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AUFSÄTZE - forum-iuridicum.com · 11/10/2011 · Übungsfall: HALEC Von Anja Nitschke, Dr. Carsten...

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Inhalt AUFSÄTZE Zivilrecht Zur Ersatzfähigkeit aufgewendeter Kosten bei Verletzungsverdacht nach einem Verkehrsunfall Von Wiss. Mitarbeiter Christian M. König, Köln, Wiss. Mitarbeiter Tillmann Rübben, Berlin 250 Die Selbstpfändung als Aufrechnungsersatz in der Zwangsvollstreckung Von Wiss. Mitarbeiterin Marisa Drost, Passau, Wiss. Mitarbeiter Alexander Kunerth, Frankfurt a.M. 253 Öffentliches Recht Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Von Dr. Claudio Franzius, Berlin/Hamburg 259 Strafrecht Flug 4U 9525 Anlass für eine Reform der ärztlichen Schweige- pflicht? Von Wiss. Mitarbeiterin Beryll Krenkel, LL.M. (London), Mainz 271 ÜBUNGSFÄLLE Öffentliches Recht Übungsfall: HALEC Von Anja Nitschke, Dr. Carsten Hörich, Halle (Saale) 276 Strafrecht Übungsfall: In der Gosse Von Prof. Dr. Georg Steinberg, Leonie Schönemann, Wiesbaden 284
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Inhalt

AUFSÄTZE

Zivilrecht

Zur Ersatzfähigkeit aufgewendeter Kosten bei Verletzungsverdacht nach einem Verkehrsunfall

Von Wiss. Mitarbeiter Christian M. König, Köln,

Wiss. Mitarbeiter Tillmann Rübben, Berlin 250

Die Selbstpfändung als Aufrechnungsersatz in der Zwangsvollstreckung

Von Wiss. Mitarbeiterin Marisa Drost, Passau, Wiss. Mitarbeiter Alexander Kunerth, Frankfurt a.M. 253

Öffentliches Recht

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Von Dr. Claudio Franzius, Berlin/Hamburg 259

Strafrecht

Flug 4U 9525

Anlass für eine Reform der ärztlichen Schweige- pflicht?

Von Wiss. Mitarbeiterin Beryll Krenkel, LL.M. (London),

Mainz 271

ÜBUNGSFÄLLE

Öffentliches Recht

Übungsfall: HALEC

Von Anja Nitschke,

Dr. Carsten Hörich, Halle (Saale) 276

Strafrecht

Übungsfall: In der Gosse Von Prof. Dr. Georg Steinberg,

Leonie Schönemann, Wiesbaden 284

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Inhalt (Forts.) 3/2015

ÜBUNGSFÄLLE (Forts.)

Strafrecht

Examensklausur: Ein vertanes Talent und die Verlockungen des elektronischen Zahlungsverkehrs

Von Wiss. Mitarbeiter Sebastian Laudien, Hannover 289

ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN

Zivilrecht

BGH, Urt. v. 25.6.2014 – VIII ZR 10/14

(Fristwahrender Widerspruch gegen Mietvertrags-fortsetzung bei demnächst erfolgender Zustellung)

(Akademischer Rat a.Z. Jan Singbartl, cand. iur.

Thomas Dziwis, LMU München) 296

ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN

Öffentliches Recht

BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10

(Pauschales Kopftuchverbot und Glaubens- und Bekenntnisfreiheit)

(Prof. Dr. Hinnerk Wißmann, Münster) 299

BVerwG, Urt. v. 21.01.2015 – 10 C 11.14

(Ausschluss aus dem Gemeinderat wegen „Verwirkung der Unbescholtenheit“)

(Dr. Boas Kümper, Münster) 304

Strafrecht

OLG Hamm, Beschl. v. 29.4.2014 – 1 RVs 24/14

(Zu den Voraussetzungen des Gewahrsams und des Einverständnisses nach § 242 StGB)

(Privatdozentin Dr. Janique Brüning, Hamburg) 310

BGH, Beschl. v. 17.9.2014 – 1 StR 387/14

(Entziehung Minderjähriger durch Entziehung eines Elternteils)

(Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M., Passau) 315

BUCHREZENSIONEN

Zivilrecht

Peter Schlechtriem/Ulrich G Schroeter, Internatio- nales UN-Kaufrecht, 5. Aufl. 2013

(Wiss. Assistent Dr. Björn Steinrötter, Berlin/Hannover 320

Hartmut Linke/Wolfgang Hau, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2015

(Jurist [Univ.] Stephan Walter, Passau) 324

Öffentliches Recht

Thorsten Ingo Schmidt, Fallrepetitorium Allgemeines Verwaltungsrecht mit VwGO, 2. Aufl. 2014

(Akad. Rat Thomas Traub, stud. Hilfskraft Annika Fischer-Uebler, Köln) 325

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ZJS 3/2015 250

Zur Ersatzfähigkeit aufgewendeter Kosten bei Verletzungsverdacht nach einem Ver-kehrsunfall Von Wiss. Mitarbeiter Christian M. König , Köln, Wiss. Mitarbeiter Tillmann Rübben, Berlin* Die Verletzung eines von § 823 Abs. 1 BGB1 geschützten Rechtsgutes verleiht dem Geschädigten einen Anspruch auf Ersatz des entstandenen Schadens gegen den Schädiger. Gemeinhin wird angenommen, dass der bloße Verdacht einer solchen Verletzung hierfür nicht ausreicht. Eine Ausnahme soll hingegen für Sachschäden gelten, wenn ein hinreichend begründeter Schadensverdacht gegeben ist und die Sache nicht mehr bestimmungsgemäß verwendet werden kann oder darf. Die in der unterinstanzlichen Rechtsprechung und der Literatur umstrittene Frage, ob dies auch für den Verdacht einer Körper- oder Gesundheitsverletzung gilt, war bis zur Entscheidung des BGH vom 17.9.20132 höchstrichterlich nicht entschieden. In besagter Entscheidung lehnte der BGH die Ersatzfähigkeit von Untersuchungs- und Behandlungskos-ten mangels nachgewiesener Körperverletzung ab,3 womit die Kontroverse jedoch keineswegs ihr Ende gefunden hat. Viel-mehr bietet das Urteil Gelegenheit zu einer erneuten Be-leuchtung der Frage, ob der bloße Verdacht einer Körper- oder Gesundheitsverletzung einer Rechtsgutsverletzung im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB unter bestimmten Voraussetzun-gen gleichzustellen ist. I. Ersatzfähigkeit bei Verletzungsverdacht Bei Sachschäden wird angenommen, eine Eigentumsverlet-zung im Sinne des § 823 Abs. 1 Var. 5 BGB liege bereits dann vor, wenn ein hinreichend begründeter Schadensver-dacht gegeben ist und die Sache nicht mehr bestimmungsge-mäß verwendet werden kann oder darf.4 Strittig ist, ob dies auf den Fall des Verdachts einer Körper- oder Gesundheits-verletzung übertragen werden kann.

Nach der h.M. steht der bloße Verletzungsverdacht bzw. die Möglichkeit einer Schädigung einer Körper- oder Ge-sundheitsverletzung nicht gleich. Entscheidend sei, dass das Unfallopfer eine unfallbedingte Verletzung nachgewiesen, der ursprüngliche Verdacht sich also bestätigt hat.5 Gelingt dies nicht, scheidet ein auf § 823 Abs. 1 BGB gestützter

* Der Verf. König ist Wiss. Mitarbeiter in einer Rechtsan-waltskanzlei und Doktorand am Lehrstuhl von Prof. Dr. Barbara Dauner-Lieb; der Verf. Rübben ist ebenfalls Wiss. Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei und Doktorand am Lehrstuhl von Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski. 1 Vereinfachend wird im Folgenden nur auf die Regelung des § 823 Abs. 1 BGB abgestellt. Die Ausführungen gelten je-doch entsprechend für § 7 Abs. 1 StVG. 2 BGH NJW 2013, 3634. 3 BGH NJW 2013, 3634 (3635). 4 Siehe nur Greger, Haftung des Straßenverkehrs - Handbuch und Kommentar, 4. Aufl. 2007, § 10 Rn. 14 unter Verweis auf BGH NJW-RR 2001, 322 und BGH TranspR 2002, 440. 5 BGH NJW 2013, 3634 (3635); Jahnke, in: Burmann u.a. (Hrsg.), Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. 2012, Vor § 249 BGB Rn. 87; i.E. auch Luckey, Personenschaden, 2013, Rn. 890.

Schadensersatzanspruch aus. Maßgeblich ist demnach eine Bewertung der Umstände auf der Grundlage einer ex post-Perspektive.

Das KG6 und ihm folgend das LG Verden7 sowie das LG Fulda8 haben hingegen (vorübergehend)9 die Auffassung vertreten, es stelle „eine sachgerechte Reaktion […] dar, [...] infolge des Unfalls ärztlichen und anwaltlichen Rat“ 10 zu suchen. Ein Verletzungsverdacht, der aufgrund des Unfall-hergangs oder Symptomen beim Unfallbeteiligten begründet erscheint, könne demnach bereits eine Schädigung darstellen, die einen Anspruch auf Ersatz von Behandlungs- und Unter-suchungskosten rechtfertigt.11 Hiernach sind die von einem Unfallbeteiligten getätigten Untersuchungsaufwendungen folglich zu ersetzen, soweit sie aus der ex ante-Perspektive eines verständigen Menschen in der Lage des Betroffenen sinnvoll erscheinen.12

Es waren somit zumindest vorübergehend Tendenzen in der Rechtsprechung erkennbar, bei einem bloßen Verlet-zungsverdacht keine Unterscheidung zwischen Personen- und Sachschäden hinsichtlich ihrer Ersatzfähigkeit zu treffen.

