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Das Auge des Todes

Date post: 04-Jan-2017
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Page 1: Das Auge des Todes
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Mac Kinsey�Band 9�

Carter Flynn�

Das Auge des Todes�

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Dean Fisher und John Ravenell stahlen sich auf Umwegen nach Hause.

In einem Kino am Trafalgar Square hatten sie sich die ›Jedi-Ritter‹ angesehen, und jetzt gruselten sie sich.

So leise nahmen auch die Sorgen zu, sie könnten jeder eine Tracht Prügel erwischen, wenn sie sich beim Heimkommen abfangen lie-ßen.

Denn offiziell lagen sie ja im Bett. Wie es sich für Vierzehnjährige und diese Tageszeit eigentlich ge-

hörte. Aber Dean und John hatten fest verabredet, die späte Kinovorstel-

lung zu besuchen. Also waren sie aus dem Fenster geklettert und zur U-Bahn-Station geflitzt.

Für Dean war das relativ einfach gewesen. Seine Familie bewohn-te ein Einfamilienhaus mit Vor- und Hintergarten, Deans Zimmer lag zur ebenen Erde und nach der Seite heraus.

John hatte es schwerer gehabt. Er wohnte ein paar Häuser weiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo die großen Backstein-gebäude begannen.

Aus dem zweiten Stockwerk war er an Mauer und Regenrohr herabgeklettert.

Darin hatte er Übung. Nächtliche Ausflüge kamen bei ihm öfters vor. Allerdings galt er auch als der mutigste Bursche der Klasse, und

erst kürzlich hatte er vor der versammelten Meute einer Mitschüle-rin, die unheimlich eingebildet war, die Röcke hochgehoben und druntergeguckt.

Fast wäre er deswegen von der Schule geflogen. Sein Ruf, ein harter Knochen zu sein, war nach diesem Vorfall

nicht mehr zu erschüttern. Er verstand nämlich auch was von Kung Fu, kannte ein paar Ka-

rateschläge und etliche wirkungsvolle Griffe.

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Bloß seine schulischen Leistungen waren nicht auf der Höhe. Seine Eltern bekümmerte das sehr. Ihn weniger. Er sann pausenlos auf Abenteuer und betrachtete die Schule als

lästige und hinterlistige Einrichtung, nur zu dem Zweck erfunden, ihm die Zeit zu stehlen.

Am Rande eines Lichtkreises unter einer Laterne blieben die zwei Freunde stehen. Argwöhnisch spähten sie in die Straße. Hier wohn-ten sie.

Die Luft schien sauber. Sie zogen sich bis zu den Büschen zurück, die über einen Zaun

hingen. Dean hatte Zigaretten organisiert. Das war seine Idee. Er hatte sie

seiner älteren Schwester gemopst. Die durfte rauchen. Der wurde überhaupt nichts verboten. Sogar einen Freund hatte sie neuer-dings.

Die Freunde wollten noch eine paffen, bevor sie auf verschiede-nen Wegen dem verwaisten Bett zustrebten und nicht wußten, ob sie es auch unangefochten erreichten.

John fummelte Streichhölzer aus der Tasche und gab eine Runde Feuer.

»Verdrischt dich dein Alter, wenn er dich in die Finger kriegt?« erkundigte er sich. »Meiner schon. Der ist überhaupt total sauer. Alles wegen dem blöden Brief, den die Schule geschrieben hat.«

Er klemmte sich weltmännisch die Zigarette in den Mundwinkel. Der Rauch stieg ihm beißend ins linke Auge. Er nahm schnell die Zigarette heraus. Dean ging mit dem Glimmstengel vorsichtiger um. Er probierte

einen Zug und blies den Rauch durch die Nasenlöcher. »Der ist bestimmt noch gar nicht daheim, wie ich den Betrieb ken-

ne«, sagte er. »Am Nachmittag haben sie ihn geholt. Ein dringender Einsatz, habe ich verstanden. Auf 'nem Friedhof,«

»Echt 'n Friedhof? Mann, du spinnst! Auf dem Friedhof brauchen sie doch nicht die Mordkommission.«

»Hat der Fahrer aber gesagt.« Auf seinen Vater ließ Dean nichts

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kommen. Und seines Vaters wegen genoß er ähnlichen Respekt in der Klasse wie John. Wessen Vater arbeitete schließlich bei Scotland Yard? Seiner schon, und er hatte immer was mit Leichen und schweren Verbrechen und anderen spannenden Sachen zu tun.

»Vielleicht ist da 'ne Leiche geklaut worden«, spann John den Fa-den weiter. Er malte sich aus, wie da jemand mit einem Toten unter der Achsel abgehauen war und wie Deans Alter versuchte, den Kerl und die Leiche zu kriegen. »Wenn mein Alter beim Yard wäre, hätte ich schon 'nen Einsatz mitgemacht. Oder zwei. Nimmt er dich nie mit?«

»Nie. Das geht uns nichts an, sagt er. Wir dürfen ihn nicht mal im Yard besuchen. Und anrufen nur, wenn's ganz dringend ist. Wenn Ma mal was beim Einkaufen vergessen hat oder so. Er bringt's dann mit.

John sann weiter nach. »Also, ich würde ihn ganz schön löchern, mich müßte er mitnehmen. Ein einziges Mal wenigstens.«

»Tut er aber nicht. Löchern ist sowieso nicht, sonst flippt er total aus. Und sag nicht Alter. Er mag's nicht, und mir gefällt es auch nicht.«

»Mußt du schon feines Benehmen üben?« spottete John. »Paß auf, deine Leute stecken dich echt noch in so 'ne feine Privatschule. Vielleicht verfrachten sie dich nach Oxford.«

Das waren auch Deans leise Befürchtungen. Gesprochen hatte da-heim zwar noch niemand darüber. Das hieß aber nicht viel. Sein Vater neigte zu sehr plötzlichen Entschlüssen.

»Wäre echt blöd«, meinte er und genehmigte sich wieder einen Zug. »Da könnten wir doch nichts mehr zusammen unternehmen.«

»Jetzt hast du's geschnallt«, lobte John. Dann vollführte er wieder einen Gedankensprung. »Ein Einsatz auf dem Friedhof! Finde ich irre. Quetsch deinen Alten – also deinen Vater mal aus, was los war. Muß ganz schön schaurig gewesen sein.«

Wie er es sagte, drang aus den Büschen hinter ihnen ein seltsames Geräusch. Erst ein Grunzen, dann ein Schlabbern.

Die beiden Freunde standen wie erstarrt.

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Aber nicht lange. Die Erinnerung an die ›Jedi-Ritter‹ und die außerirdischen Lebe-

wesen war ganz frisch. Der heimliche Grusel steckte ihnen noch unter der Haut.

Wie auf ein geheimes Kommando hin machten sie einen Satz weg von den überhängenden Büschen.

Ein überlauter Atemzug aus der Dunkelheit begleitete ihre hasti-ge Reaktion.

»Was ist denn das?« fragte Dean furchtsam. John lauschte. Jetzt war es still. »Weiß auch nicht!« Er überlegte, die Phantasie ging mit ihm

durch. Bei ihm blühte sie ohnehin in allen Farben. »Du, stell dir mal vor, das wäre Jabba, die Weltraumkröte!«

Dieses schaurige Monster hatten sie eben im Kino gesehen. Dean hatte Angst, aber er war Realist. »Du hast sie doch nicht alle drauf! Die Weltraumkröte gibt es

doch nicht wirklich. Ich habe gehört, die hätten sie extra für den Film aus sechshundert Pfund Gummi zusammengepappt.«

John zischte zornig. »Schon, aber stell dir das trotzdem mal vor! Mann, du hast eben keine Ideen.«

Sie machten sich gegenseitig vor, wie mutig sie waren. Oder sein wollten.

Sie übersahen, daß sie Jungen waren. Jetzt krachte es in den Büschen hinter dem Zaun. Dean sauste bis zum Laternenpfahl. Im diesigen Licht sah sein

Gesicht so bleich wie ein Leintuch aus. John verschluckte sich vor Schreck am Zigarettenrauch. Dann

flitzte er auch los. Noch weiter weg als Dean. Furchtsam lauschten die Bengel hinter sich und starrten auf die

Büsche. Dort drin bewegte sich etwas. Dicht beim Zaun. Aber es kam nicht heraus. Nur ein pfeifender Atemzug ließ sich hören. Als John Ravenell sah, daß sich die Situation nicht bedrohlich ent-

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wickelte, kehrte schnell seine alte Keckheit zurück. Er stärkte sich mit zwei hastigen Zügen an der Zigarette und nä-

herte sich wieder den Büschen. Er war so halb entschlossen, dem seltsamen Geräusch auf den Grund zu gehen.

Aus angstgeweiteten Augen beobachtete ihn Dean. »Tu's nicht!« warnte er, als er die Absicht des Freundes erkannte.

»Bestimmt ist es ein böser Hund! Der springt über den Zaun, und dann hat er dich!«

John blieb stehen. Der Einwand von Dean kam ihm gerade recht. So ganz traute er der Sache auch nicht. Aber jetzt sah es wenigstens nicht so aus, als sei er feige.

»Ziemlich große Hunde gibt es ja«, räumte er ein. Und dann hatte er schon wieder eine Idee.

Wenn man einen Hund anknurrte, knurrte der in der Regel zu-rück. Oder er bellte lauthals.

Kaum war John mit dieser Überlegung fertig, ahmte er Hunde-knurren nach.

Dean richtete es die Haare auf. Mit einem gewissen Neid gab er im stillen aber zu, daß John wirklich ein unheimlich mutiger Bur-sche war.

Er getraute sich nicht, in die Büsche hineinzuknurren. Der Zaun war auch gar nicht so hoch, daß sie vor einem streunenden Hund sicher waren.

In den Büschen war es schlagartig still. John gefiel die Sache nicht. Er machte zwei Schritte rückwärts.

Aus den Augenwinkeln sah er den Freund beim Laternenpfahl ste-hen.

»Das ist bestimmt kein Hund«, sagte er gedämpft in Richtung Dean.

»Was dann? Komm, laß uns lieber abhauen.« »Ein Liebespaar vielleicht!« antwortete Dean noch leiser. »Manch-

mal treffen sich hier welche. Die knutschen ganz schön herum. Sol-len wir zugucken?«

»Ist doch langweilig«, behauptete Dean. An solchen Dingen hatte

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er kein Interesse. »Besser, wir flattern jetzt ab in Richtung Bett.« »Spielverderber!« motzte John. Er klemmte den Zigarettenrest ge-

schickt zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand und schnippte die Kippe zielsicher in die Büsche.

Falls sich dort drinnen ein Liebespärchen herumtrieb, würde es sich jetzt bemerkbar machen.

Er erwartete das empörte Gezeter. Statt dessen brach ein wütender Schrei aus den dunklen Büschen,

daß John und Dean das Herz fast in die Hosen absauste. Die Zigarettenkippe flog noch irgendwo herum. Funken stoben

zwischen den Zweigen. John glaubte, einen Mann versehentlich mitten ins Gesicht getrof-

fen zu haben. Nach einer Männerstimme klang das Gebrüll irgend-wie schon.

Aber dann wurde es so laut und so gräßlich, daß ihm doch gewal-tige Zweifel kamen.

So ähnlich brüllten die Filmmonster. John stand wie erstarrt. Mit der Wirkung hatte er nicht gerechnet. Dean stieß sich vom Laternenpfahl ab. Seine Zähne schlugen auf-

einander. Er wollte John eine Warnung zurufen, brachte aber kei-nen Ton heraus.

Deshalb packte er den Freund am Arm. Er wollte ihn von dieser unheimlichen Ecke wegziehen.

Im ungewissen Licht sah er, daß Büsche zerfetzt wurden. Zweige wirbelten herum.

Ein dunkler klobiger Körper bewegte sich näher. Jetzt schien er ein Bein zu heben. Mit einem fürchterlichen Krachen brach der Holzzaun zusam-

men. Ein paar Latten flogen bis zu den beiden entsetzten Freunden her. Dean wurde sogar am Schienbein getroffen. Er stieß einen jap-senden Laut aus.

Die Furcht wurde übermächtig. So schnell konnte er gar nicht mit den Zähnen klappern, wie er sich grauste.

Ein Teil des Zaunes kippte um und knallte auf den Gehsteig.

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Darüber hinweg stieg die dunkle klobige Gestalt. Sie geriet ins Licht der Laterne. Mit einem Schlag war auch bei John aller Mut weg. Aus aufgerissenen Augen stierte er auf die Gestalt. Es war ein Mann. Aber was für einer. Sein Gesicht war direkt unheimlich. Die Schatten, die das von

oben einfallende Laternenlicht darin schuf, ließen es noch schreckli-cher erscheinen.

Es zeigte grausame Züge. Aus dem weit aufgerissenen Mund drangen harte Atemzüge. Als

würde eine alte Dampflokomotive anfahren. Genau so zischte es auch.

Am schlimmsten war das Auge. Der Mann hatte nur ein Auge. Wie ein richtiges Monster. Die beiden Jungens sahen es auf sich gerichtet. Eben noch war es weiß gewesen. Jetzt nahm es eine andere Farbe

an. Es spielte die ganze Skala des Regenbogens durch. Bei Grün blieb die Farbe stehen.

Es war ein milchiger, wässriger Ton. Dabei wurde das Auge immer größer. Als wollte es das Gesicht sprengen und seine Stelle einnehmen. John empfand eine niederträchtige Angst, es ging ihm kein Stück

besser als Dean. Nur verspürte Dean den einzigen Wunsch, fortzulaufen und die-

se entsetzliche Gestalt nicht mehr zu sehen. Deshalb rüttelte er auch wie besessen an Johns Arm, in der er die Finger gekrallt hatte.

John stand wie gebannt. Deans Rüttelei an seinem Arm empfand er als lästig und störend.

Die Phantasie ging schon wieder mit ihm durch. Ein Weltraummonster war der schreckliche Mann auf keinen Fall.

Und besonders monstermäßig sah er auch nicht aus. Jedenfalls stellte sich John Monster anders vor. So richtig schön

zerschnippelt und wieder zusammengenäht, wie er das aus etli-

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chen Frankensteinfilmen kannte. Das Farbspiel im einzigen Auge des Unheimlichen ließ John

schon eher an einen Roboter denken. Für Technik hatte er was übrig. Er verpaßte nach Möglichkeit

auch keinen Roboterfilm. Dieser Kerl unter der Laterne wirkte fast wie ein Roboter auf ihn. Die Bewegungen wirkten ziemlich eckig und ungelenk, fast steif. Mann, dachte John mit stillem Grausen, das könnte so ein

Blechonkel sein! Dauernd wird doch was erfunden. Die haben den Kerl irgendwo zusammengeschraubt, und jetzt ist er ihnen abge-hauen und turnt hier in unserer Straße in den Gärten herum! Ange-nehm sieht er ja nicht aus!

»Laß doch los, Mensch!« fauchte er Dean an und schüttelte wü-tend dessen schmerzhaften Griff ab.

»Weg!« keuchte Dean. »Das Auge – lieber Himmel!« Das gewaltig vergrößerte Auge hatte jetzt eine satte grüne Farbe. John lauschte. Er erwartete, aus der Gestalt ein Surren zu hören.

Als wenn kleine Motoren ansprangen. Oder etwas in der Art. Statt dessen riß der Unheimliche wieder den Mund weit auf. Ge-

rade, als müßte er mühsam nach Luft schnappen. Seine Hände zuckten hoch und griffen zum Hals. Sie zerrten dort

herum. An etwas Unsichtbarem. Als sei ihm etwas um den Hals geschnürt worden, das ihm nicht

genug Atem gab. Teufel auch, schoß es John durch den Sinn, das ist kein Roboter!

Die atmen nicht. Wozu auch? Es sind doch Maschinen! Er wich angstvoll zurück, als sich der Unheimliche in Bewegung

setzte. Die Gestalt kam auf ihn und Dean zu. Mit harten, stampfenden

Schritten. Ein Stück vom umgeworfenen Zaun zersplitterte unter den Fü-

ßen. Rücksichtslos stampfte die Gestalt weiter. Näher, immer näher.

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Plötzlich schleuderte sie die Arme nach vorn. Instinktiv zuckte John zur Seite. Eine Hand traf ihn noch an der Schulter. Der Stoß war so hart und

gewaltig, daß der Junge den Halt verlor und mit Schwung zu Bo-den stürzte.

Er kugelte durch den Lichtkreis und kippte vom Bordstein. Entsetzt schaute er in Richtung des Unheimlichen. Zuerst sah er nur die Füße. Oder die derben Schuhe. Sie stapften

unaufhaltsam heran. Zu ihm. Aus war es mit Johns ganzem Mut. Vorbei mit dem harten Kno-

chen. Er stieß einen gellenden Schrei aus. Und auch Dean schrie aus Leibeskräften. Er flog am ganzen Kör-

per. Denn der Unheimliche stieß fürchterliche Töne aus. Als ob er zor-

nig sei. Dabei stampfte er unbeirrt auf John im Rinnstein zu. Aus seinem schrecklichen Auge zuckte tastend ein grüner Blitz. Der helle Strahl griff ganz knapp über John hinweg und traf die

Fahrbahndecke in der Straßenmitte. Sofort dampfte es dort auf. Im nächsten Augenblick klaffte ein Loch in der Straße. Deans Schrei brach ab. Der Junge glaubte, eine würgende Hand

um seinen Hals zu spüren. Die gemopste Zigarette lag längst ir-gendwo auf dem Gehsteig und verglühte.

Er hatte unaussprechliche Angst. Er fürchtete sich vor dem schrecklichen Monstermann, der die

Straße verdampfen ließ. Und er fürchtete um John. Warum sprang der nicht auf? Der war doch sonst so flink wie ein

Wiesel! Hatte John sich verletzt? War er getroffen? Der Monster-mann hatte ihm ja einen mörderischen Stoß versetzt!

Wenn der Unheimliche noch mal den grünen Blitz aus dem Auge schleuderte, würde er nicht mehr die Straße treffen. Sondern John.

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Jetzt! Einauge blieb stehen und beugte sich etwas nach vorn, um John

besser beäugen zu können. Vom Grauen gepackt schloß Dean die Augen.

*

Ich hatte vielleicht eine Nacht hinter mir! Eine mit einer richtigen Geisterstunde. Aber jetzt waren die Toten, die mein Erzfeind Dracula mit Hilfe

eines bösen Zaubers erweckt hatte, wieder tot und friedlich. Bloß neu bestattet werden mußten die Leichen. Sie lagen nämlich

noch auf den Gräbern vom Brompton-Friedhof herum oder ragten bis zum Bauch aus einem frischen Grabhügel.

Ich hatte die Untoten bezwungen. Mit dem Krif, dem Drei-Klin-gen-Beil, zu dem mir die Hexe Miriam drüben in Wales verholfen hatte.

Endlich verfügte ich über eine gute Waffe und war nicht mehr so sehr darauf angewiesen, zu improvisieren oder Tricks aus dem Är-mel zu schütteln wie ein Kartenkünstler.

Gegen Untote Und Kreaturen von Dracula wirkte der Krif jeden-falls. Gegen wen und was noch alles, das mußte sich zeigen.

Die erweckten Toten hatten zur Geisterstunde aus den Gräben hervorbrechen wollen, nachdem sie im Laufe des Tages schon mehrfach für Entsetzen gesorgt hatten.

Zeugen hatte ich keine haben wollen. Bei der Stadtpolizei und bei Scotland Yard und auch bei meinem Verein zerrissen sie sich schon genug das Maul über mich.

Man schimpfte mich einen Dämonenjäger. Das traf im wesentli-chen sogar die Art meiner Tätigkeit.

Andere Zungen nannten mich spöttisch und hintersinnig anzüg-lich einen Gespensterschreck.

Das machte mir ebenfalls nichts aus. Daß ich aber ganz ernsthaft auch der Zauberei und Hexerei be-

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zichtigt wurde, ging mir entschieden gegen die Ehre. Gut, zugegeben, ich verstand mich aufs Zaubern. Ich konnte eini-

ge Zaubersprüche sprechen. Darauf griff ich aber nur in einem wirklichen Notfall zurück.

Denn es konnte auch voll ins Auge gehen. Ein falsches Wort, eine unbedachte Geste, oder ein Zuschauer – und der Zauberfluch rich-tete sich gegen mich.

Bei solchen Beschwörungen oder Ritualen mußte ich ganz allein sein.

Ich mußte höllisch ein Auge darauf haben, daß sich nicht ein un-gebetener Zuschauer in der Nähe herumdrückte.

Und Hexen? Davon lasse ich lieber die Finger. Das sollen die machen, die wirklich etwas davon verstehen. Mi-

riam zum Beispiel. Sie ist eine Hexe. Und wie sie mir schon zu verstehen gab, ist sie

so an die tausend Jahre alt. Das geht über die Hutschnur so manches Zeitgenossen. Diese

Leute argumentieren, daß niemand tausend Jahre zu leben vermag. Sie kennen eben keine Hexen. Ich kenne Miriam. Ich bin sogar mit ihr befreundet. Meine Freun-

din ist sie jedoch nicht. Das ist ein Unterschied. Der ganz und gar unfriedliche Umgang mit Geschöpfen und

Mächten der Finsternis hat mir bei meinen Kollegen vom Secret Service sogar den wenig schmeichelhaften Ruf eingebracht, ich sei ein Hexenmeister.

Das ist natürlich Unsinn. Ich bin keiner. Inspektor Fisher von Scotland Yard schien indes auch das Gegen-

teil zu glauben. Denn er schaute mich ganz vorsichtig und prüfend und mächtig nachdenklich an, als ich die Lampen einsammelte, die seine Leute für die Geisterstunde aufgestellt hatten.

Fisher war Zeuge gewesen, wie ich die aus den Gräbern aufste-henden Untoten ausgeschaltet hatte.

Einer der Zombies hatte ihn sogar am Hosenbein zu fassen be-

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kommen. Für Fisher war der Zwischenfall glimpflich abgelaufen. Nur der

Schrecken saß ihm noch immer in den Knochen. »Und was werden Sie jetzt tun, Mac?« fragte er. »Dieser ver-

dammte Dracula hat ja noch mehr Steinköpfe in der Vorratskam-mer, wenn ich nicht völlig schwachsinnig bin.«

Mit den Köpfen versteinerter Dämonenmonster hatte Dracula, der Fürst aller Blutsauger, einen schlimmen Streich inszeniert.

Zusammen mit Peter Woods, dem untoten Inspektor von Scot-land Yard, hatte er diese Köpfe in die Särge Verstorbener prakti-ziert. Unmittelbar vor dem Begräbnis.

Mittels eines teuflischen Tricks war es ihm so gelungen, die Toten zu erwecken. Zu untotem Leben selbstverständlich.

Denn Dracula war gezwungen, sich neue Gefolgschaft zu suchen. Deshalb hatte er seine Zombie-Saat ausgelegt. Allein auf dem

Brompton-Friedhof dreizehn Saat-Köpfe. Diese Rechnung hatte ich ihm versalzen. Er verfügte aber immer noch über elf Köpfe. Und London hat eine

Menge Friedhöfe. Deshalb knurrte Fisher auch. Er ahnte dunkel, was auf ihn noch

zukommen konnte. »Wir werden suchen müssen«, sagte ich. »Wir müssen die Augen

aufsperren. Postieren Sie Leute in den Leichenhallen der verschie-denen Friedhöfe. Informieren Sie mich sofort, sobald sich dort et-was Außergewöhnliches abspielt. Dracula wird die ihm verbliebe-nen Steinköpfe einsetzen. Vielleicht noch in dieser Nacht, vielleicht morgen oder erst in einer Woche.«

»Nette Aussichten, Mac, ich finde keine anderen Worte!« sagte Fisher ergrimmt zu mir. »Meine Mutter wollte immer, daß ich Förs-ter werde. In Schottland droben. Sie mochte Schottland sehr. Ich be-dauere, der guten Frau diesen Wunsch nicht erfüllt zu haben. Ich hätte heute ein beschaulicheres Leben.«

Er lamentierte gerne, deshalb hörte ich darüber hinweg. Vielleicht war es bei ihm auch bloß Koketterie. Denn er war ein fabelhafter

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Kriminalist, einer der besten Männer vom Yard, und das wußte er. Zu seinen Berufsplänen, die er nicht verwirklicht hatte, sagte ich

nichts. Ich drückte ihm zwei Lampen in die Hand. Eine behielt ich. Damit leuchtete ich meinen Weg zwischen den Gräbern hindurch

aus. Fisher holte mich mit hastigen Schritten ein. »Sie haben die falsche Richtung erwischt, Mac!« »Eigentlich nicht«, erwiderte ich und wies auf eine mächtige

Bronzestatue. »Ich wollte mich nur überzeugen, ob dieser fallsüch-tige Erzengel wieder auf seinen Sockel gehievt wurde.«

»Erzengel!« Fisher leuchtete die Statue an. Sie zierte die Grablegung einer bekannten Londoner Familie. Ob das Standbild wirklich einen Erzengel darstellte, wußte ich

auch nicht. Vielleicht war es auch ein Heiliger. Die Figur hielt jedenfalls im linken Arm ein Lamm und in der

rechten Hand eine Lanze. Vor geraumer Zeit war ich hinter dem schwarzen Mönch Nekroti-

us hergewesen. Dieser dämonische Bursche hatte am hellen Tag das Bronzestandbild umkippen lassen.

Mir fast aufs Haupt. Der kolossale Erzengel hätte mich beinahe aufgespießt. Und dann

ungespitzt in den Friedhofsboden geschlagen. Einer jungen Frau verdankte ich mein Leben. Sie hatte das Stand-

bild hinter mir wanken sehen und hatte entsetzt die Augen aufge-rissen.

Ihre schreckhafte Reaktion hatte mich blitzschnell handeln lassen. Das war Wochen her. Die Bronzefigur war gerichtet worden, und man hatte sie wieder

auf den Sockel gestellt, wie ich jetzt sah. Deswegen wurden meine Erinnerungen gerade an diesen Fried-

hof aber nicht freundlicher. Er mußte etwas an sich haben, das die Gestalten der Finsternis

und des Schattenreiches magisch anzog. Sogar Dracula und Woods hatten sich hier herumgetrieben.

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Fisher betrachtete mich von der Seite. »Heißt das, Sie geistern gern auf den Friedhöfen herum?«

»Höchst ungern, aber der Job bringt es mit sich.« Ich zeigte noch mal auf die Statue. »Das Ding ist mir kürzlich fast auf die Birne ge-fallen.«

Er schnappte nach Luft. »Und ich habe mich schon gewundert«, sagte er dann, »weshalb

Sie so zielstrebig losmarschiert sind. Ist aber eine ausgefallene Zeit, um einen Kerl zu besuchen, der Sie fast zerschmettert hat. Haben Sie noch andere Hobbies in der Art?«

»Schon, aber die sind nicht halb so gefährlich.« Fisher blieb dennoch skeptisch. Ich leuchtete auch noch mal das Standbild an und wandte mich

zum Gehen. In diesem Augenblick zuckte ich zusammen. Ich spürte etwas. Mittlerweile kannte ich die Ausstrahlung des Bösen. Was ich jetzt spürte, was wie mit spitzen Fingern in mein Gehirn

griff, war böse. Woher die feindselige Strömung kam, konnte ich nicht genau or-

ten. Jedenfalls nicht von der Bronzefigur. Soviel war sicher. Ich hatte auch nicht den Eindruck, daß Fisher oder mir oder uns

beiden unmittelbare Gefahr drohte. Die Ausstrahlung war nicht frisch. Eher so, als hätte sich hier in der Umgebung etwas befunden, das

nur noch seinen Einfluß hinterlassen hatte, selber aber entschwun-den war.

Ich kann das nur mit einem Beispiel erklären. Wenn ein Pfeifenraucher mit dampfendem Tabakkolben durch

ein Haus geht, riecht man den hängengebliebenen Rauch noch, wenn der Verursacher längst gegangen ist.

Das ist natürlich ein hinkendes Beispiel und ein harmloses dazu. Aber so ähnlich spürte ich die zurückgebliebene Ausstrahlung.

Meine ›Gabe‹ sprach an.

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Fisher war ein viel zu erfahrener Kriminalist, um nicht zu mer-ken, daß mit mir etwas war.

Er blieb ebenfalls stehen. Statt dumme Fragen zu stellen leuchtete er erst einmal auf dem Friedhof herum.

Ich hörte sein Aufatmen. Er bezog meine Reaktion natürlich auf Dracula und fürchtete, der Blutsaugerfürst hätte schon wieder et-was gegen uns in Gang gebracht.

Es beruhigte ihn, daß er nichts Verdächtiges sah. »Wenn einer mal das Gruseln lernen will, dann empfehle ich ihm,

mit Ihnen nachts über einen Friedhof zu spazieren«, brummte er mich an.

»Das könnte eine arge Enttäuschung werden«, erwiderte ich. »Denn meine Spaziergänge pflege ich anderswo zu machen. Blei-ben Sie hinter mir.«

»Warum?« »Ich spüre etwas, und ich weiß nicht, was es ist.« »Aha!« In dieses eine Wort legte er alles hinein – daß er kein Wort von

dem glaubte, was ich zuvor gesagt hatte, und daß er mich doch für einen mächtig unheimlichen Burschen hielt.

Ich versuchte die Quelle der bösen Ausstrahlung zu orten. Ich drehte eine Runde, und dann hatte ich die Richtung. Die Gegend war mir noch bekannt. Hier hatte ich unmittelbar nach dem Sturz des bronzenen Erzen-

gels einen jungen Mann gejagt, der mir höchst verdächtig erschie-nen war.

Natürlich war er vor mir ausgerissen. Seine Flucht hatte ein jähes Ende gefunden. Rücklings war er in

ein frisch ausgehobenes Grab gepurzelt. Außer einem Mordsschrecken hatte er keine nennenswerten Be-

schädigungen erlitten. Er hatte sich als ein Deutscher namens Ralf Göpfert entpuppt,

und durch ihn war ich mit Nekrotius in Kontakt gekommen. Damals hatte Göpfert Ausschau nach einem Totenschädel gehal-

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ten. Als Mutprobe und Aufnahmeprüfung in den Zirkel der Suchen-

den, den der verdammte Nekrotius ins Leben gerufen hatte, mußte Göpfert nämlich einen Schädel anschleppen.

Ich hatte ihm einen beschafft. Nicht von diesem Friedhof. Das fiel mir ein, als ich die Gräber im Lichtkegel meiner Hand-

lampe sah. Das Grab, in das Göpfert gestürzt war, enthielt längst einen Sarg

und war geschlossen. Verwelkte Blumen häuften sich auf dem Erd-hügel.

Ein gutes Beispiel dafür, wie vergänglich alles war. Ich spürte die Ausstrahlung stärker. Sie drang aus der übernächsten Grabreihe. Ich schritt zwischen den Ruhestätten hindurch. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Mein Lichtkegel riß ein verwüstetes Grab aus der Dunkelheit. Der Grabstein war umgestürzt. Wo sich das eigentliche Grab befunden hatte, klaffte ein tiefes

Loch im Erdreich. Fauliger Geruch wehte zu mir herauf.

*

»Himmel, laß es nicht wahr sein!« hörte ich Fisher ächzend sagen. »Hört denn das nie auf?«

Ich war ebenfalls ziemlich geschockt. In der anderen Hand hielt ich den Krif. Ich packte den schwarzen

Holzstiel der uralten Waffe fester und trat näher an das verwüstete Grab.

