Widerstand der Lobbys.

Die Liste soll die Spreu vom Weizen trennen. Sie ist ein von Spezialisten zu-sammengestelltes Verzeichnis aller Arzneien, deren Nutzen als wis-senschaftlich erwiesen gilt und die künftig einzig noch zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden dür-fen. Auch homöopathische und anthropo-sophische Mittel stehen darauf, müssen aber nicht solch strengen Auswahl-kriterien genügen.

Die Produktion von Pillen und Kapseln läuft

Ein Dschungel aus Pseudo-Innovationen

Page 25: Das kranke Gesundheitssystem

bei der der Arzt lernt, den Namen des Medikamentes zu verinnerlichen und der Patient darauf fixiert wird. Die Ergebnisse der wissenschaftlich zweifelhaften Mini-Befragungen tauchen so gut wie nie in Fachpublikationen auf.

Obendrein schafft es die Phar-maindustrie immer wieder, Pro-fessoren vor ihren Karren zu spannen, die ihre Produkte wis-senschaftlich verbrämt in den Himmel heben. „Die Bereitschaft mancher Honoratioren, bei solch einer Korrumpierung der Wissenschaft mitzumachen, ist haarsträubend", sagt Wolfgang Becker-Brüser. „Als Handlanger der Industrie schädigen diese habilitierten Phar-mareferenten den gesamten ärztlichen Berufsstand." Wie aber kontrolliert die Branche, ob ihre

„Behandlungsmethoden" bei den Ärzten auch die erwünschte Wirkung zeitigen? Dabei hilft ein raffiniertes System: Die Apotheken erfassen alle Rezepte inklusive Angabe des ausstellenden Arztes und leiten die Daten an ein Apotheken-Rechenzentrum weiter, das eigentlich feststellen soll, wie viel die Krankenkasse für die Verordnungen zu zahlen hat. So weit okay. Dann verkauft ^es jedoch die Angaben - anonymisiert natürlich - an Datenhändler.

Aus der Kombination verschiedener, mäßig verschleierter Informationen er-zeugen diese Spezialisten eine Auswer-tung, die sich die Pharmaindustrie viel Geld kosten lässt. Es ermöglicht den Arzneimittelproduzenten, sich quasi online zusammenzureimen, welcher Arzt wann was verordnet. Fertig ist das In-strument zur Kontrolle des Marketing-Erfolgs.

Gegen diese perfekt organisierte Pharma-Connection stemmt sich ein kleine Schar hartnäckiger Kritiker. So informiert beispielsweise das Berliner „Arznei-Telegramm" (Auflage 30 000 Stück) Ärzte monatlich über Sinn und Unsinn von Präparaten und die Machen-schaften der Hersteller. Zudem gibt die Redaktion regelmäßig das „Arzneimittel-kursbuch"* heraus, in dem Medika- -» "Arzneimittel-Verlags-GmbH Berlin, 2464 Seiten, 109 Euro

Hinter mancher vermeintli-chen Wunderwaffe aus dem Labor verbirgt sich lediglich ein generalüberholtes Alt-Konzept. Wenn nämlich Patente bestimm-ter Produkte auslaufen, können sie auch von der Konkurrenz her-gestellt werden. Der Preis verfällt. Also muss brandheiße Ware her: Nur mit einem neuen Mittel für dieselbe Anwendung lässt sich die Marktbeherrschung verteidi-gen und sogar ein noch höherer Preis rechtfertigen.

Und tatsächlich - der Trend geht zum Teuren: Zwar griffen die Ärzte, wie von Gesundheitsministern und Kassen ge-wünscht, immer seltener zum Rezept-block. So ging die Zahl der Verschrei-bungen seit 1992 um 30 Prozent zu-rück. Doch in derselben Zeit wurde das Durchschnittsrezept um 78 Prozent teurer.

MIT GIGANTISCHEM AUFWAND drücken die Firmen ihre Pillen in die Schubladen von Medizinern und Apothekern. Etwa 30 Prozent ihres Umsatzes, über zehn Mil-liarden Euro, investiert die Branche in Marketing und Vertrieb, mehr als dop-pelt so viel wie in Forschung und Entwick-lung. Hauptwaffe: die Schar geschulter und spendabler Vertreter, die Hausbesu-che machen und die Vorzüge ihres Koffer-inhalts preisen; die neben Probepackun-gen allerlei Kugelschreiber und Notizblö-cke mit fettem Produktnamen dalassen und die willigen Opfer zum Lunch aus-führen.