Gegen die Übertragung der für Sachschäden anerkannten Auffassung, wonach der hinreichend begründete Schadens-verdacht den Tatbestand einer Eigentumsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 Var. 5 BGB erfüllen kann, lässt sich freilich einwenden, dass der hinreichend begründete Schadensver-dacht stets zu einem Vermögensminus führt, einem Men-schen jedoch mangels Sachqualität kein Vermögenswert zu-kommt.13

Diese – auf den ersten Blick zwar formal-juristisch kon-sequent erscheinende – Sichtweise verkennt allerdings, dass

6 KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris). 7 LG Verden ZfS 2004, 207 (208). 8 LG Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris). 9 Der Senat des KG, auf den das genannte Urteil (KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00) zurückgeht, ist der darin vertrete-nen Auffassung im Rahmen späterer Entscheidungen nicht mehr gefolgt: KG NZV 2005, 470 (471) sowie KG NZV 2006, 146 f., in denen jeweils eine unfallbedingte Körper- oder Gesundheitsverletzung verlangt wird. 10 KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris). 11 Ausdrücklich nur einen Verdacht für ausreichend halten Greger (Fn. 4), § 3 Rn. 43; zustimmend Huber, NZV 2014, 23 (25); ähnlich Jaeger, in: Festschrift für Christoph Eggert zum 65. Geburtstag, 2008, S. 213 (247), der HWS-Symptome als Gesundheitsverletzung qualifiziert; i.E. KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris); LG Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris) unter Verweis auf KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00; LG Verden ZfS 2004, 207 (208) unter Verweis auf KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00. 12 Vgl. Huber, NZV 2014, 23 (25 f.). 13 Jahnke (Fn. 5), Vor § 249 BGB Rn. 87; siehe hierzu näher Huber, NZV 2014, 23 (25).

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Zur Ersatzfähigkeit aufgew. Kosten bei Verletzungsverdacht nach einem Verkehrsunfall ZIVILRECHT

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 251

der BGH bei der Frage, ob unfallbedingte Schäden zu erset-zen sind, in ständiger Rechtsprechung auf die ex ante-Per-spektive eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Men-schen in der Lage des Geschädigten abstellt.14 Hierbei stellt der BGH eine „subjektbezogene Schadensbetrachtung“ an, d.h. er nimmt „Rücksicht auf die spezielle Situation des Ge-schädigten, insbesondere auf seine individuellen Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten sowie auf die möglicherweise gerade für ihn bestehenden Schwierigkeiten“.15

Von dieser Maßstabsfigur weicht der BGH in vorgenann-tem Urteil allerdings ab, wenn er darauf abstellt, dass sich der ursprüngliche Verletzungsverdacht nicht bestätigt hat und seiner Entscheidung daher ex post gewonnene Erkenntnisse zugrunde legt.16 Richtigerweise ist jedoch vor dem Hinter-grund der vom BGH aufgestellten Kriterien auch dann, wenn sich der ursprüngliche Verdacht nicht bestätigt, auf den be-schränkten Kenntnisstand des Unfallbeteiligten nach dem Unfall abzustellen.

Denn ebenso wie ex ante die Notwendigkeit und Sinnhaf-tigkeit einer ärztlichen Untersuchung im Anschluss an einen Unfall17 selten zu verneinen sein wird, so erscheint sie ex post weder notwendig noch sinnvoll, sobald bekannt ist, dass sich der mit ihr überprüfte Verdacht einer Körper- oder Ge-sundheitsverletzung nicht bestätigt hat. Weil die h.M. sich auf ex post gewonnene Erkenntnisse stützt, mutet sie dem Un-fallopfer zu, eine Entscheidung auf der Grundlage solcher Erkenntnisse zu treffen, über die es zum maßgeblichen Zeit-punkt naturgemäß noch nicht verfügen kann. Sucht ein Un-fallbeteiligter einen Arzt auf, weil im Anschluss an den Un-fall Schmerzen auftreten, so stellt dies jedoch nach – vor-zugswürdiger – lebensnaher Betrachtung grundsätzlich viel-mehr eine sachgerechte und auch durchaus wünschenswerte Reaktion dar.18 Dass sich ein Verletzungsverdacht ex post nicht bestätigt, vermag daran nichts zu ändern, denn dies liegt vielmehr in der Natur der Sache. Jedenfalls aber darf die einem Verdacht immanente Ungewissheit über Tatsachen nicht dazu führen, dass ein Unfallbeteiligter mit Risiken be-lastet wird, die aus einer Verdachtsaufklärung resultieren, an der ein berechtigtes Interesse besteht.

Zu bedenken ist, dass u.U. kostenintensive technische und medizinische Gutachten erforderlich sind, um eine Primärver-letzung nachweisen zu können, die den hohen Beweisanfor-derungen des § 286 ZPO gerecht wird. Aufgrund der damit verbundenen Kosten, mit denen der Geschädigte in Vorleis-tung treten muss, sofern es sich einmal nicht um einen Sozi-alversicherungsträger handelt, trägt dieser ein für ihn zu die-sem Zeitpunkt nicht kalkulierbares (Kosten-)Risiko. Diese Unwägbarkeiten könnten dazu führen, dass viele - mitunter

14 Siehe nur BGH, Urt. v. 11.2.2014 – VI ZR 225/13, Rn. 7 (juris); siehe auch Huber, NZV 2014, 23 (25). 15 BGH, Urt. v. 11.2.2014 – VI ZR 225/13, Rn. 7 (juris). 16 So auch Huber, NZV 2014, 23 (25). 17 Vgl. Luckey (Fn. 5), Rn. 890. 18 KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris); LG Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris); LG Verden ZfS 2004, 207 (208); Jaeger (Fn. 11), S. 246; Huber, NZV 2014, 23 (25); Diehl, ZfS 2014, 20 (21).

auch berechtigte - Ansprüche nicht mehr geltend gemacht werden.19

Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang ferner, dass den Geschädigten eine Schadensminderungsobliegenheit aus § 254 Abs. 2 S. 1 BGB trifft, dann wird deutlich, dass die von der h.M. vertretene Auffassung den Unfallverursacher in doppelter Hinsicht privilegiert: Zum einen mutet sie dem Unfallopfer zu, einen begründeten Verletzungsverdacht me-dizinisch ungeprüft zu lassen und zum anderen erhält sie dem Unfallverursacher gleichzeitig den Mitverschuldenseinwand (§ 254 Abs. 2 S. 1 BGB) für den Fall, dass sich eine Gesund-heitsverletzung infolge der unterlassenen Untersuchung ver-schlimmert hat.20 Insbesondere dann, wenn es an einem et-waigen Verschuldensbeitrag des Unfallopfers fehlt, ist a priori nicht einzusehen, weshalb unmittelbar sachlich und zeitlich mit dem Unfallgeschehen verbundene Folgen, wie etwa Verspannungen oder andere typischerweise im An-schluss an einen Unfall auftretende Symptome, nicht medizi-nisch abgeklärt werden können sollen, ohne dass das Unfall-opfer dabei finanzielle Einbußen zu befürchten hat. Die ge-genteilige Ansicht, die den Nachweis einer eingetretenen Rechtsgutsverletzung verlangt, ist mit dem § 254 Abs. 2 S. 1 BGB zugrunde liegenden Konzept schwerlich zu vereinbaren, denn diesem liegt gerade eine ex ante-Perspektive zugrunde.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Ge-sundheit eines Menschen kein wirtschaftlicher Wert beige-messen wird. Denn dass das Leben und die körperliche Un-versehrtheit als von § 823 Abs. 1 BGB geschützte Rechtsgü-ter mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine verfassungsrechtliche Aus-prägung erhalten haben, spricht dafür, dass das Eigentum, das bereits bei einem Verletzungsverdacht verletzt sein soll, kei-nen höheren Schutz genießen kann, sondern vielmehr der Verdacht einer Körper- oder Gesundheitsverletzung argu-mentum a maiore ad minus dem Schutz des § 823 Abs. 1 BGB unterfallen muss.21

Da die Behandlungs- und Untersuchungskosten auf einem eigenem Verhalten beruhen, sind vor dem Hintergrund des Kausalitätserfordernisses auf der Rechtsfolgenseite die Grundsätze der Herausforderungsfälle zu rekurrieren. Ob sich jemand im deliktsrechtlichen Sinne herausgefordert fühlen durfte, ist dabei eine normative Frage, die aufgrund einer Ab-wägung der Interessen von Schädiger und Geschädigtem be-antwortet werden muss.22 Verspürt ein Unfallopfer Schmer-zen nach dem Unfall und stehen der mit der Untersuchung verfolgte Zweck und der erlittene Vermögensschaden in einem angemessen Verhältnis zueinander, so erscheint es angesichts des mit jedem Unfall potenziell verbundenen Risi-kos, Gesundheits- oder Körperverletzungen davon zu tragen, als sachgerechte Reaktion, sich kostenpflichtig untersuchen

19 Huber, NZV 2014, 23 (25). 20 Vgl. Jaeger (Fn. 11), S. 247; vgl. Huber, NZV 2014, 23 (25); Diehl, ZfS 2014, 20 f. 21 Ähnlich Huber (NZV 2014, 23 [25]), der auf die grundge-setzlichen Wertungen verweist, mit denen ein höherer Schutz von „Blech“ gegenüber „Blut“ kaum übereinstimmen dürfte. 22 Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2013, S. 332 f.

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AUFSÄTZE Christian M. König/Tillmann Rübben

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zu lassen, um etwaige Unfallfolgen abzuklären. Dies gilt nicht zuletzt mit Blick auf die aus § § 254 Abs. 2 S. 1 BGB folgende Obliegenheit.23

Der Rückgriff auf die Grundsätze der Herausforderungs-fälle stellt überdies ein geeignetes Korrektiv zur Begrenzung der Ersatzfähigkeit primärer Vermögensschäden dar.