Gespannt leuchtete ich in die Tiefe. Von da kam die Ausstrahlung. Außer dem fauligen Geruch kitzelte mir auch noch der Gestank

von Moder und feuchter Erde die Nase. Aus dem Grab drohte mir keine Gefahr.

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Auf dem Grund des Loches entdeckte ich einen zusammengefaul-ten alten Sarg. Vom Deckel waren nur noch Reste vorhanden.

Diese allerdings lehnten an der Seite. Ich hatte einen ungehinderten Blick in die Totenkiste. Ein Gerippe lag darin. Die Knochenarme waren nicht wie üblich gefaltet. Das wunderte

mich einigermaßen. Und auch der Schädel kam mir unnatürlich weit von den Schlüs-

selbeinen entfernt vor. Neugierig trat ich ans Kopfende des Grabes und leuchtete senk-

recht in die Tiefe. Der Schädel saß gar nicht so auf der Wirbelsäule, wie es sich ge-

hört. Außerdem war der dritte Halswirbel gebrochen. In einer ganz be-

stimmten Art. Fisher leuchtete von der anderen Seite. Es gruselte ihn, ich merkte es ihm an. »Sieht fast aus, als sei dem zu Lebzeiten der Hals mächtig in die

Länge gezogen worden«, vermutete er. »Ganz meine Meinung«, pflichtete ich ihm bei. »Könnte jemand

sein, der am Galgen gehangen hat. Der dritte Wirbel ist gebrochen.«

Als bei uns noch die Todesstrafe galt, wurde mit dem Strang hin-gerichtet. Der Henker mußte es so einrichten, daß der dicke Knoten des Strickes dem Delinquenten beim Sturz durch das Fallbrett einen Wirbel brach und den sofortigen Tod bewirkte.

Die letzte Hinrichtung hatte vor Jahren stattgefunden. Der Tote lag also schon lange hier. Ich vermutete, daß die Hingerichteten dann den Angehörigen

übergeben wurden, die für die Bestattung sorgten. Anders als im Mittelalter, wo solche Tote gleich beim Galgen oder

dicht bei der Friedhofsmauer verscharrt wurden. Nach der damali-gen Meinung durften sie ja nicht in geweihter Erde liegen.

Ich wandte mich dem Grabstein zu. Ich wollte wissen, wer hier

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lag. Ich erlebte eine unangenehme Überraschung. Dort, wo der Name stand, prangte ein Loch im Stein. Es ging

ganz durch. Mit dem Namen war es also nichts. Dafür prägte ich mir den eingemeißelten Todestag ein. Der lag zwölf Jahre zurück. »Fisher, sehen Sie mal nach der Grabnummer«, bat ich den ver-

störten Inspektor. Alle Gräber hatten eine Nummer. Die emaillierten Blechschild-

chen steckten am Fußende im Erdreich. Fisher schob mit der Schuhspitze herausgeschleudertes Erdreich

beiseite. Ich hörte ihn brummen. Er konnte sich gemütlichere Orte als einen nächtlichen Friedhof

und ein aufgerissenes Grab mit einem Gerippe drin vorstellen. Ich auch. Aber hier war etwas Geheimnisvolles passiert, und das war mein

Metier. Auf einem Friedhof brechen ja üblicherweise nicht Gräber auf. Fisher wurde fündig. »Neunhundertdreiundzwanzig, Block D«,

meldete er. »Was wollen Sie damit?« »Ich? Das ist Ihr Job. Stellen Sie fest, wer hier bestattet wurde und

was es mit dem Mann auf sich hatte. Es ist nämlich ein männliches Skelett.«

An der Form und Größe des Beckens kann man diesen Unter-schied leicht feststellen.

»Mit Ihnen zusammenzuarbeiten ist immer wieder eine helle Freude«, sagte Fisher giftig. »Ich war schon viel im Leben, Leichen-forscher noch nicht.«

»Jeder fängt mal an«, munterte ich ihn auf. Ich machte einen auf fröhlich, um einmal über die düstere Situati-

on wegzukommen und zudem den Einfluß des Bösen zu dämpfen, der mir noch immer aus dem aufgerissenen Grab heraus zuströmte.

Aber das war eine trügerische Hoffnung.

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Das Böse war da. Ich spürte es körperlich. Mit dem Grabstein war ich noch nicht fertig. Es ist ja nicht nor-

mal, daß ein Grabstein ein Loch aufweist. Gerade an der Stelle, an der der Name steht.

Ich leuchtete noch einmal drauf. Und da stutzte ich. Das Loch war unregelmäßig. Und nicht etwa mit einem Meißel herausgeklopft, sondern ge-

brannt! Das hatte ich im Leben noch nicht gesehen. Als sei ein unvorstellbar heißer Flammenstrahl auf den Stein ge-

richtet gewesen. Das gibt es. In London hatte vor einiger Zeit eine Bande diese Me-

thode angewendet, um sich Zugang zu Kellertresoren von Banken zu verschaffen.

Mit einer sogenannten Sauerstofflanze hatten sich die Brüder einen Weg durch dicken Beton und zähen Stahl gebrannt.

Aber warum hätte jemand eine sperrige Sauerstofflanze samt den erforderlichen Druckflaschen auf den Brompton-Friedhof schlep-pen sollen, um dann ein Loch in einen Grabstein zu schweißen?

Das ergab keinen vernünftigen Sinn. Zum Ausprobieren einer solchen Apparatur eignete sich auch

jede Garagenwand. »Ist da was?« fragte Fisher und reckte den Hals. »Ein Loch. Mitten in den Stein gebrannt.« »Sein letzter Wille vielleicht.« Fisher war mit dem Phänomen

schnell fertig. Ich nicht. Das Loch sah nämlich recht frisch aus. Ich hörte Gemurmel und schaute mich um. Zwischen den Grabmälern tanzten Lichter heran. Die Polizisten, die Fisher vorsorglich zurückgezogen hatte, such-

ten nach uns. Der Yard-Inspektor ging seinen Leuten entgegen. Er mußte eine

Bewachung der Gräber organisieren. Er hatte auch dafür Sorge zu

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tragen, daß die Toten in der frischen Grabreihe so unauffällig wie möglich noch einmal bestattet wurden.

Sie konnten ja nicht draußen liegen bleiben. Ich war gerade im Begriff, Fisher zu folgen, als ich das Gefühl hat-

te, noch einmal in das Grab blicken zu müssen. Ich empfand es geradezu als Zwang. Mir richtete es die Nackenhaare auf. Der Unterkiefer des Totenschädels bewegte sich! Als würde das Gerippe sprechen. Ich hörte nichts. Der Anblick war aber auch so grausig genug. Jetzt bewegten sich auch noch die Knochenarme. Sie reckten sich zu mir hoch. Und dann machten die Hände eine ganz typische Geste. Die des

Halsumdrehens nämlich! Das Gerippe meinte mich. Sonst war ja niemand mehr da. Es drohte mir. Entschlossen packte ich den Krif fester. Falls es Anstalten traf, sich aus dem morschen Sarg zu erheben

und aus der Grube zu klettern, mußte ich es mit dem Drei-Klingen-Beil besänftigen.

Es klappte aber nur den Unterkiefer herab und wieder hoch. Ich hatte den Eindruck, sein Schädel grinste mich unverschämt

an. Siegessicher. Triumphierend. Im nächsten Moment fielen die hochgereckten Knochenarme zu-

rück, daß es ganz schaurig aus dem Grab klapperte. Der blanke Totenschädel stellte seine Sprechbewegungen ein. Wie von Geisterhand bewegt fielen die fast verfaulten Sargdeckel-

reste an der Wand der Grube um und deckten die Totenkiste und ihren schaurigen Inhalt notdürftig zu.

Ein eiskalter Hauch wehte mich an. Warm war es um diese Zeit auf dem Brompton-Friedhof wahrhaf-

tig nicht, andererseits auch nicht so kalt, daß mir die Zähne zu klappern anfingen.

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Die Kälte zog mir aber doch in die Knochen. Und die Furcht. Der Rest des Bösen verließ das Grab, schwebte empor und trieb

durch die Nacht davon. Die Kälte war typisch dafür. Ich konnte nicht sagen, ob der Krif das Böse vertrieben, hatte. Ich hätte gerne gewußt, wohin es sich jetzt begab. Denn daß ich mich um dieses Phänomen kümmerte, war für mich

ab dieser Sekunde eine ausgemachte Sache.

*

»Lassen Sie die Jungen in Ruhe!« verlangte eine scharfe Männer-stimme aus den Büschen. »Wer sind Sie überhaupt? Warum haben Sie den Zaun ruiniert?«

Dean Fisher riß die angstvoll zugekniffenen Augen auf. Im Rinnstein hob John Ravenell hoffnungsfroh den Kopf. Endlich kam jemand und brachte Hilfe! Zwischen den zerfetzten Büschen leuchtete eine Taschenlampe.

Ein Mann brach sich kraftvoll Bahn. Wo der Zaun niedergerissen war, stockten seine Schritte für einen Moment.

Dann kam er heraus. Ein Bobby! Die beiden Jungen hatten noch nie einen Polizisten so freudig und

erleichtert betrachtet wie diesen. Trotz des schlechten Gewissens wegen der späten Stunde und der

Fragen, die der Bobby bestimmt stellte. Flugs, spekulierte Dean sogar darauf, den Namen seines Vaters

und seine Stellung bei Scotland Yard in die Waagschale zu werfen. Bestimmt war der Bobby dann beeindruckt und wollte lieber nicht so genau wissen, warum sie sich nachts noch auf der Straße herum-drückten.

Wieso der Bobby wie vom Himmel gefallen auftauchte, war ihm sofort klar.

Der Polizist schob Wache.

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Denn das Grundstück mit den überhängenden Büschen gehörte den Copelands.

Der alte Copeland war ein hoher Richter. Mit seiner vielköpfigen Familie bewohnte er das Haus auf dem großen Grundstück.

Der Park und der verwilderte Garten hatten Dean und John und andere Jungen schon immer mächtig gelockt. Sie hätten ihn gerne erkundet.

Sie getrauten sich aber nicht. Denn erstens sollte der alte Copeland ein ziemlich ungemütlicher

Knabe sein. Zweitens pflegte die Sippe keinerlei Umgang mit der Nachbar-

schaft. Und drittens paßte immer ein Polizist auf das Haus auf. Weil An-

schläge irischer Terroristen befürchtet wurden. Richter Copeland hatte ein paar von den Burschen zu saftigen

Strafen verknackt. Dean hatte nur gemeint, das Haus würde bloß tagsüber bewacht.

Es wurde offensichtlich aber auch während der Nacht von der Poli-zei beschützt.

Der Krach, den das Niedertreten des Holzzaunes verursachte, hatte den Bobby vom Haus hergelockt.

Das war Hilfe im rechten Augenblick. Der unheimliche Einäugige war herumgefahren. Jetzt stand er

leicht geduckt. Seine langen Arme hingen herab! John rappelte sich aus dem Rinnstein auf und flitzte neben Dean.

Das blanke Entsetzen stand immer noch in seinem Gesicht. Dean streckte den Arm aus und wies auf den unheimlichen Kerl. »Der war auf dem Grundstück!« stieß er hervor. »In den Büschen!

Wir haben gar nichts getan, aber er kam heraus! Er hat John ge-schlagen. Und dann hat er mit dem Auge – da ist ein Strahl heer-ausgekommen – er hat gebeamt oder so!«

Die Aufregung schnürte Dean fast die Luft ab. Für das, was er beobachtet hatte, fand er nur eine Erklärung aus

den heißgeliebten Science-fiction-Filmen. In denen wurde oft mit

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Strahlen gearbeitet, die dann etwas veränderten. »Nur mit der Ruhe, immer der Reihe nach!« sagte der Bobby und

leuchtete den Einäugigen erst mal mit der Taschenlampe an. »Was hatten Sie auf dem Grundstück zu suchen, he?«

Dean rang nach Atem. Der Polizist machte es vielleicht umständ-lich! Überhaupt sahen die Erwachsenen glasklare Dinge immer un-heimlich kompliziert!

»Der Beamstrahl ist danebengegangen, Sir!« rief er. »Sehen Sie doch nur – er hat ein Loch in die Straße gebrannt!«

»Halt mal den Schnabel, Junge!« forderte der Bobby auf. »Du kannst gleich etwas dazu sagen. Aber bleib bei der Wahrheit. – So, Mann, was wollten Sie hinter dem Zaun?«

Der unheimliche Bursche stand ihm gegenüber. Fünf Schritte trennten die beiden.

Das Auge des gruseligen Mannes begann wieder zu leuchten. Diesmal spielte es nicht alle Farben durch. Es blieb weiß, fast mil-

chig. Dean und John beobachteten atemlos. Merkte der Bobby denn gar nichts? Er mußte doch sehen, daß mit

dem Einäugigen etwas nicht stimmt! Dean schüttelte das Grauen ab. »Vorsicht, Sir!« gellte seine Stimme. »Das Auge – gleich kommt

ein Blitz heraus!« Die Warnung erfolgte zu spät. Der Bobby hatte die Hand gehoben, um eine wütende Bewegung

gegen Dean zu machen. Er wünschte keine Einmischung. Genau in diesem Moment zuckte ein grünlicher Strahl aus dem

milchigen Auge des Unheimlichen. Der Strahl traf den Polizisten auf die Brust.

Ein eigenartiges Leuchten erfaßte sofort den Bobby. Wie in Zeitpupe öffnete er den Mund und stieß einen marker-

schütternden Schrei aus. Dann erstarrte er förmlich. Sein Mund blieb stehen, der Schrei riß ab. Die abwinkende Hand

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verharrte mitten in der Bewegung. Der Unheimliche stieß ein geisterhaftes Kichern aus und trat auf

den Bobby zu. Die langen Arme Schossen vor, die Hände legten sich blitzschnell um den Hals des Polizisten.

Dean und John schrien wie am Spieß. Im Film hatten sie schon manche Grausamkeit gesehen. Aber das

hier war kein Film. Das war Wirklichkeit. Der Unheimliche brachte den Bobby um! Er riß den Oberkörper seines Opfers zu sich herab und nahm den

Polizisten in den Schwitzkasten. Einen Arm klemmte er um den Nacken. Dann bewegte er den Arm mit einem wilden Ruck.

Nur ein einziges Mal. Dean und John hörten ein abscheuliches Knirschen. Die brennende Taschenlampe entfiel der Hand des Polizisten. Die

Finger spreizten sich langsam und blieben dann stehen. Der Unheimliche kicherte wieder. Er hielt den Bobby fest gepackt

und schob ihn vor sich her. Auf den niedergetretenen Zaun zu. Ein Fuß stieß gegen die Taschenlampe und zersplitterte das Glas.

Die Lampe flog durch die Lücke in die Büsche. Die Beine des Polizisten waren haltlos. Sie schrammten über die

Zauntrümmer. In der Lücke blieb der Unheimliche mit seinem leblosen Opfer

stehen und wandte sich um. Für Dean und John gab es kein Halten mehr. Als sie das schreckliche Auge wieder leuchten sahen, liefen sie

um ihr Leben.

*

Im oberen Flur des Copeland-Hauses ging das Licht an. Lordrichter William Copeland trat aus seinem Schlafgemach und

hüllte seine magere Gestalt in einen Hausmantel. Er guckte ver-schlafen und grämlich.

Lärm hatte ihn aus dem leichten Schlummer gerissen. Er schlief

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ohnehin immer miserabel. Seine notorisch schlechte Laune hatte den absoluten Tiefpunkt er-

reicht. Eine Unverschämtheit von irgendwelchen Leuten, zu nachtschla-

fender Zeit vor seinen Haus herumzuschreien und ihn um die ver-diente Ruhe zu bringen!

Warum jagte der Polizist die Leute nicht zum Teufel? Wozu war der Mann denn da? Der sollte ihn und die Familie ja nicht nur be-wachen, sondern überhaupt vor Belästigungen schützen!

»Henry!« rief William Copeland erbost. »Henry, wo stecken Sie denn?«

Es war ein ganzes Ende nach Mitternacht, und Henry, der Butler, schlief natürlich. Die Mitglieder der Familie ebenso.

Darauf nahm Lordrichter Copeland keine Rücksicht. Wenn man ihn schon um den Schlaf brachte, dann sollten die üb-

rigen Hausbewohner nicht selig im Bett liegen! Hinter einer Tür tappten Schritte. »Was ist denn, um Himmels willen?« Lordrichter Copeland erkannte die Stimme seines Sohnes. Sie

klang mächtig verschlafen. »Vor dem Haus brüllen Leute herum! Hört denn außer mir nie-

mand etwas?« wetterte der greise Richter. Die Tür wurde geöffnet, Allan Copeland trat auf den Flur und

blinzelte ins Licht. Sein Gesicht war zerknittert. Er arbeitete bei der Bank von England, und er sagte immer, es sei ein harter Job.

»Schscht!« machte er und fuhr mit den gespreizten Fingern durch das wirre Haar. »Du weckst das ganze Haus! Wer brüllt denn? Ich höre nichts.«

»Wann hörst du schon etwas?« versetzte der Alte grimmig. »Es hat auch jemand um Hilfe gerufen.«

»Dann wird sich der Polizist darum kümmern«, sagte Allan. »Geh schlafen!«

»Wann bekomme ich von dir schon mal einen vernünftigen Vor-schlag zu hören?« sagte Richter Copeland in verletzendem Ton.

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»Zum Teufel, ich kann jetzt nicht mehr schlafen!« Allan seufzte. Sein Vater begann ihn wieder zu terrorisieren. Es

wurde immer schlimmer mit dem Alten. Bevor er zum Gericht fuhr, trampelte er der Familie auf den Nerven herum, und sobald er heimkam, ging es in dieser Tour weiter. Er nörgelte an allem her-um, war griesgrämig und mürrisch und boshaft und mischte sich in alles ein, das ihn nichts anging.

Und wenn er mal Widerworte bekam, wies er immer darauf hin, daß die Sippe ja in seinem Haus wohnte, ganz umsonst, daß er sie sogar ernährte, und wem was nicht passe, der könne auf der Stelle ausziehen. Er weine keinem eine Träne nach.

»Versuche es wenigstens!« empfahl Allan. »Ich hole dir eine Schlaftablette, wenn du möchtest.«

»Schlaftablette!« äffte der Alte nach. »Du warst schon immer ein Schwachkopf! Wecke Henry, er soll nachsehen und den Krach ab-stellen!«

»Wie du willst!« Allan seufzte betont laut und gingen in das unte-re Stockwerk, um den Butler wachzuklopfen.

Im verzweigten Copeland-Haus war alles streng reglementiert. Allan sah sich durchaus imstande, selber vor die Tür zu schauen.

Aber der hartherzige Alte wollte, daß der Butler das machte. Also mußte es so geschehen.

Henry war ein gichtgebeugter alter Mann, der seinen Schlaf red-lich verdiente. Aber er war der Butler.

Und wenn der Richter den Butler brauchte, dann hatte der Butler da zu sein. Auch mitten in der Nacht.

Allan knipste die Treppenhausbeleuchtung an. Oben war noch jemand wach geworden durch die laute Stimme

des Alten. Es hörte sich nach Tante Elaine an. Sie war ins Haus ge-zogen, als sie Witwe wurde, und sie versuchte ständig, das Regi-ment im Haus an sich zu reißen und Hausdame zu spielen und alle zu bevormunden.

Regelmäßig bekam sie mit ihrem Bruder Streit. Jetzt auch wieder.

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»Du bist ein Unmensch, William!« warf sie ihrem Bruder an den Kopf. »Weil vielleicht ein Betrunkener um Hilfe ruft, schreist du wie ein Fuhrknecht herum! Das ist rücksichtslos gegen deine Mit-menschen. Ich bin empört!«

»Zieh doch aus!« versetzte der Richter. »Ich habe dich nie gebe-ten, zu mir zu ziehen. Du hast dich hereingedrängt. Noch ist das mein Haus, liebe Elaine, und ich schreie, so laut ich will und wann ich will, verstanden?«

»Dein Benehmen ist unglaublich!« empörte sich Tante Elaine. »Das eines Fuhrknechtes, ich weiß!« giftete der Richter. Dann

knallte er seine Zimmertür zu. Allan hörte den huschenden Schritt von Tante Elaine und das Ra-

scheln ihres Nachtgewandes. Sie pflegte zur Nacht immer so bau-schige Dinger zu tragen, die sie wie eine riesige rosa Fledermaus aussehen ließ.

Tante Elaine nuschelte etwas und zog sich in ihr Gemach zurück. Der Streit hatte mit Sicherheit die übrigen Mitglieder der Familie

geweckt. Aber die waren klüger und blieben in den Zimmern. Wenn der Alte so laut wurde, war mit ihm nicht gut Kirschen es-

sen. Schön blöd von mir, mich auf dem Flur zu zeigen, dachte Allan.

Er legte den Kopf schräg. Ein grauenhafter Schrei drang an seine Ohren. Eindeutig kam er von draußen. Dann herrschte wieder Stille. Allan überrieselte es eiskalt. Die Launen des Alten zu ertragen war schon eine Belastung, und

die allgegenwärtige Angst vor einem möglichen Attentat strapa-zierte die Nerven zusätzlich. Da wurde man dünnhäutig.

Deshalb trat er ans Flurfenster und starrte hinaus. Der Garten samt Park war dunkel. Jenseits der Büsche zwischen

Haus und Straße brannte die Straßenlampe. Sonst war nichts zu se-hen.

Keine Leute, kein Betrunkener, auch kein Polizist.

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Der wird vielleicht schon losgelaufen sein und die Rüpel beim Wickel nehmen, dachte Allan.

Er setzte seinen Weg fort. Henry mußte geweckt werden, daran führte keine Ausrede vorbei. Sonst führte sich der Alte wie ein wildgewordener Teufel auf.

Das Personal wohnte im Seitentrakt, an den sich die Garagen an-schlossen. Ein schmaler Gang führte dorthin.

Außer Henry standen die Köchin Helen und das Dienstmädchen Su in den Diensten des Richters. Für diese Ehre mußten sie meist bis zum Monatszehnten auf das Gehalt des verflossenen Monats warten. Und wenn sie es bekamen, mußten sie sich noch als Faul-pelze beschimpfen lassen.

Der Alte war nämlich auch geizig bis zur Ausbeutung seiner Mit-menschen.

Nur so lasse sich der Besitz zusammenhalten, pflegte der Alte zu sagen.

Daß ihm das Personal weglief, hatte er nicht zu befürchten. Bei Henry ergab sich diese Überlegung schon gar nicht. Wer

nahm noch einen steinalten krummen Burschen mit verbogenen Fingern in seine Dienste auf? Nicht mal ein Wohltätigkeitsverein.

Helen, die Köchin, hatte auch schon gespürt, daß draußen mittler-weile ein anderer Wind pfiff. Arbeitssuchende Hausangestellte standen Schlange vor den Büros der staatlichen und gewerkschaft-lichen Jobvermittlung.

Wer seine Anstellung hatte, mußte froh sein, nicht zum Heer der Arbeitslosen zu zählen. Dafür mußte er manches in Kauf nehmen. Auch einen alten Richter und seine Launen und Bösartigkeiten.

Mit Su verhielt es sich kein Stück anders. Im Gegensatz zur Kö-chin muckte sie nicht mal auf.

Allan vermutete schon seit längerem, daß sein hoffnungsvoller Sprößling Angus mehr als nur ein Auge auf das Mädchen gewor-fen hatte.

Er hatte sie aber noch nicht zusammen erwischt und konnte nichts beweisen.

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Vielleicht ertrug das Mädchen alle Schikanen des Alten und von Tante Elaine gelassen, um in der Nähe von Angus bleiben zu kön-nen. Unter einem Dach mit ihm.

Argwöhnisch blieb Allan deshalb vor Sus Zimmertür stehen. Lau-schend legte er ein Ohr an die Tür.

Drinnen war es still. Der Lärm von draußen und das Geschrei des Alten waren nicht bis hierher gedrungen. Und Angus schien auch nicht zu dem Mädchen gekrochen zu sein.

Allan tappte weiter und pochte gegen Henrys Tür. Es dauerte eine Weile, bevor der alte Butler öffnete. Er hatte sich

die steife Hemdbrust umgebunden. Über die Pyjamajacke. Und ge-rade zwängte er die Arme in die Ärmel seines altertümlichen Gehrockes.

Wenn Henry überhaupt milde Verwunderung über die Störung seiner Nachtruhe empfand, so zeigte er sie jedenfalls nicht.

»Sir, womit kann ich Ihnen helfen?« fragte er Allan und zog den Gehrock vorne zusammen.

»Der Richter hatte wieder leichten Schlaf und wurde durch Lärm und Stimmen von draußen aus dem Bett getrieben«, sagte Allan. »Er wünscht, daß Sie dem Polizisten Beine machen, Henry. Es tut mir leid, ich weiß, wie spät, beziehungsweise wie früh es ist. Der Polizist soll den Krach abstellen. Wer hat heute eigentlich Dienst?«

Henry fuhr mit der verbogenen Hand durch sein Runzelgesicht. »Bellridge, Sir. Ich habe ihm noch einen Tee gebracht.« »Sehr aufmerksam von Ihnen, Henry, Sie denken eben an alles.

Fragen Sie also Bellridge, was los war, und informieren Sie dann den Richter, sonst hält er das ganze Haus für den Rest der Nacht wach.«

In der ganzen Familie nannten sie den Alten nur den Richter, auch dem Personal gegenüber.

»Wie Sie wünschen, Sir.« Allan blickte demonstrativ auf die Pyjamaröhren von Henry.

»Ziehen Sie sich besser etwas Solides über die Beine. Sie kennen ihn ja.«

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Ein zustimmender Atemzug hob die Brust des alten Mannes. Das war aber auch alles, was er sich gestattete.

»Dann gute Nacht, Henry.« Allan kehrte zurück. Auf dem oberen Flur bewegte er sich ganz leise, um den Alten

nicht auf sich aufmerksam zu machen. Er huschte ins Zimmer und drückte aufatmend die Tür hinter sich

zu. Die Nachttischlampe brannte. Linda war wach und saß mit ange-

zogenen Knien im Bett. Ängstlich blickte sie ihm entgegen. »Was war denn, Liebling?« »Nur Lärm auf der Straße, aber er ist natürlich davon munter ge-

worden. Es ist mit ihm nicht mehr auszuhalten. Schlaf weiter. Hen-ry und der Polizist gehen der Sache nach.«

Allan kroch neben seine Frau ins Bett und knipste die Lampe aus. Draußen im Garten näherte sich das Grauen. Aber davon ahnten Allan und Linda Copeland nichts.

*

Ich hörte Inspektor Fisher seine Leute dirigieren. Das ging mich nichts an. Die Leichen fielen in seinen Zuständigkeitsbereich. Ich war nur noch müde. Seit mehr als dreißig Stunden war ich auf

den Füßen, hatte ein paar hundert Meilen mit dem MG abgerissen, gegen den Schwarzweltdämon Likkat gekämpft und war mit Mi-riam und der kleinen Ginny zum Hexenstein von Llanwellyn hin-aufgeklettert und wieder zurückmarschiert.

Das schlauchte sogar einen Berufsathleten. Ich war nicht mal einer. Wer mich jetzt noch davon abhielt, unter mein Deckbett zu krie-

chen, dem kündigte ich unwiderruflich die Freundschaft. Ich ließ Fisher wissen, daß ich jetzt heimwärts fuhr. Dann trabte

ich zum Hauptportal vom Brompton-Friedhof und mied die Nähe

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aufragender Grabmonumente. Für alle Fälle. Mein Sportwagen stand auf dem Parkplatz inmitten von schwar-

zen Polizeilimousinen. Ein Bobby schob Wache. Argwöhnisch betrachtete er das Drei-Klingen-Beil in meiner lin-

ken Hand, dann die Tasche in meiner rechten, und dann erst mein Gesicht.

»Ah, Sie sind das, Sir!« meinte er hörbar erleichtert. »Wen haben Sie denn erwartet?« Er zog die Achseln hoch und drückte sein Unbehagen aus. »Man

kommt schon auf seltsame Gedanken, Sir.« In diesem Punkt war ich mit ihm einer Meinung. Ich verstaute die Tasche und legte den Krif auf den Beifahrersitz. Als ich durch Laternenlicht fuhr, spiegelte sich die Helligkeit auf

den Eisenklingen. Alle Farben des Regenbogens sprühten auf. Für den Bruchteil einer Sekunde. Dann war es schon vorbei.

An der nächsten Laterne wiederholte sich das Farbspiel nicht. Mochte der Himmel wissen, was es gewesen war. Ich war jedenfalls mächtig stolz auf die Waffe. Und auf das Ver-

trauen, das Miriam in mich setzte. Sie hätte die Existenz dieser uralten Waffe aus der Zeit der Drui-

den auch verschweigen können. Ich war nicht nur stolz, sondern auch mächtig erleichtert. Durch

meine Fahrt nach Wales hatte ich der kleinen Ginny Bishop wahr-scheinlich das Leben gerettet.

Auch Miriam. Denn sie hatte nichts in den Händen gehabt, als Likkat auf der

morgendlichen Wiese herumtobte. Die Sache war für uns alle glimpflich abgelaufen. Ich wollte Abstand gewinnen. Aber zwangsläufig kehrten meine Gedanken immer wieder zu

dem aufgebrochenen Grab mit dem durchlöcherten Stein zurück. Hatte mir Dracula, mein Erzfeind, das eingebrockt? Ich verfügte über kein Argument, das diese Annahme erhärtete

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oder entkräftete. Ich fuhr vielleicht besser, wenn ich diesen Vorfall von Draculas

Zombie-Aussaat trennte. Dann blieben mir böse Überraschungen erspart. Außerdem baute ich auf Fisher. Wie ich den kannte, hatte er in

ein paar Stunden heraus, wer vor zwölf Jahren in dem Grab beige-setzt worden war.

Da hatte ich dann wenigstens ein paar Fakten und konnte darauf aufbauen.

Illusionen machte ich mir nicht. Mit dem Grab hatte es etwas auf sich. Zu deutlich hatte ich die Ausstrahlung des Bösen gespürt. Und auch, als sich der Rest des Bösen davongemacht hatte.

Hinter das Geheimnis kam ich aber nicht mit einem müden Kopf und einem leeren Bauch, zumal beides schlechte Bundesgenossen sind.

Erst mußte eine Mütze voll Schlaf her, dann ein bärenstarkes Frühstück – und dann sah ich weiter, was der Tag mir so bescheren mochte.

Während ich heimwärts schnurrte, klappten mir immer wieder die Augen zu. In immer kürzeren Abständen.

Ich kurbelte das Fenster herunter. Der kühle Fahrtwind half mir. Zu Anfang jedenfalls.

Aber dann zeitigte meine Müdigkeit wieder die bekannten Effek-te.

Um ein Haar brauste ich in das Absperrgitter eines Niederganges zur U-Bahn hinein. Ich stieg voll auf die Bremse.

Als der MG stand, paßte keine Zeitung mehr zwischen Stoßstange und Eisengitter.

Den Rückwärtsgang murkste ich wie ein Anfänger hinein. Das Getriebe bedankte sich mit einem wüsten Krachen. Aber gottlob war kein Zahn ausgebrochen.