Besonders gut zum Ködern eignen sich auch luxuriöse Reisen. So lud im Sommer

Kein Besuch ohne Mitbringsel: Der Pharma-referent gibt dem Doktor Probepackungen

2000 eine Pharmafirma Rheuma-Ärzte samt Ehegatten an die Cöte d'Azur, dort wurde der Trupp in feinsten Hotels ein-quartiert, mit Besichtigungstouren und Galadiners verwöhnt. Der offizielle An-lass: ein europäischer Rheumakongress. Sehr beliebt sind auch Pseudo-Fortbil-dungen mit Segeltörns oder Einladungen zum Endspiel der Fußball-Weltmeister-schaft.

Ein anderer Dreh der Branche heißt „Anwendungsbeobachtungen". Die Fir-men bitten Ärzte, einer Reihe von Patienten ihr Medikament zu geben und die Wirkung per Fragebogen zu kontrol-lieren - gegen Honorar für den Mehraufwand des Doktors, versteht sich. So ließen sich wissenschaftliche Erkenntnisse über die neue Arznei gewinnen, heucheln die Hersteller. Doch in Wahrheit ist das oft nichts anderes als Produkt-Promotion,

Als Neukreationen aus dem Labor kommen

Professoren vor dem Karren der Industrie

Page 26: Das kranke Gesundheitssystem

Erster Schritt Positivliste Rund 50000 Arzneimittel werden derzeit in

Deutschland von der Kasse erstattet. Diese Zahl muss drastisch reduziert werden, durch die so genannte Positivliste - ein von Experten zusammengestelltes Verzeichnis aller Arzneien, deren Nutzen als wissenschaft-lich erwiesen gilt. Kommt der Entwurf von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt Mitte

nächsten Jahres durch, bleiben etwa 20 000 Medikamente übrig, immer noch mehr als genug - in Schweden zum Beispiel haben Ärzte und Patienten nur die Wahl aus 3500 Arzneien. Dadurch geht es ihnen nicht schlechter.

Zweiter Schritt Billigere Altemativpräparate Viele Arzneistoffe sind in wesentlich billigerer Form erhältlich als unter ihrem angestammten Produktnamen -teilweise um bis zu 70 Prozent. Diese so genannten Generika sind in der Wirkung ebenso gut. Arzt, Apotheker und Patient müssen häufiger als bisher zu diesen Alternativen greifen.

Dritter Schritt Innovationen kritisch hinterfragen Die große Mehrheit der neuen Medikamente, die auf den Markt kommen, sind gar keine echten Neuerungen. Meist handelt es sich um Kreationen der Pharmaindustrie, die sich nur unwesentlich von ihren Vorgängern unterschei-den, aber praktisch ebenso teuer sind („Me-too-Präparate"). Derzeit werden alle neu pa-tentierten Arzneimittel bei der Kassenerstattung gleich behandelt, egal, ob sie große oder marginale Fortschritte in der Therapie bringen. So wird nicht nur der belohnt, der die Medizin voranbringt, sondern auch der Nachahmer. Das muss anders werden. Ärzte und Kranke sollten dieser Marketing-Strategie nicht auf den Leim gehen.

Vierter Schritt Mehrwertsteuer auf Medikamente senken An jedem Arzneimittel verdient der Staat kräftig mit: 16 Pro-zent Mehrwertsteuer werden kassiert, mehr als in beinahe allen übrigen Ländern Europas. Im vergangenen Jahr brachte dies dem Fiskus 2,9 Milliarden Euro ein. Das belastet die

Krankenkassen und damit die Beitragszahler. Der Steuersatz sollte auf sieben Prozent gesenkt werden, wie etwa bei Büchern und Lebensmitteln.

Fünfter Schritt Bessere Pharma-Bildung für Arzte Schon Medizinstudenten sollten lernen, was sie später erwartet: Der zweifelhafte Charakter der „Vielfalt" auf dem deutschen Arzneimittelmarkt muss ihnen klar erläutert werden. Die Mechanismen des Marketing müssen transpa-rent gemacht werden, um künftige Mediziner gegen Beeinflussungsversuche zu immunisie-ren. Viele Ärzte sind nicht in der Lage, wissen-schaftliche Studienergebnisse unabhängig zu interpretieren.

mente für Mediziner und versierte Laien bewertet werden. Am wirksamsten aller-dings wäre wohl, wenn Doktoren schon vor Berufsantritt gegen den „Pharma-Ba-zillus" immunisiert würden. „Die drin-gendste Reform des Medizinstudiums wäre es, Studenten gründlich in der Ab-wehr der Fehlinformationsversuche der Arzneimittelindustrie zu unterrichten", sagt der Bremer Pharmakologie-Professor Peter Schönhöfer.