Es erscheint daher insbesondere aus wertungsjuristischer Sicht nicht gerechtfertigt, Untersuchungs- und Behandlungs-kosten, die aufgrund eines Verletzungsverdachts entstanden sind, ihre Ersatzfähigkeit per se abzusprechen. Der begründe-te Verdacht einer Gesundheitsverletzung wird im Regelfall vielmehr einer Rechtsgutsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB gleichzustellen sein. II. Eigentumsverletzung als möglicher Anknüpfungs-punkt Wenn man den bloßen Verletzungsverdacht einer Rechts-gutsverletzung nicht gleichstellen möchte, ist ferner die Frage zu klären, ob die Rechtsgutsverletzung in Form der Eigen-tumsverletzung am unfallbeteiligten PKW als Anknüpfungs-punkt für eine auf § 823 Abs. 1 BGB gestützte Ersatzpflicht von „Verdachtsschäden“ herangezogen werden kann.

Nach der h.M., die für das Vorliegen einer Gesundheits-verletzung einen bloßen Verletzungsverdacht nicht ausrei-chen lässt, bildet nicht der Unfall als solcher, sondern nur die unfallbedingte Körper- oder Gesundheitsverletzung den ge-setzlichen Anknüpfungspunkt für einen auf § 823 Abs. 1 BGB gestützten Anspruch auf Ersatz von Behandlungs- und Untersuchungskosten.24

Mit Blick auf die Gegenauffassung, für die sich insbeson-dere das Aufsuchen eines Arztes infolge des Unfalls als sach-gerechte Reaktion des Unfallopfers darstellt,25 ist zu erwägen, die eingetretene Eigentumsverletzung als gesetzlichen An-knüpfungspunkt für einen auf § 823 Abs. 1 BGB gestützten Anspruch auf Ersatz der Untersuchungskosten zu wählen.

Gegen die herrschende Auffassung ist einzuwenden, dass sie die Erstattungsfähigkeit solcher Aufwendungen, die zur Aufklärung eines Verletzungsverdachts getätigt werden, zu Lasten des Unfallopfers über Gebühr einengt, indem sie das Vorliegen einer Primärverletzung in Gestalt einer Körper- oder Gesundheitsverletzung verlangt. Die mit dem Ersatz von Vermögensschäden nach den §§ 249 ff. BGB auf der Rechts-folgenseite einhergehende Abkehr von der auf Tatbestands-ebene herrschenden „Diskriminierung“ von Vermögensschä-den knüpft jedoch lediglich an die tatsächliche Verletzung eines der in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechtsgüter an.

23 KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris); LG Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris); LG Verden ZfS 2004, 207 (208); Luckey (Fn. 5), Rn. 890; Jaeger (Fn. 11), S. 246; Huber, NZV 2014, 23 (25); Diehl, ZfS 2014, 20 (21). 24 BGH NJW 2013, 3634 (3635); KG, Urt. v. 16.11.2006 – 22 U 267/04, Rn. 15 (juris); OLG Hamm recht und schaden 2003, 434 (436); LG Chemnitz BeckRS 2013, 17436, I. 2. a). 25 KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris); und ihm folgend LG Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris) sowie LG Verden ZfS 2004, 207 (208).

Würde man eine unfallbedingte Körper- oder Gesundheits-verletzung verlangen, so ließe man schon im Ansatz unbe-rücksichtigt, dass der Vermögensschaden in der Regel adä-quat kausal auf der unfallbedingten Eigentumsverletzung be-ruht, weil das Unfallopfer – wie ausgeführt wurde – in aller Regel herausgefordert wird, sich im Nachgang an den Unfall einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen.26

Überdies erscheinen die angefallenen Untersuchungskos-ten vor dem Hintergrund, dass der Unfall aufgrund von Fremdverschulden verursacht wurde und mit Blick auf das objektive Interesse des Unfallverursachers daran, dass der Versicherte etwaige Körper- oder Gesundheitsverletzungen zum Zwecke ihrer Behandlung im Wege einer ärztlichen Un-tersuchung diagnostizieren lässt, um den gegebenenfalls zu ersetzenden Schaden möglichst gering zu halten, auch nicht unangemessen hoch.

Der Eigentümer eines infolge des Unfalls beschädigten PKWs kann daher Ausgleich der vermögensmäßigen Folgen jener Sachbeschädigung in Gestalt von Behandlungs- und Untersuchungskosten von dem Schädiger verlangen.27 Einer Körper- oder Gesundheitsverletzung bedarf es insoweit nicht. III. Fazit Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Ersatzfähigkeit von Behandlungs- und Untersuchungskosten nicht allein des-wegen abgelehnt werden kann, weil sich der Verdacht einer Gesundheitsverletzung nicht bestätigt hat und der Unfallbe-teiligte eine Gesundheits- oder Körperverletzung daher nicht nachzuweisen vermag. Vielmehr stellt das unmittelbare Auf-suchen eines Arztes im Anschluss an einen Verkehrsunfall eine begrüßenswerte und sachgerechte Reaktion des Unfall-opfers dar, zu der sich das Unfallopfer in aller Regel heraus-gefordert fühlen darf. Jedenfalls aber stellt die in Folge des Unfalls erlittene Eigentumsverletzung am PKW einen taugli-chen Anknüpfungspunkt zum Ersatz der Untersuchungs- und Behandlungskosten dar, weshalb auch hier eine Ersatzpflicht des Schädigers zu bejahen ist, sofern sich das Unfallopfer zu einem entsprechenden Verhalten herausgefordert fühlen durfte.

26 Vgl. KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris); LG Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris); LG Verden ZfS 2004, 207 (208). 27 Vgl. Wagner, in: Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 12. Aufl. 2013, Rn. 131.

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Die Selbstpfändung als Aufrechnungsersatz in der Zwangsvollstreckung Von Wiss. Mitarbeiterin Marisa Drost, Passau, Wiss. Mitarbeiter Alexander Kunerth, Frankfurt a.M.* Die sogenannte Selbstpfändung beschreibt eine Anomalie innerhalb des Rechts der Forderungspfändung. In ihrer ur-sprünglichen Konstruktion gehen die §§ 828 ff. ZPO von einem Dreiecksverhältnis aus: Der Gläubiger, Inhaber eines Vollstreckungstitels, lässt eine Forderung des Schuldners gegenüber dessen Drittschuldner pfänden und sich überwei-sen. An den Drittschuldner ergeht ein Erfüllungsverbot (§ 829 Abs. 1 S. 1 ZPO) – das Arrestatorium, während an den Schuldner ein relatives Verfügungsverbot ausgesprochen wird (§ 829 Abs. 1 S. 2 ZPO) – das Inhibitorium.1 Beide Instrumente sichern dem Gläubiger die Forderung des Schuldners. Mit dem Regelfall der Überweisung durch Ein-ziehung (§ 835 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2 ZPO) wird der Gläubiger schließlich ermächtigt, die fremde Forderung im eigenem Namen geltend zu machen.2

Eine Selbstpfändung setzt hingegen ein Zweipersonenver-hältnis voraus: Der Gläubiger und Titelinhaber ist zugleich Schuldner seines Schuldners. Es liegt damit in aller Regel eine Aufrechnungssituation nach § 387 BGB vor: Gleicharti-ge Forderungen stehen sich gegenüber. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, warum der Gläubiger auf das Instru-ment der Forderungspfändung zurückgreifen will, anstatt formlos die Aufrechnung mit der Wirkung des § 389 BGB zu erklären. Folgender Ausgangsfall soll daher das wesentliche Problem illustrieren: I. Sachverhalt A verkauft B ein Fahrrad für einen Kaufpreis von 400 €, wobei sich B in einer notariellen Urkunde der sofortigen Zwangsvollstreckung unterwirft (§ 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO). B zahlt nicht, sondern lässt sich eine Forderung des C gegen-über A aus einem Darlehensvertrag in selbiger Höhe günstig abtreten. A erfährt hiervon nichts und erklärt daher nicht die Aufrechnung. B verklagt A nach Fälligkeit des Darlehens auf Rückzahlung der Valuta. A erklärt auch hier nicht die Auf-

* Die Autorin Marisa Drost arbeitet als Wiss. Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Klaus Reischl in Passau, der Autor Alexander Kunerth als Wiss. Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Frankfurt a.M. Beide haben an der Universität Passau Rechtswissenschaften studiert. 1 Smid, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2012, § 829 Rn. 32 f. 2 Smid (Fn. 1), § 835 Rn. 12, 21. Der Gläubiger hat überdies sämtliche Sekundärrechte des Schuldners, insbesondere kann er den Dritten in Verzug setzen oder mit einer eigenen Forde-rung aufrechnen. Die Überweisung an Zahlung statt nach § 835 Abs. 2 ZPO wirkt hingegen wie eine erzwungene Ab-tretung nach § 398 S. 1 BGB, so dass die Forderung aus dem Vermögen des Schuldners ausscheidet. Der Gläubiger trägt damit das Risiko der Werthaltigkeit dieser Forderung - der Hauptgrund für die geringe Praxisrelevanz dieser Variante im Regelfall.

rechnung3 und wird entsprechend verurteilt. Die Berufung für A wird nicht zugelassen, das Urteil des Amtsgerichts er-wächst in Rechtskraft (§ 704 ZPO). II. Lösungsvorschlag Die prozessuale Situation des A ist nun folgende: A kann keine Berufung einlegen (vgl. § 511 Abs. 2, 4 ZPO), somit auch keine Prozessaufrechnung mehr erklären.4 Ebenso wür-de eine Vollstreckungsabwehrklage an § 767 Abs. 2 ZPO scheitern, da die Aufrechnung präkludiert ist: Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BGH, auf die Entstehung des Gestaltungsrechts und nicht auf dessen Erklärung abzu-stellen.5

A hat jedoch gegen B einen Vollstreckungstitel aus § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO. Er könnte nun selbst in das Vermögen des B vollstrecken. Dabei bietet sich vor allen anderen möglichen Vermögensgegenständen die Darlehensforderung des B ge-gen ihn an – die sogenannte Selbstpfändung.