Die Wischerblätter hatten auf der Windschutzscheibe Schmier-spuren hinterlassen. Wenn ich unter einer Laterne herfuhr, zuckten die absonderlichsten Lichtreflexe über die Scheibe. Von unten nach

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oben. Meine Konzentration war mangelhaft. Ich bildete mir zeitweise

ein, Lichtgeister würden mir einen Tanz vorführen, um mich einzu-lullen. Damit ich um so sicherer auf das nächste Hindernis knallte und mir den Hals brach.

Oder waren es gesteuerte Imaginationen? Der Schreck munterte mich wieder auf. Teufel auch, daß ich im-

mer wieder an Woods erinnert wurde! Der hatte mich in Finsbury mit einer vorgegaukelten Straßensper-

re fast in eine Baugrube gelockt. Ich paßte jetzt höllisch auf, daß mir nicht wieder ein Mißgeschick

widerfuhr. Meine Lichtgeister waren keine Imaginationen, sondern schlichte

Laternenreflexe. Basta. Irgendwann erreichte ich die heimatlichen Gefilde. Den MG ließ

ich einfach vor der Tür stehen. Als ich mit Krif und Tasche und kleinem Gepäck vor der Haustür

stand und den Schlüssel aus der Tasche fummelte, lösten sich zwei dunkle Gestalten aus dem nachtschwarzen Schatten eines Busches im Vorgarten.

Ich sah sie aus den Augenwinkeln kommen. Sofort dachte ich an Dracula und Woods. Zumindest der Vampir-

fürst wußte, wo ich wohne. Jetzt erreichten sie den Plattenweg, der den Vorgarten teilt. Ihre

Schritte tackten laut. Als sie nahe genug waren, fuhr ich herum und hob den Krif zum

Schlag. Es waren nicht der Vampirfürst und der Untote Inspektor. Ich sah

zwei unbekannte Männer. Das Licht von der nahen Laterne war gut.

Die beiden Burschen starrten auf das seltsame Beil und prallten zurück, als hätte ich gedroht, einen vollen Nachttopf über ihnen auszukippen.

»Handeln Sie sich keinen Ärger ein, Sir!« knurrte der eine. »Ich

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habe eine Waffe!« In der Manteltasche hielt er tatsächlich etwas umklammert. Es

konnte durchaus eine Pistole sein. Oder auch bloß eine Tabakpfeife oder ein Schlüsselbund.

»Ich auch, mein Freund!« gab ich genau so unfreundlich zurück. Der andere musterte mich gründlicher. »Sind Sie Kinsey?« wollte

er dann wissen. »Seit meiner Geburt. Ist das Quiz damit beendet? Ich möchte mei-

ne Ruhe haben!« Er brachte einen Ausweis zum Vorschein. Nach dem war er ein

Detektiv von Scotland Yard. Mit Ausweisen war ich vorsichtig. Meine Freundin Kathleen war

auf einen solchen Ausweis schon hereingefallen. Aber dieser hier war echt.

Der Inhaber sah außerdem auch nicht wie ein Untoter aus. »Sir, wir haben den Auftrag, Sie zu Inspektor Fisher zu bringen«,

teilte er mir mit. »Notfalls geknebelt und gefesselt. Wie wollen Sie es halten?«

Da sollte mich der Affe lausen! Ich kam doch gerade von Fisher. Ich entwickelte einen Verdacht. Die zwei standen vielleicht schon

seit Stunden hier. Vor Miriams Haus hatten mir auch schon Polizis-ten aufgelauert.

Ich schätzte, daß dies eine Idee meines Chefs war. Irgendwo muß-te ich ja auftauchen, sobald ich aus Wales eintrudelte. Die Überle-gung war gar nicht schlecht.

»Wie alt ist denn Ihr Auftrag?« erkundigte ich mich. »Warum?« »Weil ich vor etwas mehr als einer halben Stunde noch mit Fisher

gesprochen habe. Auf dem Brompton-Friedhof. Ein paar von Ihren Kollegen hatten mehr Glück, die erwischten mich am Abend schon in Soho.«

Sie blickten sich an. Der mich mit der geladenen Tabakspfeife in der Manteltasche be-

drohte, sagte wütend: »Kein Mensch sagt einem etwas!

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Zum Teufel mit einem solchen Job!« Sein Kollege versenkte den Ausweis in der Tasche. »Dann ist die

Sache erledigt. Gute Nacht, Sir!« Ich schloß auf und schlüpfte ins Haus. Noch bevor ich oben in meiner Wohnung ankam, hörte ich in der

Nähe einen Motor losröhren. Die zwei Yard-Männer zogen sich wirklich zurück.

Mein Wohnungsschloß hakte. Das wunderte mich, weil es das sonst nicht tat.

Ich betrachtete den Schließzylinder und entdeckte Kratzspuren. Jemand hatte daran herumgebastelt.

Einbrecher! war mein erster Gedanke. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit und nach der anerkannten Versicherungsma-thematik kannst du ja keine Ausnahme sein und ungeschoren da-vonkommen!

Beim vierten Anlauf sprang die Tür endlich auf. Ich war nicht leichtsinnig. Vielleicht hockte einer der Knaben

noch in meiner Wohnhöhle, die meine Freundin Mädchenfalle ge-tauft hatte.

Ich lauschte erst einmal und wartete ab. Mir flog nichts um die Ohren. Ich knipste das Licht an. Mir zog es den Magen hoch und das Herz zusammen. Ich hatte wahrhaftig Besuch gehabt. Aber bestimmt nicht von ge-

wöhnlichen Einbrechern. Denn alles befand sich noch an seinem Platz und war unangetastet – bis auf den schweren Schrank mit Stahlfach, in dem ich meine wenigen Hilfsmittel sonst aufzubewah-ren pflegte.

Diesmal hatte ich sie mit nach Wales genommen. Sie steckten in der Tragetasche.

Die Einbrecher hatten sich die Mühe ganz umsonst gemacht, den Schrank auseinanderzumontieren und das Stahlfach aufzubrechen.

Ich konnte den Halunken nicht absprechen, daß sie mit Sachver-stand und Geschicklichkeit zu Werke gegangen waren.

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Krach hatten sie wahrscheinlich weniger verursacht als ein Kü-chenmixer.

Sie hatten Zeit gehabt. Als hätten sie gewußt, daß ich für einige Zeit von London abwesend war.

Ich schöpfte bösen Verdacht. Aus dem Schreibtisch holte ich Pinsel und Graphitstaub und

durchsichtige Klebefolie. Ich war auf Fingerabdrücke scharf. Meine ungebetenen Besucher hatten einige sehr schöne Prints

hinterlassen. Diese zog ich auf Klebefolie auf und studierte sie durch die Lupe.

Von meiner Müdigkeit war nicht mehr viel vorhanden. Es gelang mir, einige besonders auffällige Abdrücke auszusortie-

ren. Die Pupillen waren ganz typisch aufgequollen. Typisch für einen Toten nämlich.

Unter den Einbrechern war ein Toter gewesen! Oder besser gesagt, ein Untoter. Einen kannte ich. Das war Peter Woods. Er war hier in dieser Wohnung gewesen. Zusammen mit einem

Helfer. Er hatte meine wenigen magischen Hilfsmittel stehlen wollen! Jetzt war ich gewarnt. Der Kerl schreckte vor nichts mehr zurück. Er ging aufs Ganze. Ich legte den Krif unter das Kopfkissen. Ich war auch bereit, aufs

Ganze zu gehen und jedem das wundersame Beil auf den Schädel zu hauen, der ungebeten innerhalb der nächsten fünf bis zehn Stunden in meine Wohnung schlich.

*

Dean Fisher rannte, als seien außer dem unheimlichen Einäugigen auch noch alle Weltraummonster hinter ihm her, die er je im Film gesehen hatte.

Irgendwo vor ihm spurtete John Ravenell. Der Freund hatte nicht

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nur die größte Klappe, sondern auch die längsten Beine. Dean sah ihn schließlich in eine Hofeinfahrt flitzen. Gleich darauf

ertönte von dort das wüste Scheppern einer umstürzenden Müll-tonne.

John mußte sie gerammt haben. Aber das war dessen Sorge allein. Und auch wie er am Regenrohr hinaufkam.

Dean vermied, direkt zu seinem Haus zu laufen. Er sauste durch den Vorgarten des Nachbarn, kroch durch ein Loch in der Hecke und stand mit vier Sätzen unter seinem Fenster.

Von Angst gepeitscht lauschte er hinter sich. Er hörte nur seine eigenen pfeifenden Atemzüge, aber keine

Schritte. Der entsetzliche Einäugige kam nicht. Dean spürte ungeheure Erleichterung. Er wartete, bis er halbwegs

wieder bei Puste war, drückte dann das angelehnte Fenster auf und schwang sich ins Zimmer.

Soweit er von der Seite gesehen hatte, war das Haus dunkel. Das bedeutete, daß alles schlief und niemand seinen unerlaubten Aus-flug entdeckt hatte.

Dennoch huschte er in der Dunkelheit zur Tür und lauschte am Holz.

Es war alles ruhig. Er kehrte zum Fenster zurück, schloß es ordentlich, zog sich aus

und tappte zu seinem Bett. Im nächsten Moment schrie er auf. Er war gegen jemand gestoßen, der auf seinem Bett saß! Das Herz blieb ihm fast stehen. Grausige Horrorvisionen suchten ihn heim. Der Einäugige war

ihm zuvorgekommen! Der Kerl war vor ihm ins Haus gelangt und hatte seelenruhig auf ihn gewartet!

»Schrei nur noch lauter!« sagte eine ärgerliche und etwas erschro-ckene Stimme. Im nächsten Moment wurde die Leselampe über dem Bett eingeschaltet.

Deans Schwester Maud saß auf der Bettkante. Angezogen, mit et-was zerwühlter Frisur und mit ihrer Umhängetasche auf den Kni-

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en. Die Tasche war offen. »Du kannst einem vielleicht auf den Nerv gehen!« keuchte Dean

und spürte seinen jagenden Herzschlag bis zum Kopf hinauf. »Spinnst du, oder warum hockst du ohne Licht in meinem Zimmer herum?«

»Du kannst von Glück reden, daß Dad noch nicht daheim ist.« Seine Schwester schlug einen drohenden Ton an. Sie zeigte in ihre Tasche. »Wo sind meine Zigaretten? Du hast geraucht, das rieche ich. Also her mit ihnen. Oder ich sage es Dad.«

»Alte Petze!« Mißmutig rückte Dean die Schachtel heraus, die er gemopst hatte. »Du sagst ihm gar nichts, klar? Wegen zwei Zigaret-ten regst du dich künstlich auf! Schau lieber mal in den Spiegel.«

»Ich? Warum?« »Weil du einen Knutschfleck am Hals hast. Wenn du Dad nichts

von den Zigaretten sagst, sage ich ihm nichts von dem Fleck.« Erschrocken griff Maud zum Hals. Genau an die richtige Stelle.

Sie wußte schon, was gemeint war. Dann wurde sie rot. Dean grinste dünn. Das ärgerte sie. »Von den Zigaretten sage ich nichts. Aber daß du heimlich aus

dem Fenster gestiegen und spät heimgekommen bist, erfährt er.« »Du bist ja auch erst kurz vor mir eingetrudelt«, muckte Dean

auf. »Erzähl mir doch nicht, du hättest die halbe Nacht auf meinem Bett gehockt und auf deine blöden Zigaretten gewartet! Wir sagen gar nichts, abgemacht? Jeder hält den Mund,«

»Hast du was zu verbergen?« fragte Maud mißtrauisch. »Wie siehst du überhaupt aus? Leichenblaß! Und gerannt bist du auch wie toll!«

»Das wärst du auch! Stell dir mal vor, wir haben ein Monster ge-sehen – ganz echt, mit einem Auge bloß. Und es hat Blitze draus geschleudert und…«

Maud blickte den Bruder unwillig an. »Bist du wieder in einem deiner Schauerfilme gewesen? Was heißt wir? Wen hast du dabei gehabt?«

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»John. Du, es ist nicht gelogen…« »Das hätte ich mir denken können. Der übt keinen guten Einfluß

auf dich aus. Such dir anderen Umgang. Es war doch seine Idee, aus dem Fenster zu klettern, oder?«

»Meine!« Jetzt wurde Dean bockig. »Willst du's nun wissen oder nicht? Dauernd redest du mir dazwischen. Klar, wir waren in ei-nem Film in der City. Die Jedi-Ritter. Sind irre stark, die mußt du dir auch ansehen. Als wir dann bei den Copelands vorbeikamen, ist ein einäugiger Gruselkerl aus den Büschen gestapft. Sogar den Zaun hat er hingemacht. Er hat John geschlagen, und dann ist ein Blitz aus seinem Auge gefahren, und hinter John hat die Straße ge-dampft und ein Loch war dort. Glaubst du nicht, was? Dann schau es dir doch an!«

»Dean, du lügst! Der Film hat dich aufgeregt. Schlaf jetzt, und wir vergessen die Sache.« Maud stand auf.

In der Ferne schepperte es in diesem Moment. »Das Loch, siehst du! Jetzt ist ein Auto reingefahren!« trumpfte

Dean auf. Dann überrieselte es ihn kalt. »Und der Kerl hat auch einen Polizisten gepackt. Ich glaube, er hat ihn umgebracht.«

»Dean!« »Großes Ehrenwort! Du kannst ja John fragen, wenn du mir nicht

glaubst. Er hat ihn in die Büsche geschleppt.« »John?« »O Mann, den Polizisten! Ich… Mist, jetzt sind wir dran!« Zu spät hatte er das Geräusch eines näherkommenden Fahrzeu-

ges gehört. Gerade hielt es draußen. Eine Tür klappte zu. Inspektor Fisher kam heim. Und in seinem Zimmer brannte Licht! Das konnte nicht gutgehen. Dean flitzte ins Bett, und Maud versuchte noch, ihr Zimmer zu er-

reichen. Sie lief ihrem Vater geradewegs in die Arme. Fisher betrachtete sie. »Muß ich dich daran erinnern, daß du erst

siebzehn bist? Wir lassen dir deine Freiheiten, aber was zuviel ist, ist zuviel! Wir reden beim Frühstück darüber. Hast du Dean ge-

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weckt? Bei ihm brennt Licht.« Maud schwieg verstockt. Fisher spürte, daß etwas faul war. »Geh auf dein Zimmer!« verlangte er. Und dann suchte er Dean

auf. Sein Sprößling mimte die schlafende Unschuld, aber Fisher kann-

te die Tricks. Und er roch den dezenten Rauchgeruch. Schnuppernd beugte er sich über Dean und wußte Bescheid. Der

Griff zur Leselampe über dem Bett war Routine. Die Lampe war warm.

»Also geraucht und gelesen!« sagte er erbost. »Ich werde mir eine geeignete Strafe ausdenken.« Sein Blick fiel auf Deans malerisch ge-häufte Kleidung am Boden, auf die schmutzigen Schuhe und auf eine frische Erdspur vom Fenster zur Tür. »Was ist denn das?«

Er prüfte die Erde, und die Galle kam ihm hoch. Er verfolgte die Spur bis unters Fenster, fand Erdkrümel auf dem

Fensterbrett, öffnete einen Flügel und leuchtete mit dem Feuerzeug hinaus.

Im Beet prangten Schuhabdrücke. Mit der Spitze zum Haus. Der Fall war klar. Sein Sohn war unerlaubt unterwegs gewesen und vor kurzem erst

heimgekommen. Die Erde im Zimmer war noch nicht trocken! Vielleicht war auch Maud dabeigewesen. Hinter seinem Rücken geschahen ja unerhörte Dinge. Er verspürte den heißen Wunsch, die Erziehung des Jungen mit

anderen Mitteln fortzusetzen, nämlich Dean eine zu kleben. Er bezähmte den Wunsch. Er setzte sich auf die Bettkante. »Du bist also auf Achse gewesen! Komm, stell dich nicht schla-

fend, ich weiß, was los ist!« Dean öffnete blinzelnd die Augen. Und dann brach es aus dem Jungen heraus. Wie ein Wasserfall

sprudelten die Worte. Fisher senior brachte Ordnung in das Durcheinander. »Also im

Kino warst du. Mit diesem John. Hm, und warum gerade so spät?« »Weil's verboten ist«, bekannte Dean ehrlich.

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»Und das Verbot hat euch natürlich gereizt.« Fisher senior nickte. »Alles schön und gut, aber deswegen brauchst du nicht zu flun-kern. Den unheimlichen Einäugigen hast du doch erfunden!«

Das war ein schwerer Vorwurf. Den ließ Dean nicht auf sich sit-zen. Er richtete sich auf.

»Es war aber genauso, wie ich gesagt habe. Du glaubst mir doch, nicht wahr? Maud hat gesagt, ich lüge! Die Weiber haben ja von nichts eine Ahnung.«

»Darüber unterhalten wir uns nicht, sondern über deine unglaub-liche Geschichte.« Inspektor Fisher spürte, daß an der haarigen Ge-schichte doch mehr dran war, als es auf den ersten Blick aussah.

Deans Reaktionen waren untypisch für einen ertappten Lügner. Der Junge steigerte sich förmlich in seine Geschichte hinein.

»Also noch einmal – der unheimliche Bursche hat also den Poli-zisten fortgeschleppt?«

»Der war bestimmt tot!« Dean nickte aufgeregt. »Wohin hat er ihn geschleppt?« »In die Büsche, weil doch der Zaun hin ist. Aber was er dann mit

ihm gemacht hat, weiß ich nicht. Es war dort zu dunkel, und wir haben solche Angst gehabt, daß wir besser eine Sause hinlegten.«

Bei dieser Schilderung begann Dean wieder am ganzen Körper zu fliegen. Seine Atemstöße kamen keuchend, seine Augen weiteten sich.

In diesen Augen sah Inspektor Fisher das durchlebte Entsetzen. »Das klingt ja alles mächtig gruselig«, räumte er ein. Er war so

halb bereit, Dean zu glauben, aber eben nicht ganz. Sein inneres Gefieder sträubte sich noch. Zwanzig Berufsjahre beim Yard hatten seinen Glauben an das

Gute im Menschen restlos vernichtet. Hatte er nicht Kerle zur Vernehmung vor dem Schreibtisch sitzen

gehabt, gegen die unwiderlegbare Beweise vorhanden waren samt astreinen Zeugenaussagen, und die ihm dennoch treuherzig versi-cherten, die Anschuldigung müßte ein glatter Irrtum sein? Oder so-gar böswillige Verleumdung.

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Und die dann doch als Totschläger, Giftmischer, Mörder oder be-zahlte Killer entlarvt wurden.

»Fassen wir zusammen – ein einäugiger Mann rumort in den Bü-schen, einfach so, tritt den Zaun kaputt, kommt heraus und schlägt deinen Freund John in den Rinnstein…«

»Die Zigarette, Dad!« unterbrach Dean aufgeregt. »Die hat ihn ge-troffen, da wurde er knallwütend! Und er war ein Monster und kein Mann! Ein Monster mit einem Auge!«

»… und er schleudert aus eben diesem Auge einen grünen Blitz, verfehlt John und brennt dafür ein Loch in die Straße«, fuhr der In-spektor unbeirrt fort. »Dann mischt sich auch noch der Polizist ein, der bei den Copelands postiert ist, und nach deinen Worten bringt der Einäugige ihn um. Du strapazierst meine Gutgläubigkeit in ho-hem Maße. Aber ich werde mich dort umsehen. Jetzt gleich.«

Dean schwang schon die Beine aus dem Bett. »Ich komme mit!« erklärte er seinem Vater kategorisch. Inspektor Fisher schob ihm sofort die Beine unter das Deckbett

zurück. »Das könnte dir so gefallen! Es genügt, wenn sich einer aus der Familie blamiert.«

»Dann glaubst du mir also nicht?« Die Enttäuschung ließ Dean fast weinen.

»Mit dem Glauben kommt man im Polizeidienst nicht sehr weit. Beweise müssen her, weil nur sie zählen.« Inspektor Fisher stand auf und knöpfte den leichten Sommermantel wieder zu. »Auf der Straße existiert wirklich ein Loch. Der Fahrer, der mich hergebracht hat, ist mit dem Wagen reingekracht. Passiert ist nichts, aber er war ganz schön wütend.«

Dean war schon wieder halb versöhnt mit der Welt. »Dad«, sagte er wichtig, »und kein Wort zu Johns Eltern, klar?« »Wieso nicht?« »Sonst fliegt John doch auf. Und dann muß er doch denken, ich

hätte ihn verpfiffen.« Der Inspektor seufzte verhalten. Der Junge hatte vielleicht Sor-

gen!

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»Ich werde mir etwas einfallen lassen«, versprach er, knipste die Leselampe aus und verließ das Zimmer.

In der Wohndiele blieb er überlegend stehen. Im Grunde genommen war es ja eine wüste Geschichte, die er

eben gehört hatte. Aber das Loch in der Straße war eine Tatsache. Entschlossen trat Fisher aus dem Haus. Die Straße hinauf war keine Weltreise, und er vergab sich nichts,

wenn er sich am Copeland-Anwesen einmal umschaute. Rechtschaffen müde war er zwar, aber die grauenhafte Geister-

stunde mit Kinsey auf dem Friedhof, die Entdeckung des aufgebro-chenen Grabes mit dem Skelett und dem durchlöcherten Stein und Deans wirre Geschichte hatten ihn innerlich aufgewühlt.

Wahrscheinlich kam nichts dabei heraus, immerhin konnte er sich bei dem Gang aber abreagieren. Und er konnte Dean am Morgen seine Hirngespinste ausreden.

Irgendwie beschlich ihn aber doch ein Gefühl des Unbehagens, als er sich dem Anwesen des alten grantigen Lordrichters näherte.

Im Haus waren drei Fenster erhellt. Fisher spähte scharf hinüber. Zuerst entdeckte er den Polizisten, der vor der Haustür stand. Er wünschte, er hätte Dean doch eine geklebt. Er machte sich gar nicht bemerkbar, sondern pirschte am Torgat-

ter vorbei und fixierte aufmerksam den Zaun, über den die Büsche wuchsen.

Sein Unmut nahm zu. Von einem kaputten Zaun sah er nicht die Bohne. Es gab auch

keine Lücke. Der Zaun war auf seiner vollen Länge erhalten. Fisher wollte nicht vorschnell und ungerecht sein. Er bog in die

Seitenstraße ein und schritt auch hier den Zaun ab. Dean konnte sich ja geirrt haben. Doch auch hier erspähte Fisher kein umgebro-chenes Zaunstück.

Ordentlich wütend kehrte er zurück. Da blieb nur das Loch in der Straße übrig.

Er untersuchte es. Es war handtief, fast kreisrund und hatte einen

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Durchmesser von ungefähr einem halben Yard. Für einen Achsbruch reichte das. Ein Wunder fast, daß nicht mehr Fahrzeuge hineingesaust waren. Allerdings schien es frisch zu sein. Denn die üblichen herausge-

schleuderten Steine, wie sie um Löcher herumlagen, die sich all-mählich durch Radschlag gebildet hatten, vermißte der Inspektor.

Er nahm sich vor, gleich noch die zuständige Wache zu verständi-gen.

Mit ein paar Schaufeln Bitumen war der Schaden schnell beho-ben. Das konnte aber noch in der Nacht geschehen.

Er klopfte die Hände ab und musterte noch einmal die Büsche. Nur eine Straßenlaterne spendete hier Licht. Die Helligkeitsver-

hältnisse waren ungünstig. Für zwei Jungen mit blühender Phantasie, die gerade aus einem

Weltraumfilm kamen und denen das schlechte Gewissen und die Angst vor dem Erwischtwerden beim Heimkommen im Nacken saß, konnte ein ganz harmloser Passant schon zu einem unheimli-chen Kerl werden.

Fisher war indes sauer, weil er auf die Schauergeschichte herein-gefallen war.

Auf dem Rückweg ließ er Dampf ab. Zu Deans Glück fiel ihm ein, daß er ebenfalls kein Musterknabe

gewesen war und sein Vater ihm prophezeit hatte, er werde am Bettelstab enden oder in der Fremde verkommen, was ungefähr dasselbe war.

Wenn er's richtig betrachtete, konnte er Dean nicht viel vorwer-fen.

Aber Erziehung mußte sein. Und eine angemessene Strafe für die faustdicke Flunkergeschich-

te auch. Fisher betrat das Haus leise. Er hoffte, daß Maud und Dean in-

zwischen schliefen. Vom Apparat in seiner kleinen Bibliothek aus rief er die Wache an

und meldete den Straßenschaden als Verkehrsgefährdung.

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Der wachhabende Sergeant sicherte ihm zu, die Sache sofort wei-terzugeben.

Fisher seufzte. Das kannte er. Vielleicht war das Loch in einer Woche noch nicht geflickt. Jetzt mußte nämlich erst einmal die Ver-waltung in Schwung kommen.

*

Henry schlurfte durch die Eingangshalle des respektablen Wohnsit-zes.

Er wunderte sich über gar nichts mehr. Am wenigsten über den Lordrichter. Und höchstens noch ganz sacht über die Familie, weil sie sich von

dem alten Herrn nahezu alles gefallen ließ. Dabei war Seine Ehren der Lordrichter früher ein ganz umgängli-

cher Mann gewesen, den das Personal mochte. Irgendwann war es damit vorbei gewesen. Da hatte er sich im Wesen verändert, war bissig, grimmig, unge-

recht und nachtragend geworden. Das hatte sich immer weiter entwickelt. Mittlerweile waren Seine

Ehren bösartig und streitsüchtig. Das war Henrys ganz ureigene und streng private Meinung. Offiziell hatte er keine. Ein Butler hatte sich nicht Meinungen zu bilden, sondern zu ar-

beiten und die ihm auferlegten Pflichten gewissenhaft zu erfüllen. Als Butler hörte Henry so manches im Hause. Die Veränderung im Wesen des Richters war auch anderen nicht

verborgen geblieben, und die Familie und Besucher, die anfangs noch ins Haus kamen, hatten sich laut Gedanken darüber gemacht.

Zwangsläufig war ihm so manches zu Ohren gekommen. Jemand hatte mal behauptet, seit die Todesstrafe abgeschafft sei

und der Henker von London Arbeitslosenunterstützung beziehe, sei Seine Ehren so verwandelt.

Und ein anderes Mal hatte Henry vernommen, daß der Lordrich-

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ter verflucht worden sei. Von einem Delinquenten, den er an den Galgen geschickt hatte wie schon viele vor ihm.

Das war alles unsinniges Gerede. Was außerhalb des Hauses die Tätigkeit des Lordrichters war,

ging Henry nichts an. So hatte er es immer gehalten, und er war leidlich gut damit ge-

fahren. Der Polizist hatte einen Schlüssel zur Haustür. Wohlwollend nahm Henry zur Kenntnis, daß Bellridge den Tee

getrunken und die Tasse auf dem kleinen Beistelltisch in der Nähe der Tür abgestellt hatte.

Der Polizist wußte, was sich gehörte. Wie seine Kollegen, die sich in der Bewachung des Hauses ablös-

ten. Sie fielen nie lästig und hielten sich zurück. Die Familie wurde in

keiner Weise gestört. Henry legte die Hand auf die schwere Bronzeklinke. Bellridge hatte nicht abgeschlossen. Es war den Polizisten gestattet, bei schlechtem Wetter oder wäh-

rend der Nachtschicht Platz in der Eingangshalle zu nehmen. Bellridge stand ein paar Schritte von der Tür entfernt und kehrte

dem Haus den Rücken zu. Weiß der liebe Himmel, was der Lordrichter gehört hat, dachte

Henry. Hätte jemand auf der Straße gelärmt, wäre Bellridge be-stimmt eingeschritten und würde jetzt nicht gemütlich auf seinem Posten stehen!

Henry hüstelte diskret. Bellridge schien das Öffnen der Tür über-hört zu haben.

Aber der Polizist wandte sich nicht um. Er blickte unverwandt zur Straße hinüber.

Henry reckte den faltigen Hals. Er konnte aber nichts ausmachen, das seine oder Bellridges Aufmerksamkeit zu fesseln vermochte.

»Seine Ehren ist beunruhigt«, sagte Henry bedächtig. »Er ver-meinte Lärm zu hören. Das hat ihn in seiner Nachtruhe gestört.

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Hm, was kann ich ihm berichten?« Bellridge schien taub zu sein. Er reagierte nicht. »Ist Ihnen nicht wohl?« erkundigte sich Henry. Als er auch darauf keine Antwort erhielt, berührte er Bellridge

vorsichtig am Arm. Langsam drehte sich der Polizist um. Henry erschauerte bis ins Mark. Das war nicht Bellridge! Das Licht aus der Eingangshalle beleuchtete eine grauenvolle

Fratze unter einer schlechtsitzenden Polizistenmütze. Das Gesicht war wie bestäubt. Der Mund war seltsam eingefallen

und verkniffen. Das rechte Auge war zu. Gerade, als sei es gar nicht vorhanden.

Dafür war das linke um so schrecklicher anzusehen. Es bestand nur aus einer weißen Kugel. Und es leuchtete in einem unheimlichen, geradezu geisterhaften

Feuer. Entsetzt taumelte Henry zurück. »Wer – wer sind Sie?« stieß er mühsam hervor. Der Polizist folgte ihm und geriet mehr ins Licht. Henry gewahrte, daß nicht nur die Mütze schlecht saß. Auch die

Uniform schien viele Nummern zu klein zu sein. »Ich bin der Tod«, sagte der Mann in der zu kleinen Uniform.

Sein schrecklicher Mund klaffte auf, das Gesicht nahm einen Aus-druck von grenzenloser Grausamkeit an. »Und ich bringe den Tod.«

»Nein – bitte nicht!« stammelte Henry. Sein Blick suchte die Hände des falschen Polizisten. Er meinte

nichts anderes, als daß sich ein Terrorist eine Uniform beschafft hatte und nun mit einer Waffe kam, um sich an dem Lordrichter zu rächen.

An der ganzen Familie! Solche Leute hatten das schon gemacht. Denen war es gleichgültig, wie viele Opfer ein Anschlag forderte.

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Die Hände waren leer. Aber was für Hände waren das! Unglaublich schmutzig, mit abgebrochenen Fingernägeln. Der unheimliche Mann trat auf Henry zu. Sein schreckliches

Auge begann zu schillern. Der alte Butler war gar nicht mehr fähig, logisch zu denken. Er

hatte nur noch Angst und starrte auf dieses Auge ohne Pupille. Damit konnte der Kerl doch gar nicht sehen! Er tat's aber, und er schien sich gut zurechtzufinden. Henry öffnete den Mund. Er wollte schreien. Er begriff nur, daß

er die Familie und den Richter vor der Gefahr warnen mußte. Der Unheimliche schien es zu ahnen. Mit zwei langen Schritten war er heran und packte den Butler. Henry war ein alter Mann und hatte der brutalen Kraft des

falschen Polizisten nichts entgegenzusetzen. Zwar versuchte er sich aus dem Griff zu befreien, er schlug sogar

mit seinen gichtgekrümmten Händen in das grausam verzerrte Ge-sicht vor sich, aber er konnte den Mann nicht zurückstoßen.

Plötzlich erschienen in dem grauenhaften Auge nacheinander alle Farben des Regenbogens.

Dann wurde das Auge groß und immer größer. Bis ein grüner Blitz daraus fuhr und Henry im Gesicht traf. Der letzte Eindruck des Butlers war, daß er von oben her vereiste. So kalt war es plötzlich, so leer und einsam. Das Licht rückte rasend schnell in eine grenzenlose Ferne, gierige

Schwärze breitete sich statt dessen aus. In diese Schwärze stürzte der Butler hinein. Der unheimliche Kerl, der sich selber als der Tod bezeichnet hat-

te, packte den alten Mann, als sei er nicht schwerer als eine Vogelfe-der.