Immerhin gibt es erste Mitmach-Ansätze in der praktizierenden Medizi-nerschaft: So schreiben viele Ärzte statt des Medikamentennamens nur noch den Wirkstoff aufs Rezept, beispielsweise Acetylsalicylsäure statt Aspirin - in der Hoffnung, dass der Apotheker dann das billigste Präparat heraussucht. Doch auch der ist keineswegs gegen die Verfüh-rungskünste seiner Lieferanten gefeit, die ihm gern verlockende Rabatte für be-stimmte Arzneien gewähren und mit anderen Annehmlichkeiten das Leben versüßen.

UND FALLS DER MARKT nicht artig wach-sen will, lohnt es sich durchaus, ein ganz neues Segment zu eröffnen. So kreiert man neue Krankheiten und gar Epide-mien, um sogleich das passende Mittel pa-rat zu haben. Beispiel: Im Zuge eines Wer-befeldzugs für ein Potenzmittel wurde in einer Anzeige behauptet: „39 Prozent aller Männer, die einen Arzt aufsuchen, haben Erektionsprobleme." So sollte das Steh-problem zur Volkskrankheit aufgebauscht werden. Verschwiegen wurde jedoch, dass es sich bei der Zahl keinesfalls nur um chronische Hänger handelte, sondern dass auch jede Menge einmalige Abschlaffer mitgezählt wurden.

Es lässt sich eben auch noch ein Bat-zen Geld damit verdienen, gesunden Menschen einzureden, sie seien krank.

Mehr Infos bei stern.de www.stern.de/krankenversicherung Großes Extra zum Thema Gesundheitssystem

Auf den folgenden Seiten: Pharma-Manager Stefan Oschmann und Gesundheits-ökonom Karl Lauterbach über den Arzneimittelmarkt und die Schwachstellen des Gesundheitswesens

Wege aus dem Pharma-Sumpf

Milliarden könnten gespart werden, wenn der Arzneimittelmarkt gründlich entrümpelt würde. Fünf Schritte in die richtige Richtung

ERSTE HILFE

Page 27: Das kranke Gesundheitssystem

Teure

Medikamente sparen Kosten im Gesundheitswesen. Das glaubt jedenfalls Stefan Oschmann, Geschäftsführer von MSD, einer Tochter des US-Pharmakonzerns Merck. In Deutschland, sagt er, werde das Geld jedoch für veraltete Arzneimittel verschwendet

Nirgendwo Im deutschen Gesundheitswe-sen steigen die Kosten so rasant wie bei den Arzneimitteln. Zwischen 1994 und 2001 haben sich die Ausgaben für Medika-mente von gut 15 Milliarden Euro auf 21 Milliarden gesteigert. Warum bekommt die Pharmaindustrie so viel mehr Geld? Die älter werdende Bevölkerung braucht mehr und bessere Medikamente. Heute können wir da heilen, wo es vor Jahren keine Hoffnung gegeben hat. Die Kehr-seite ist: Die Qualität in unserem Ge-sundheitswesen hat in den vergangenen 15 Jahren im internationalen Vergleich sehr stark nachgelassen. Würden wir eine Pisa-Studie für das Gesundheitssystem machen, dann kämen wir zu ähnlich katastrophalen Ergebnissen wie bei den Schulen. Selbst im viel geschmähten bri-tischen System erhalten die Patienten eine bessere Versorgung mit modernen Medikamenten. Wir in Deutschland da-gegen verschreiben die ältesten Arznei-mittel in Europa. Lediglich ein Viertel der verwendeten Medikamente sind neue Produkte.

Alte Präparate sind doch billig. Dann müss-ten wir doch eigentlich Geld sparen. Aber die Kosten steigen. Das müsste nicht sein. Generika, also Pro-duktkopien, für deren Originale der Pa-tentschutz abgelaufen ist, sind in Deutsch-land viel teurer als in anderen Ländern. Außerdem leisten wir uns den Luxus, Geld für veraltete, nicht effiziente Arzneimittel auszugeben, die nach EU-Recht gar nicht mehr zulassungsfähig wären. Ich nenne das Voodoo-Medizin. Wenn wir nur die aus dem Katalog nähmen, könnten wir eine Menge Geld sparen. Wir waren ja bei-nahe auf dem Stand eines Entwicklungs-landes. Darum haben wir in den vergange-nen Jahren einen ungeheuren Aufholpro-zess bei innovativen Produkten begonnen, damit wir im internationalen Vergleich den Anschluss nicht völlig verlieren. In dieser Phase steigen die Ausgaben natür-lich im Vergleich zu früher. Dann müssen wir uns auf eine wertere Steigerung der Arzneimittelkosten einstellen? Sie werden verstehen, dass ich daran nichts verkehrt finde. Aber das nützt ja nicht nur der pharmazeutischen Industrie. Bessere Arzneimittel verursachen wo-möglich mehr Kosten für Arzneimittel, aber sie können die Gesamtkosten im Ge-sundheitswesen reduzieren, weil sie zu Einsparungen in anderen Bereichen füh-ren. Sie können Krankheiten verhindern und damit auch spätere Behandlungskos-ten. Und sie können schneller heilen als frühere Methoden. Das spart Arzt- oder Krankenhauskosten. Beides nützt nicht nur dem Patienten, es schont auch die Kassen der Krankenversicherungen. Für die Erforschung neuer Medikamente gibt die Arzneimittelindustrie hierzulande rund 1,8 Milliarden Euro aus. Für die Ver-