Die Rechtsfolgen aus dieser Pfändung gleichen faktisch denen einer erklärten Aufrechnung nach § 389 BGB: Der Anspruch des A aus dem Kaufvertrag erlischt nach § 835 Abs. 2 ZPO6 und die gepfändete Gegenforderung des B aus dem Darlehensvertrag steht nun A selbst zu. A ist damit zu-gleich Schuldner und Gläubiger der selben Forderung – es tritt Konfusion ein. Damit erlischt auch die Gegenforderung. A könnte somit Aufrechnungswirkungen gegenüber der For-derung des B herbeiführen, obwohl er die Aufrechnung pro-zessual nicht mehr erklären kann.

3 Ein Grund könnte die fehlende Vertretung durch einen Rechtsanwalt sein (§ 78 Abs. 1 S. 1 ZPO), ein anderer eine zurückhaltende Prozessleitung durch den Richter in Hinblick auf § 139 Abs. 2 ZPO, vgl. Wagner, in: Münchener Kom-mentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 139 Rn. 35 f. 4 A wäre daran in der Berufung nicht gehindert: § 296 ZPO gilt nicht für die Aufrechnungserklärung, die kein Angriffs- oder Verteidigungsmittel ist, Prütting, in: Münchener Kom-mentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 296 Rn. 51. Dementspre-chend kommt nicht § 531 ZPO, sondern § 533 ZPO zur An-wendung. Die Sachdienlichkeit wird dabei weit verstanden, vgl. Rimmelspacher, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2012, § 533 Rn. 4, 20. 5 K. Schmidt/Brinkmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2012, § 767 Rn. 80 ff. m.w.N. auch zur Gegen-ansicht, die in der Literatur verbreitet ist. Die Aufrechnungs-lage lag hier vor dem in § 767 Abs. 2 ZPO genannten Zeit-punkt vor. 6 Smid (Fn. 1), § 835 Rn. 24. Nur eine Überweisung an Zah-lung statt (§ 835 Abs. 1 Alt. 2 ZPO) ergibt in dieser Konstel-lation Sinn: A kann nicht an sich selbst zahlen, so dass die Einziehung nach § 835 Abs. 1 Alt. 1 ZPO in diesem Aus-nahmefall nicht funktioniert. Sollte A dennoch die Einzie-hung wählen, so müsste er zusätzlich die Verrechnung ge-genüber B erklären, um die Einziehung nach außen erkennbar zu machen, vgl. BGH NJW 2011, 2649 Ls. 3.

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1. Zulässigkeit der Selbstpfändung bei unzulässiger Aufrech-nung

Bereits das Reichsgericht hat die Selbstpfändung in einer solchen Situation für zulässig erachtet, ebenso der BGH und die Literatur.7 Das obige Beispiel wirft allerdings die Frage auf, ob eine Selbstpfändung bei einer Präklusion der Auf-rechnung (z.B. nach § 767 Abs. 2 ZPO) oder sonstigen Auf-rechnungsverboten (wie §§ 393, 394 BGB oder vertraglich vereinbarten) zu einer Umgehung der dort enthaltenden Wer-tungen führt. Angesichts der faktisch gleichen Wirkungen stellt sich insbesondere die Frage, ob der jeweilige Norm-zweck auf die Konstruktion der Selbstpfändung übertragbar ist. a) Prozessuale Unzulässigkeit der Aufrechnung

Da §§ 296, 531 ZPO nicht auf die Aufrechnungserklärung anwendbar sind,8 kommt es alleine auf die Wirkung der Präk-lusion in § 767 Abs. 2 ZPO an. Sinn der Norm ist es, den Er-folg des Klägers aus dem Erkenntnis- in das Vollstreckungs-verfahren zu übertragen und so die materielle Rechtskraft des Urteils9 zu sichern.10 In Bezug auf Gestaltungsrechte ist dabei entscheidend, ob auf deren Entstehung oder Ausübung abge-stellt werden kann. Der oben skizzierte Streit wird hier nun virulent, wenn sich die Argumente beider Ansichten auf die Situation der Selbstpfändung übertragen lassen.

Einige Autoren in der Literatur11 verweisen dabei auf eine wesentliche Eigenschaft von Gestaltungsrechten. Der Sinn dieser Rechte beruht gerade auf deren Ausübung. Der Rechts-inhaber ist Herr der Gestaltung,12 was für eine Anknüpfung an die Gestaltungserklärung spricht. Andererseits, argumen-tiert die Rechtsprechung,13 sei es unverkennbar, dass § 767

7 RGZ 20, 365 (370 f.); BGH NJW 2011, 2649 = Jus 2011, 1032 (Besprechung von K. Schmidt) = IBR 2011, 1312 (Be-sprechung von Schwenker); Smid (Fn. 1), § 829 Rn. 77; Stö-ber, Forderungspfändung, 16. Aufl. 2013, Rn. 33; v. Gerkan, Rpfleger 1963, 369; Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271. 8 Siehe Fn. 3. Etwas anderes gilt, wenn der Beklagte nur auf eine bereits vor Prozessbeginn erklärte Aufrechnung Bezug nimmt. Darin liegt keine Rechtsgestaltung. 9 § 767 Abs. 2 ZPO gilt hingegen nicht bei einer vollstreckba-ren Urkunde nach § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO, § 797 Abs. 4 ZPO. Diese besitzen keine Rechtskraft. Einwendungen gegen Vollstreckungsbescheide nach § 794 Abs. 1 Nr. 4 ZPO kön-nen hingegen wegen § 796 Abs. 2 ZPO ebenfalls präkludiert sein. 10 K. Schmidt/Brinkmann (Fn. 5), § 767 Rn. 73. 11 Etwa Lackmann, in: Musielak/Voit, Kommentar zur ZPO, 12. Aufl. 2015, § 767 Rn. 37; Münzberg, in: Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 23. Aufl. 2015, § 767 Rn. 32; Seiler, in: Thomas/Putzo, Kommentar zur ZPO, 35. Aufl. 2015, § 767 Rn. 22; M. Schwab, JZ 2006, 173; Fischer, VuR 2004, 326 f.; Thran, JuS 1995, 1111 (1114). 12 K. Schmidt/Brinkmann (Fn. 5), § 767 Rn. 81 f., zum fol-genden Absatz. 13 Etwa BGH NJW 2005, 2926.

Abs. 2 ZPO prozessual dem materiellen Recht eine zeitliche Grenze ziehen soll. Ohne die Präklusion wäre eine Vollstre-ckung aufgrund der drohenden Rechtsfolgen des Gestaltungs-rechts unsicher und würde diese entweder hinauszögern (wenn der Titelinhaber auf eine Reaktion des Schuldners wartet) oder zu Rechtsbehelfen seitens des Schuldners führen (§ 767 Abs. 1 ZPO).

Die Vielzahl an unterschiedlichen Gestaltungsrechten lässt eine pauschale Entscheidung nicht zu, sondern fordert eine Differenzierung. Dabei bietet sich die folgende Unter-scheidung an: Immer dann, wenn ein feststehender Tatbe-stand vorliegt (wie eine Aufrechnungs- oder Anfechtungsla-ge), so ist der Inhaber des fristlosen Gestaltungsrechts gehal-ten, dieses früh genug auszuüben und den Prozess bereits im Erkenntnisverfahren zu beenden. Nur so wird das Interesse des Klägers und späteren Titelinhabers an einem vollstreck-baren Urteil gewahrt. Sobald das Gestaltungsrecht fristge-bunden ist (wie etwa bei einem Widerruf, § 355 Abs. 2 BGB) oder an keinen besonderen Sachverhalt anknüpft (wie etwa bei einer ordentlichen Kündigung), kommt es zum Schutz des Schuldners auf dessen Ausübung an und § 767 Abs. 2 ZPO findet keine Anwendung.

Überträgt man diese Gedanken auf die vorliegende Situa-tion, so scheint sich die Wirkung des § 767 Abs. 2 ZPO auch auf die Konstruktion einer Selbstpfändung zu erstrecken. A kann keine Aufrechnung mehr erklären. Diese knüpft an einen feststehenden Tatbestand an (die Aufrechnungslage) und ist nicht fristgebunden. A hindert B sodann an einer wirksamen Forderungspfändung, indem er ihm mit Hilfe der Pfändung der Darlehensforderung zuvorkommt. Die Voll-streckbarkeit des Titels ist aus Sicht des B wieder unsicher. Diese Vorgehensweise bezweckt damit allein die Umgehung der Präklusion und ist auf die gleichen Rechtsfolgen gerich-tet, so dass die Selbstpfändung nach der oben aufgeführten Unterscheidung unzulässig sein müsste.

Diese Argumentation verkennt jedoch, dass sich der Gläubiger und Schuldner der Gegenforderung (im Beispiels-fall A) in einer grundlegend anderen Situation befindet, als § 767 Abs. 2 ZPO voraussetzt. A hat selbst einen Vollstre-ckungstitel und kann hiermit in das Vermögen des B vollstre-cken. § 767 Abs. 2 ZPO müsste daher zusätzlich die Wertung entnommen werden können, dass die Gegenforderung nicht zum Schuldnervermögen des B gehört. Mit anderen Worten: § 767 Abs. 2 ZPO dürfte nicht nur das Gestaltungsrecht präk-ludieren, sondern müsste auch die Vollstreckungsrechte des A einschränken. Diesen Zweck hat die Norm jedoch nicht. Würde sie tatsächlich bestimmte Vermögensgegenstände von der Vollstreckung ausschließen (hier die Darlehensforderung des B), so würde für A in der Nichtausübung seines Gestal-tungsrechts eine Sanktion liegen, obwohl die Anfechtung die Möglichkeiten des A nur erweitern, nicht aber einschränken will. In letzter Konsequenz läge in dieser Lesart des § 767 Abs. 2 ZPO eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung ge-genüber sonstigen Dritten ohne Gestaltungsrechte und damit ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG.14 Die Selbstpfändung ist daher im Rahmen des § 767 Abs. 2 ZPO zulässig.