Mit einem harten Armgriff brach er Henry das Genick. Der grausame Ausdruck in seinem Gesicht wich dem Mienenspiel

der Zufriedenheit. Suchend schaute er sich um.

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Er entdeckte seilartige Kordeln, mit denen die schweren Vorhän-ge zwischen Eingangshalle und Kaminhalle seitlich gerafft waren.

Zielstrebig schleifte er den Toten dorthin, riß mit einem wilden Ruck eine Kordel ab und prüfte ihre Reißfestigkeit. Sie war dau-mendick und konnte das Gewicht eines Menschen mühelos aushal-ten.

Geschickt knüpfte der Mörder eine Schlinge mit sieben Knoten. Wie sie der Henker von London nach Vorschrift immer benützt

hatte. Er streifte sie über Henrys Kopf und zog sie um den Hals zu. Danach lud er sich den Toten auf die Achsel und schritt leise an

der Kaminhalle vorbei zum Treppenhaus. Er zögerte nicht und stieg hinauf. Gerade, als würde er hier jeden

Schritt und jeden Winkel kennen. Eine schimpfende Stimme drang aus der Tiefe des Hauses. Sehr

gedämpft, sehr undeutlich. Der Unheimliche hielt nicht einen Augenblick inne. Zielstrebig stieg er bis ins oberste Stockwerk, benützte einen Flur

und öffnete an dessen Ende eine Tür. Der Raum dahinter war mit Gerümpel aller Art vollgestellt. Er trug seine Totenlast hindurch, ohne irgendwo anzustoßen. Das Fenster in der Giebelseite dieses Traktes zog ihn an. Er legte

den Toten auf den Boden, befühlte die Dachbalken, die hier unver-kleidet waren, und entschied sich für einen unmittelbar über dem Fenster.

Das andere Ende der daumenstarken Kordel knotete er fest um diesen Balken, dann öffnete er das Fenster, packte den Toten, hielt ihn zum Fenster hinaus und ließ ihn fallen.

Die Kordel straffte sich. Er drückte das Fenster zu, soweit es ging, und begann zu lachen. Laut, irr und schaurig, daß sogar noch die Dacheindeckung mit-

klirrte.

*

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Page 52: Das Auge des Todes

Der Richter hatte sich in eine Decke gehüllt und saß in einem be-quemen Ohrenstuhl nahe beim Fenster.

Aus einer Flasche Portwein hatte er sich einen eingekippt. Seine Schwester Elaine, die die Nase in alles steckte, hatte das

Versteck der Flasche nicht entdeckt. Er lachte gehässig. Elaine, dieser lästige Hausteufel, machte sich immer in seinem

Schlafzimmer zu schaffen. Aber in die Bodenvase mit den tro-ckenen Blumen hatte sie noch nie geblickt.

Copelands Blick richtete sich auf das Bett. Zur Hölle, er konnte doch nicht mehr schlafen! Wo blieb denn

Henry? Der alte Bursche wurde auch jeden Tag trotteliger und saumseliger!

Oder hatte Allan ihn aus falschverstandener Rücksichtnahme gar nicht geweckt?

Die Familie tanzte ihm auf der Nase herum! Das hatte er längst bemerkt.

Die Bande war doch nur auf das Vermögen aus. Erben wollte sie. Aber da hatte sie sich geschnitten. Sie konnte lange warten. Er

fühlte sich noch nicht so, um ans Sterben zu denken. Er griff nach dem Glas und ließ die letzten Tropfen Port in den

Mund rinnen. Da tappten plötzlich laute Schritte durchs Haus. Sie schienen von überall her zu kommen. Mit einem Ruck setzte sich der Richter gerade. – Was ging denn

jetzt wieder vor? Er schleuderte die Decke beiseite, stand auf, verbarg das Glas hin-

ter Büchern auf einem Wandregal und riß erbost die Tür auf. »Henry? Allan?« Seine Stimme klang giftig und grimmig. Henry erschien nicht, Allan verhielt sich still. Dafür kam Elaine

wieder in eine rose Satinwolke gehüllt aus ihrem Gemach geflat-tert.

»Du bist ein Störenfried, William!« ließ sie ihn wissen. »Ein un-

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ausstehlicher gräßlicher alter Mann!« »Du bist auch nicht viel jünger, danke!« giftete der Richter seine

Schwester an. Elaine hatte eine heftige Erwiderung auf der spitzen Zunge. Was

sie sagen wollte, blieb ihr in der Kehle stecken. Ein irrsinniges Gelächter erfüllte plötzlich das Haus. Es drang durch Wände und Türen. Fünf Sekunden später schoß Allan verstört aus seiner Tür und

schaute sich auf dem Flur um. »Das ist bestimmt deine Brut!« warf der Richter seinem Sohn vor.

»Man will mich ärgern. Stell das sofort ab, sage ich!« »Das sind doch nicht die Kinder!« verwahrte sich Allan gegen

diesen Vorwurf. »Wer dann? Willst du mich für dumm halten? Wo bleibt Henry?

Kann man sich denn auf niemand mehr verlassen?« Der alte Cope-land schob das Kinn vor und signalisierte seine Streitlust.

Das nervenzerfetzende Gelächter endete mit einem tiefen langen Stöhnen. Dann tappten Schritte.

Sie kamen eindeutig aus dem Stockwerk darüber. Und dort wohnte niemand. Dort gab es nur unbenutzte Räume, die zum Abstellen ausran-

gierter Möbel und anderer Dinge dienten. Tante Elaine erschauerte. Ihre Massen gerieten in Bewegung wie

ein Pudding, den jemand zu heftig rüttelt. »O Gott, ist das ein Haus!« stöhnte sie. »William, was ist das? Sag

etwas! Mein Herz!« Theatralisch griff sie sich an den gewaltigen Busen, hinter dem irgendwo ihr Herz zu vermuten war.

»Will es nicht mehr?« fragte der Richter mit höhnischem Interes-se. Der Teufel ritt ihn. Vielleicht war das die Gelegenheit, Elaine endlich los zu werden. »Das ist der Hausgeist. Wußtest du nicht, daß wir einen haben?«

»Blödsinn!« sagte Allan besorgt, als er bemerkte, wie Tante Elaine die Augen verdrehte und zu wanken begann. »Er will dich nur är-gern, es gibt keinen Geist.«

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Hinter anderen Türen wurde es nun ebenfalls laut. Allan sah einen entsetzlichen nächtlichen Auftritt heraufziehen

und fand es besser, nicht teilzunehmen. »Ich schaue mal oben nach! Vielleicht ist eine Katze hereingekom-

men.« »Dann muß sie Stiefel angezogen haben!« versetzte der Richter

boshaft. »Warte, ich komme mit! Ich werde dir beweisen, daß es eins von deinen Kindern ist.«

Die dröhnenden Schritte von oben erklangen in diesem Moment besonders laut.

Allan und sein Vater strebten zum Treppenhaus, während Tante Elaine ihre Ohnmacht auf einen günstigeren Zeitpunkt verschob. Sie hatte kein Publikum, da machte es keinen Spaß, einfach nur umzusinken. Es war ja auch niemand da, der sie rücksichtsvoll auf-fing.

Am Ende fiel sie wirklich hin! Sie lauschte neugierig. Auf dem langen Flur, an dem die Schlafgemächer lagen, rührte

sich nichts. Die Mehrzahl der Familienmitglieder war klug und ließ sich nicht blicken.

Hinter den Türen verstummte auch das Rumoren wieder. Elaine hörte die Schritte der Männer nach oben stapfen. William

rief eben wieder lauthals nach dem Butler, diesem ungeschickten alten Mann.

Der mußte weg. Elaine hatte längst beschlossen, ihn durch eine jüngere Kraft zu ersetzen.

Nur sträubte sich William dagegen. Aus lauter Bosheit. Und weil er so schrecklich altmodisch war und nichts verändert haben woll-te.

Elaine zog sich zurück. Die Tür ließ sie angelehnt. Nichts sollte ihr entgehen.

Neben ihrer ausgeprägten Herrschsucht war die Neugierde ihr zweiter herausragender Charakterzug.

Allan und der Richter waren oben angelangt.

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Eben noch hatten sie ganz deutlich die dröhnenden Schritte ver-nommen. Jetzt war es still. Wie in einem Grab.

»Warte mal!« Allan hielt seinen Vater am Arm fest. Sie lauschten. Doch außer den eigenen Atemzügen vernahmen sie

nichts. Nicht einmal das Knarren einer Tür oder eines Bodenbrettes. »Das gibt es doch fast nicht!« äußerte Allan seine Zweifel. Der Richter stampfte zornig auf. »Was stehst du dumm herum?

Sieh gefälligst nach!« Allan knipste das Licht an. Der Flur war leer. Nacheinander öffnete er die Türen. Er hörte hartes stoßartiges Atmen hinter sich und fuhr erschro-

cken herum. Lautlos war sein Vater hinter ihn getreten. Der Richter traute ihm nicht. Der wollte mit eigenen Augen se-

hen, ob er ihm etwas zu verheimlichen trachtete. Jetzt kontrollierte der Alte sogar die Räume, die Allan schon

durchstöbert hatte. Daß sich eine Katze ins Haus verirrt hatte, glaubten sie beide sel-

ber nicht mehr. Eine Katze lachte ja nicht! Dieses irre Gelächter hatte unheimlich, direkt dämonisch geklun-

gen. Besaß das Haus am Ende doch einen Geist? Allan spürte, wie ihm die Gänsehaut wuchs. Dann meldete sich sein Verstand. Unsinn, sagte der, es gibt keine

Geister, auch wenn das viele Leute behaupten. Alles Unfug! Nach zehn Minuten waren sie mit den Räumen fertig. Weder war ihnen eine Katze aufgefallen, noch hatten sie eines der

vier Kinder von Allan aufgestöbert. Die Angelegenheit war rätselhaft und höchst unheimlich. Im hinteren Giebelraum war den beiden Männern das nur ange-

lehnte Fenster samt der straff gespannten Kordel entgangen. Allan hatte Oberwasser.

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Jetzt konnte er es dem Alten mal ordentlich zeigen! Er bugsierte seinen Vater zu den Kinderzimmern. Angus und Jeff hatten jeder einen Raum für sich, Rose und

Bridget schliefen noch zusammen. Allan fand seine Söhne wach. Sie waren da, das war die Hauptsa-

che. Auch die Mädchen lagen im Bett. Die Fragen der Kinder tat er mit einer Handbewegung ab. Mit einem unüberhörbaren Groll in der Stimme sagte er zu sei-

nem Vater: »Wenn du nur jemand verdächtigen kannst, dann ist dir wohl! Meine Kinder waren das jedenfalls nicht. Sie hätten an uns vorbeikommen müssen.«

Der Alte nahm die Niederlage zähneknirschend hin. Aber dann fiel ihm doch etwas ein. »Aber Henry hast du natür-

lich nicht geweckt!« »Doch, er mußte sich nur etwas überziehen.« »Wo bleibt der dann? Dieser Polizist läßt auch nichts von sich hö-

ren. Hier macht jeder, was er will. Der Teufel soll euch holen!« »Dann sehen wir eben gemeinsam nach Henry.« Der Richter stapfte mit hinunter. Henrys Zimmer war leer. Ebenso der Stuhl, auf dem er seine

Butlerkleidung peinlich korrekt gefaltet abzulegen pflegte. »Unzuverlässigkeit habe ich eigentlich in all den Jahren nicht an

ihm bemerken können«, sagte Allan verwundert. Er betrat die Kaminhalle und suchte Henry. Der Alte folgte ihm

auf dem Fuß. Von dem Butler sahen sie keine Spur. Der Mann befand sich auch nicht in der Eingangshalle. Aber ein Vorhang war nicht mehr vorschriftsmäßig zur Seite ge-

rafft. Und die Haustür stand weit auf! Allan und der Richter schauten hinaus. Auch der Polizist war nicht da. Ein ungutes Gefühl beschlich Allan.

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»Die Schritte und dann dieses grausige Gelächter – also ich bin dafür, daß wir die Polizei einschalten«, schlug er vor.

Der Alte packte ihn derb an der Schulter. »Noch geschieht, was ich bestimme!« fauchte er. »Am Gericht

habe ich genug mit der Polizei zu tun, und ich konnte nicht verhin-dern, daß man mir eine Wache für die Tür gestellt hat. Aber ins Haus kommt sie mir nicht, geht das in deinen dummen Kopf hin-ein?«

Allan warf die Haustür zu und drehte sich auf dem Absatz um. Sollte der Alte doch sehen, wie er zurechtkam!

*

Inspektor Fishers Schweigen beim Familienfrühstück war bedroh-lich.

Dean hielt es schließlich nicht mehr aus. Er platzte fast vor Neu-gierde.

»Und, Dad? Hast du den Polizisten gefunden und den schreckli-chen Kerl auch?«

Fisher räusperte sich. »Erst mal zu dir, Maud. Du wirst künftig um zehn Uhr zu Hause

sein. Unwiderruflich. Außerdem wünsche ich zu erfahren, mit wem du weggehst.«

Maud zog einen Schmollmund, Mrs. Fisher knüllte die Serviette zusammen.

»Aber das Mädchen ist doch schon siebzehn«, versuchte sie zu vermitteln. »Du hast ihr zweimal in der Woche Ausgang bis elf Uhr erlaubt.«

»Das ist aufgehoben«, bestimmte Fisher. »Man gibt ihr den klei-nen Finger, und sie nimmt die ganze Hand. Maud, sag deiner Mut-ter, wann du heimgekommen bist!«

Das Mädchen schwieg verbissen. »Zwei Uhr«, knurrte Fisher. Er wandte sich Dean zu. »Und der

Herr Sohn war ebenfalls unterwegs. Der Umgang mit diesem John

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ist nicht gut. Ich werde mich mit einem College außerhalb in Ver-bindung setzen.«

»Aber…!« Das hatte Dean befürchtet, und jetzt war es eingetreten. Der Vater steckte ihn ins College! Er mußte weg aus London!

»Nicht nur, daß ihr euch in eine Spätvorstellung stehlt, gerade weil das verboten ist, da muß ich mir auch noch eine Schauerge-schichte anhören! Und ich falle darauf herein. Ein einäugiges Monster! Ha!«

Fisher guckte böse. »Was denn?« Dean bekam fast den Mund nicht mehr zu. »Hast

du den Kerl denn nicht gesehen? Und den Zaun? Das Loch in der Straße?«

»Das Loch schon. Aber der Polizist stand vor der Tür der Cope-lands, und im Gegensatz zu dir kann ich mich auf meine Augen verlassen. Ihr habt euch eine böse Geschichte ausgedacht. Ich bin wütend, Dean. Der Zaun steht auch. Weißt du, wie ich einen nenne, der mich derart verkohlt?«

Für Dean krachte eine Welt in Scherben. Er umklammerte seine Teetasse. »Aber es ist doch kein Wort gelogen, Dad! Glaube mir! Ein richti-

ges Monster! Hast du wenigstens die Taschenlampe gefunden?« Fisher war so zornig, daß er erst einmal eine Handbewegung

machte, mit der er das Thema für abgeschlossen erklärte. Aber dann fragte er: »Welche Taschenlampe?«

»Der Polizist ist doch mit einer Taschenlampe gekommen und hat den Einäugigen angeleuchtet! Sie ist kaputt gegangen. Bestimmt liegt sie noch in den Büschen.«

»Von einer Taschenlampe war nie die Rede!« »Dann hast du's überhört, Dad!« »Oder du meinst nur, du hättest sie erwähnt. Ich wünsche keine

Diskussion mehr über diese Sache.« Fisher erhob sich. Dean und dieser John waren auf dem besten Weg, sich zu saube-

ren Früchtchen zu entwickeln. Dem mußte er energisch einen Rie-gel vorschieben.

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Zehn Minuten später kam der Fahrer. Fisher verabschiedete sich reichlich frostig von der Familie. Den Fahrer wies er an, am Haus der Copelands vorbeizufahren. Das Loch in der Straße war natürlich nicht geflickt, und wie es

aussah, geschah dies auch nicht so schnell. »Halten Sie mal an!« verlangte Fisher. Er stieg aus und betrachtete den Zaun bei Tageslicht. Verdammt, das Ding sah wirklich aus, als sei es umgeworfen und

notdürftig wieder an seinen Platz gestellt worden! Etliche Staketen waren sogar gesplittert oder gebrochen. Fisher beugte sich nieder. Da lagen Scherben. Sie konnten von der Taschenlampe stammen! Da hatte Dean am Ende doch nicht geflunkert? Der Inspektor beugte sich über den Zaun, bog die Büsche zur Sei-

te und sondierte den Grund. Er sah eine Menge Fußabdrücke. Und dann entdeckte er die Ta-

schenlampe. Sie lag dicht beim Strunk eines Busches. Fisher spähte zur Haustür hinüber. Kein Polizist stand davor. Er faßte einen Entschluß und kehrte zum Wagen zurück. »Fragen Sie bei der Wache nach, ob man den Posten vor Cope-

lands Haus abgezogen hat oder was sonst los ist.« Der Wagen hatte Funktelefon.

»Ich schaue mich hier noch mal um.« In diesem Augenblick erst ging Fisher auf, daß der Fahrer mit schreckgeweiteten Augen an ihm vorbeistarrte.

Der Inspektor wandte sich verwundert um. Das Blut gefror ihm fast in den Adern! An der Giebelseite des Copeland-Hauses hing eine leblose Gestalt

und pendelte leicht im Morgenwind. Ein Mann. Sein Hals steckte in einer Schlinge!

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*�

Ich konnte nicht behaupten, daß ich ausgeschlafen war. Ich hatte überhaupt den Eindruck, daß ich nur für Sekunden die

Augen zugekniffen hatte. Aber draußen war es hell, im Haus rumorten meine Nachbarn,

der Müllwagen fuhr scheppernd durch die Straße – es war Zeit für mich, Sir Horatio, meinen Chef, durch Augenschein zu überzeu-gen, daß ich das walisische Abenteuer gesund an Leib und Seele überstanden hatte.

Außerdem brannte ich darauf, ihm den Krif vorzuführen. Und wie ich Fisher kannte, hatte er inzwischen dafür gesorgt, daß

die gruselige Geisterstunde mit Draculas Zombie-Saat auf dem Brompton-Friedhof Sir Horatio zu Ohren gekommen war.

Ich sah also zu, daß ich nach Whitehall kam. Ich packte meine Utensilien ein, auch die Klebestreifen mit den

gesicherten Fingerabdrücken. Die Jungens vom Labor und der Daktyloskopie sollten sich noch

damit vergnügen. Ich wollte die Bestätigung dafür haben, daß Woods dabei gewesen war beim Einbruch in meine Wohnung.

Seine Prints lagen abrufbereit im Computer. Der Vergleich dauerte dank der Elektronik keine Minute – hof-

fentlich. Aber vielleicht begann der Computer zu spinnen. Vielleicht war

ihm Woods als inzwischen verstorben eingespeichert worden. Obschon niemand das Grab des Inspektors kannte, so wenig wie

Todeszeit und Ursache. Nun ja, im herkömmlichen Sinne war er ja auch nicht verstorben. Aber ich hatte mit den Blechgehilfen voller Elektronik schon die

tollsten Dinge erlebt und traute ihnen alles Schlechte zu. Oder Woods wurde als quicklebendig ausgewiesen, was den

Sachverhalt auch wieder nicht traf. Der Begriff Untoter kam in der Computersprache gewiß nicht

vor, darauf wollte ich schwören.

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Die Klebestreifen lieferte ich gleich im Labor ab. Der Chef unserer Hexenküche guckte etwas merkwürdig. »Ist was?« fragte ich. »Benötigen Sie nicht wieder etwas?« forschte er. »Wenn Sie hier

auftauchen, verlangen Sie doch meistens Dinge von uns, die noch gar nicht erfunden sind.«

»Da sehen Sie mal, was ich Ihnen alles zutraue!« Ich blickte ihn treuherzig an.

Sein Mißtrauen konnte ich allerdings nicht ausräumen. Ich hörte sein Aufatmen, als ich mich umwandte, ohne eine Bestellung auf-zugeben.

In der Tür drehte ich mich um. »Die Prints habe ich diese Nacht in meiner Wohnung abgenommen. Ich hatte Besuch. Das sage ich Ihnen, falls Sie sich wundern sollten.«

Das hätte ich gar nicht zu erwähnen brauchen. Er wunderte sich schon genug.

Daß ich die Prints allerdings Woods zuschrieb, hatte ich ihm nicht gesagt. Ich wollte ihn nicht beeinflußt wissen.

»Wegen des Ergebnisses erreichen Sie mich in meinem Büro oder bei Sir Horatio.« Mit diesen Worten verließ ich die Giftküche unse-res Vereins.

Meine nächste Amtshandlung war, daß ich mich über meinen Schreibtisch hermachte. Ich hoffte auf eine Nachricht von Inspektor Fisher. Wegen des Grabinhabers.

Es lag nichts vor. Ich konnte allerdings auch nicht erwarten, daß Fisher alles liegen

und stehen ließ und meinetwegen Purzelbäume schlug. Er arbeitete für den Yard. Der bezahlte ihn schließlich auch.

Also bewaffnete ich mich mit meiner Neuerwerbung und pilgerte zu Sir Horatio hinüber.

Barbara Hicks schaute wie Zerberus am Höllentor und schielte angewidert auf den Krif in meiner Hand.

»Was Sie alles hier anschleppen!« bemerkte sie naserümpfend. »Das ist doch ein Henkersbeil!«

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Das war der Krif nicht, wenn er auch so ähnlich aussah. Es gehör-te allerdings schon viel Phantasie dazu. Und die hatte Barbara of-fensichtlich doch.

Sie steckte voller Überraschungen. »Wir können es auf der Stelle ausprobieren«, sagte ich mit mühsa-

men Ernst. »Machen Sie den Nacken frei, ich garantiere blitzschnel-le Bedienung.«

Mein nicht ernsthaft gemeintes Angebot ließ sie bis in die Zehen erschauern.

Sie stieß sich mitsamt rollendem Stuhl vom Schreibmaschinen-tisch ab und suchte an der Wand Deckung. Hinter den Brillenglä-sern weiteten sich ihre Augen.

»Wenn Sie einen Schritt näherkommen, schreie ich um Hilfe!« stieß sie hervor.

Das brachte sie glatt fertig. Ich grinste und deutete auf die gepolsterte Tür vom Chef. »Na,

dann hacke ich eben ein wenig am Hals von Sir Horatio herum.« Ich machte mit dem Krif eine entsprechende Bewegung und trat

beim Chef ein. Er blickte mich nicht gerade gnädig an. »Ich dachte, Sie würden sich aus Wales melden. Immerhin habe

ich Ihnen die Informationen über Llanwellyn beschafft, Mac!« »Die segensreiche Erfindung des Telefons ist leider noch nicht bis

nach diesem Twyn-Llanan vorgedrungen, Sir, und Buschtrommeln sind ebenfalls unbekannt. Außerdem war mein Aufenthalt ein kur-zer«, sagte ich und pflanzte mich ungezwungen auf einen seiner Besucherstühle.

Er zeigte auf den Krif. »Es ist offensichtlich doch mehr dabei her-ausgekommen als nur eine dicke Spesenrechnung. Erzählen Sie!«

»Gut, daß Sie mich daran erinnern, Sir! Erst die Spesenrechnung.« Ich balancierte den Krif auf den Oberschenkeln und zupfte meine Spritrechnungen aus der Brieftasche.

Die Quittungen über die Kleidung für Miriam und die kleine Gin-ny Bishop behielt ich. Das war meine persönliche Angelegenheit.

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Aber die Rechnung aus der Autobahnraststätte legte ich zu den Benzinzetteln.

Sir Horatio studierte die Belege. »Sind Sie mit einem Lastwagen gefahren, Mac?«

»Mein Wägelchen hat ein gesundes Innenleben.« »Vor allem einen beachtlichen Durst. Und was ist das? Haben Sie

die Speisung der Zehntausend durchgeführt?« »Bewirtungskosten für eine Hexe und ein Kind, das beinahe von

einem Dämon gekidnappt worden wäre, Sir«, erläuterte ich. »Sie können mir die Kosten auch aus dem vereinsinternen Lustbarkeits-fonds erstatten, falls sich die Erwähnung einer Hexe in der offiziel-len Abrechnungsliste nicht gut ausnimmt.«

Er ächzte. »Ihre Begründungen sind nicht besonders witzig.« Die Zettel versenkte er in seine Schublade. »Jetzt sind wir erst einmal in Wales, lassen Sie also hören.«

Ich berichtete, knapp und trocken, wie er es liebte. Er unterbrach mich mit keinem Wort.

Als ich zur Geisterstunde auf dem Friedhof kam, sträubte sich sein gepflegter Schnurrbart.

Während ich die Entdeckung des aufgebrochenen Grabes schil-derte, begann er nervös die Brille zu wischen.

Und als ich ihm noch vom Einbruch in meine Wohnung erzählte, bog er ein Lineal zwischen den Händen, bis es mit einem Krach mitten durchbrach.

»Jetzt sitzen Sie aber fein drin!« platzte es aus ihm heraus. »Wo wollen Sie denn zuerst anfangen?«

»Überall gleichzeitig, Sir«, sagte ich lässig. »Das ist es doch, was Sie von Ihren Agenten verlangen – an jedem geforderten Platz zur selben Zeit zu sein.«

»Das ist doch bloß so eine Redensart! Wie sehen Ihre Pläne im De-tail aus?«

»Bergung und Vernichtung der steinernen Monster aus der Hard-wick Street in Finsbury. Die Angelegenheit ist vorrangig. Dann…«

»Die Ausbaggerung und Vermahlung der Horrorgestalten läuft

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seit gestern«, unterbrach mich der Chef. »Ich habe die Sache selber in die Hand genommen. Scheußlicher Gestank, den Sie dort hinter-lassen haben. Alles lag voll Knoblauch. Ich habe mich abends fast nicht nach Hause getraut.«

»Ja, es ist schon ein sehr urwüchsiges, ich möchte sagen elementa-res Parfüm«, versicherte ich grinsend. »Der nächste Punkt ist die Jagd auf die steinernen Köpfe. Die Dracula als Zombie-Saat ver-wendet. Dann muß ich Woods aufspüren, bevor er sich auch noch zum perfekten Einbrecher mausert. Als Untoter macht er eine Traumkarriere, die mich überhaupt nicht erheitert. Und da wäre noch das ominöse Grab, Sir.«

»Können Sie nicht Fisher einspannen?« In seinen Augen blitzte es hoffnungsvoll. »Der scheint ein Händchen für das gruselige Metier zu haben.«

»Er wird mir was husten! Einer von den erweckten Toten hat ihn am Hosenbein zu fassen gekriegt, ich fürchte, das hat seinem Inter-esse einen Dämpfer aufgesetzt. Außerdem hat er geschworen, nie mehr zu einem Begräbnis zu gehen, und selbst die Teilnahme an seinem eigenen sei fraglich.«.

Sir Horatio bekam den starren Blick. »Der hat ja einen noch schwärzeren Humor als Sie!« »Ich fürchte, nach dieser Nacht ist er für solche Komplimente

nicht mehr besonders empfänglich, ich werde es ihm aber gerne ausrichten.«

»Tun Sie das!« versetzte Sir Horatio bissig. Danach begann er mir Löcher in den Bauch zu fragen. Am meisten interessierte ihn der schreckliche Likkat. Er wollte

wissen, ob der Dämon eine allgegenwärtige Gefahr darstellte. »Das will ich nicht hoffen, Sir. Miriam hat ihn zurückgeschlagen.

Für wie lange, diese Frage hat sie mir auch nicht beantworten kön-nen. Vielleicht taucht der Kerl schon übermorgen wieder auf oder erst in der nächsten Generation.«

»Er soll sich Zeit lassen«, meinte der Chef fromm. »Viel Zeit. Ich gehe in zehn Jahren in Pension.« Er zeigte auf den Krif. »Und die-

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ses mystische Kriegsinstrument haben Sie aus dem Heiligtum von Llanwellyn mitgebracht?«

»So ist es. Ein Geschenk der Hexe. Es besitzt magische Kräfte. Sei-ne tatsächlichen Fähigkeiten konnte ich noch nicht ausloten. Mi-riam sagte, der Krif – so ist der Name – kehre in die Hand des Wer-fers zurück.«

»So eine Art Bumerang?« meinte Sir Horatio skeptisch. »Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.«

»Ich mir auch nicht, Sir«, pflichtete ich bei. »Denn die Logik sagt, wenn ich mit dem Ding treffe, bleibt es stecken. Theoretisch kann es also nur nach einem Fehlwurf zum Werfer zurückkehren,« Ich wandte mich zur Seite.

In das Interieur von Sir Horatios Büro waren wunderbare alte Ei-chenbalken einbezogen.

Ich traute mir schon zu, einen zu treffen. Sir Horatio war ziemlich aufgekratzt, seine Gedanken liefen auf

Hochtouren. Deshalb konnte ich auch ihre Ausstrahlung empfan-gen.

Er hatte mein Interesse für die alten Balken wahrgenommen und fand, daß ein Balken durchaus für eine Demonstration herhalten konnte.

»Werfen Sie das Ding doch mal«, schlug er vor. »Dann sehen wir ja, ob es stecken bleibt oder ob es sich losreißt. Ich bin sehr ge-spannt.«

Das war ich nicht weniger. Ich faßte den schwarzen Holzstiel des Krifs, erhob mich, stellte

mich in Positur und wog das Drei-Klingen-Beil prüfend, um mich mit dem Gewicht vertraut zu machen.

Auf dem Brompton-Friedhof hatte ich ja nur zugeschlagen. Werfen war etwas anderes. »Zieren Sie sich nicht, Mac!« drängte Sir Horatio. »Das sind nur

alte Balken, einen Einschlag sieht man nachher bestimmt nicht.« Ich holte über die rechte Achsel aus und ließ den Krif losschwir-

ren.

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Ich wußte ganz genau, welche Richtung ich ihm gab. Aber der Krif wollte nicht, wie ich wollte. Plötzlich brach er aus der Richtung aus, ungefähr nach Überwin-

dung der halben Distanz. Ich sah nur noch seinen flirrenden Kreis, und schon schwirrte er

auf das hintere Fenster zu, krachte in die Scheibe – und weg war er! Ich glaube, ein dämlicheres Gesicht habe ich nie gemacht. Etwas hatte ich falsch angepackt. Das war mein erster Gedanke. Der zweite, daß mir finstere Mächte die gerade erlangte Waffe

schon entführten. Und der dritte, daß er hinunterfiel und jemand in Whitehall bös

verletzte. Mein Blick zuckte zu Sir Horatio. Der Chef stand mit offenem Mund und beguckte die kaputte

Scheibe. Dann fuhr sein Kopf herum. Sein Blick drückte eine Menge Nachteiliges für mich aus.

Ich riß mich aus meiner Erstarrung und wollte zum Fenster sprin-ten, um den Flug des Krif zu verfolgen. Vielleicht war noch was zu retten.

Im selben Moment krachte es wieder. Ich sah nur noch das andere Fenster platzen, Glassplitter herein-

schwirren und Sir Horatio wegzucken, als hätte ihn eine Wespe ge-stochen.