marktung Ihrer Produkte jedoch 3,8 Milliarden, mehr als doppelt so viel. Die Kostensteigerung wird also durch Marketing, nicht durch Forschung verursacht. Keine andere Industrie gibt anteilig so viel für Forschung aus wie die pharmazeuti-sche Industrie. Aber noch mehr Investieren sie In Werbung. Und das, obwohl der Patient In der Regel gar nicht entscheidet, welches Produkt von seinem Geld gekauft wird. Das machen die Ärzte für ihn. Also Ist fast ihr gesamtes Marketing auf die Ärzte ausgerichtet, mit kleinen Geschenken und großen Reisen zu Kongressen. Sie werden mich für verrückt erklären, aber ich bin dafür, einen Nobelpreis für Pharmareferenten auszuschreiben. Wir in der forschenden Arzneimittelindustrie sind häufig viel weiter in der Erkenntnis, als es der Durchschnittsarzt sein kann. So wie BMW auch mehr über Antriebstech-nologie weiß als die meisten Kfz-Mechani-ker. Es gibt kaum ein Produkt, das bera-tungsintensiver ist als Arzneimittel. Die Pharmareferenten bringen den medizini-schen Fortschritt aus den Labors über den Arzt an den Patienten. Wir führen gerade einen neuen Cholesterinsenker ein, mit ei-nem ganz neuen Wirkungsmechanismus. Das muss ich dem Arzt erst mal erklären. Warum setzen dann Hersteller von bekann-ten Produkten, die schon seit Jahren ver-wendet werden, besonders stark auf Mar-keting? Das verstehe ich auch nicht. Was das Mar-keting bei Generika soll, warum Generika-Firmen überhaupt einen Außendienst unterhalten, ist mir auch unbegreiflich. Wenn der Arzt nicht mit neuen Erkenntnis-sen, aber mit kleinen Geschenken dazu ge-bracht werden soll, aus einer Vielzahl nahe-zu identischer Präparate für den Patienten ein ganz bestimmtes auszusuchen, dann Ist das doch Korruption. Wir müssen die Misstände, die es hier zweifellos gibt, beseitigen und den Arzt mit Wissenschaft und Medizin überzeugen, nicht mit Zuwendungen. Die Frage ist für mich nicht, machen wir Marketing oder nicht, sondern, wie machen wir es. Ich wäre dafür, wenn es für die Arbeit der Pharmarefenten strikte Regeln gäbe. Glauben sie ernsthaft, dass sich so etwas in Deutschland durchsetzen ließe? Ich bin zuversichtlich, dass wir schon in naher Zukunft zu einem verbindlichen Verhaltenskodex kommen werden.

Oschmann (r.) im Gespräch mit den stern-Redakteuren

Christoph Koch und Walter

Wüllenweber

„ICH NENNE DAS VOODOO-MEDIZIN"

Page 28: Das kranke Gesundheitssystem

s darf nicht sein, dass im deutschen Gesundheitssystem nur vom Geld geredet wird, sodass kurzfristige finanzielle

Engpässe von sehr großen dauerhaften Qualitätsdefiziten ablenken. Zwar muss erreicht werden, dass die Beitragssätze der Krankenkassen nicht mehr von der Konjunktur abhängen. Sie müssen für schlechte Zeiten Reserven aufbauen. Wir geben aber bereits jetzt in Deutschland mehr als unsere europäischen Nachbarn für Gesundheit aus und haben eine schlechtere Versorgung. Es sind radikale Reformen notwendig, sonst ist unser soli-darisches System in wenigen Jahren diskre-ditiert und wird privatisiert, was sich leider nicht wenige wünschen. Meine wichtigsten Forderungen lauten deshalb: • Alle im selben Boot: Beamte, Selbstständige und Politiker sollten in die gesetzlichen Krankenkassen mit einbezogen werden. Ein Gesundheitssystem, in dem sich die Meinungsführer der Gesellschaft nicht mitversichern, macht keinen Sinn. Das ist eine Form der Zwei-Klassen-Medizin, die es sonst in Europa nirgendwo gibt. Ohne diese Meinungsftihrer mit im Boot zu ha-