14 Oertmann, AcP 81 (1893), 61 (117).

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b) Materielle Aufrechnungsverbote aus §§ 393, 394 BGB

In dieser Konstellation ist es dem Vollstreckungsgläubiger15 (im Beispiel A) aus materiellen Gründen versagt, die Auf-rechnung zu erklären. Ebenso wie oben stellt sich in Bezug auf die §§ 393, 394 BGB die Frage, ob sich die Wertungen der Normen auf die Selbstpfändung teleologisch übertragen lassen. § 394 BGB bezweckt die Ausdehnung der Pfändungs-verbote aus der ZPO auf die Aufrechnung.16 Insoweit wird das Problem bereits im Ansatz abgeschnitten: Die Aufrech-nung ist verboten, weil auch eine Pfändung dieser bestimm-ten Forderung verboten ist. Eine Selbstpfändung ist daher gar nicht möglich. § 394 BGB normiert eine parallele Rechtslage zwischen Vollstreckungsrecht und materiellem Gestaltungs-recht.

Anders stellt sich die Situation bei § 393 BGB dar. Der Deliktsgläubiger (und Vollstreckungsschuldner) soll in an-gemessener Frist und ohne die Prüfung von Gegenansprüchen seine Rechte verfolgen können.17 § 393 BGB hat insoweit eine soziale Komponente und beruht auf dem Gedanken des verbotenen Rechtsmissbrauchs aus § 242 BGB.18 Der Schä-diger soll keine Möglichkeit haben, sich seiner Schadenser-satzpflicht durch Aufrechnung entziehen zu können. Sonst hätte er die Möglichkeit, die geschützten Rechtsgüter seines Schuldners beliebig bis zur Höhe seiner Forderung zu schä-digen.

Gegen eine teleologische Erweiterung lässt sich in diesem Fall ähnlich wie oben zu § 767 Abs. 2 ZPO vorbringen, dass eine Enthaftung der Forderung aus dem Vermögen des Schuldners in § 393 BGB überhaupt nicht vorgesehen ist.19 Es findet sich indes ein entscheidender Unterschied zu § 767 Abs. 2 ZPO: Konnte dort das Ergebnis noch mit dem fehlen-den Sanktionscharakter der Norm begründet werden, verträgt sich dieses Argument nun nicht mehr mit dem Zweck des § 393 BGB, der eine Sanktion enthält. Um die Sicherung des Geschädigten auch im Rahmen einer Selbstpfändung zu er-halten, müsste § 393 BGB daher analog angewendet werden.

Allerdings würde diese Vorgehensweise die konkrete Si-tuation außer Acht lassen, in der sich der Vollstreckungs-gläubiger befindet. Sobald der Geschädigte keine nennens-werten anderen Vermögensgegenstände hat, würde die Forde-rung des Gläubigers aufgrund ihrer Unverwertbarkeit zu-nächst faktisch entwertet werden. Sobald der Gläubiger je-doch seine eigene Schuld aus der unerlaubten Handlung er-füllt, könnte er genau diesen Betrag wieder pfänden und sich (wenn das Geld noch vorhanden ist) nach § 815 Abs. 1 ZPO ausliefern lassen.20 Der Gläubiger würde in diesem Fall sogar

15 Zum Problem in der umgedrehten Konstellation (§ 393 BGB beschränkt nur den Schuldner) noch weiter unten. 16 Schlüter, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 394 Rn. 1. 17 Schlüter (Fn. 16), § 393 Rn. 1. 18 Dennhardt, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 34, Stand: 1.2.2015, § 393 Rn. 1, hier auch zum folgen-dem Text. 19 Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271 (273 Fn. 26). 20 Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271 (273 Fn. 26). Bei einer Überweisung an die Bank des Geschädigten würde

noch von der zusätzlichen Verzinsung seiner Forderung pro-fitieren - die eigentlich bezweckte Sanktionierung würde sich in einen unverdienten Vorteil umwandeln. Dieser Aspekt spricht entscheidend für die Zulässigkeit der Selbstpfändung im Rahmen des Aufrechnungsverbotes aus § 393 BGB. c) Vertragliches Aufrechnungsverbot

Möglich ist schließlich, dass die Aufrechnung durch einen Vertrag ausgeschlossen worden ist – sogenanntes pactum de non compensando. Deren Zulässigkeit folgt aus der Vertrags-freiheit.21 In Bezug auf die Selbstpfändung ist alleine frag-lich, ob das Aufrechnungsverbot auch für die Pfändung der Gegenforderung gelten soll. Da dies vom Parteiwillen ab-hängt, können an dieser Stelle nur allgemeine Überlegungen für dessen Auslegung Platz finden. Zu Bedenken ist einer-seits, dass die Selbstpfändung die verbotene Aufrechnung ersetzt und damit eine Situation herbeiführt, die nicht im Interesse des verbotsbegünstigten Schuldners ist. Anderer-seits dürfte es praktisch nur zu einer Selbstpfändung kom-men, wenn der Schuldner keine anderen pfändbaren Vermö-gensgegenstände hat. Hier ergibt sich eine Parallele zum Fall der Insolvenz des Schuldners: Würde das Aufrechnungsver-bot auch dort Geltung beanspruchen,22 so wäre dem Gläubi-ger das Recht genommen, seine Forderung über dem Niveau der Insolvenzquote zu verwerten.23 Es liegt in aller Regel nicht im Interesse des Gläubigers, in einer solchen Situation auf das einzig effektive Mittel zur Durchsetzung seiner For-derung zu verzichten. Vergleichbares kann im Falle der Selbstpfändung angenommen werden, wenn24 sie das einzige Mittel darstellt, die eigene Forderung durchzusetzen. d) Zwischenergebnis

Es hat sich gezeigt, dass die Selbstpfändung ein probates Mittel sein kann, wenn die Aufrechnung prozessual präklu-diert oder gar materiell nach § 393 BGB verboten ist. Sie ist in beiden Fällen zulässig. § 394 BGB hingegen verbietet die Selbstpfändung nicht, sondern konserviert lediglich deren Unmöglichkeit. Im Rahmen eines vertraglichen Aufrech-nungsverbots entscheidet hingegen der Parteiwille über eine Zulässigkeit.

es zu einer Forderungspfändung kommen. Der Anspruch ergibt sich aus § 675t BGB. 21 Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 16. Aufl. 2011, § 387 Rn. 201. 22 Gemäß § 94 InsO wird zugunsten des Gläubigers die schon vorher bestandene Aufrechnungslage in der Insolvenz erhal-ten. § 96 InsO verbietet diese für den umgedrehten Fall. 23 Gursky (Fn. 21), § 387 Rn. 248 m.w.N. zu Rechtsprechung und Literatur. 24 Existieren noch andere pfändbare Vermögensgegenstände, so könnte sich der Gläubiger dem Vorwurf des Rechtsmiss-brauchs nach § 242 BGB aussetzen: Das Ausnutzen einer Rechtsposition in dem Willen, vertragliche Vereinbarungen zu umgehen, stellt einen Verstoß gegen das Verbot missbil-ligter Rechtsausübung dar, vgl. Roth/Schubert, in: Münche-ner Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 242 Rn. 235.

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2. Zulässigkeit der Selbstpfändung bei zulässiger Aufrech-nung

Wesentlich umstrittener ist die Frage, ob die Selbstpfändung auch dann noch zulässig ist, wenn der Gläubiger eine Auf-rechnung erklären kann. Der Beispielsfall ist daher abzuwan-deln:

A erfährt von der Abtretung der gegen ihn gerichteten Darlehensforderung des C an B gemäß § 409 Abs. 1 S. 1 BGB. Bereits seit 6 Monaten befindet sich B mit der Erfül-lung der titulierten Kaufpreisforderung in Zahlungsverzug nach § 286 Abs. 1 BGB. A erklärt nicht die Aufrechnung, sondern geht vollstreckungsrechtlich gegen B vor. B hat das Fahrrad verschenkt und hat daher außer der Darlehensforde-rung gegen A keinerlei Vermögensgegenstände mehr.

Kern des Streites ist in diesem Fall das Rechtsschutzbe-dürfnis des Gläubigers (hier A).25 Dieses fehlt immer dann, wenn ein kürzerer, einfacherer oder billigerer Weg zum glei-chen Ziel zur Verfügung steht,26 hier mit Hilfe der Aufrech-nung. Niemand soll Gerichte ohne Notwendigkeit bemühen dürfen.27 Methodisch sind daher die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen von Aufrechnung und Selbstpfändung zu ver-gleichen. Nur wenn die Aufrechnung ohne wesentlichen Mehraufwand zum gleichen Ziel wie die Selbstpfändung führt, kann das Rechtsschutzinteresse verneint werden. a) Voraussetzungen von Aufrechnung und Selbstpfändung

Um die Wirkung des § 389 BGB herbeizuführen, muss neben der Aufrechnungserklärung (§ 388 BGB) eine Aufrechnungs-lage (§ 387 BGB) vorliegen. Diese setzt zwei gegenseitige und gleichartige Forderungen zum Zeitpunkt der Aufrech-nungserklärung (§ 388 S. 1 BGB) voraus, wobei die Haupt-forderung des Aufrechnungsgegners erfüllbar (§ 271 Abs. 1 BGB) und die Gegenforderung des Aufrechnenden fällig und durchsetzbar, mithin einredefrei (§ 390 BGB) sein muss.