Der Krif! Wie ein Bumerang war er tatsächlich zurückgekehrt. Allerdings

mit einem Abstecher aus dem Fenster und über Whitehall. Um ein Haar hätte er Sir Horatio die Nasenspitze abgehackt. Ich sah nämlich eine Hand des Chefs zur Nase zucken und sie be-

fühlen. Jetzt war mir klar, weshalb er derart zurückgefahren war, als hät-

te ihn eine Wespe gezwiebelt. Von draußen hörte ich das klirrende Prasseln des Scherbenregens.

Die Fenstertrümmer kamen gerade erst unten an. Der Krif vollführte einen atemberaubenden Flug durch das Büro

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des Chefs. Nur fanden weder Sir Horatio noch ich rechte Freude daran.

Eine Klinge erwischte im wirbelnden Flug die Messingstange, mit der die Lampe abgehängt war.

Mühelos durchtrennte der Krif Messingstange und Elektrokabel. Die haltlose Lampe fiel herunter und zerplatzte.

Der Krif war schon im Anflug auf Sir Horatio. Er schrammte über den Schreibtisch, fegte die Hälfte der gestapel-

ten Unterlagen herab, hinterließ eine tiefe Furche, hob sich noch einmal mit einer wirbelnden Drehung und schlitzte eine Sesselleh-ne in der Raucherecke auf.

Dann rasierte er die Innenpolsterung der Tür zum Vorzimmer, riß mit dem Stiel das Porträt der Queen von der Wand und landete wie eine Flunder auf dem grauen Teppichboden. Nicht ohne zuvor noch ein Stuhlbein um Daumenstärke gekürzt zu haben.

Ich schüttelte mir die Glassplitter vom Anzug. Die Sache war mir verdammt peinlich. Die beklemmende Stille wirkte wie Grabesruhe. Nach Sekunden schaute ich den Chef an. Der war noch mächtig blaß und ziemlich aus der Fassung. Sein

Kinn zitterte auch so verdächtig. Ich hörte, wie er mit den Zähnen knirschte. »So hätte ich das auch gekonnt!« sagte er schließlich grimmig.

»Ich erwarte Ihre Erklärung!« Au Backe, was sollte ich ihm da noch erklären? Das Büro sah aus, als hätte eine Schutzgeldbande bei einem zah-

lungsunwilligen Kunden etwas Terror gemacht. Ich machte erst mal einen Kniefall vor der Queen und hängte sie

wieder auf Gebrochen hatte sie nichts – ich meine, Scheibe und Rahmen waren heil geblieben.

Dann stiefelte ich zum hinteren Fenster und guckte vorsichtig hinaus. Damit man mich nicht erkannte.

Drunten standen drei Passanten und blickten verdutzt am Gebäu-de herauf. Abgekriegt hatten sie nichts vom Scherbenregen, Gott

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sei Dank. »Mac!« Die Stimme des Chefs traf mich wie ein Schlag ins Genick. Ich holte mir den Krif. Dann zuckte ich die Achseln. »Die Druiden haben so schöne Fensterscheiben wohl noch nicht

gekannt, Sir.« »Und das da?« Seine ausholende Handbewegung umfaßte die an-

gerichtete Verwüstung. »Halten Sie mich nicht zum Narren!« »Die Lampen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren«,

brummte ich. »Es zieht außerdem, Sir. Sie sollten den Glaser rufen.«

»Der Teufel soll Sie und diesen – dieses Ding da holen!« »Der Tag wird kommen, Sir. Kann ich sonst noch etwas für Sie

tun?« Die Stimmung war nicht gut, bescheiden und mild ausgedrückt,

und die Luft wurde dick. Ich näherte mich vorsichtshalber der Tür. Mit einem Ächzen ließ sich Sir Horatio in seinen Schreibtischstuhl

plumpsen und fuhr mit dem Daumennagel die tiefe Furche in der Platte nach.

Dann befingerte er noch einmal seine Nase, als könnte er das Wunder nicht fassen, daß sie noch dran war.

»Sie haben etwas falsch gemacht, geben Sie es zu!« fauchte er mich an.

Ich warf einen Blick rundum. »Man könnte diesen Eindruck ge-winnen, Sir«, räumte ich ein. »Es sieht ein wenig unordentlich aus. Aber es war Ihre Idee, bitte sehr!«

Er nickte düster. »Das brauchen Sie mir nicht noch unter meine gerettete Nase zu reiben! Lassen Sie dieses gemeingefährliche In-strument zu Hause, wenn Sie auf Woods und Ihren speziellen Freund Dracula losgehen. Ich fürchte sonst, Sie bringen mehr Men-schen um als die Pest vor dreihundert Jahren.«

Soviel ich wußte, hatte die Pest im Jahre 1665 gewütet, und fast siebzigtausend Bewohner von London waren ihr zum Opfer gefal-len.

Sir Horatios düsteren Worte waren eine maßlose Übertreibung.

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Ich wunderte mich schon die ganze Zeit, weshalb der Krif aus der Richtung ausgebrochen war.

Eine vorteilhaftere Anschuldigung hätte mir der Chef nicht an den Kopf werfen können, um meinen Widerspruch und meinen Ta-tendrang anzustacheln.

Ich trat mit dem Krif in der Hand auf einen Balken zu. Dabei hielt ich ihn locker. Falls ihm die Balken nicht behagten,

hoffte ich auf eine Reaktion. Etwa wie bei einer Kompaßnadel, in deren Nähe man einen Magneten bringt und die sich dann wegdreht.

Falls der Krif solche Bestrebungen zeigte, mußte ich seine Drehbe-wegung ja spüren.

Er reagierte, und gar nicht wenig. Ich probierte es an einem anderen Balken. Nichts. In diesen Balken konnte ich sogar den Krif hineinschlagen. Er riß

sich nicht los und sprang auch nicht zurück. Ich machte eine weitere Probe. Der Krif sauste ins Holz wie geschmiert. »Wollen Sie Holz hacken?« erkundigte sich der Chef mißtrauisch. An seiner Stimme hörte ich, daß er den schlimmsten Schrecken

schon überstanden hatte. »Ich teste den Krif, Sir.« Ich kehrte zu dem Balken zurück, bei dem das Drei-Klingen-Beil

sich so widerspenstig aufgeführt hatte. Kaum brachte ich es in seine Nähe, drehte es sich weg. Energisch packte ich den Stiel und schlug zu. Ich spürte ganz deutlich, daß ich einen beachtlichen Widerstand

überwinden mußte. Aber dann hackte der Krif ins Holz. Aus dem Balken drang ein Knacken, daß mir angst und bange

wurde. Das Holz riß armlang nach oben und unten auf. In den Spalt hätte

ich meine Hand flach hineinschieben können.

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Ich hütete mich allerdings. Ich zog lieber den Krif heraus. Aus der tiefen Kerbe tropfte es und platschte auf den Boden. Blut! Mir gingen die Haare senkrecht hoch. »Sir, woher stammt dieser Balken?« fragte ich beklommen. Sir Horatio rückte nervös die Brille und starrte auf den häßlichen

Blutfleck. »Ich konnte alle diese Balken bei einem Schiffsmakler erstehen. Er

hat mir verbrieft, daß es echte Schiffsbalken sind, zweihundert und mehr Jahre alt.«

Ich kannte seine stille Leidenschaft für die Seefahrt. »Sir, ich vermute, dieser Balken stammt von einem sogenannten

Geisterschiff, das man ohne Mannschaft irgendwo treibend aufge-funden hat. Oder von einem Segler, auf dem grauenhafte Dinge ge-schehen sind.«

»Soll ich deswegen das Holz herausreißen lassen?« »Das wird nicht nötig sein, Sir. Das Schiff war wahrscheinlich ver-

flucht. Es wäre denkbar, daß der Krif den Fluch gebrochen hat. Deshalb das Blut.«

»Können Sie die Schweinerei nicht abstellen?« Er schaute trübsin-nig auf den stattlichen Fleck.

Mir fielen eine Menge Geschichten über plötzlich fließendes Blut ein. Selbst in den Heldensagen kam das vor. Wenn zum Beispiel der Mörder an die Bahre des von ihm erschlagenen Opfers trat, öff-neten sich dessen Wunden, und das Blut begann zu fließen.

Oder das Phänomen der Stigmatisation. Ganz schlaue Köpfe vermuteten ja, es sei von den Menschen, an

denen die Wundmale auftraten, willkürlich verursacht und psy-chisch gesteuert.

Nur beweisen konnten sie das nicht. Und ich verstand zu wenig davon, um mir ein Urteil zu erlauben. Sogar von einem blutenden Rosenstock hatte ich gehört. Jedenfalls reichten diese Dinge sehr weit in die Vergangenheit zu-

rück – und sie waren wesentlich näher an der Zeit der Druiden als

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wir heutzutage. Der Krif barg mehr Geheimnisse, als mir Miriam verraten hatte. Oder wußte selbst sie nichts davon? Ich näherte den Krif erneut dem besagten Balken. Er drehte sich nicht weg, ich mußte auch keinen Widerstand mehr

überwinden. Als ich über die Kerbe strich, hörte das Hervorquellen des Blutes

auf. »Bitte, Sir, der Hahn ist zu«, scherzte ich, um mich des heimlichen

Grusels zu erwehren, der mich überkam. »Sie sind strapaziös, Mac!« murrte Sir Horatio. »Machen Sie das

besser nicht noch mal, meine Nerven, wissen Sie!« Er meinte wohl seine Magengeschwüre. Ich nickte brav, und er tauchte hinter den Schreibtisch, um die

heruntergerissenen Akten aufzulesen. Genau in diesem Moment wurde die Polstertür geöffnet. Auf der

Schwelle stand Barbara, hinter ihr sah ich Teroy, den Chef unserer daktyloskopischen Abteilung.

Die Gesichter versteinerten förmlich. Ich stand aber auch unglücklich da mit dem Beil in der Hand und

dem Blutfleck vor meinen Füßen. Barbaras Kopf drehte sich langsam. Ich folgte der Richtung. Vom Chef waren nur die aufgestützten Hände und die knienden

Beine unter dem Schreibtisch her zu sehen. Klar, er hatte gehört, daß jemand hereingekommen war. Deshalb

verhielt er sich mäuschenstill. Es war ja auch nicht gerade förderlich, wenn jemand den Chef

vom Secret Service auf dem Boden herumkrabbeln sah. »Oh!« machte Barbara und begann sichtlich zu wanken. »Er hat's

getan!« Dann kreischte sie los. Ich hatte schon fast vergessen, was ich vorhin draußen im Spaß

gesagt hatte. Sie nahm's für bare Münze. Sie glaubte wahrhaftig, ich hätte an Sir Horatio eine Kopfamputation vorgenommen!

»Seien Sie doch still!« zischte ich.

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Ihr Gezeter trieb Sir Horatio hinter dem Schreibtisch hoch. Er stand verblüfft da und preßte geraffte Akten an sich.

»Er ist ja noch in einem Stück, wie Sie sehen!« redete ich weiter. Es dauerte aber doch, bis sie sich soweit beruhigte, das sie nur

noch ein Röcheln zustande brachte. Zum ungezählten Male versuchte sie, mich mit spitzen Blicken zu

erdolchen. »Sie täte ich nicht mal mit der Feuerzange anfassen!« ließ sie mich

wissen. Die hilfreich stützenden Hände vom Chef der Daktylosko-pie stieß sie heftig weg.

»Was auch niemand von Ihnen verlangt«, brummte ich. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rauschte von hinnen. »Der große Abgang der Tragödin, wie?« Teroy grinste schüch-

tern. Er trat ganz herein und drückte die Tür hinter sich zu. Auf-merksam besah er die Schäden. »Da ist wohl ein Experiment miß-lungen, oder?«

»Im Gegenteil, wir sind sehr zufrieden«, antwortete ich. Er kratzte sich am Kinn und meinte dann salomonisch: »Jeder

sieht die Dinge wohl etwas anders, hm. Mac, sind Sie sicher, daß Sie die verdammten Prints letzte Nacht in Ihrer Wohnung abge-nommen haben und daß die nicht schon längst vorhanden waren?«

Er klammerte sich an einer dünnen Akte fest, als würde es ihm gleich den Boden unter den Füßen wegreißen.

Ich ahnte, was kam. »Absolut sicher, Teroy.« »Wie mache ich das bloß den Jungs klar? Die drehen fast durch.

Es sind nämlich die Prints eines Toten. Und Tote brechen ja nicht in Wohnungen ein und stemmen Schränke auf. Jedenfalls habe ich noch nie davon gehört. Tja, und außerdem sind es die Prints von ei-nem gewissen Scotland Yard-Inspektor Peter Woods, unverheira-tet, bester Absolvent der Polizeiakademie und…«

»Genau den meine ich, Teroy. Ich wollte nur den wissenschaftli-chen Beweis haben. Woods ist ein Untoter. Das sagen Sie ihren Jungs aber besser nicht.«

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Er drückte mir die dünne Akte in die Hand, als fürchte er, sie würde gleich explodieren.

»Dann amüsieren Sie sich nur gut damit, Mac.« Er schaute zum Chef. »Nichts für ungut, Sir Horatio.« Kopfschüttelnd ging er hin-aus. Ich hörte ihn noch murmeln: »Untot? Vielleicht hat die gute Barbara doch recht und hier spinnt wirklich einer!«

Ich erwischte ein paar von seinen Gedankenströmen. Er meinte mich.

Das war kein netter Zug von ihm. Ich klatschte die Akte auf den Schreibtisch des Chefs. »Sie sehen, wie aktiv Woods ist, Sir. Ich fahre jetzt mal nach Fins-

bury hinauf und schaue mir das Ausbaggern an.« Sir Horatio entließ mich mit einer matten Handbewegung. Ich spürte aber, daß er mich gerne gehen ließ und froh war, daß

ich mit dem Krif nicht eine weitere Demonstration plante.

*

Mir war die Sache natürlich mächtig peinlich. Was tut man in einem solchen Fall? Man geht zur Tagesordnung über. Genau das hatte ich vor. Außerdem war's ja die Idee vom Chef

gewesen, den Krif auszuprobieren. Das heißt, ich hatte sie auch gehabt, aber er hatte sie zuerst ausge-

sprochen. Der blutende Balken war ja wirklich ein Ding! Wenn ich etwas Luft und Zeit hatte, wollte ich mich mit dem

Schiffsmakler über die alten Schiffsbalken unterhalten, die er an ah-nungslose Zeitgenossen verhökerte.

Den Krif steckte ich unter die Jacke, bevor ich das Vorzimmer durchquerte.

Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig. Barbara war nicht zugegen.

Vielleicht holte sie sich beim Hausdoktor ein Pülverchen zur Re-

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staurierung ihrer angegriffenen Nerven. Mir war's gerade recht. Ich verschanzte mich in meinem Office und rief den Yard an. Ich

brannte darauf, was Fisher herausgefunden hatte. An diesem Morgen schien nichts so zu laufen, wie es sollte. Man sagte mir, Fisher sei gar nicht ins Gebäude gekommen, son-

dern gleich zu einem Einsatz gefahren. »Soll er Sie anrufen, Sir?« fragte die schnuckelige Frauenstimme. »Nein, ich versuche es später wieder, ich bin jetzt auch außer

Haus.« Ich stopfte den Krif in meine Tragetasche. Etwas unhandlich war

das Beil ja, ich konnte es nicht ständig unter der Jacke tragen oder in den Hosenbund stecken.

Vorläufig mußte ich es aber jederzeit bereit haben. Also mußte ich meine Tasche mitschleppen. Wie ich die Kollegen kannte, würden sie mir bald einen Spitzna-

men verpassen. Es hatte da mal 'nen Kerl mit dem Koffer gegeben. Ich würde der

Mann mit der Tasche sein. Ich verließ Whitehall und fuhr nach Finsbury hinauf. Der Chef hatte wirklich ein organisatorisches Meisterstück voll-

bracht. Das Grundstück mit den versteinerten Horrorgestalten war von

der Stadtpolizei und von etlichen unserer Leute abgeschirmt, in ei-ner respektablen Grube lärmten zwei Bagger, und Muldenkipper knarrten schwer mit Abraum beladen auf einer Rampe aus dem Loch und wurden von Motorradpolizisten in Empfang genommen und davoneskortiert.

Der demolierte Bagger stand noch immer da. Ich ging zu der Grube hinüber und verschaffte mir einen genaue-

ren Überblick. Die zuvor sichtbaren Schreckgestalten waren allesamt schon ab-

geräumt. Die Baggerzähne wühlten sich in den Felsgrund vor. Ich sah kompakt erscheinende Steine plötzlich zerbrechen und

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welche von den schrecklichen Steinwesen zum Vorschein kommen. Sie waren bewegungslos und starr. Und sie zerbrachen, sobald

die Baggerführer nur einmal den schweren Löffel der Maschine draufsetzten.

Ich signalisierte, daß ich an die Steine herantreten wollte. Einer der Fahrer erschlug mich fast mit dem Ausleger, weil ich zu

ungeduldig nach unten rutschte. Er fluchte lästerlich aus seinem Führerhaus und brüllte herum. Im

Nu hatte ich es mit drei Polizisten zu schaffen. Mein Ausweis besänftigte die Gemüter. Ich kletterte hinunter und machte mich mit dem Krif über eine ge-

rade aus einem Stein gebrochene Gestalt her. Die bloße Berührung ergab keine sichtbare Reaktion. Ich hatte gehofft, das Wesen würde ebenso verdampfen wie die

Hexenblumen in Wales. Aber die Hexenblumen hatten aus der Schwarzwelt gestammt,

und dieses Wesen hatte zum Imperium von Dracula gehört. Ich sah weder Funken und Fetzen fliegen noch Rauch und Dampf

und Qualm aufsteigen. Ich überlegte. Das Wesen aus Stein war solide und der Krif nur

aus Eisen. An Stein waren schon härtere Waffen zu Bruch gegangen. Ich wagte dennoch einen beherzten Schlag. Mit einem Scheppern wie von einer zerspringenden Glocke flog

das Steinwesen auseinander! Ich wollte es nicht glauben und startete noch ein Experiment. Mit

demselben Ergebnis. Der Krif trug nicht eine Scharte davon. Die drei Polizisten guckten mich wie einen leibhaftigen Hexen-

meister an und begannen zu tuscheln. Ich störte mich nicht daran und zerkleinerte noch etliche Stein-

monster. Dann verstaute ich den Krif wieder und hängte mich mit dem

MG hinter einen Muldenkipper.

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Die Fahrt endete am Westrand von London in einer Steinmühle. Der Fahrer kippte die Ladung zu einem Haufen, den ich ebenfalls

vorbildlich bewacht sah. Ein Teil des Materials war schon vermahlen. Ich sprach mit der Geschäftsleitung. Die Leute guckten zwar ein wenig seltsam, sie meinten aber, für

Geld würden sie alles zu Steinmehl verarbeiten, Hauptsache, die Kasse würde stimmen, und die Anzahlung sei pünktlich und groß-zügig erfolgt.

Ich fragte nach dem Abtransport des Steinmehls und hörte, zwei Ladungen seien schon zu einem Flugplatz an der Kanalküste ge-bracht worden. Ebenfalls unter Bewachung.

In diesem Augenblick atmete ich auf. Das System der Beseitigung der Schreckgestalten war dicht wie eine Uhr von Cartier. Sir Hora-tio hatte Generalstabsarbeit geleistet. Einen Teil der Arbeiten hatte ich angekurbelt, aber er hatte alles koordiniert.

Ich wußte nichts daran auszusetzen. Dracula kam an seine Mißgeburten nicht mehr heran, soviel war

sicher. Beruhigt fuhr ich in die City zurück, kaufte mir bei Fortnum und

Mason eine neue Jacke als Ersatz für jene, die ich durch Likkat in Wales eingebüßt hatte, und rief von einem Pub aus den Yard an.

Fisher war immer noch nicht zurück. Er hatte auch keine Nach-richt für mich hereingegeben.

Ich war sauer auf ihn, gelinde gesagt. Oder er wollte mir eins überbraten für den ausgestandenen Schre-

cken, als ihn ein Untoter am Hosenbein gekriegt hatte. Deshalb fuhr ich sofort zum Brompton-Friedhof. Weit und breit sah ich keine Polizisten und keinen Fisher. Nur

Trauergruppen. Die Gräber, aus denen in der Nacht die Zombie-Saat aufgegangen

war, hatte man bereits wieder hergerichtet. Nichts deutete mehr auf die grauenhafte Geisterstunde hin.

Ich hastete zum Grab Nr. 923 im Block D.

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Die Grube war zugeworfen. Nur der durchlöcherte Grabstein lag noch so, wie ich ihn in der

Nacht entdeckt hatte. Ich spürte nichts Böses mehr. Klar, es hatte sich ja in der Nacht fortgemacht. Nun war ich schon einmal da, da konnte ich mich selber um das

geheimnisvolle Grab kümmern. Es mußte doch eine Liste der Gräber geben und wer da hineinge-

kommen war. In die Behausung des alten Brodnick, der von Dracula und

Woods getötet worden war, war ein pickelgesichtiger junger Mann eingezogen. Er sah ungesund aus – als ob er selber bald da draußen bei seiner Kundschaft liegen würde.

Ich fragte ihn nach einer Liste oder einer Aufstellung. Und ganz speziell nach dem Grab Nr. 923 im Block D.

Er fuhr zusammen. »Sind Sie auch von der Polizei?« fragte er zögernd. »Viel schlimmer. Was heißt auch?« »Da hat heute schon einer danach gefragt. Auf der

Polizeileitung.« Er zeigte zu einem Telefon. »Wir sind nur mit der Polizei verbunden, müssen Sie wissen.«

»Gut, das weiß ich jetzt, und weiter? Wer war der Anrufer?« Ich spürte, daß ich feuchte Handflächen bekam. Ich witterte etwas.

»Muß ich nachsehen«, meinte er. »Ich hab's mir notiert. Man weiß ja nie.« Er kramte in Papieren auf dem wurmstichigen Schreibtisch und fischte einen Zettel aus dem Durcheinander. »Fisher. Hat er je-denfalls gesagt.«

Mit meiner Witterung war es doch nichts. Ich leistete Fisher Abbitte. Er war weder sauer auf mich noch untätig. »Ja, und? Wer liegt nun in dem Grab?« »Muß ich auch noch mal nachsehen»« Er blätterte in einem abge-

griffenen Register und fuhr mit dem Zeigefinger schließlich eine Spalte hinauf.

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Sein Zeigefinger verharrte. »Keith Hutchinson.« »Mehr nicht?« »Nur der letzte Wohnort. Ich meine, bevor er hier Wohnung

nahm.« Der Bursche besaß eine Menge schwarzen Humors, wie mir schi-

en. »Und der war?« fragte ich ungeduldig. »Das Stadtgefängnis am Old Bailey.« Mit einem Knall haute er

das Register zu. »Danke, Sie waren mir eine große Hilfe«, versicherte ich ihm und

sah zu, daß ich fortkam. Ich hatte es eilig, nach Whitehall zurückzukehren. Im Stadtgefängnis mußten sie noch Unterlagen haben, die mehr

über Keith Hutchinson aussagten als das stockfleckige Friedhofsre-gister. Aber dazu brauchte ich die Unterstützung von Sir Horatio. Damit es schnell ging.

Ich schloß die Tragetasche in meinem Büro ein und hastete zum Chef.

Barbara Hicks war wieder halbwegs beieinander. Sie blickte durch mich hindurch wie durch Glas. Momentan hatte ich bei ihr höchstens einen schwarzen Stein im Brett.

Sheila Green, unsere Zeitbombe auf himmellangen Beinen, war immer noch nicht da. Ich tippte darauf, daß sie ihren Hausfrauen-tag nahm.

Beim Chef sah es schon wieder ganz wohnlich aus. Der aufgeschlitzte Sessel war verschwunden, die häßliche Blutla-

che auch, und von der Decke schaukelte eine neue Lampe. Sogar neue Fenster waren schon eingesetzt.

Die sah ich aber nur mit Mühe, weil Sir Horatio und sein Besu-cher dicke Zigarren qualmten und die Sicht vernebelten.

Ich teilte die Wolken und dachte, mich träfe der Schlag im Stehen. Der Besucher war kein anderer als Inspektor Fisher!

*

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»Bei Ihnen eine Audienz zu kriegen ist ja noch schwieriger als bei der Queen«, sagte ich und reichte ihm die Hand. »Ich telefoniere den ganzen Vormittag hinter Ihnen her. Inzwischen weiß ich auch, wer in dem Grab liegt – Keith Hutchinson.«

»Dann wissen Sie noch nicht alles, Mac.« Er deponierte die Zigar-re im Aschenbecher und schlug eine Akte auf, die er offensichtlich mitgebracht hatte. Denn wir benützen keine grünen Ordner.

»O doch«, widersprach ich. »Er saß zuletzt im Stadtgefängnis vom Old Bailey. Erinnern Sie sich an den gebrochenen dritten Wir-bel und die unnatürliche Lage des Totenschädels? Ich denke, Hutchinson ist durch die Klappe des Scharfrichters gefallen und von einem Strick abrupt gebremst worden.«

Fisher nickte mäßig. Eigentlich hatte ich mehr Begeisterung von seiner Seite erwartet.

Er hielt mir die Akte unter die Nase. »Es war die letzte Hinrichtung: Der Kerl war eine Bestie. Sieben

Ritualmorde konnten sie ihm beweisen, in seinem Garten wurden aber sechzehn Leichen ausgegraben, zum Teil schon skelettiert.«

Ich wußte, wie schwer sich die Sachverständigen taten, bei Skelet-ten, die keine Beschädigungen aufwiesen, die Todesursache festzu-stellen.

Eigentlich war's unmöglich. Ich blätterte die Akte fast mit Schallgeschwindigkeit durch. Sie enthielt Auszüge aus dem Gerichtsprotokoll, das Todesurteil

in Ablichtung, den Bericht des Henkers von London und das Attest über den eingetretenen Tod, unterschrieben von zwei Ärzten.

Dann folgte ein Bild von Hutchinson, aufgenommen zu Lebzei-ten.

»Huh!« machte ich. »Der Kerl sah ja zum Fürchten aus!« »Ein Teufel in Menschengestalt«, sagte Fisher schwer und mit ei-

ner Betonung, die mich aufmerken ließ. »Genauso sieht er immer noch aus!«

»Was? Machen Sie keine Witze mit mir!« Mir fiel fast die grüne

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Akte aus der Hand. »Zu Spaßen bin ich wahrhaftig nicht aufgelegt«, knurrte Fisher

mich an. Sir Horatio bekam auch sofort sein Fett ab. »Und die Zi-garre schmeckt auch nicht besonders! Mein Sohn Dean und sein Freund John Ravenell sind in der vergangenen Nacht Keith Hutchinson begegnet – oder seinem Geist, wenn Sie so wollen. Ein Stück nach Mitternacht.«

Ich überlegte fieberhaft. Die angegebene Zeit mochte hinhauen. Wann aber Hutchinsons Geist aus dem Grab gefahren war, dar-

auf wollte ich mich lieber nicht festlegen. Ich vermutete fast, es hatte mit Dracula zu tun. Nicht, daß er Hutchinsons Geist befreit hatte, sondern daß die dä-

monischen Kräfte, die bei der Aussaat der Zombies und beim Auf-gehen der Saat frei geworden waren, zufällig auch Hutchinsons verdammte Seele aus dem Grab geholfen hatten.

Ein Mißgeschick, aber eines mit Folgen, die ich nun auszubaden hatte, wenn ich Fishers Besuch richtig verstand.

Fisher stauchte die qualmende Zigarre tot. »Die Jungens sind erst vierzehn, und die Lümmel waren uner-

laubt im Kino. In einer späten Vorstellung«, erklärte er. Ich kannte ihn als gewissenhaften Mann. Wenn er derart weit

ausholte, dann hatte er seine Gründe. Deshalb unterbrach ich ihn nicht. »An einem bestimmten Grundstück unweit meines Hauses sind

sie jedenfalls mit einem Monstermann zusammengestoßen. Der Kerl war einäugig. Auf dem Grundstück wohnt jemand, der zum Kreis der sogenannten gefährdeten Personen zählt, darum ist dort ständig Polizeischutz postiert. Dieser Polizist mischte sich ein und wurde umgebracht. Wir haben kurz nach acht Uhr heute früh seine Leiche im Gebüsch gefunden. Genickbruch, und zwar durch kör-perliche Gewalt. Eine halbe Stunde früher haben mein Fahrer und ich einen Gehenkten entdeckt, der an der Giebelseite des betreffen-den Hauses hing. Es handelt sich um den Butler, einen steinalten

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Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tat. Er starb ebenfalls durch Genickbruch.«

Fisher machte eine Pause. »Bellridge, das ist der ermordete Polizist, wurde draußen getötet,

der Butler mit Sicherheit im Haus, bevor er mit einer Schlinge um den Hals aus dem Giebelfenster gestoßen wurde.«

Er knetete die Finger. »Und jetzt kommt's! Die Hausbewohner hörten in der Nacht tap-

pende Schritte und ein irres Gelächter. Sie untersuchten die fragli-chen Räume, fanden aber keine Menschenseele. In dem Haus wohnt Lordrichter William Copeland mit seiner Familie, und er ist derjenige, der Keith Hutchinson an den Galgen schickte!«

Ich schluckte. Fisher hatte eine verdammte Art, einem den Knalleffekt zu servie-

ren. Die ging unter die Haut. Ich zweifelte keine Sekunde lang, daß er gründliche Recherchen

angestellt hatte. Es lag in seiner Natur, einem die Fakten um die Ohren zu hauen. »Schließen Sie die Möglichkeit aus, jemand aus dem Haus hätte

Geist gespielt und aus noch unbekannten Gründen den Butler und den Polizisten getötet?« fragte ich.

Ich wollte ja nicht gleich das Schlimmste annehmen. »Mit Sicherheit schließe ich die aus, Mac. Da gibt es zwar einen

Kerl, der es auf die Mitgift von Copelands Tochter Sarah abgesehen hat, aber der ist ein Waschlappen und bestenfalls ein Weiberheld, niemals ein Gewalttäter. Und welche Beweggründe hätte er für zwei Morde haben sollen? Weder der Butler noch der Polizist stan-den seinen Absichten irgendwie im Wege.«

»Also doch Hutchinsons Geist – oder was Sie dafür halten«, sagte ich seufzend.

Fisher blickte mich ganz scharf an. »Halten Sie mich nicht für einen Neurotiker – ich habe diese un-

heimlichen Schritte selber gehört. Während der Vernehmung der Familie und des Personals. Und ich habe niemand gefunden. Mir

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läuft es jetzt noch kalt über den Rücken.« Mir auch, aber das sagte ich ihm nicht. »In dem Haus herrscht einige Panik«, fuhr er fort. »An übersinnli-

ches Treiben glaubt noch niemand, jedenfalls habe ich diesen Ein-druck mitgenommen. Aber man braucht dort jetzt einen neuen But-ler, und da dachte ich an Sie.«

»Sie sind von allen guten Geistern verlassen!« platzte ich heraus. »Als Butler wären Sie dem Geschehen am nächsten, Mac. Ich

fürchte, der Geist schlägt bald wieder zu. Hutchinson hat unter dem Galgen den Richter verflucht. Der Fluch erfüllt sich. Hutchin-sons Geist wird in der Umgebung des Richters weiter morden. Co-peland soll vor Angst im eigenen Seelensaft schmoren – bis er dann schließlich dran ist. Am Ende einer Kette scheußlicher Morde.«

Zum Teufel, Fisher verstand es, einen in die Falle zu locken und den richtigen Köder hinzulegen.