Karl Lauterbach, Professor für Gesundheits-ökonomie in Köln und Berater der Bundesregierung, bringt seine Vorschläge zur Generalüberholung des Gesund-heitssystems auf den Punkt

ben, kommen die Versicherten gegen die Lobbygruppen im System nicht an. Herr Seehofer denkt, weil er als Privatpatient gut behandelt wurde, gäbe es keine Probleme in der gesetzlichen Krankenversicherung. • Transparenz: Ein Bundesinstitut muss wie eine Art Stiftung Warentest im Ge sundheitswesen Arzneimittel und die wichtigsten Behandlungsmethoden be werten. Dann kann sich jeder Laie über seine Krankheit zuverlässig informieren. Die häufigsten Abweichungen von der op timalen Versorgung in Deutschland sollten klar benannt werden. • Qualitätswettbewerb: Die Kassenärztli chen Vereinigungen haben verhindert, dass Krankenkassen oder Patienten über die Qualität einzelner Ärzte informiert werden. Außerdem bekommen gute und schlechte Ärzte das gleiche Honorar. Die Krankenkassen müssen Ärzte und Klini ken auf der Grundlage ihrer Qualität emp fehlen können. In überversorgten Gebie ten sollten sich Kassen die besten Ärzte aussuchen können. • Schluss mit Masse statt Klasse: Unser Ge sundheitssystem ist geprägt durch zu viele

Leistungen von niedriger Qualität. Wir ha-ben so viele Röntgenuntersuchungen, dass auf ein Drittel verzichtet werden könnte. Die Hälfte der Aufnahmen ist minderwer-tig. Mehr Arztbesuche als in Deutschland gibt es in fast keinem anderen Land, aber der einzelne Arztbesuch dauert nur sechs Minuten. Das Honorarsystem muss so ge-ändert werden, dass es nur noch notwen-dige Behandlungen gibt, die dann mit ho-her Qualität erbracht werden können und auch besser bezahlt werden müssen. • Weniger Bürokratie: Qualitätswettbe werb der Krankenkassen wird deren An zahl von derzeit über 400 deutlich reduzie ren. Nur Daten, die für die Abrechnung und die Qualitätskontrolle notwendig sind, sollten gesammelt werden. Kassen ärztliche Vereinigungen sind eine bürokra tische Hürde zwischen Kasse und Arzt, die Transparenz verhindert und Reformen blockiert. • Mehr Spezialisierung: 75 Prozent der Krankenhäuser, die in Deutschland Pros tatakrebs operieren, haben nicht die opti male Erfahrung. Kleine Abteilungen arbei ten an zu komplizierten Krankheiten. Spe zialisten sollten nicht weiter mit leichten Fällen von Privatpatienten ausgelastet wer den, sondern nur die schweren Fälle be handeln. Sie müssten als Krankenhausärz te ihre Patienten nach der Entlassung auch ambulant weiter betreuen dürfen. • Weniger Scheininnovationen: Kosten steigerungen gehen meist auf Arzneimittel und Therapien zurück, die minimal besser und maximal teurer sind. Die Preise der gesetzlichen Kassen müssen marktgerecht sein, das heißt, dass kleine Verbesserungen auch nur wenig mehr kosten dürfen. • Chronisch Kranke stärken: 80 Prozent der Kosten werden durch 20 Prozent der Versicherten verursacht. Diese, meist chro nisch krank, werden in Deutschland relativ teuer und relativ schlecht versorgt. Sie ster ben bei uns früher als im europäischen Durchschnitt. Durch Schulungen und ei nen hohen Therapiestandard in gezielten Programmen kann hier die größte Reser ve an Lebensqualität gehoben werden. Das Angebot solcher Programme ist die wich tigste Aufgabe der Krankenkassen. • Bündnis für Prävention: Gewerkschaf ten, Arbeitgeber, Kommunen, Ärzte und Krankenkassen haben ein gemeinsames Interesse an Prävention. Der Erfolg der Prävention von heute ist der Gesundheits zustand unserer Bevölkerung von morgen.

„MACHT SCHLUSS MIT MASSE STATT KLASSE"

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