Die Selbstpfändung setzt ebenso wie die Aufrechnung zwei existierende28 Forderungen voraus, die sowohl gleichar-tig sind, als auch in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. Die Voraussetzungen „Fälligkeit und Durchsetzbarkeit der Gegenforderung“ und „Erfüllbarkeit der Hauptforderung“ gehen hingegen im formalisierten Vollstreckungsverfahren auf.29 Aus dem bestandskräftigen Vollstreckungstitel folgt

25 Für ein Fehlen LG Düsseldorf MDR 1964, 332; Schönke, Das Rechtsschutzbedürfnis, 1950, S. 75. Dafür OLG Köln NJW-RR 1989, 190; v. Gerkan, Rpfleger 1963, 369 (370); Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271 (273); Stöber (Fn. 7), Rn. 33. 26 Bacher, in Beck’scher Online-Kommentar zur ZPO, Ed. 15, Stand: 1.1.2015, § 253 Rn. 29. 27 Becker-Eberhard, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, Vor §§ 253 ff. Rn. 11; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 89 Rn. 30 f. 28 Mangels Rechtsscheintatbestand existiert keine Möglich-keit einer gutgläubigen Pfändung, BGH NJW 2002, 755; Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, 10. Aufl. 2014, Rn. 510. 29 Brox/Walker (Fn. 28), Rn. 510.

das Recht des Gläubigers, seine (Gegen-)Forderung mithilfe staatlicher Gewalt durchzusetzen. Die Vollstreckungsabwehr-klage nach § 767 Abs. 1 ZPO bildet dann die letzte Möglich-keit für den Schuldner, Einreden30 gegen den materiellen An-spruch geltend zu machen. Bleibt dieser Rechtsbehelf erfolg-los, muss der Schuldner die Vollstreckung in sein Vermögen dulden.

In Hinblick auf die Erfüllbarkeit der zu pfändenden (Haupt-)Forderung ist eine Besonderheit der Selbstpfändung zu beachten. Grundsätzlich steht dem Drittschuldner im Rah-men eines Dreipersonenverhältnisses als materielle Einrede die fehlende Fälligkeit gegenüber dem Vollstreckungsgläubi-ger zu.31 In einem Zweipersonenverhältnis wie hier ist der Drittschuldner der Vollstreckungsgläubiger selbst. Es genügt daher wie bei der Aufrechnung die mögliche Erfüllbarkeit der zu pfändenden Forderung.

Problematisch in Bezug auf das Rechtsschutzbedürfnis scheint allein die weitere Voraussetzung der Aufrechnungs-erklärung (§ 388 BGB) zu sein. Während die Aufrechnung nach § 388 S. 1 BGB durch formlose Erklärung gegenüber dem Aufrechnungsgegner möglich ist,32 wird dem Gläubiger bei der Pfändung der Gerichtsbeschluss und Zustellungsnach-weis erteilt.33 Damit hat die formlose Erklärung der Aufrech-nung grundsätzlich einen gegenüber der Pfändung geringeren Beweiswert.34 Dieses Problem ließe sich allerdings über eine Erklärung mittels Einschreiben beheben, die dann einen ver-gleichbaren Beweiswert hätte.

Einen Sonderfall bildet die Situation, dass der Aufent-haltsort des Schuldners unbekannt ist und auch nicht ermittelt werden kann. Eine Erklärung mittels Einschreiben ist hier nicht möglich. Aufgrund des § 388 BGB muss die Aufrech-nungserklärung dem anderen Teil zwingend zugehen. Eine bloße Buchverrechnung oder Ähnliches ohne Zugang genügt nicht.35 Daher könnte eine öffentliche Zustellung des Pfän-dungs- und Überweisungsbeschlusses gemäß §§ 185 Nr. 1, 829 Abs. 2 ZPO möglich und insoweit von Vorteil sein. Problematisch ist dabei indes, dass die Zustellung nach § 829 Abs. 3 ZPO grundsätzlich an den Drittschuldner ergehen muss, der nicht Partei ist.36 Im Regelfall ist eine öffentliche Zustellung daher mangels Anwendbarkeit des § 185 Nr. 1 ZPO ausgeschlossen. Die Situation im Rahmen einer Selbst-pfändung bildet jedoch einen Ausnahmefall: Der Pfändungs-gläubiger ist selbst Drittschuldner, so dass es logischerweise zu keinem Fall der öffentlichen Zustellung kommen kann. Vielmehr hat der Gläubiger sich den Beschluss selbst zuzu-stellen und zwar durch den Gerichtsvollzieher im Parteibe-

30 K. Schmidt/Brinkmann (Fn. 5), § 767 Rn. 59. 31 BGH WM 1981, 305; Smid (Fn. 1), § 829 Rn. 71. 32 Dennhardt (Fn. 18), § 388 Rn. 1 f.; Schlüter (Fn. 16), § 387 Rn. 1. 33 Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271. 34 Vgl. auch v. Gerkan, RPfleger 1963, 369 (370). 35 Schlüter (Fn. 16), § 388 Rn. 1. 36 Smid (Fn. 1), § 829 Rn. 39, Wittschier, in: Musielak/Voit, Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 185 Rn. 3.

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trieb nach den §§ 192 Abs. 1, 193 Abs. 1 S. 1 ZPO.37 Inso-weit bietet die Selbstpfändung einen effektiveren Weg als die Aufrechnung und das Rechtsschutzbedürfnis liegt vor.

Allerdings ist zu beachten, dass der Fall des unbekannten Aufenthaltsortes des Schuldners eine Ausnahme darstellt. Die Selbstpfändung stellt im Regelfall keine höheren Vorausset-zungen auf als die Aufrechnung, so dass das Rechtsschutzbe-dürfnis regelmäßig nicht schon aus diesem Grund vorliegen kann. b) Rechtsfolgen von Aufrechnung und Selbstpfändung

Entscheidend für das Vorliegen des Rechtsschutzbedürfnisses im Regelfall ist damit, ob die Rechtsfolge der Selbstpfändung für den Vollstreckungsgläubiger weiter reichen kann als die der Aufrechnung. Dies ist dann der Fall, wenn die Überwei-sung nach § 835 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2 ZPO nicht die gleiche Wirkung wie eine Aufrechnung nach § 389 BGB hat. aa) Wirkung der Aufrechnung und Überweisung

Sowohl Aufrechnung als auch Pfändung und Überweisung führen zur gegenseitigen Schuldtilgung, das heißt zum Erlö-schen der Forderungen. Bei der Aufrechnung folgt dies aus § 389 BGB, bei der Zwangsvollstreckung mittels Selbstpfän-dung aus § 835 Abs. 2 ZPO und der anschließenden Konfusi-on. bb) Zeitpunkt der Wirkungen

Entscheidend ist allerdings, in welchem Zeitpunkt diese Wir-kungen eintreten, ob also beide Befriedigungsmodalitäten ex tunc oder ex nunc wirken. Bedeutsam ist dies vor allem für die Berechnung der Zinsen und sonstigen Anspruchserhö-hungen.38 § 389 BGB bezieht die Wirkung der Aufrechnung auf den Zeitpunkt der Aufrechnungslage zurück und führt somit dazu, dass für die Zeit seit deren Eintritt keine Zinsen mehr angefallen und schon bezahlte Zinsen zurückzuerstatten sind. Auch spätere, nach dem Eintritt der Aufrechnungslage entstandene Anspruchserhöhungen sind irrelevant. § 835 Abs. 2 ZPO enthält hingegen keine ausdrückliche Anordnung einer ex tunc-Wirkung, mehr noch deutet der Wortlaut des § 835 Abs. 2 ZPO („geht über“, „als befriedigt anzusehen“) zunächst auf eine ex nunc-Wirkung hin. Hinzu kommt, dass die Überweisung an Zahlung statt wie eine erzwungene Ab-tretung nach § 398 S. 1 BGB wirkt39 - einem Verfügungsge-schäft, dass nach seinem Wortlaut in S. 2 („Mit dem Ab-schluss […]“) nur ex nunc wirken kann. Damit könnte die Selbstpfändung für den Gläubiger attraktiver erscheinen,

37 Stöber (Fn. 7), Rn. 33, 526. Der Pfändungsgläubiger behält so die Möglichkeit, über den konkreten Zeitpunkt der Selbst-pfändung zu entscheiden. 38 Dennhardt (Fn. 18), § 389 Rn. 3; Rimmelspacher/Spellen-berg, JZ 1973, 271 (272 f.), hier auch zum folgenden Text. Je nach Basiszinssatz ergibt sich für A ein Zinsanfall von ca. 20-25 €. Eine sonstige Anspruchserhöhung kann etwa eine Ver-tragsstrafe sein, die an den Verzugseintritt anknüpft. 39 Siehe auch Fn. 2.

wenn er gegenüber seinem Schuldner von höheren Zinsen und sonstigen Anspruchserhöhungen profitiert.

Andererseits wurde bereits festgestellt, dass bei der hier untersuchten Fallkonstellation vor Pfändung und Überwei-sung stets eine Aufrechnungslage vorliegt. Es stellt sich daher die Frage, ob sich aus dem Zweck der ex tunc-Wirkung in § 389 BGB systematische Parallelen zu der Situation im Rah-men der Selbstpfändung ziehen lassen.

Zweck des § 389 BGB ist es, dass sich der Schuldner mit Entstehung der Aufrechnungslage, mithin rückwirkend, als wirtschaftlich befreit ansehen darf.40 Diese Wirkung tritt rechtlich allerdings erst mit Erklärung der Aufrechnung als Gestaltungsrecht ein.

Bei der Selbstpfändung trotz zulässiger Aufrechnung wollte der Gläubiger keine Aufrechnung erklären. Die Erfül-lung der Forderung sollte zunächst mittels Leistungsklage erreicht werden. Zur Pfändung der Gegenforderung kam es schließlich, weil der Gläubiger keine anderen verwertbaren Vermögensgegenstände vorgefunden hat. Sobald die Forde-rung zwischenzeitlich in ihrem Wert aufgrund von An-spruchserhöhungen und Zinsanfall zugunsten des Klägers ge-stiegen ist, wird der Rechtsgedanke des § 389 BGB somit abgelehnt. Das spricht zunächst gegen eine Vergleichbarkeit mit den Rechtsfolgen einer Aufrechnung.

Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass auch der Schuldner als Gläubiger der Gegenforderung eines Schutzes bedarf. Dieser gilt aufgrund der Rückwirkung der Aufrech-nung als wirtschaftlich befreit. Fraglich ist damit, ob dem Schuldner bei einer Verzinsung zugunsten des Gläubigers der Vorteil dieser Rückwirkung auch im Fall einer Selbstpfän-dung des Gläubigers erhalten bleiben muss.

Der Gesetzgeber sieht etwa in § 406 BGB einen Fall vor, bei welchem trotz Wegfalls der Aufrechnungslage weiterhin der Vertrauensschutz hinsichtlich der wirtschaftlichen Schuldbefreiung gewährleistet ist. § 406 BGB kombiniert dabei die Rechtsgedanken aus den §§ 404, 407 BGB.41 Beide schützen den Schuldner vor einer Verschlechterung seiner Situation - sei es durch den Erhalt von Gegenrechten oder dem Vertrauen, nur gegenüber dem bisherigen Gläubiger ver-pflichtet zu sein. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass „der Aufrechnungsberechtigte nicht durch nachträgliche Vor-gänge, die seiner Einflussmöglichkeit entzogen sind und sich in der Sphäre des Aufrechnungsgegners abspielen“,42 benach-teiligt sein soll.

Gemäß § 829 Abs. 1 S. 1 ZPO verliert der Vollstre-ckungsschuldner die Verfügungsbefugnis über seine Forde-rung und darf daher nicht mehr aufrechnen. Zwar nimmt der Gläubiger auch hier dem Schuldner den Schutz der Aufrech-nungslage durch einseitige Einleitung der Zwangsvollstre-ckung, doch wurde dieses Verhalten gerade durch die Nicht-

40 Dennhardt (Fn. 18), § 389 Rn. 3. Es tritt mit anderen Wor-ten eine „effektive Erfüllung“ ein. 41 Roth, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 406 Rn. 1, hier auch zum folgenden Text. 42 BGH NJW 1959, 599 (600).

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AUFSÄTZE Marisa Drost/Alexander Kunerth

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ZJS 3/2015 258

zahlung seitens des Schuldners herausgefordert.43 Der Schuldner hat damit seinen Schutz verwirkt, womit die Auf-rechnungsmöglichkeit nach Wegfall der Aufrechnungslage nicht mehr konserviert wird. In diesem Fall ist eine dem § 389 BGB entsprechende Rückwirkung im Fall der Selbst-pfändung zum Schutz des Schuldners nicht geboten.

Der entscheidende Unterschied zwischen Aufrechnung und Selbstpfändung liegt demnach im Zeitpunkt der Wirkun-gen, was vor allem für die Zinsberechnung und etwaige An-spruchserhöhungen zugunsten des Vollstreckungsgläubigers von wesentlicher Bedeutung sein kann. Der Weg der Auf-rechnung führt dann nicht zum gleichen Ziel, womit das Rechtsschutzbedürfnis bejaht werden kann. c) Aufrechnungsverbot aus § 393 BGB gegenüber Schuldner

Bisher waren beide Parteien zur Aufrechnung befugt oder dem Gläubiger war diese nicht möglich. Fraglich ist letztlich noch, ob sich an den vorherigen Ergebnissen etwas ändert, wenn nur der Schuldner wegen § 393 BGB nicht aufrechnen kann.

Die Situation ist nun die Folgende: Allein der Vollstre-ckungsgläubiger ist als Gläubiger einer Forderung aus vor-sätzlicher unerlaubter Handlung aufrechnungsberechtigt. Dieser hat nun ein Wahlrecht. Mit Erklärung der Aufrech-nung tritt die Wirkung des § 389 BGB und damit ein Verlust von zwischenzeitlich angefallenen Zinsen und Anspruchser-höhungen ein. Er wird damit seinen Interessen entsprechend den Weg der Zwangsvollstreckung einschlagen, indem er Leistung vom Schuldner inklusive aller Anspruchserhöhun-gen verlangt und notfalls die Selbstpfändung betreibt. Die Rechtsfolgen des § 389 BGB würden den Vollstreckungs-gläubiger damit wirtschaftlich zwingen, auf sein Aufrech-nungsrecht zu verzichten und damit sein Wahlrecht zwischen beiden Methoden aufzugeben. Da sich der Vollstreckungs-schuldner hier anders als im Regelfall nicht wirtschaftlich befreit fühlen darf, erscheint eine teleologische Reduktion des § 389 BGB gerechtfertigt. Indem man die Forderungen bei zwischenzeitlicher Anspruchserhöhung lediglich ex nunc erlöschen lässt, würde der oben festgestellte Unterschied zwischen Aufrechnung und Pfändung nicht mehr bestehen und das Wahlrecht des Gläubigers weiter erhalten. Selbst-pfändung und Aufrechnung würden dann jedoch die gleichen Rechtsfolgen nach sich ziehen.

Anknüpfend an den Ausgangspunkt ergibt sich dann aus Sicht des Gläubigers ein Dilemma: Gleichen sich die Rechts-folgen zu seinem Schutz, müsste zugleich sein Rechtsschutz-bedürfnis bezüglich der Zwangsvollstreckung entfallen. Die-ses Ergebnis überzeugt bereits wertungsmäßig nicht. Prozes-sual müsste zudem das Vollstreckungsgericht in jedem Fall einer Selbstpfändung klären, ob materiell ein Anspruch aus den §§ 823 ff. BGB besteht und damit ein Ausnahmefall vorliegt. Eine solche materielle Prüfung ist dem formalisier-ten Zwangsvollstreckungsverfahren allerdings fremd. Dies würde zu folgendem Widerspruch führen: Das Rechtsschutz-bedürfnis fehlt, aber die Rechtslage ist noch komplizierter

43 Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271 (273), hier auch zum folgenden Text.

geworden. Der Sinn des Rechtsschutzbedürfnisses besteht jedoch gerade darin, dem Gegner und auch dem Gericht un-nötige Mühe und Kosten zu ersparen. Eine Differenzierung zwischen Regel- und Ausnahmefall würde diese Filterfunkti-on in ihr Gegenteil verkehren. Es ist daher konsequenter, eine Selbstpfändung auch in diesem Fall zuzulassen. III. Zusammenfassung Es hat sich gezeigt, dass Selbstpfändung und Aufrechnung in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Die Selbstpfän-dung kann dabei als prozessuales Gestaltungsrecht verstan-den werden. Bei einem Ausschluss der Aufrechnung aus pro-zessualen oder materiellen Gründen ist die Selbstpfändung zulässig. Vertragliche Aufrechnungsverbote müssen hingegen ausgelegt werden. Als Auslegungshilfe für die Zulässigkeit der Selbstpfändung kann hier ein Vergleich mit dem Insol-venzverfall des Schuldners dienen. Sobald die Aufrechnung zulässig ist, ergibt sich aus den unterschiedlichen Rechtsfol-gen von Aufrechnung und Pfändung das Vorhandensein des Rechtsschutzbedürfnisses.

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 259

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Von Dr. Claudio Franzius, Berlin/Hamburg* Die Ankündigung des Bundesjustizministers für ein neues Gesetz zur Einführung der umstrittenen Vorratsdatenspeiche-rung wirft Fragen nach den verfassungsrechtlichen Grenzen auf, die vor allem durch Art. 10 GG gezogen werden. Grund-legend für den Datenschutz in Deutschland ist jedoch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Was verbirgt sich hinter diesem Grundrecht und wie sollte es gedacht werden? Der Datenschutz ist längst vor internationale He-rausforderungen gestellt, die Lösungen nicht mehr allein vom nationalen Recht erwarten lassen. I. Einführung Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bildet eine zentrale Grundlage für den Datenschutz in Deutschland. Es wurzelt im berühmten Volkszählungsurteil des Bundesverfas-sungsgerichts aus dem Jahr 1983 (II.). Vorliegend wird die Struktur des Grundrechts erläutert und gezeigt, dass sich die Rechtsprechung um Kontinuität bemüht (III.). Das gilt trotz der Kritik an der Vorstellung einer eigentumsanalogen Ver-fügungsbefugnis über die „eigenen“ Daten und der hierdurch erzwungenen Verrechtlichung, der nur begrenzte Steuerungs-leistungen korrespondieren (IV.). Für eine Neukonzeption des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung lassen sich drei Strategien unterscheiden, die in den Kontext der über-staatlichen Herausforderungen des Datenschutzes gestellt werden (V.). II. Grundlegung Das BVerfG hat im Volkszählungsurteil das Recht auf infor-mationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemei-nen Persönlichkeitsrechts vor dem Hintergrund der „heutigen und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverar-beitung“ anerkannt.1 Dieses Grundrecht sichert dem Einzel-nen die Befugnis, grundsätzlich „selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“ und „zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.“ Zudem müssen Betroffene „wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“. Für die Rechtfertigung des Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestim-mung, das Eingang in viele Landesverfassungen2 gefunden hat, statuiert das Gericht strenge Anforderungen: Jede Be-schränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bedarf einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage, die aus Gründen des überwiegenden Allgemeininteresses zuläs-

* Der Verf. ist Privatdozent an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. 1 BVerfGE 65, 1 (42). Grundlegend zuvor Podlech, in: Perels (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, 1979, S. 50. Zur Rekonstruktion Steinmüller, RDV 2007, 158. 2 Art. 33 BerlVerf; Art. 11 BrandenbVerf; Art. 12 Abs. 3-5 BremVerf; Art. 6 Abs. 1-2 MVVerf; Art. 4 Abs. 2 NWVerf; Art. 4a RPVerf; Art. 2 S. 2 SaarVerf; Art. 6 Abs. 1 Sachs-AnhVerf; Art. 6 Abs. 2-4 ThürVerf.

sig und erforderlich sein sowie dem Gebot der Normenklar-heit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen muss. 1. Schutzgegenstand