Seine rein hypothetische Beweisführung ging davon aus, daß im Copeland-Haus ein Geist umging, einer von der allerschlimmsten Sorte, und daß dessen erklärte Absicht war, erst die Familie auszu-rotten und dann Copeland selber den Garaus zu machen.

»Eine kühne Schlußfolgerung, Fisher«, sagte ich. »Mann, seien Sie nicht so unbeweglich!« Er fuchtelte herum. »Sie

mögen selber keine Leute, die eine verkrümmte Phantasie haben. Und die brauchen Sie in diesen Fall nicht einmal. Die Fakten ma-chen jede Phantasie überflüssig.«

»Welche Fakten denn noch?« »Hutchinsons Treiben. Seine gräßlichen Taten. Es waren nicht nur

Ritualmorde. Er hat Menschenopfer gebracht! Einer finsteren Macht, einer dämonischen Gottheit, weiß der Teufel! Er hat bei den Verhören gestanden und immerzu gelacht.«

»Klingt nicht gut«, räumte ich ein. »Weiß man etwas über die Gottheit?«

»Sobald er dazu gefragt wurde, hat er geschwiegen. Ich schätze aber, es wurde gar nicht gezielt gefragt. Nicht mit Nachdruck und nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit. Der Kerl war ja geständig,

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wozu sich also noch zusätzliche Arbeit aufladen? Einer, der so viele Morde begeht, muß ja sowieso eine Macke haben.«

Fisher sagte die Wahrheit. Und ich konnte den vernehmenden Po-lizeibeamten von damals keinen Vorwurf machen.

Sie hatten ihre Pflicht getan und mehr nicht. »Und was ist mit dem Fluch?« fragte ich. Fisher ließ sich die Akte zurückgeben und blätterte darin. »Das Zeug habe ich selber zusammengestellt«, erläuterte er. Als Akte eines gewaltigen Massenmordprozesses und der Vorer-

mittlungen war mir die Sammlung auch verzweifelt dünn vorge-kommen.

Fisher studierte einen Zettel. »Es kam öfter vor, daß zum Tode Verurteilte ihren Richter oder

die Geschworenen oder den Henker oder sonstwen verfluchten, wenn sie schon die Schlinge um den Hals hatten«, sagte Fisher und rollte unbehaglich die Schultern. »Deshalb war das, was Hutchin-son noch rief, kein besonders herausragendes Ereignis. Es wußte ja noch kein Mensch, daß es die letzte Hinrichtung in England sein würde. – Hier, er verdammte den Richter mit einer lateinischen Formel, und er rief etwas von den Helfern der Nacht und dem Auge des Todes.«

Fisher machte eine erwartungsvolle Pause, und Sir Horatio reckte interessiert den Hals.

Ich kannte nicht einen einzigen Helfer der Nacht, geschweige denn mehrere, und von einem Auge des Todds hatte ich auch noch nichts gehört.

Nur vom ›Auge der sieben Sehnsüchte‹, aber das war ein Schmuckstein im Falle der ermordeten italienischen Fürstin Renata de Angelis gewesen, und das lag viele Wochen zurück.

Mit Keith Hutchinson und seinem Geist hatte dies wohl über-haupt nichts zu tun.

»Tut mir leid«, sagte ich und dämpfte Sir Horatios und Inspektor Fishers Erwartungen, »ich bin chemisch rein und weiß nicht weiter. Haben Sie eine Vermutung, was damit gemeint ist?«

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Mein Chef schüttelte den Kopf. »Ich halte mich heraus«, sagte er mit Betonung.

Fisher bekam den nachdenklichen Zug im Gesicht. »Vielleicht hat der Kerl sein eigenes Auge gemeint«, sagte er nach

einigem Zögern. Ich schnappte mir die Akte und betrachtete noch einmal die Auf-

nahme. Keith Hutchinson hatte nur das linke Auge geöffnet. »Wie kommen Sie darauf?« forschte ich. »Der ärztliche Befund. Hutchinson war einäugig. Und mein Junge

und sein Freund haben da auch noch eine Beobachtung gemacht, die ich zunächst für ein Hirngespinst hielt. Vielleicht ist doch was dran. Dieser Monstermann soll gar kein richtiges Auge gehabt ha-ben, sondern nur eine weiße Kugel in der Augenhöhle. In der lin-ken wohlgemerkt. Plötzlich begann sie in allen Farben zu schillern, und dann zuckte ein Blitz heraus. Der Blitz hat John Ravenell nur knapp verfehlt und ein Loch in die Straßendecke gebrannt. Das Loch habe ich selber gesehen und begutachtet. Wie herausge-brannt.«

»Der Grabstein auf dem Friedhof!« stieß ich hervor. »Das Loch ist auch hineingebrannt!«

»Teufel, daran habe ich gar nicht gedacht!« gestand Fisher. »Übri-gens scheint der Blitz nicht nur zu verbrennen. Die Jungens haben ausgesagt, daß auch der Polizist getroffen wurde und danach wie gelähmt oder erstarrt war. Jedenfalls konnte er sich nicht mehr wehren. Ich denke, das ist ein lebenswichtiger Hinweis.«

Mit Augen, die Blitze aussandten, hatte ich ganz frische Erfah-rung.

Likkat hatte Blitze aus den Augen geschleudert. Weiße Augenbälle waren mir ebenfalls nicht unbekannt. Die hatte

ich droben in Balmoral bei den Opfern des teuflischen Postmeisters Laglen gesehen.

Wenn der Monstermann wirklich Blitze aus seinem Auge ge-schossen hatte, dann konnte ich mit einiger Berechtigung anneh-

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men, daß er mit den finsteren Mächten im Bunde war. Fisher hatte wirklich den richtigen Köder in die Falle gepackt. »Ich habe auch Angst«, sagte er zu meiner Überraschung. »Angst

um die Jungens! Der unheimliche Kerl hat sie gesehen und wird sie wiedererkennen. Sie wohnen in der Nähe des Copeland-Hauses.«

Ich verstand ihn. Er war Inspektor beim Yard, aber er war auch der Vater eines Jungen, der in eine böse Sache hineingeraten war.

Ich gab ihm die Akte zurück. »Sie haben den Butler«, sagte ich. Kein Wort mehr. Ich hörte förmlich einen Stein von seiner Seele fallen.

*

Barbara Hicks musterte uns wie zwei finstere Verschwörer, als ich mit Fisher das Vorzimmer durchquerte.

Sie sah angegriffen aus. Und dürr und mager war sie ja immer. Draußen zeigte Fisher mit dem Daumen über die Achsel. »Ich dachte, Sir Horatio hat so einen schwarzhaarigen Teufel ins

Vorzimmer gesetzt.« »Sie meinen Sheila? Die hat heute frei, schätze ich.« »Und wer ist das?« »Barbara Hicks, die Hüterin seines Terminkalenders und seiner

Magenpillen.« Fisher grinste dünn. »Ist ein heißer Typ, wie?« Den Eindruck hatte ich allerdings nicht, aber ich verstand, wie er

es meinte. Ich holte meine Tasche aus meinem Büro. Fisher war mit dem Chauffeur gekommen. Er schickte den Mann

mit dem Wagen voraus und fädelte sich in meinen MG ein. Ein ziemlich schwieriges Unterfangen.

»Einen Schuhlöffel haben Sie nicht zufällig zur Hand?« erkundig-te er sich.

»Das Wägelchen ist halt etwas für sportliche Naturen«, sagte ich.

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»Beugen Sie den Oberkörper nach vorn und ziehen Sie die Beine an.«

»Meine Gymnastik habe ich eigentlich hinter mir«, knurrte er. »Aber wenn Sie meinen!«

Er beherzigte meine Ratschläge und fand ganz gut in den Wagen herein. Aufatmend dehnte er sich auf dem Beifahrersitz aus.

Er hatte noch etwas auf der Seele. Sonst hätte er bequemer in sei-nem Dienstwagen fahren können.

Ich sondierte, aber ich kam nicht bis zu seinen Gedanken durch. »Schießen Sie schon los!« forderte ich ihn auf. »Die Familie Copeland«, sagte er. »Ich möchte Sie mit den etwas

eigenartigen Verhältnissen vertraut machen.« »Schlimm?« »Wie man's nimmt. Sie kriegen es mit William Copeland zu tun.

Das ist der Richter und Familienboß. Ein unleidlicher Kerl, streit-süchtig, rechthaberisch, bösartig. Ich schätze, er wird jetzt wieder daheim sein, wir kommen gerade zurecht. Er ist trotz der grauen-haften Vorgänge zum Gericht gefahren.«

»Was?« »Ich habe ihn nicht aufhalten können. Machen Sie mal einem al-

ten Querkopf klar, was er tun und was er lassen soll! Der Mann geht über meine Kräfte.«

»Wie alt ist denn der Knabe?« »Über siebzig.« Ich staunte nicht wenig. »Und er ist noch Richter?« »Lordrichter. Sie kennen doch das System unserer Rechtspflege.

Die meisten Richter bleiben im Amt, bis sie der Schlag trifft oder sie mitten in einer Verhandlung vom Alterstod ereilt werden. – Dann wäre da die Schwester des Richters, Elaine Summer. Eine Beißzan-ge, die gerne die übrige Familie nach ihrer Pfeife tanzen lassen möchte. Mit ihrem Bruder liegt sie fast ständig im Clinch. Die Fami-lie besteht weiter aus Allan Copeland und seiner Frau Linda und vier Kindern namens Angus, Jeff, Rose und Bridget. Die Junioren sind eine ziemlich aufgeweckte Bande. Angus ist in dem Alter, wo

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die Burschen anfangen, den Mädchen nachzusteigen. Dazu komme ich gleich noch. Weiter ist da die erwähnte Sarah, eine Trinkerin, hat die dritte Scheidung hinter sich. Der weichliche Weiberheld, den sie ins Haus geholt hat und der jetzt in ihrer Gunst steht und voraussichtlich Ehemann Nummer vier wird, heißt Bill Shaner. Au-ßer der Mitgift hat er nichts im Sinn. Der alte Copeland haßt ihn wie die Pest. Das Personal besteht aus der Köchin Helen Higgins und dem Dienstmädchen Su McDuffee. Letztere ist eine knackige Krabbe und hat etwas mit dem vorerwähnten Angus. Oder er mit ihr, was wohl aufs selbe hinausläuft. Der Butler hieß Henry.«

»Mit anderen Worten hausen drei Generationen unter einem Dach!« staunte ich. »Kein Wunder, daß da zeitweise dicke Luft herrscht! Haben Sie im Ernst die Absicht, mich den Leuten als But-ler zu verkaufen?«

»Wie soll ich sonst jemand im Haus unterbringen? Der alte Cope-land sieht, schon rot, wenn er Polizei hört. Der Posten, der ihn be-schützen soll, darf eigentlich nicht mal das Haus betreten und aus-nahmsweise nur, wenn es draußen in Strömen gießt.«

»Wovor wird der Richter eigentlich beschützt?« »Er hat irische Terroristen zu exemplarischen Strafen verknackt.« »Also wird er vor Racheakten geschützt. – Hm, ich fürchte, ich

werde kein guter Butler sein, aber ich will mein Bestes geben.« »Sagen Sie dem Alten bloß nicht, daß Sie vom Secret Service sind,

Mac! Er feuert Sie eigenhändig, wenn er's erfährt.« »Das kann ja heiter werden!« »Ich fürchte das Gegenteil«, sagte Fisher düster. »Das ist natürlich

jetzt Ihr Fall, ich bleibe nur dran, weil Scotland Yard ja offiziell die beiden Morde bearbeitet. Denken Sie nur nicht, ich wollte Sie Sir Horatio abspenstig machen. Und ich habe auch ein starkes persön-liches Interesse.«

»Wegen Ihres Jungen, das sagten Sie.« Es war alles besprochen. Er dirigierte mich, weil sein Wagen außer Sicht geraten war. Nach einer Weile zeigte er auf ein großes Anwesen, hinter dessen

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Büschen ich undeutlich ein Haus gewahrte. »Fahren Sie weiter!« sagte er plötzlich. »Ein Butler mit einem

Sportwagen, das geht ja wohl nicht!« Seine Dienstlimousine stand am Straßenrand, ich stoppte dahin-

ter. »Sicher gibt es sehr sportliche Butler«, wehrte ich mich. »Einer mit einem MG geht nicht, das ist ungehörig. Fahren Sie bei

Gelegenheit Ihre Knochenmühle zu meinem Haus da unten.« Er nannte mir die Nummer.

Wir stiegen aus. Ich griff meine Tasche heraus und war wegen der Knochenmühle leicht verschnupft.

Auf meinen MG halte ich nämlich große Stücke. Als wir auf das Haus zuschritten und ich die gekieste Zufahrt be-

trachtete, trat uns ein Polizist in den Weg. Er erkannte Fisher, grüß-te und verschwand wieder zwischen den Büschen.

»Unser Verbindungsmann, falls Sie mir eine Nachricht zukom-men lassen müssen«, raunte der Inspektor. »Ich instruiere den Mann nachher und auch seine Ablösung. An ein Telefon werden Sie im Ernstfall nicht herankommen, ich kenne das. Wenn man eins braucht, ist es besetzt oder kaputt. Oder in Ihrem Fall sollte kein Fa-milienmitglied in der Nähe sein. Bei der Größe der Sippe ist das gar nicht möglich.«

»Ihr Weitblick ermuntert mich zu der Frage, ob Sie sich schon ein-mal mit Veränderungsabsichten getragen haben.«

»Wie meinen Sie das?« »Der Service ist an Leuten mit Einfällen und Köpfchen immer in-

teressiert.« »Aha, aus dem Loch pfeift die Flöte! Nichts zu machen, Mac. Ihr

Chef hat auch schon zarte Andeutungen losgelassen. Ich bleibe lie-ber bei meinen Leichen.«

Er drückte den Daumen auf einen Klingelknopf. Ein adrettes Mädchen öffnete. Es war knackig und eine niedliche

Krabbe, wie Fisher gesagt hatte. Ich konnte verstehen, daß der Co-peland-Sprößling Angus ihm nachstieg.

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»Treten Sie ein, Inspektor.« Ich wurde gemustert. »Der Butler«, nuschelte Fisher. Ich bekam einen dezenten Hustenanfall. »Ich bin Su«, sagte die Kleine. Sie schaute mich mitfühlend an.

»Zählen Sie bei angehaltenem Atem bis zehn, Sir, dann ist es vor-bei.«

Eine gute Seele hatte sie auch noch. »Nennen Sie mich Mac.« Mir war nun alles egal. »Ich glaube

nicht, daß man in diesem Haus den Butler ›Sir‹ nennt.« »Eigentlich nicht.« Sie kicherte. »Butler heißen James oder Robert

oder sonstwie, Mac habe ich noch nie gehört.« Ich wollte ihr gerade auseinandersetzen, daß Mac ein grundehrli-

cher Name ist, als aus der Tiefe des Hauses ein markerschütternder Schrei gellte.

*

Fisher sprintete los wie von der Tarantel gebissen. Ich folgte ihm einfach. Er kannte sich hier schon aus. Su wich schreckensbleich zur Seite. Wenn mich meine Ohren nicht trogen, kam der furchtbare Schrei

aus einer jugendlichen Kehle. Fisher lief durch die Eingangshalle und sauste fast in einen Vor-

hang, der lose herumhing. Hinter dem Durchgang erspähte ich eine Kaminhalle, wie sie in

solch großen Häusern üblich ist. Mit einem einzigen Blick erfaßte ich, daß die Einrichtung alt und

gediegen war und eine Menge Geld hineingebuttert worden war. An der Seite der Kaminhalle führte eine Treppe aufwärts. Die Schreie kamen von oben. Ich hörte Schreckensrufe von der Seite, sah eine ältere Frau, die

mich indigniert anstarrte, und folgte Fisher aufwärts. Für gesell-schaftliche Rituale war jetzt keine Zeit, die Frau mußte warten.

Sie würde noch früh genug erfahren, daß ich der neue Butler war.

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Hinter uns wurde es laut. Die markerschütternden Schreie alarmierten die Familie. Fisher und ich langten im ersten Stockwerk an. Da war nichts. Aber von oben ertönte jetzt ein irres Gelächter. Schaurig, gruselig,

dämonenhaft. Mir lief es kalt über den Rücken. Ich kannte solche Stimmen. Sie klangen immer etwas blechern. »Weiter!« keuchte Fisher. »Er ist oben!« Er meinte Hutchinsons Geist. Ich widersprach nicht. Dafür überholte ich ihn. Keuchend langte ich im obersten Stockwerk an. Die jugendliche Stimme war verstummt. Sie konnte nur aus einem Flur gekommen sein, der sich nach un-

gefähr zwanzig Schritten auf zweigte. Das Haus besaß mindestens zwei Flügel.

Ich stürmte einfach los. Das Gelächter war auch verstummt. Himmel, waren wir zu spät gekommen? Hatte das Wesen oder

der Geist schon wieder ein Opfer gefunden? Voraus sah ich einen dunklen Schatten. Er bewegte sich. Dann erkannte ich einen Mann, der etwas gepackt hielt. Ein Kind, ein Mädchen. Es wehrte sich aus Leibeskräften. Der Flur war mächtig düster. Ich orientierte mich, sah einen

Schalter und drückte ihn. Die Beleuchtung ging an. Ein Blick auf den Mann genügte mir. Ich hatte es mit Keith Hutchinson zu tun. Oder mit seinem Geist,

der seine körperliche Gestalt angenommen hatte. Das Gesicht sah grau, und wüst und schmutzig aus. Der Mund war eingefallen, als sei er mal zugenäht gewesen. Das rechte Auge war nicht vorhanden. Aber das linke! Es war kein Auge im üblichen Sinne, sondern nur eine weiße Ku-

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gel. Ich erschrak nicht übermäßig, weil mir ein solcher Anblick be-

kannt war. Der Flur war erfüllt von einem schaurigen Modergeruch. Ich hatte ihn an Hutchinsons offenem Grab schon in die Nase be-

kommen, und er hatte mir nicht behagt. Hutchinson mußte unsere Schritte gehört haben, denn er war im

Begriff, das Mädchen mit sich fortzuzerren. Daß aber nun plötzlich das Licht angegangen war, störte ihn

mächtig. Er wirbelte vollends herum. Sein grausiger Mund klaffte, aus dem

dunklen Loch brach ein boshaftes unirdisches Gelächter. Sofort spürte ich den Anprall des Bösen! Da war es. Genau dasselbe Muster von schrecklichen Ausstrah-

lungen wie auf dem Friedhof. Diesmal nur viel stärker. Mir zerplatzte fast der Kopf. Stöhnend ging ich in die Knie. Es gelang mir nur mit Mühe und wohl im allerletzten Moment,

mein Gehirn abzublocken. Zwei, drei Sekunden später, und um meinen Verstand wäre es ge-

schehen gewesen. Hutchinson war mächtig. Er besaß dämonische Kraft, die mir

Angst machte. Fisher blieb hinter mir stehen, er war jetzt auch zur Stelle. Seine

keuchenden Atemstöße streiften meinen Nacken. »Mein Gott!« hauchte er. »Er ist es! Er sieht genau aus wie auf

dem Bild! Das Mädchen ist Rose, das jüngste Kind!« Ich konnte ungefähr nachvollziehen, was in seinem Herzen los

war. An Stelle des Mädchens konnte sich auch sein Sohn Dean befin-

den! Rose schien nichts geschehen zu sein. Ich sah jedenfalls, daß sie

sich heftig wehrte. Bei einer Lähmung wäre ihr das nicht möglich gewesen.

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Hutchinson hatte ihr einen Arm um den Hals gelegt. Er verfügte über teuflische Kräfte. Wenn er zudrückte, war es um

das Mädchen geschehen. Ich dachte daran, was Fisher über den Polizisten und den Butler

und über Genickbrüche gesagt hatte. So also machte Hutchinson es. Er drehte seinen Opfern die Wir-

belsäule ab! Wieder stürmte das Böse auf medialem Wege gegen mich an. Fisher taumelte und fiel gegen die Wand. Ich riß den Kopf herum. Er preßte sich beide Hände gegen die Schläfen, riß den Mund

weit auf und schaute mich aus Augen an, die einen Blick in die Ab-gründe der Hölle taten.

Den Ausdruck von Grauen und Entsetzen werde ich nie verges-sen.

Ich zerrte den Reißverschluß der Tasche auf. Es ging um Sekun-den, um Bruchteile davon vielleicht.

Fisher konnte sein Gehirn nicht abschirmen. Ich spürte den Stiel des Krif zwischen den Fingern, riß das Drei-

Klingen-Beil heraus und stürmte wie ein Pfeil, der von der Bogen-sehne kommt, auf Hutchinson los.

Er prallte zurück, sein irrsinniges Gelächter riß ab wie ein zu stramm gespannter Faden.

Sein schmutziges Gesicht erstarrte im Ausdruck der Bösartigkeit. Den Krif zu schleudern getraute ich mir nicht – nach der lehrrei-

chen Erfahrung im Büro von Sir Horatio. Die geisterhafte Erscheinung verkörperte das Böse. Hutchinson hatte einst einen Fluch gegen Richter Copeland ge-

schleudert. Dieses einäugige grausige Monster war der Fluch selber! Der Krif konnte sich wegdrehen wie vor dem alten Schiffsbalken.

Dann brachte ich Rose in Gefahr und hatte das Drei-Klingen-Beil obendrein aus der Hand gegeben.

Die Wahrscheinlichkeit, daß es in dem engen Flur zu mir zurück-

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kehrte, war gering. Die Gefahr aber groß, daß Hutchinson es sich schnappte. Vielleicht überstand er es nicht. Oder er zeigte gar keine Reaktion. Mir war das Risiko zu hoch. Ich mußte auf Armlänge an ihn herankommen. Und dazu war ich

fest entschlossen. Ich machte Sprünge wie ein Tiger. Nicht so schön, aber so kraftvoll. Er hatte wohl angenommen, daß ich anders reagierte. Jedenfalls riß er Rose vor sich. Er hielt sie wie einen Schutzschild. Das Mädchen vermochte seinen Körper aber längst nicht zu de-

cken. Ich zielte in Gedanken schon auf seinen Schädel. Da sah ich eine Veränderung in seinem Auge. Farben begannen zu spielen. Fisher hatte davon gesprochen, sein Sohn und dessen Freund hat-

ten es beobachtet, bevor der Blitz aus dem Auge gefahren war! Natürlich, der Kerl wollte mich bei lebendigem Leib braten! Oder

durchlöchern wie seinen Grabstein! Oder auch nur lähmen, um mir dann um so gemächlicher das Genick umdrehen zu können wie dem bedauernswerten Polizisten und dem alten Butler.

Aus der Nähe sah ich, warum Rose nicht mehr schrie. Sie litt un-ter Atemnot!

Diese Bestie aus dem Totenreich würgte ihr die Luft ab! Die Augen des Mädchens blickten so entsetzt wie die von Fisher. Ich rannte frontal gegen den unheimlichen Kerl und seinen leben-

den Schutzschild, drehte aber im letzten Moment ab und sprang mit einem Satz gegen den Unheimlichen.

Er kreiselte herum und stieß Rose von sich. Genau gegen mich. Ich fing das Mädchen auf und bemühte mich, den Anprall zu mil-

dern. Rose rang keuchend nach Atem. Ihr Röcheln schnitt mir ins Herz. Mein rechter Arm sauste durch die Luft und führte den Krif nach

Hutchinsons Kopf, in dem das Auge jetzt grünlich glühte.

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Die Frage war, wer schneller war – sein Blitz oder meine Waffe. Mir ging in dieser Hundertstelsekunde auf, was er mit dem Auge

des Todes gemeint hatte! Sein eigenes Auge. Er hatte zu Lebzeiten mit den dunklen Mächten paktiert, hatte

Menschenopfer gebracht und unschuldiges Blut fließen lassen und hatte sich mit Haut und Haaren den Helfern der Nacht und weiß der Teufel wem noch verkauft.

Dafür hatten sie ihn aus dem Grab herausgelassen. Als Geist, der seine alte körperliche Gestalt annehmen konnte. Damit er den Fluch Erfüllung finden ließ und seine Rache hatte.

Für diesen Zweck hatten seine dunklen Freunde und Gönner ihm das Auge des Todes gegeben.

Rose behinderte mich etwas. In Erwartung des tödlichen oder lähmenden Blitzes duckte ich

mich. Aber mein Arm war lang genug, und der Stiel des Krifs brachte auch noch Reichweite.

Plötzlich sah ich das Auge des Todes blasser werden. Hutchinsons Kopf schien durchsichtig zu sein. Das alles spielte sich rasend schnell ab. Der Krif hackte zu. Aber da war kein Hutchinson mehr, kein Geist, kein Auge des To-

des. Das Drei-Klingen-Beil teilte nur Luft. Die Bestie aus dem Totenreich hatte sich in Sicherheit gebracht. Eines wußte ich jetzt mit Sicherheit – der Krif war eine gute Waf-

fe, auch wenn Sir Horatio vielleicht gegenteiliger Meinung war. Und eine gefährliche Waffe. Gefährlich für Wesen der dunklen Mächte, für Kreaturen aus den

Reichen jenseits unserer Welt. Hutchinson hatte gespürt, welche Macht dem Krif innewohnte. Er hatte eine schnelle Flucht ins Unsichtbare vorgezogen. Dahin konnte ich ihm nicht folgen. Darum war mein Sieg nur ein

Scheinsieg.

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Der schreckliche Kerl konnte jederzeit an anderer Stelle auftau-chen und sich ein Opfer greifen, bevor ich zur Stelle war.

Jetzt war er gewarnt. Ich hatte meine Karten aufdecken müssen, um Rose zu retten.

Schauriges Gelächter ließ fast das Haus erzittern. Dann dröhnten laute Schritte. Der Lärm kam von allen Seiten. Das galt mir. Der Kerl verhöhnte mich. Und er ängstigte die Bewohner dieses Hauses. Ich hörte Schreckensrufe aus dem Treppenhaus und das wilde

Schluchzen von Rose. Das Mädchen drängte sich an mich und klammerte sich fest.

Ich strich über den blonden Scheitel. »Der garstige Kerl ist erst mal weg«, sagte ich und versuchte, mei-

ne Stimme zuversichtlich klingen zu lassen. »So schnell kommt der nicht wieder.«

Ich führte die Kleine nach vorn, verstaute den Krif in der Tasche und sah Fisher vom Boden hochkommen. Er schüttelte benommen den Kopf.

»Mein lieber Mann!« sagte er heiser. »Ich fürchte, bei mir ist was durchgebrannt. Oder fast jedenfalls. Warum haben Sie den Kerl nicht erschlagen?«

»In seinen jetzigen Kreisen scheint ein solches Ende nicht populär zu sein.« Ich machte eine Geste, die nichts Genaues ausdrückte. »Er schwirrt hier irgendwo herum und hält uns zum Narren!«

Als hätte Hutchinsons satanischer Geist meine Worte vernom-men, klang wieder das irre Gelächter blechern und scheppernd von allen Seiten heran.

Und dann trampelten Schritte, so laut und lärmend, daß es sich anhörte, als renne eine Armee durchs Haus.

Ich fragte mich, wie lange die Bewohner das aushielten. Oder ob sie schon entschlossen waren, auszuziehen.

Gegen Terror von außen schützte der Polizeiposten. Gegen Hutchinsons Terror stand nur ich. Das war verdammt we-

nig. Aber besser als nichts allemal.

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Page 96: Das Auge des Todes

*�

Ich schickte Fisher mit dem Mädchen hinunter und holte den Krif wieder aus der Tasche.

Nicht, weil er mir besonders geeignet schien, sondern weil seine Klingen scharfe Ecken hatten. Die waren zum Ritzen ausgezeich-net.

Ich kratzte magische Symbole in den Boden. Die konnte niemand so rasch entfernen. Dem Richter würde es zwar nicht gefallen, wenn ich sein Parkett

verschandelte. Aber besser ein paar Kratzer im Boden als eine gan-ze Ewigkeit tot!

Diese Eigenmächtigkeit, seines neuen Butlers würde ihm viel-leicht sogar so sauer aufstoßen, daß er mich auf der Stelle hinaus-warf.

Dieses Risiko ging ich ein. Notfalls zog ich ihm den Zahn, ich sei sein Leib- und Kammerdie-

ner und Nachttopfschwenker. Dann gab ich meine wahre Identität preis und setzte ihm über Sir Horatios vielfältige Verbindungen die Daumenschrauben an.

Der Mann hatte schließlich Verantwortung für seine Familie. Wenn er das nicht einsah, gehörten ihm die bürgerlichen Ehren-

rechte und anderes aberkannt. Und da war noch eine Gefahr – die Familie durfte nicht auseinan-

derlaufen! Hier im Haus konnte ich sie notdürftig schützen. Wenn sie in alle Winde davonstob, konnte ich nicht bei jedem

Mitglied gleichzeitig sein. Dann hatte Hutchinson die Chance, die er suchte. Dann brachte er die Menschen nacheinander um. Um den alten Richter leiden zu lassen, um ihn unbarmherzig zu

quälen. Bis er ihn dann auch noch umbrachte. Ich brachte auch im Treppenhaus Zeichen an. Als ich hinunterkam, war das Schrittegepolter gottlob verstummt.

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Die Familie war dafür versammelt und drängte sich verstört und entsetzt zusammen.

Rose hatte sich an eine Frau geklammert. Das war die Mutter, und nach Fishers Erklärungen auf der Fahrt hierher hieß sie Linda und war mit Allan Copeland verheiratet.

Ich erkannte sie nach den plastischen Schilderungen alle. Nur einen alten Kampfhahn und Haustyrannen vermißte ich. Der Rich-ter war noch unterwegs.

Weiß der Himmel, was Fisher den Leuten inzwischen erzählt hat-te.

Jedenfalls wurde mir bewegt die Hand geschüttelt. »Ihre Chance!« raunte mir der Inspektor zu. »Ich habe Reklame

für Sie gemacht. Sagte, Sie hätten was los. Sie seien auch Geistergu-cker und so.«

Ich hätte ihm liebend gern was erzählt, aber ich mußte gute Mie-ne zu dem Spiel machen, das er eingefädelt hatte.

Also knirschte ich nur mit den Zähnen, So, daß er's auch hörte. Dann erlaubte ich mir ein sparsames Lächeln. »Mir scheint, dieses

Haus besitzt einen rabiaten Geist. Na ja, wir werden sehen, wie wir mit ihm zurechtkommen. Ich bin der neue Butler, und der Name ist Mac.«

Die reife Lady, die mich indigniert angestarrt hatte, als ich im Sturmschritt durch die Kaminhalle brauste, streckte fordernd die Hand aus. »Ihre Papiere würde ich gerne sehen!«

An solche Lappalien hatte ich nicht gedacht. Der Inspektor auch nicht. Er biß sich auf die Lippe.

»Die werde ich nachreichen, Mylady«, sagte ich und legte Schmelz und Schmalz in die Stimme.

»Seltsam«, meinte die Lady, »ein Butler ohne Papiere. Zeiten sind das! Was kann man nach dem Verlust des Empire auch noch erwar-ten?« Sie rümpfte die Nase über mich, drehte sich um und rauschte davon.

Ein Mann, blaß und angegriffen aussehend, schob sich vor. »Hören Sie gar nicht hin, Mac«, sagte er und gestattete sich einen

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erbosten Blick in Richtung der Lady. »Ich bin Allan Copeland und der Vater von Rose. Ich habe schon gehört, daß Sie sie vor dem Un-hold gerettet haben.«

Fisher hatte wirklich sein Mundwerk laufen lassen wie eine Klap-permühle.

»Der Unhold ist ein Geist, Sir«, sagte ich gemessen und kühl. »Wenn Sie erlauben, möchte ich verschiedene Zeichen im Haus an-bringen. Damit könnte es gelingen, den Bewegungsspielraum des Geistes einzuengen.«

Ganz geheuer war ihm mein Wunsch nicht. Er nickte nach kurz-em Überlegen. »Wenn es sein muß!«

»Es muß, Sir.« Ich schaute hinter seiner Tante her. Ich mußte die Form wahren, ich durfte ja nicht zugeben, daß ich schon von Fisher eingeweiht war. Allan Copeland hätte schnell gemerkt, daß wir ein Komplott geschmiedet hatten. »Bitte, Sir, wer ist die Dame?«

»Mistress Elaine Summer, die Schwester des Richters und meine Tante. Nehmen Sie sich nicht zu Herzen, was sie sagt. Sie redet viel, wenn der Tag lang ist.«

Das war ja eine vielversprechende Familie. Ich stiefelte also los und brachte erst mal meine Zeichen an. Der Richter führte wahrscheinlich« ein Mordstheater auf, wenn er

sie entdeckte. Ich wurde innerlich erst ruhiger, als ich mit meiner Arbeit fertig

war. Allan Copeland machte mich mit der übrigen Familie bekannt. Seine Frau Linda blickte immer noch verschreckt wie eine Spitz-

maus. Meine Worte, daß ein Geist das schreckliche Brüllen und das nervenzerfetzende Trappeln veranstaltete, hafteten in ihrem Ge-dächtnis. Sie vergaß aber auch nicht, daß ich Rose befreit hatte. Sie dankte mir überschwenglich, daß ich mir schon fast wie der Retter des Abendlandes vorkam.

Ihren flehenden Augenausdruck deutete ich richtig. Der Gedan-ke, mit einem entsetzlichen mordenden Geist unter einem Dach zu wohnen, war ihr unerträglich.

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»Wir ziehen aus, Allan!« wandte sie sich an ihren Mann, und an mich: »Helfen Sie mir beim Packen, Mac.«

Genau das hatte ich befürchtet. Allan Copeland schaute unentschlossen. »Sir«, sagte ich, bevor er eine Entscheidung traf, »zufällig habe ich

etwas Erfahrung im Umgang mit Geistern und Gespenstern. Wenn Sie alle hier zusammenbleiben, habe ich eine Chance, etwas für Sie zu tun und Sie vor der Erscheinung zu schützen. Wenn Sie auszie-hen nicht. Ich kann nicht zugleich bei Ihrer Familie und hier sein.«

»Allan, denke an die Kinder!« mischte sich seine Frau ein. »Mylady, an die denke ich ganz besonders«, sagte ich. »Ich weiß nicht«, sagte Allan Copeland zögernd. »Ich glaube, ich

muß das mit dem Richter besprechen.« Mir paßte das gar nicht. Ich mußte ihn einweihen. Soweit wenigstens, daß ich mir seiner

Unterstützung sicher war. Und sobald sich eine Gelegenheit ergab. Von seinen Kindern kannte ich Rose schon. Das andere Mädchen

war Bridget und schlug ganz in die Art der Mutter. Die Söhne Jeff und Angus fanden es wahnsinnig aufregend, mit

einem Gespenst das Haus zu teilen. Ob ich es nicht erscheinen lassen könnte, wollten die Burschen

wissen. Die machten mir Laune! Ich war froh, daß mir Hutchinson eine

Verschnaufpause gab. Ich verzichtete gerne darauf, daß er schon wieder mit seinem Lärm das Haus erbeben ließ.

Der Kerl stellte eine tödliche Bedrohung für die Familie und für mich dar.

Soweit dachten Jeff und Angus nicht. Für die zählte erst mal, daß sie einen eigenen Geist hatten. Besonders Jeff fand diese Vorstellung irre und total gruselig, wie

er versicherte. Bei Angus war ich mir nicht so sicher. Der Junge war siebzehn

und aufgeweckt, und er schaute mich irgendwie lauernd und eine Spur mißtrauisch an.

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Vielleicht dachte er, ich würde die ganze Sippe verkohlen. Allan Copeland stellte mich seiner Schwester Sarah vor. Fisher

hatte mich instruiert, sie war Trinkerin. Ich roch, daß sie sich schon wieder einen reingeballert hatte. Und

nicht zu knapp. Sie lallte beachtlich. Ihrem Bruder war's schrecklich peinlich, er

drängte sie ab. Aber statt sich zurückzuziehen, ließ sie sich in einen Sessel beim Kamin fallen.

Sie saß da wie eine dralle häßliche Kröte mit ihrem aufgedunse-nen Gesicht.

Der Mann, der die Absicht hatte, sie zu heiraten, war Bill Shaner. Allan Copeland kehrte hier die Gesellschaftsregeln um – er stellte

Shaner mir vor. Und er machte kein Hehl aus seiner Abneigung ge-gen den Mann.

Mir gefiel er auch nicht besonders, aber ich wollte ihn ja nicht hei-raten.

Er war ein blasser farbloser Geselle. Beeindruckend waren nur seine Augen. Sie waren flink wie die eines Wiesels. Als ob der Kerl ständig darauf bedacht sei, alles zu sehen und nirgendwo zu kurz zu kommen.

Als Copeland mir dann das Haus zeigte und die erforderlichen Erklärungen gab, damit ich mich in meinem neuen Wirkungskreis zurechtfand, merkte ich, daß uns Shaner nachschnürte.

Er hatte Mißtrauen gegen mich gefaßt. Womöglich dachte er, der alte Richter hätte mich angeheuert, um ihm irgendwie was am Zeug zu flicken.

Copeland führte mich von den Dachräumen bis zum Keller. Ich schleppte unentwegt meine Tasche mit. Für den Fall, daß Hutchin-son wieder erschien.

Ich war nicht wild darauf, ihm mit leeren Händen entgegenzutre-ten.

Schließlich fiel es sogar Copeland auf, daß ich mich nicht von der Tasche trennte.

»An einem Butler mit Marotten sind wir eigentlich weniger inter-

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essiert, Mac!« sagte er und kurbelte die Brauen hoch. »Oder fürch-ten Sie Diebe?«

»Den Geist«, sagte ich leise, »und ich fürchte weniger um mich als um Ihre gesamte Familie.«

»Jaja, Sie sind ja rührend um uns besorgt«, meinte er ungeduldig, »aber entledigen Sie sich jetzt der Tasche. Der Richter kann jede Mi-nute kommen.« Er musterte mich. »An angemessene Kleidung ha-ben Sie wohl nicht gedacht?«

»Ich war auf das schnelle Engagement nicht eingerichtet.« »Es wird sich etwas finden lassen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen

jetzt den Personaltrakt.« Er wies mir tatsächlich das Zimmer des Butlers Henry zu. Von Henrys Sachen paßte mir nichts. Allan Copeland schaute nachdenklich. »Dann gebe ich Ihnen et-

was von mir«, meinte er. Ich dachte, daß jetzt die Gelegenheit günstig war. »Sir, auf ein Wort.« »Ja? Ach, Sie meinen die Bezahlung?« »Nein, Sir. Ich meine den Geist. Über diesem Haus schwebt eine

grauenhafte Gefahr. Ihr Vater hat vor zwölf Jahren einen bestiali-schen Mörder an den Galgen geschickt. Es wurde die letzte Hin-richtung im Königreich. Der Mann hieß Keith Hutchinson. Vom Galgen herab schleuderte er einen Fluch gegen Ihren Vater.«

»Ach, und Sie meinen, der Fluch erfüllt sich nun? Wenn Sie als Butler so gut sind wie im Erzählen von Schauergeschichten, dann haben wir einen guten Fang gemacht.«

»Sir, es ist ernst, ich muß Sie ins Vertrauen ziehen. Hutchinsons Grab wurde aufgebrochen vorgefunden, der Geist ist der Grube entstiegen und hat sich hierherbegeben.«

»Was Sie nicht sagen!« Er glaubte mir kein Wort. Ich mußte mit schwerstem Geschütz schießen. »Der gewaltsame Tod des Polizisten und Ihres Butlers Henry sind

keine normalen Mordfälle. Beide Männer mußten sterben, weil sie Hutchinsons Geist begegnet sind, just zu dem Zeitpunkt, als er her-

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kam. Den Polizisten ereilte es draußen, den Butler im Haus. Der Geist ist in der Lage, menschliche Gestalt anzunehmen.«

Ich sprach mit großem Ernst, stieß aber immer noch auf Unglau-ben.

»Wenn es schon ein Geist sein soll, so sind Sie auch ganz sicher, daß es der von Hutchinson ist? Mac, Sie sind töricht!«

»Sir, Hutchinsons Geist in seiner körperlichen Form wurde von zwei Zeugen gesehen, die übrigens auch den Mord an dem Polizis-ten beobachteten. Diese Zeugen haben nie im Leben den richtigen Hutchinson gesehen. Sie erkannten den Mörder von der vergange-nen Nacht sofort wieder, als man ihnen ein Foto des richtigen Hutchinson zeigte, das noch bei der alten Gerichtsakte lag.«

Jetzt erschauerte Copeland doch. »Woher wissen Sie das eigent-lich alles?«

»Sir, ich bin mit Inspektor Fisher befreundet«, sagte ich, und das war fast nicht gelogen. »Er hat mir diese Dinge anvertraut.«

»Und warum mir nicht?« »Wie hätten Sie reagiert, Sir? Sie hätten den Inspektor ausgelacht

und ihm geraten, sich auf die Suche nach dem Mörder zu konzen-trieren, statt unglaubliche Gruselgeschichten zu verbreiten.«

Allan Copeland schwieg. Das war auch eine Antwort. Plötzlich hob er ruckartig den Kopf. »Wer sind diese Zeugen?« »Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen, Sir. Ich kann Ihnen

nur soviel verraten, daß man mir ebenfalls das alte Foto gezeigt hat. Und die Erscheinung eben sah genau wie Hutchinson auf dem Bild aus. Falls Ihr Töchterchen Rose, sobald es den Schock überwunden hat, von einem bösen einäugigen Mann spricht, das ist Hutchinson. Oder besser sein Geist. Der Kerl hatte Rose schon gepackt. Der In-spektor ist mein Zeuge. Dieses ganze Treiben zielt auf Ihren Vater. Hutchinson will ihn umbringen – ganz zuletzt.«

»Was heißt das, ganz zuletzt?« »Nachdem die Familie ausgerottet ist. Ein fürchterlicher Plan. Die

Bestie aus dem Totenreich ist aus dem Grab ausgebrochen, um sich an Ihrem Vater und an dessen Familie zu rächen.«

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Meine Eröffnung setzte ihm zu. Er schluckte, und er war grau im Gesicht wie altes Mauerwerk.

Nun kam es auch nicht mehr darauf an, jetzt konnte ich ihm den letzten Schlag versetzen.

»Hutchinson war einäugig, Sir. Der Kerl, der hier herumspukt, ist es auch. Nur ist es jetzt kein richtiges Auge mehr. Nur noch eine weiße Kugel, in der Farben spielen, und aus der Blitze schießen können. Diese Blitze sind imstande, Menschen zu lähmen oder er-starren zu lassen, sie vermögen allerdings auch Stein zu schmelzen…«

»Nun hören Sie aber auf, Mac!« »Sir, wenn es nicht zu gefährlich wäre, möchte ich Ihnen empfeh-

len, das Grab Hutchinsons auf dem Brompton-Friedhof aufzusu-chen. In den Grabstein ist ein Loch geschmolzen.« In diesem Mo-ment fiel mir ein weiterer Beweis ein. »Wie ist die Straße vor die-sem Haus beschaffen, Sir? Gab es da in letzter Zeit ein Loch?«

Er starrte mich angestrengt an. Er wußte nicht, worauf ich hinaus-wollte.

»Ich entsinne mich nicht«, brummte er. »Seit der vergangenen Nacht ist dort ein Loch, Sie können es je-

derzeit besichtigen. Einer dieser erwähnten Blitze hat einen der Zeugen verfehlt und das Loch in die Straße gebrannt.«

»Das will ich sehen!« erklärte er in reichlich drohendem Ton. Be-vor ich ihn aufhalten konnte, war er draußen.

Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, bis er zurück war. »Sie sind kein richtiger Butler, nicht wahr?« sagte er heiser. »Sie

verstehen zuviel von diesen seltsamen Dingen!« »Ich befasse mich lediglich mit gewissen Phänomenen, für die es

keine vernünftige Erklärung zu geben scheint, Sir.« Er nannte mich mit keinem Wort mehr einen Märchenerzähler.

Das Loch war also noch da. Es hatte ihn überzeugt. Er schleppte mich in die Räume, die er mit seiner Familie be-

wohnte. Aus seinen abgelegten Kleidungsstücken suchte er etwas für mich

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aus. Wir hatten annähernd dieselbe Figur. Ich trug eine Salz-und-Pfeffer-Hose, ein Hemd, einen alten

schwarzen Binder und einen Gehrock mit Schwalbenschwanz in mein neues Domizil und machte Modenschau.

Die Hose ging ja noch. Aber der Gehrock! Ich kam mir vor wie der Storch im Salat. Ein prüfender Blick in den Spiegel ließ mich grimmig auflachen. Das hatte sich der Sohn meiner Mutter auch nicht träumen lassen,

daß er mal als Butler in einem Gespensterhaus eine vorübergehen-de Anstellung fand!

Ich hängte meine eigenen Sachen in den Schrank. Henrys Hinter-lassenschaft war noch da.

In einem Fach entdeckte ich weiße Handschuhe. Wenn schon, denn schon, dachte ich und probierte ein Paar. Sie

waren fabrikneu und paßten leidlich. Ein Paar Hosenträger erregten mein Interesse und beflügelten

meine Phantasie. Die Tasche konnte ich ja nicht auf Schritt und Tritt mitschleppen,

Allan Copeland hatte sich das verbeten. Den Krif wollte ich aber bei mir haben. Aus vielerlei Gründen. Also bastelte ich aus den Hosenträgern eine Art Schulterholster

und schnallte es um. Eine Schlaufe nahm den Krif auf. Das Drei-Klingen-Beil kniff scheußlich unter dem linken Arm. Ein Kontrollblick in den Spiegel belehrte mich, daß sich der Geh-

rock verzog und eine stattliche Beule an der linken Achsel zeigte. Der perfekte Butler war ich nicht. Soweit ging mein Ehrgeiz auch

nicht. Gerade als ich die Frisur glättete und die schwarze Schleife zu-

rechtzupfte, sah ich im Spiegel eine Bewegung. Ich wirbelte herum. Am Fenster zuckte gerade noch ein Kopf weg. Von draußen hatte jemand in mein Zimmer geblickt!

*

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Ich sauste los, daß die Rockschöße steif wie Bretter im Fahrtwind nach hinten standen.

Die Räume im Personaltrakt lagen zur ebenen Erde. Da war es kein Kunststück, sich an ein Fenster heranzuprischen und ins Zim-mer zu spähen.

Ich wollte wissen, wer so neugierig war. Draußen im Garten schaute ich mich verdutzt um. Außer dem Polizisten entdeckte ich niemand, und der steckte

vorne beim Tor zwischen den Büschen und peilte auf die Straße. Er konnte nicht am Fenster gewesen sein.

Oder er hätte flitzen müssen wie ein Hundert-Yard-Läufer. Aber dann hätte er gepumpt wie ein Maikäfer.

Ich schlich trotzdem in seine Nähe. Er atmete ganz normal. Von ihm unbemerkt kam ich ins Haus durch den Dienstbotenein-

gang zurück. Auf dem Gang stockte mein Schritt. Ich hatte beim Hinauslaufen meine Zimmertür hinter mir zugeworfen.

Jetzt stand sie spaltbreit auf. Und drinnen rumorte jemand! Auf den Außenkanten der Schuhe schlich ich heran. Sehen konnte ich nicht, wer bei mir herumstöberte. Ich holte Atem und stieß die Tür auf. Vorsorglich schob ich die

rechte Hand unter den Flügel des Gehrockes und faßte den Stiel des Krif.

Elaine Summer, die Schwester des Richters, stand am offenen Kleiderschrank und filzte meine Sachen!

Sie wandte knapp den Kopf zu mir. Daß ich sie ertappt hatte, genierte sie nicht die Bohne. Im Gegen-

teil, wie sie dastand, drückte sie aus, daß sie das Recht hatte, in an-derer Leute Sachen zu wühlen.

Meinen Ausweis hatte sie nicht gefunden. Der steckte hinter dem Spiegel.

Und meine Brieftasche lag oben auf dem Schrank, wo normaler-

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weise auch kein Mensch sucht. Ich sagte nichts, ich guckte die Dame nur an. Und gar nicht

freundlich. Sie hängte meine Jacke in den Schrank zurück. »Sie kaufen wenigstens standesgemäß für uns. Fortnum und Ma-

son. Ich will es mit Ihnen versuchen«, sagte sie hoheitsvoll. »Aber die Papiere bringen Sie dennoch bei.«

Damit rauschte sie an mir vorbei. Aus der Nähe sah ich, daß sie eine Menge Gesichtsfalten über-

tüncht hatte. Ich knallte die Schranktür zu. Im selben Moment hörte ich einen

erstickten Ruf aus dem Gang. Dann ein eigenartiges Schlurfen. Ich war mit zwei Riesensätzen draußen. Hutchinson hatte es vorgezogen, sich weder durch dröhnende

Schritte noch durch sein schwachsinniges Gelächter anzukündigen! Entweder hatte er es auf mich abgesehen gehabt, oder er hatte

Elaine Summer aufgelauert. Jedenfalls hielt er sie gepackt und zerrte sie den Gang entlang

hinter sich her. Sie mußte ihm geradewegs in die Arme gelaufen sein. Er hatte ihr den Kopf eingeklemmt wie schon der kleinen Rose. Die Frau konnte kaum atmen. Aber sie lebte noch. Ihre Augen

drückten das Grauen aus, das sie empfand. Ich zerrte den Krif heraus und setzte Hutchinson nach. Aber er war schneller. Er machte mit dem Arm, den er um den Hals der Frau gelegt hat-

te, eine wilde Bewegung und drehte ihr den Kopf fast nach hinten. Ich hörte das Brechen der Halswirbel. Zu spät! war der erste Gedanke. Ich fühlte mich in diesem Sekundenbruchteil wie leer. Eine nie ge-

kannte Mutlosigkeit packte mich. Da hatte ich ein böses Wesen aus der Welt der Schatten höchstens

zwanzig Schritte vor mir und mußte hilflos mit ansehen, wie es einen Menschen umbrachte.

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Nach diesem Erkennen der Niederlage und der Einsicht meiner Ohnmacht kam die Wut.

Ich schleuderte den Krif mit aller Macht. Die Waffe wirbelte fast in einer Linie auf die Bestie aus dem To-

tenreich zu. Hutchinson wußte, daß ich hinter ihm war. Er beobachtete mich.

Ich sah wieder das Farbspiel in seinen Augen und duckte mich. Schneller, als ich das beschreiben kann, fuhr schon ein Blitz aus

dem Auge des Todes und griff nach meinem Drei-Klingen-Beil. Ein Feuerball blühte schlagartig auf. Ich hörte einen dumpfen Knall. Sofort danach spürte ich eine Druckwelle, die mir ins Gesicht

stieß. Ich fürchtete, daß Hutchinson mit seinem teuflischen Todesstrahl

den Krif vernichtet oder zumindest schwer beschädigt hatte. Aber ich sah den Kerl plötzlich am Boden kauern. Da wußte ich, was geschehen war. Zu der Feuerballerscheinung war es gekommen, als die Energien

des Augenblitzes und des Krifs aufeinanderprallten. Es handelte sich um feindliche Energien.

Der Krif hatte aber unbeschadet den Feuerball durchdrungen und war auf Hutchinson weiter zugewirbelt.

Im letzten Moment hatte sich der Unhold ducken können. Ich hörte, wie der Krif gegen die Wand vorne krachte, wo der

Gang abknickte. Hutchinson hielt immer noch die Tote gepackt. Er zerrte sie jetzt wieder in die Höhe. Was wollte er mit ihr? Er hatte sie doch getötet, wieder war ein

Teil seiner Rache erfüllt. Hatte er etwa die Absicht, sie in die Kaminhalle zu schleppen, um

die Familie in Panik zu stürzen? Dann stoben die Menschen in alle Richtungen davon. Blitzartig begriff ich, daß dies seine Absicht war. Mein Krif wurde

ihm zu gefährlich, er wollte seine Opfer dort wissen, wo ich mit der

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Waffe nicht sein konnte. Ich schnellte ebenfalls hoch, stürmte auf ihn los und stieß dabei

einen Bannspruch gegen ihn aus. Ohne Erfolg! Jetzt ließ er sein grausiges Gelächter hören. Mit Bannsprüchen konnte ich also nichts gegen ihn ausrichten. Ich sah, daß er die Tote vor sich hielt und die Arme anwinkelte.

Er wollte sie mir entgegenschleudern, um mich aufzuhalten. Ich hielt auf die größere Lücke zwischen ihm und der Gangwand

zu. Und richtig stieß er die Tote in diese Richtung. Ich hatte es geahnt und ihn mit einer Körpertäuschung genarrt. Statt auf die große Lücke raste ich auf die kleine an seiner ande-

ren Seite zu. Im Vorbeilaufen stieß ich mit der Faust nach seinem Gesicht. Es war ein Gefühl, als würde ich in einen zähen Teig hineinpa-

cken. Unaussprechlich widerlich und ekelhaft. Von Schädelknochen keine Spur! Das war ja auch nicht gut möglich. Hutchinsons Knochen lagen auf dem Brompton-Friedhof unter ei-

nem frisch aufgehäuften Erdhügel, wie es sich gehört. Ein Arm rutschte über meine rechte Achsel, eine Hand streifte

meinen Kopf und riß mir fast ein Ohr ab. Dann spürte ich einen Schlag zwischen den Schulterblättern, der mich von den Beinen schleuderte.

Gottlob in Richtung auf den Krif, den ich am Gangknick auf dem Boden liegen sah.

Während ich durch die Luft segelte und derartige Schmerzen im Kreuz hatte, daß ich dachte, die Wirbelsäule sei hin, ging mir auf, was passiert war.

Hutchinson hatte mich noch im letzten Moment packen wollen, um mir auch die Nase nach hinten zu drehen.

Wegen meiner Schnelligkeit hatte er mich nur noch gestreift, und es hatte auch nur noch zu diesem Schlag zwischen die Schulterblät-

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ter gereicht. Hätte ich den Hieb von vorn bekommen, wären mir wenigstens

ein paar Rippen eingeschlagen worden. Ich versuchte eine Rolle, landete hart und prallte gegen die Wand. Es stauchte mich, ich litt unter Atemnot. Aber meine Angst vor

der Bestie war viel schlimmer. Ich streckte den Arm aus, bekam den Krif zu fassen und schnellte mich am Boden herum, so gut es ging.

Hutchinson hatte die Tote liegen lassen, wie und wo sie gestürzt war. Sie war für ihn nicht mehr von Interesse. Jetzt war ich dran.

Er hatte aber nicht geglaubt, daß ich noch an den Krif herankäme. Jedenfalls verzerrte sich sein schmutziges Gesicht, das Auge des

Todes, dieser weiße leblose Ball, stierte mich an. Ich holte zum Wurf aus. Hutchinson rettete sich wieder in die Unsichtbarkeit. Mochte der Henker wissen, wie ihm das gelang! Es gab kein Flimmern, kein Durchscheinend werden des Körpers,

kein sonstiges Anzeichen für einen Entstofflichungsprozeß. Er war einfach nicht mehr da. Schneller, als man mit dem Dau-

men schnippen konnte. Wenigstens schien er aus dem Unsichtbaren heraus nicht angrei-

fen zu können. Das war allerdings ein schwacher Trost. Er hatte das dritte Opfer gefunden. Ich gab mir einen Teil Schuld daran. Überall im Haus hatte ich die magischen Zeichen in den Boden

geritzt. Nur hier nicht. Ich hatte nicht bedacht, daß er auch im Personaltrakt zuschlagen

könnte. Diese Bestie hatte es jedoch getan. Ich untersuchte Elaine Summer. Ihr war nicht mehr zu helfen. Betroffen hängte ich den Krif in die Schlaufe unter der linken

Achsel, richtete meine Butler-Garderobe und verständigte Allan Copeland.

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Er wurde blaß, daß ich um seine Gesundheit fürchtete. »Sagen Sie, daß es nicht wahr ist!« Er packte mich, seine Lippen

zuckten. »Ich bedauere unendlich, Sir, aber es ist so, wie ich sage.« Ich löste seine Hände von den Aufschlägen des Gehrockes. In diesem Augenblick hörte ich Lärm von der Tür. Ich dachte nichts anderes, als daß Hutchinson schon wieder er-

schienen war, und eilte mit raumgreifenden Schritten los. Ein kleiner faltiger Mann schaute mich verkniffen an. Er trug

noch Hut und Mantel. Ich benötigte keine Erklärung. Der Richter war heimgekommen.

Und welch ein Empfang wartete auf ihn! Hinter ihm gewahrte ich Fisher. Er mußte William Copeland

draußen abgepaßt haben. Fisher und der Richter starrten mich an wie zwei Maulwürfe, die

versehentlich in einen Pub geraten waren und sich einen angezwit-schert hatten.

Der Inspektor zeigte unangebrachte Heiterkeit. Woher sollte er auch wissen, daß im Haus eine Tote lag?

Er merkte erst, daß etwas nicht stimmte, als Allan Copeland ne-ben mir anlangte und tonlos sagte: »Es – es ist schon wieder etwas passiert! Tante Elaine.«

»Was ist mit ihr?« knurrte der Richter. Eine Begrüßung schien er für überflüssige Höflichkeit zu halten.

»Lady Elaine Summer ist tot, Sir!« sagte ich an Allan Copelands Stelle. »Ich bin der neue Butler, der Name ist Mac, Sir.«

»So, sind Sie? Das wird sich noch herausstellen! Ich habe keinen neuen Butler bestellt!« kanzelte der Alte mich ab. »Sie scheinen nicht einmal zu wissen, wie Sie einen Gehrock zu tragen haben.« Er starrte auf die Beule unter der Achsel.

»Sir, Sie sollten sich nicht an Äußerlichkeiten stören«, sagte ich. Aber ich wußte, wie ich aussah – wie eine Vogelscheuche auf dem Acker.

Fisher entschärfte die Situation. »Führen Sie mich hin!« verlangte

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er. Ich tat nichts lieber als das, um dem grantigen alten Richter erst

einmal aus den Augen zu kommen. Immerhin – er hatte mich nicht sofort hochkant hinausgeworfen.

Das war schon ein Gewinn. Allan Copeland wollte uns begleiten. Ich bat ihn, lieber die Fami-

lienmitglieder und vor allem die Kinder vom Personaltrakt fernzu-halten.

Als ich mit Fisher allein war, fragte er nur knapp: »Hutchinson?« »Wer sonst? Hier liegt sie. Ich konnte es nicht verhindern.« Er beugte sich über die Tote. Sein Gesicht wurde schmal und die

Nase spitz. »Dann rufe ich jetzt wohl besser meine Leute her«, sagte er mit

angegriffener Stimme. »Damit die Sache einen offiziellen Charakter hat.«

Er riß den Kopf hoch, und auch ich lauschte. Oben tappten wie-der Schritte.

Dann gellte dieses schaurige Gelächter durchs Haus, daß es mir die Kopfhaut mit einem Ruck zusammenzog.

*

Ich wollte sofort lossprinten. Fisher hielt mich mit hartem Griff zu-rück. »Wo wollen Sie hin?«

»Nach oben, was sonst?« fauchte ich ihn an. »Wohin oben?« Er zeigte mit der anderen Hand zur Gangdecke.

»Hier gibt es kein oben. Dieser Trakt hat ein Flachdach, nebenan sind die Garagen. Der Kerl führt Sie an der Nase herum!«

»Es ist meine Nase!« Ich riß mich los. Aber wenn der Trakt wirklich ein Flachdach besaß, dann hopste

Hutchinson gar nicht im Haus selber herum! Ich flitzte in mein Zimmer, öffnete das Fenster und sprang hin-

aus. Das Dröhnen der Schritte war auch hier zu hören. Der Polizist

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kam vom Tor gelaufen und schaute mich scharf an. Ich lief soweit vom Gebäude fort, bis ich halbwegs auf das flache

Dach schauen konnte. Da war niemand. Aber die Schritte dröhnten. Inspektor Fisher kletterte gerade aus dem Fenster. »Es ist flach,

das habe ich Ihnen doch gesagt«, schnaufte er und schaute eben-falls hinauf.

Danach verschlug es ihm die Sprache. »Er hat sich unsichtbar gemacht«, erklärte ich. »Er lärmt wie be-

sessen. Man hört nur, wo er ist, aber man sieht ihn nicht.« Einen Wurf mit dem Krif konnte ich mir unter diesen Umständen

sparen. »Der Teufel soll ihn holen!« sagte Fisher voller Inbrunst. »Das hat der Teufel längst erledigt, er hat ihn aber von der Kette

gelassen«, erwiderte ich. Fisher starrte zum Flachdach hoch. »Vor Ihrem Beil scheint er Re-

spekt zu haben.« Hoffnung keimte in mir auf. »Vor dem auch, das weiß ich genau,

weil ich es bereits ausprobiert habe, aber ich schätze, er bleibt des-halb draußen, weil ihm die Zeichen nicht behagen.«

»Welche Zeichen?« fragte Fisher. Der Polizist fuhr die Ohren aus und kam noch näher. »Magische Zeichen, Inspektor. Ich habe sie überall im Haus ange-

bracht, nur nicht in diesem Trakt. Das werde ich jetzt nachholen. Nur darum hat er Elaine Summer erwischt.«

»Wenn Sie sich nur nicht irren, Mac!« Fisher stieß das Kinn vor und schaute düster. Wir kehrten durchs Fenster ins Haus zurück. Ich ritzte mit dem Krif meine Zeichen in den Boden. Hinten, wo

eine feuerfeste Für zu den Garagen führte, und vorne am Durch-gang zur Kaminhalle.

Und ich betete zu den guten Geistern, daß meine Bemühungen von Erfolg gekrönt waren und Hutchinson mit seinem schreckli-

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chen Auge des Todes von den Hausbewohnern ferngehalten wur-de. »Tja, dann rufe ich jetzt wohl im Yard an«, meinte Fisher. Er be-trachtete die Kerbe in der Wand, die der Krif geschlagen hatte. »Das waren Sie, nicht wahr?«

Mit einem Achselzucken verschwand er. Ich dachte über seine letzten Worte nach. Miriam, die Hexe, hatte gesagt, der Krif kehre in die Hand des

Werfers zurück. Bisher hatte er das nicht getan. Weder im Büro von Sir Horatio,

noch vorhin hier im Gang. Entweder machte ich etwas grundsätzlich falsch, oder Miriam

ging von den einstigen Erfahrungen mit dieser Waffe aus. Die Schlachten der Druiden und der guten Mächte waren mit Si-

cherheit unter freiem Himmel geschlagen worden und nicht in en-gen Hütten. Auf freiem Feld hatten die Krifs ihre Möglichkeiten entfalten können.

Dieses Problem erschien mir so dringend, daß ich noch mal aus dem Fenster kletterte und mir hinten im Park einen günstigen Platz aussuchte, der vom Haus her nicht einzusehen war.

Es hätte einen schlechten Eindruck hinterlassen, wenn die Cope-lands ihren neuen Butler mit einem seltsamen Beil Wurfübungen hätten machen sehen.

Ich wog die Waffe in der Hand, holte tief Luft und schleuderte das Drei-Klingen-Beil mit aller Kraft.

Es beschrieb zunächst eine flirrende Bahn auf die Grundstücks-grenze zu, und ich sah es im Geiste schon in der Nachbarschaft ver-schwinden.

Aber dann veränderte sich die Bahn minimal. Der Krif stieg flach an. Plötzlich schraubte er sich steil in den

Spätnachmittagshimmel, flog so eine Art Looping, hackte durch eine Baumkrone, daß die Blätter stoben, und senkte sich der Erde zu.

Es sah aus, als würde er abstürzen. Er rotierte aber immer noch ganz schön und kam jetzt dicht über

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dem Boden zurück. Viel zu schnell. Ich getraute mich nicht, in diesen Wirbel von drei Klingen und

nur einem Stiel zu packen. Der Krif schwirrte pfeifend an mir vorbei, drehte einen eleganten

Bogen um eine Blutbuche und flog schon wieder auf mich los. Immer noch zu schnell. Ich blieb stehen. Einmal mußte ich ja herausfinden, was er konnte

und was ich mir mit ihm zutrauen durfte. Traf er mich jetzt? Ich kniff für einen Moment die Augen zu, als er riesengroß wer-

dend vor mir auftauchte. Vorbei! Ich atmete auf. Das Pfeifen hatte auch schon viel matter und tiefer

geklungen. Er wirbelte in einem kurzen Bogen noch einmal über den Rasen

und kam in Hüfthöhe zurück. Ich packte von oben in den flirrenden Kreis – und hatte mit einem

satten Schlag den schwarzen Holzstiel in der Hand! Na also! Es klappte. Ich wuchs innerlich glatt um halbe Handhöhe. Meine Vermutung sah ich bestätigt. Der Krif war eine ausgezeich-

nete Waffe für das freie Gelände und mit Einschränkungen eine für Wohnräume und andere Gelasse.

Ich führte sofort weitere Würfe aus und machte mich mit dem Krif immer mehr vertraut.

Jedesmal kehrte er zu mir zurück, so daß ich ihn auffangen konn-te.

Die ganze Zeit lauschte ich zum Haus hin. Das Dröhnen war längst verstummt. Ich schätzte, Hutchinson

sann darauf, wie er ins Haus gelangen konnte. Vielleicht suchten die Leute ihren neuen Butler. Sollten sie, was

ich hier trieb, war wichtiger, als mir verstörte und bestürzte Gesich-ter anzusehen und Fragen anzuhören, auf die ich keine Antwort

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Page 115: Das Auge des Todes

wußte. Daß der Krif unten im Gang in die Wand gekracht war, fuchste

mich aber doch. Ich wagte einen weiteren Wurf. Ich setzte ihn ganz kurz an und

gab dem Beil einen Drall. Es flog einen Kreis mit einem Durchmesser von weniger als zehn

Schritten, surrte zweimal unangenehm um mich herum und be-schrieb eine Ellipse, bevor es in Kopfhöhe auf mich zuschwirrte.

Ich ging etwas in die Knie und griff von unten in den Wirbel. Der Stiel knallte mir in die Hand, als hätte sie die Waffe angezo-

gen. Ich versuchte gleich noch einen Wurf. Den setzte ich aber so eng

an und mit so starkem Drall, daß der Krif nach einem flachen Bo-gen über den Rasen beklemmend enge Kreise um mich zog.

Mehr als armlang war die Waffe nicht entfernt. Ich war nicht versessen darauf, mir die Hand abhacken zu lassen.

Deshalb packte ich erst zu, als die Wirbelbewegung merklich lang-samer wurde.

Der Krif landete problemlos in meiner Hand. Ich grübelte darüber nach, wie es möglich war, daß ich immer

den Stiel zu fassen bekam und nicht in eine Klinge griff. Eine brauchbare Erklärung fand ich nicht. Mit Glück und Ge-

schicklichkeit gab ich mich nicht zufrieden, so wenig wie mit Zu-fall.

Er schien eines der Geheimnisse des Krifs zu sein. Ich steckte das Beil in die Schlaufe und kehrte zum Haus zurück. Plötzlich spürte ich, daß ich beobachtet wurde.

*

Ich musterte sofort die Büsche. Dort war niemand. Auch nicht hinter den dicken Bäumen im

Parkteil des Anwesens. Blieb nur das Haus.

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Page 116: Das Auge des Todes

Im oberen Stockwerk, wo sich die unbenutzten Räume befanden, sah ich eine Bewegung hinter einem Fenster.

Ein Gesicht! Die Zeit war zu knapp, um es mir einzuprägen. Zum Teufel, eine Gestalt hatte ich auch am Fenster des Butlerzim-

mers gesehen, und als ich dann hinauslief, war niemand zu finden gewesen!

Jemand spionierte mir nach! Ich tippte auf Shaner, den vermutlichen Ehemann Nummer vier

der trinkfreudigen Sarah. Er war mir und Allan Copeland schon nachgeschlichen, als ich mit dem Haus vertraut gemacht wurde.

Ich konnte ihm sein Treiben nicht verbieten, aber es irritierte mich. Ich mußte auf Hutchinsons Geist achtgeben und konnte nicht auch noch einen Burschen im Auge behalten, der vielleicht Dreck am Stecken hatte und besorgt war, es könnte ruchbar werden und der Familie Copeland zu Ohren kommen, bevor er mit Sarah ver-ehelicht war.

Im Sauseschritt eilte ich zum Haus zurück und postierte mich in der Kaminhalle. Von dort aus hatte ich die Treppe bis oben hin im Auge.

Von der Familie war niemand zu sehen. Ich wartete. Niemand kam herunter, ich hörte auch kein Ge-

räusch. Das Haus lag in Grabesruhe. Leise pirschte ich mich schließlich hinauf. Einmal hörte ich im ersten Stockwerk eine Kinderstimme hinter

einer Tür, sonst nichts. Also weiter! Ich blieb auf dem oberen Flur lauschend stehen. Hier hatte

Hutchinson die kleine Rose zu fassen bekommen. Hier befand sich auch das Fenster, an dem ich das Gesicht entdeckt hatte.

Ich stieß nacheinander die Türen auf und knipste das Licht an, so-weit die Räume mit Installation versorgt waren.

Ich stöberte niemand auf. Aber ich fand das Fenster, von dem aus ich beobachtet worden

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war. Ich schaute hindurch. Die Ecke des Parks, wo ich mit dem Krif geübt hatte, war fabel-

haft zu sehen. Ein schnappendes Geräusch ließ mich herumwirbeln. Ich war ein Idiot! Jemand hatte die Tür zugezogen. Jetzt wurde draußen der Schlüs-

sel umgedreht. Schleichende Schritte entfernten sich. Ich war eingesperrt. Besteck zum Öffnen von Schlössern, das mich sonst begleitete,

hatte ich nicht dabei. Aber ich hatte den Krif, deshalb ließ ich mir keine grauen Haare wachsen.

Ich mopste mich nur, daß ich mich hatte übertölpeln lassen. Der Kerl, der mich eingeschlossen hatte, mußte in einem Raum

gut versteckt gewesen sein. Er hatte mich seelenruhig stöbern las-sen, und als er mich in diesem Zimmer wußte, hatte er mich einge-sperrt.

Ich klemmte den Krif in den Schloßspalt und hebelte etwas. Das Schließblech hielt nicht viel aus. Ohne viel Lärm bekam ich im Handumdrehen die Tür auf,

lauschte zum Treppenhaus und spurtete los. In der Tiefe sah ich gerade noch eine Hand vom Treppengeländer

gleiten. Eine schmale Hand. Wie von einer Frau oder einem Kind. Verdammt, dann hatte mir Shaner gar nicht diesen Streich ge-

spielt? Oder spielten unglückliche Zufälle zusammen? Ich beschloß, mir nichts anmerken zu lassen, sondern nur die

Leute zu beobachten. Vielleicht verriet sich der Übeltäter durch eine Frage oder eine Geste.

Ich stieg langsam hinunter und kam gerade zurecht, um Fisher und seine Mordkommission einzulassen.

Bei der traurigen Arbeit, die zu verrichten war, wurde ich nicht gebraucht. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, bevor Fishers Leute dumme Fragen stellten.

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Page 118: Das Auge des Todes

Einige kannte ich, und sie kannten mich. Und sie machten ziem-lich dumme Gesichter, als sie mich in altmodischer Butlerkluft er-blickten.

Auf der Türschwelle blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich hatte schon wieder Besuch!

*

Angus wirbelte herum. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Ge-sicht geschrieben.

Er hatte sich meine Tasche vorgenommen und darin gewühlt. »Gefunden, was du gesucht hast?« fragte ich und ließ meine Stim-

me nicht gerade sanftmütig klingen. Er wurde knallrot und mächtig verlegen und versuchte, die Ta-

sche noch in den geöffneten Schrank zu bugsieren. Plötzlich setzte er eine recht trotzige Miene auf. »Was wollen Sie eigentlich? Für Sie bin ich immer noch ›Sir‹,

klar?« »Wie Sie wollen, Sir!« sagte ich. »Draußen vor dieser Tür ist die

Polizei. Soll ich sie hereinrufen?« Er gab nicht so schnell klein bei. »Mit Ihnen stimmt was nicht, Mac. Ich finde es schon noch her-

aus.« »Wie darf ich das verstehen?« Ich schaute auf seine Hände. Sie

waren klein und schmal. »Meinen Sie, Sie wären erfolgreicher, wenn Sie mich auf dem Speicher in einem Zimmer einschließen?«

»Woher…?« Er biß sich auf die Lippen. Aber er hatte sich schon verraten.

»Ihr Vater wird entzückt sein, wenn ich ihm von dem Streich be-richte, Sir.«

Jetzt bröckelte seine Überheblichkeit doch ab. »Besser nicht, Mac! Die Stimmung ist mächtig gereizt.« »Das klingt schon vernünftiger. Warum also spionieren Sie mir

nach?«

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Page 119: Das Auge des Todes

Er druckste herum. »Sie sagen auch bestimmt nichts? Also, ich will Ihnen auf die

Schliche kommen. Das mit dem Geist ist doch Unfug.« »Verstehe, Angus. Sie sind aufgeklärt. Was nicht sein darf, kann

also nicht sein. So stellen Sie sich das doch vor, oder.« »Hm – ja, ungefähr. Das Poltern, dieses blödsinnige Lachen, das

kann doch von einem Tonband kommen, das jemand im Haus ver-steckt hat.«

»Technisch durchaus möglich, trifft aber hier nicht zu. Und wer sollte nach Ihrer Meinung ein Interesse haben, ein Tonband abzu-spielen?«

»Na, er doch – Shaner, dieser Mitgiftjäger und Schleicher! Viel-leicht hat er auch den Polizisten und Henry und Tante Elaine um-gebracht. Je weniger Mitglieder die Familie zählt, desto höher ist sein Anteil, wenn er Tante Sarah heiratet, logo?«

»Gar nicht logo. Weder Henry noch der Polizist zählten zur Fami-lie!«

»Die sind ihm vielleicht in die Quere gekommen, weil er letzte Nacht schon was vorhatte. Oder es ist Bestandteil eines eiskalten Planes. Erst zwei Tote, daß man auf eine falsche Spur kommt, weil es kein Motiv gibt, und dann fängt er richtig an. Tante Elaine hat er schon auf dem Gewissen.«

»Seien Sie vorsichtig mit solchen Verdächtigungen.« Er schaute mich frech an. »Vielleicht sind Sie sein Komplize, wie?

Kaum ist Henry tot, da tauchen schon Sie auf! Ging alles ein wenig plötzlich. Ich werde ein Auge auf Sie haben, Mac!«

Mir kam die Galle hoch. »Dafür haben Sie eigentlich eine Ohrfeige verdient! Raus mit Ih-

nen! Sie haben Glück, daß zu meinem Prinzipien gehört, keine Kin-der zu schlagen.«

Daß ich ihn noch als Kind betrachtete, war schlimmer, als wenn ich ihm für seine Frechheit eine geklebt hätte.

In der Tür blieb er stehen, sprungbereit allerdings. Er machte mit dem Kinn eine Bewegung gegen den Schrank.

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»Die Polizei sollte sich mal für den Inhalt Ihrer Tasche interessie-ren! Reichlich seltsames Zeug, was da drin ist!«

Damit zischte er hinaus. Ich hörte ihn tatsächlich mit Fisher sprechen. Was Fisher ihm antwortete, ließ mein Herz hüpfen. »Anderer Leute Taschen gehen dich einen Dreck an, mein Junge,

verstanden?« »Ich – ich werde mich über Sie beschweren!« »Beschwerdestunde ist immer montags von sieben bis acht Uhr.

Und nur für Erwachsene. Säuglinge und Rotzlöffel haben keinen Zutritt.«

Hastige Schritte entfernten sich. Fünf Sekunden später pochte es an meine Tür. Es war Fisher. »Ich habe gehört, was hier gesprochen wurde«, sagte er erklä-

rend. »Ich wollte mich nicht einmischen. Das Früchtchen kommt ganz auf den Richter. Hat man ja, daß Großvater und Enkel aus ei-nem Holz sind.«

»Ja«, sagte ich düster, »bekanntlich fällt der Apfel nicht weit vom Pferd.«

Fisher ging wieder zu seinen Leuten. Später hörte ich, wie die Tote weggebracht wurde. Ich saß noch eine Weile in der Dunkelheit meines Zimmers, bis

ich Schritte hörte. Su holte mich. »Mac, Sie müssen uns schon zur Hand gehen«, sagte sie mit lei-

sem Tadel. »Es ist Pflicht des Butlers, bei Tisch aufzutragen.« Schlimmer konnte es kaum kommen. Das Schicksal hatte ein Einsehen mit mir. Die Stimmung war derart gedrückt, daß kaum jemand von mei-

ner Ungeschicklichkeit Notiz nahm. Sogar der Richter, der mir als Haustyrann geschildert worden

war, brütete vor sich hin. Nur einmal hob er den Kopf und schaute mich giftig an. »Ich nehme keinen Nachtisch, merken Sie sich das, wenn Sie in

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Page 121: Das Auge des Todes

diesem Haus länger bleiben wollen! Weg mit dem Zeug!« »Sehr wohl, Sir!« sagte ich und nahm ihm die Nachspeise weg.

Von der falschen Seite. Ich kriegte gleich noch eins drauf. »Sie sind ein Tölpel, hat Ihnen das noch niemand gesagt?« Ich widerstand gerade noch der Versuchung, ihm die Nachspeise

auf den Kopf zu stülpen. Dieser alte Giftzwerg konnte wirklich einen sanftmütigen Men-

schen wie mich bis zur Weißglut bringen. Später mußte ich den Kamin anfeuern und den Tee in der Halle

servieren. Ich war schon froh, daß mich niemand anmeckerte. Mrs. Higgins machte mich dann mit den Gewohnheiten der

Hausbewohner vertraut. Die Frau hatte rotgeweinte Augen und fürchterliche Angst.

Lady Sarah bekam eine Flasche Scotch aufs Zimmer gestellt. Um zehn Uhr kriegte der Richter eine Zigarre gebracht, abge-

schnitten, auf dem Tablett, mit einer Schachtel Streichhölzer. Feuer sollte ich ihm auch geben.

»Rauchen kann er aber selber?« fragte ich vorsorglich die Köchin. »Und wie«, meinte sie. Ich setzte mich an den Küchentisch und nahm meine Mahlzeit

ein. Später trug ich den Scotch zu Lady Sarah, damit sie für die Nacht

was zum Umspülen hatte. Und Schlag zehn Uhr balancierte ich die Zigarre in die Halle und

gab dem Richter Feuer. Er redete kein Wort mit mir. Ich spürte, daß ich Luft für ihn war. Den Beruf eines Butlers hatte ich stets als einen mächtig inter-

essanten Job angesehen. Daß er Tiefen und Schattenseiten hatte, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Die Kinder Jeff, Rose und Bridget waren gleich nach dem Essen hinaufgebracht worden.

Lediglich Angus war in der Halle zugelassen. Er schaute mich

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Page 122: Das Auge des Todes

dreist an. Er fühlte sich stark. Als sein Vater demonstrativ auf die Uhr blickte, erhob er sich und

wollte nach oben. »Was sagte denn die Polizei?« fragte ich ihn scheinheilig. Er rümpfte die Nase. »Sie können mir den Buckel

runterrutschen!« Ich wurde nicht mehr gebraucht, also zog ich mich zurück. Aber ich legte mich nicht hin. Ich war voller Unruhe. Zwar spürte

ich nicht die Ausstrahlung des Bösen, aber ich traute dem Frieden nicht.

Hutchinson sann auf seine Rache, das war mir klar. Ich rauchte im dunklen Zimmer eine Zigarette. Und plötzlich hörte ich Getuschel. Vor dem Fenster. Ich hielt die Zigarette hinter den Körper, damit mich der Glut-

punkt nicht verriet, erhob mich geräuschlos und trat ans Fenster. Draußen schlichen zwei Gestalten herum. Dicht beim Haus. Erst dachte ich, es seien Jeff und Angus, die mir eins auswischen

wollten. Aber dann fiel ein Lichtstreifen aus dem Fenster der Halle auf sie. Zwei Jungen. Ich kannte sie nicht. Aber ich hatte sofort einen Ver-

dacht. Waren das Fishers Sohn Dean und dessen Freund, die sich die

Gelegenheit nicht entgehen lassen wollten, ein Geisterhaus aus der Nähe zu sehen?

Die Burschen hatten vielleicht Nerven! Ich hegte den starken Verdacht, daß die Eltern dieser hoffnungs-

vollen Sprößlinge sie schlafend im Bett wähnten. Sie spähten jetzt in die Halle. Ich öffnete das Fenster und sprang hinaus. Laut genug, daß sie mich hörten und nicht einen Herzschlag

kriegten. Sie hatten doch eine beachtliche Schrecksekunde. Aber dann saus-

ten sie davon, als sei das Höllenfeuer hinter ihnen her. Ich ließ sie in Ruhe.

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Page 123: Das Auge des Todes

Ich wollte wetten, daß sie sich nicht mehr auf das Grundstück ge-trauten.

Als ich mich umwandte, schaute ich mehr zufällig am Hauptge-bäude hoch.

Für zwei Sekunden setzte mein Herzschlag aus. Auf dem Mauersims neben einem offenen Fenster stand Hutchin-

son! Und im erhellten Zimmer sah ich Shaner!

*

Den Krif herausziehen und einen Warnschrei ausstoßen war eines! Dann schleuderte ich das Beil. Hutchinson stand wirklich mit dem Teufel im Bunde! Er schnellte sich in das Zimmer, bevor ihn der Krif vom Mauer-

sims hobelte. Die Waffe schrammte an der Hauswand entlang, flirrte hoch in

die Luft und beschrieb einen Bogen. Ich sah sie im Licht, das von der nahen Straßenlaterne auf das Grundstück fiel.

Dann schwirrte sie auf mich zu. Sie war viel zu schnell. Aber ich riskierte den zupackenden Griff. Ich durfte keine Zeit verlieren. Shaner war in Lebensgefahr. Und ich hatte die Fenster übersehen. Nur die Flure hatte ich mit den magischen Zeichen gesichert. Ich biß auf die Zähne und packte in den Wirbel der Klingen und

des Stiels. Ich erwartete Schmerz, spürte aber nur einen heftigen Schlag. Der Stiel lag fest und sicher in meiner Hand. Es hatte geklappt. Dafür schrie Shaner wie jemand, der an der Schwelle des Todes

steht. Ich hätte vor ohnmächtiger Wut heulen können! Da hatte ich die Waffe in der Hand, aber Hutchinson befand sich

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Page 124: Das Auge des Todes

im ersten Stockwerk in der Deckung eines Zimmers und griff einen Menschen an.

Shaner schrie immer noch. Ich sah weder ihn noch Hutchinson. Ich jagte los, sprang in mein Zimmer, riß die Tür auf, spurtete

durch den Gang in die Halle und die Treppe hoch. Im Vorbeirennen sah ich, daß sich Lady Sarah und Allan Cope-

land und seine Frau Linda schreckensbleich zusammengedrängt hatten.

Nur der Richter blickte böse durch eine Rauchwolke her und streckte die Beine näher an den Kamin.

Ich lief um das Leben von Shaner. Hinter mir hörte ich Schritte. Bis auf den Richter stürzte die Familie hinter mir her. Der Mann hatte das Zimmer neben dem Gemach von Lady Sarah. Ich riß die Tür auf. Shaner fiel mir entgegen. Sein Kopf war unnatürlich zur Seite gedreht. Seine Augen blick-

ten gebrochen. Ich war zu spät gekommen. Hutchinson hatte ihn umgebracht. Das schaurige Gelächter der Bestie schallte mir in die Ohren. Ich wirbelte einmal im Kreis und suchte diesen widerwärtigen

Teufel und sein glotzendes Todesauge. Er hatte sich schon wieder in die Unsichtbarkeit geflüchtet. Das schien seine Taktik zu sein – blitzschnell zuzuschlagen und

blitzschnell zu verschwinden. Die Ausstrahlung des Bösen wurde schwächer. Ich spürte sie wie

eine verebbende Welle. Aus der Gegend der Tür, in der gerade Allan Copeland mit seiner Frau und seiner Schwester erschien.

Lady Sarah stieß einen gellenden Schrei aus. Ich achtete nicht besonders darauf. Himmel, wieso hatte sich Hutchinsons unsichtbarer Geist durch

die offene Tür davongemacht?

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Page 125: Das Auge des Todes

Weil er uns alle hier versammelt wußte? Die Entdeckung des Toten verursachte Aufregung und Entsetzen

und Trauer und Schmerz. Klar, das wußte er. Und er konnte damit rechnen, daß wir uns eine Weile hier auf-

hielten. Der Richter! zuckte es mir durch den Kopf. Auf den hat er es jetzt abgesehen! Die Gelegenheit ist so günstig,

daß er die sich nicht entgehen läßt! Lieber Himmel, und der alte Haustyrann sitzt ahnungslos untern am Kamin und wärmt sich die Füße!

Ich zwängte mich an den drei Menschen vorbei. Für Pietät war jetzt nicht die Zeit. Ich mußte den Richter schützen. Als ich die Flurmündung erreichte, spürte ich das Böse wieder.

Ganz deutlich, ganz stark. Ich beugte mich über das Treppengeländer. Genau, wie ich vermutete. Hutchinson hatte körperliche Gestalt angenommen und stand hin-

ter Richter Copeland, der ahnungslos und ohne rechte Lust in ei-nem Buch blätterte.

Bis ich die Treppe unten war, hatte Hutchinson wahrscheinlich schon zugepackt. Ich zögerte. Dann hatte ich mich durchgerungen.

Ich schleuderte den Krif mit aller Wucht und zielte auf Hutchin-son.

Der Kerl merkte gottlob nichts. Aber der Richter. Er schien zu spüren, daß jemand hinter ihm stand. Er wandte den Kopf, erstarrte – und stieß einen entsetzten Schrei

aus. Fast im selben Augenblick ließ er sich nach vorn aus dem Sessel

fallen. Ich schätzte, er hatte den Mann wiedererkannt, den er an den Gal-

gen geschickt hatte. Hutchinson war mit einem Satz über ihm.

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Page 126: Das Auge des Todes

Ich hielt den Atem an. Der Krif war genau gezielt gewesen. Aber der grausige Bursche

aus dem Totenreich befand sich nicht mehr hinter dem Sessel. Das Beil schwirrte vorbei, klirrte vor dem Kamin auf den Boden,

sprang hoch und wirbelte wie toll durch die Halle. Hutchinson schnellte herum, sah den flirrenden Krif, riß den Kopf

hoch und entdeckte mich. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer unbeschreiblichen Fratze. Ich starrte wie gebannt auf das todbringende Auge, das Farbe an-

nahm. Der Krif schwirrte an der gegenüberliegenden Wand hoch, er-

reichte fast die Decke der Kaminhalle und zischte in meiner Nähe vorbei, bevor er sich wieder absenkte.

Jetzt stimmte die Richtung. Ich hielt den Atem an. Hutchinson schnellte beiseite. Er hätte sich unsichtbar machen können. Daß er es nicht tat, be-

stätigte meinen schlimmen Verdacht, daß er seine Abrechnung mit dem Richter halten wollte.

Haarscharf zischte das Beil an dem Kerl vorbei. Es drehte einen Bogen.

Hutchinson kam an den Richter nicht mehr heran. Ich wollte schon frohlocken, als ich den verderbenbringenden

Blitz aus seinem Auge des Todes fahren sah. Der Strahl traf den Richter genau auf der Brust. Mir wurde fast übel. Rauch quoll auf. Und im nächsten Sekundenbruchteil klaffte im

Brustkorb William Copelands ein mächtiges Loch. Der Mann sackte auf den Boden zurück, einen letzten Ausdruck

von Grauen und ungläubigem Staunen im Gesicht. Im selben Moment sah ich den Krif. Hutchinson hatte unbedingt seine Rache haben wollen. Das hatte ihn eine Idee zu lange beschäftigt. Oder er hatte geglaubt, dem Krif wieder entgehen zu können.

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Page 127: Das Auge des Todes

Das Drei-Klingen-Beil erwischte ihn von der Seite. Ungefähr in Hüfthöhe.

Ich sah erst nur einen Feuerball. Dann hörte ich einen grausigen Schrei, der mich erschauern ließ. Mit einem harten Klirren landete der Krif irgendwo in der Halle

auf dem Boden. Ich zwinkerte ungläubig. Da stand zwar noch Hutchinson, aber er wirkte seltsam erstarrt. Bis ich sah, daß er mitten durchgetrennt war. Oberhalb der Hüf-

ten. Sein Oberkörper neigte sich langsam und schlug auf den Boden. Unterkörper und Beine standen noch. Erst nach zwei oder drei Sekunden fiel auch der Rest um. Und dann begann der Auflösungsprozeß. Die zwei Körperhälften wurden brüchig wie alter Lehm und zer-

bröselten. Dabei nahmen die Teile eine rötliche Farbe an. Ich stand wie festgeschmiedet und starrte hinab. Was ich für rötliche Farbe hielt, war Glut. Die stofflichen Hüllenreste vergingen in einem unirdischen Feuer. Der Vorgang währte nur Sekunden. Als ich mich endlich aus meiner Erstarrung löste und hinunter-

hastete, lag an der Stelle, an der Hutchinsons Geistkörper vergan-gen war, nicht einmal mehr Staub.

Ich schüttelte mich. Von oben hörte ich Sarahs Schluchzen und die Stimme von Allan

Copeland. Wenn die herunterkamen und den Richter so sahen! Ich riß den Vorhang zwischen Kaminhalle und Eingangshalle her-

ab und breitete ihn über den Richter. Niemand brauchte ihn so zu sehen. Niemand aus seiner Familie. Mit schweren müden Schritten holte ich den Krif und ging da-

nach zum Telefon, um Fisher anzurufen und ihn samt seiner Mord-kommission herzubitten.

Hutchinson war endgültig vernichtet.

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Page 128: Das Auge des Todes

Aber einen Teil seiner Rache hatte er vollzogen. Sein grausiger Fluch vom Galgengerüst herab hatte sich doch

noch erfüllt.

*

Ich weiß nicht, wer die Idee aufbrachte, Hutchinsons Grab auf dem Brompton-Friedhof zu öffnen.

Jedenfalls wurde das gemacht. Fisher rief mich dazu. Wir fanden das Skelett des Gehenkten. Aber ein Teil der Hüftknochen und ein ganzes Stück der Wirbel-

säule fehlte. Genau an der Stelle, an der der Krif den Geist getroffen hatte. Das Grab wurde eingeebnet, die Verwaltung ließ danach Pflanzen

ausbringen. Sie starben nach zwei Tagen ab. Der Versuch wurde wiederholt. Mit dem selben Ergebnis. Soweit ich weiß, wächst an der Stelle, an der das Skelett ruht, bis

heute nichts. Ein Geheimnis mehr. Eines, das ich nicht zu ergründen suche. So wenig wie das mysteriöse Verschwinden des durchlöcherten

Grabsteines. Der war eines Tages weg.

ENDE

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Page 129: Das Auge des Todes

In vierzehn Tagen erhalten Sie den packenden Mac Kinsey-Grusel-Thriller Nr. 10. Jake Ross hat ihn für Sie geschrieben. Er heißt

Der Brunnen des Schreckens�

Lesen Sie hier den Anfang und gruseln Sie sich schön: Ein Gefühl der Angst stieg in Tom Raw auf, als er den eigenartigen Wald vor der Windschutzscheibe sah.

Eben war da noch ein verhältnismäßig gepflegter mittelenglischer Mischwald gewesen. Und jetzt das!

Ein wüster düsterer Urwald lag vor ihm, wie er noch keinen gese-hen hatte.

Gewaltige Baumriesen ragten zum Himmel auf und hielten das Tageslicht ab.

Mächtige gefallene Stämme vermoderten am Boden. Graue Moosbärte hingen von schenkelstarken Ästen herab. Eine unheimliche fremde Welt war das. Tom Raw stieg voll auf die Bremse. Der vierradgetriebene Rover

rutschte noch ein Stück, bevor er quer zur Fahrtrichtung zum Ste-hen kam.

Durch das abrupte Bremsen purzelten die Meßlatten und rotwei-ßen Markierungspfähle durcheinander und sausten Tom ins Kreuz.

Er kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf. Ich hätte gestern abend nicht soviel saufen sollen, dachte er. Das

kommt nun davon! Ich sehe etwas, das es gar nicht gibt! Was heißt sehen? Ich bilde mir den Urwald doch bloß ein!

Er riß die Augen auf. Unverändert bot sich ihm der dunkle wilde Wald dar. In den paar Sekunden schien er sogar noch dichter geworden zu

sein.

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Page 130: Das Auge des Todes

Ungläubig starrte Tom Raw auf diese unglaubliche Urwelt. Voraus stahl sich noch ein einzelner schräger Lichtstrahl durch

eine Lücke im Laubdach. Doch ganz plötzlich verschwand der Lichtbalken, und dort, wo er

die Baumkronen durchdrungen hatte, breitete ein neuer Urwelt-baum seine gewaltigen Äste aus.

Auf geisterhafte Weise erschienen weitere Bäume.�Es geschah beklemmend lautlos.�Verstört schaute Tom nach rechts und links.�Der unheimliche Wald war überall. Er umgab ihn von allen Sei-

ten. Und, weiß der Teufel, die uralten Bäume schienen näher zu

rücken und die Äste wie Arme nach dem Rover auszustrecken! Tom riß den Kopf noch weiter herum. Da mußte doch der Weg

sein, den er entlanggefahren war. Ein ganz solider Forstwirtschafts-weg.

Nicht eine Spur davon war da.�Nicht einmal eine Schneise.�

Soweit eine Kostprobe vom Beginn dieses neuen Mac Kinsey-Grusel-Thrillers, Freunde. In vierzehn Tagen ist die ganz hei-ße Story beim Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel zu ha-ben. Dann ist wieder Kinsey-Time. Echt mit Gänsehaut!

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