Ausgangspunkt ist das verfassungsrechtliche Persönlichkeits-recht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Im Kern geht es um eine Fortentwicklung des Rechts auf Achtung der Privatsphäre, wobei als Schutzgegenstand die Selbstbestim-mung des Einzelnen und als Gefährdungslage der konkrete Verwendungszusammenhang von Daten ausgemacht wurde. Weil die sozialen Bezüge und Verwendungszusammenhänge aber nicht zum Gegenstand des Schutzbereichs erklärt, son-dern bei den Schranken verortet werden, verselbständigte sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und ließ den grundrechtlichen Freiheitsvoraussetzungsschutz zum Inhalt eines Grundrechts werden.3 Deshalb sind die eingriffs-abwehrrechtlichen Konturen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung unscharf geblieben.4

Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist der Schutzbereich durch die Befugnis des Einzelnen gekenn-zeichnet, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Ver-wendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.5 Schutz-gegenstand ist eine Datenverfügungsbefugnis, die zwar nicht unmittelbar das grundrechtliche Schutzgut abbildet und damit nicht um ihrer selbst willen geschützt ist, dessen abwehr-rechtlicher Schutz dann aber schnell auf einen Mechanismus zur Sicherung anderer Freiheiten verkürzt wird.6 Hält man demgegenüber an einem eigenständigen „Schutzbereich“ fest, so fragt sich, ob seine Kennzeichnung als eigentumsanaloges Informationsbeherrschungsrecht angemessen ist. Während das allgemeine Persönlichkeitsrecht heute jedenfalls insoweit eine zurückhaltendere Schutzbereichsbestimmung erhält als Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG kein allgemeines und umfassendes (!) Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person7 zu entnehmen ist, der soziale Kontext viel-mehr an Bedeutung gewinnt, ist das beim Recht auf informa-tionelle Selbstbestimmung bislang nur begrenzt der Fall und die Argumentationslast verlagert sich auf die Rechtferti-gungsebene. Obwohl der Datenschutz kontextspezifisch auch

3 Bull, ZRP 1998, 310 (312); Ladeur, DuD 2000, 12; Trute, in: Roßnagel (Hrsg.), Handbuch Datenschutzrecht, 2003, Kap. 2 Rn. 11 („ersichtlich zu weit“). 4 Krit. Ladeur, DÖV 2009, 45. Der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes erschöpft sich nicht in der Ausgrenzung eines Raums eigenen Beliebens, sondern meint rechtlich geordnete Freiheit, vgl. Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 31. Gegen die Verkürzung auf die Staatsabwehrdoktrin auch Hoffmann-Riem, AöR 123 (1998), 513 (523 ff.). 5 BVerfGE 65, 1 (42 f.); 118, 168 (184); 120, 274 (312). 6 So Britz, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, 2010, S. 561 (582). 7 BVerfGE 101, 361 (380); 120, 180 (198).

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AUFSÄTZE Claudio Franzius

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in den speziellen Freiheitsgarantien verortet und der Schutz-bereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts für neue Inhalte geöffnet wird, bleibt dieser isoliert auf einzelne Daten ausgerichtet und der maßgebliche Bezugspunkt der Information wird erst auf der Ebene der Eingriffsrechtferti-gung im Rahmen der Abwägung relevant.8 2. Eingriffsrechtfertigungen

Unter Zugrundlegung eines weiten Eingriffsbegriffs, der nicht immer erkennen lässt, welcher Schritt der Datenerhe-bung und -verarbeitung als rechtsrelevante Aktion heraus-zukristallieren und damit als Eingriff zu qualifizieren ist, kommt es entscheidend auf die verfassungsrechtliche Recht-fertigung an. Das BVerfG hat den Schrankenvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 GG für das Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung präzisiert:

Maßgeblich sind die Grundsätze der Bestimmtheit und Normenklarheit. Der Gesetzgeber habe Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs hinreichend bereichsspezifisch, präzise und normenklar festzulegen. Bediene sich der Gesetzgeber unbestimmter Rechtsbegriffe, dürfen verbleibende Ungewiss-heiten nicht so weit gehen, dass die Vorhersehbarkeit und Justiziabilität des Handelns der durch die Normen ermächtig-ten staatlichen Stellen gefährdet sind.9 Erst allmählich wird klar, dass hier ein Spannungsverhältnis besteht: Je bestimm-ter die Norm bereichsspezifisch zu fassen ist, desto weniger normenklar werden die Anforderungen des Datenschutzes für den Einzelnen.10

Herausragende Bedeutung wird dem Grundsatz der Zweckbindung zugesprochen: Das eingriffsrechtfertigende Gesetz muss eine Bestimmung über die Zweckbindung ent-halten, wonach gewonnene Daten nur zu den Zwecken ver-wendet werden dürfen, zu denen sie erhoben wurden. Auch diese Konditionalprogrammierung scheint der Realität, wozu das anlasslose Sammeln von Daten durch private Unterneh-men gehört, nur noch begrenzt gerecht werden zu können. Zwar geht das BVerfG davon aus, dass eine Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder nicht bestimmbaren Zwecken verfassungswidrig wäre. Diesem Verbot unterfalle eine vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten zur späteren anlass-bezogenen Übermittlung und Verwertung jedoch nicht.11

Das Gesetz muss auch den verfassungsrechtlichen Maß-gaben zum Schutz des Kernbereichs gerecht werden. Heimli-che Überwachungsmaßnahmen staatlicher Stellen haben den unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zu

8 Näher Albers, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voß-kuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, § 22 Rn. 68; v. Lewinski, Die Matrix des Daten-schutzes, 2014, S. 17 ff. 9 BVerfGE 120, 274 (315 f.). 10 Vgl. Kingreen/Kühling, JZ 2015, 213 (215 f.). 11 BVerfGE 125, 260 (316); schärfer EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12 und C-514/12 (Digital Rights Ireland u.a.). Zu den Unterschieden Spiecker gen. Döhmann, JZ 2014, 1109 (1113).

wahren, dessen Schutz sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt.12 Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung gehört die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, An-sichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art ohne die Angst zum Ausdruck zu bringen, dass staatliche Stellen dies über-wachen.13 Um diesen Vorgaben gerecht zu werden, sind Schutzkonzepte häufig zweistufig ausgestaltet. Auf der ersten Stufe hat eine gesetzliche Ermächtigung so weit wie möglich sicherzustellen, dass Daten mit Kernbereichsbezug nicht erhoben werden. Bei heimlichen Zugriffen ist es jedoch prak-tisch unvermeidbar, Informationen zur Kenntnis zu nehmen, bevor ihr Kernbereichsbezug bewertet werden kann. Daher muss auf der zweiten Stufe für hinreichenden Schutz in der Auswertungsphase gesorgt sein. Insbesondere müssen aufge-fundene und erhobene Daten mit Kernbereichsbezug unver-züglich gelöscht und ihre Verwertung ausgeschlossen wer-den.14

In der eingriffsabwehrrechtlichen Konstruktion des BVerfG spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine zentrale Rolle. Danach wird verlangt, dass der Grund-rechtseingriff einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist. Grundsätzlich dürfte gegenüber dem heimlichen Zugriff eine offene Erhebung das mildere Mittel sein. Der Gesetzgeber hält aber häufig nur die verdeckte Erhebung der Daten für erfolgversprechend, so dass die Argumentationslast in die Angemessenheitsprüfung verlagert wird. Hier darf die Schwere des Eingriffs nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen.15 Der Gesetzgeber hat das Individualinteresse, das durch einen Grundrechtsein-griff beschnitten wird, den Allgemeininteressen, denen der Eingriff dient, angemessen zuzuordnen. Die Prüfung an die-sem Maßstab kann ergeben, dass ein Mittel nicht zur Durch-setzung von Allgemeininteressen angewandt werden darf, weil die davon ausgehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen schwerer wiegen als die durchzusetzenden Belange.16 III. Beispiele aus der Rechtsprechung 1. BVerfGE 65, 1 (Volkszählung)

Die Besonderheit des Rechts auf informationelle Selbstbe-stimmung liegt weniger darin, dass hier ein neues Grundrecht „erfunden“ wurde, sondern im Zusammenziehen mehrerer Argumentationsstränge aus der Rechtsprechung des Gerichts, das schon in der Mikrozensus-Entscheidung unter Rückgriff auf seine Menschenwürde-Rechtsprechung dem einzelnen Bürger einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestal-tung zugewiesen hat, der Einwirkungen der öffentlichen

12 BVerfGE 6, 32 (41); 27, 1 (6); 32, 373 (378); 34, 238 (245); 80, 367 (373); 109, 279 (313); 113, 348 (390). 13 BVerfGE 109, 279 (314). 14 BVerfGE 109, 279 (318); 113, 348 (391 f.). 15 Vgl. BVerfGE 90, 145 (173); 109, 279 (349 ff.); 113, 348 (382). 16 BVerfGE 120, 274 (321 f.). Für ein Beispiel OVG Ham-burg, NJW 2008, 96.

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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ÖFFENTLICHES RECHT

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Gewalt entzogen sein soll.17 In den Schutzbereich des infor-mationellen Selbstbestimmungsrechts fließen Elemente der Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, der Selbstbestimmung im Sinne einer Bestimmungsbefugnis über die „eigenen“ Daten und die Sicherung der Verhaltensfreiheit „im Hinblick auf Unwissenheit über das Wisser Anderer über die eigene Person.“18 Aber nicht bloß den Bezug zur Verhal-tensfreiheit stellt das Gericht heraus, wenn es ausführt:

„Individuelle Selbstbestimmung setzt [...] voraus, dass dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der Mög-lichkeit gegeben ist, sich auch entsprechend dieser Entschei-dung tatsächlich zu verhalten [...]. Mit dem Recht auf infor-mationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsord-nung und eine diese ermöglichenden Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsi-cher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbst-bestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“19

Obwohl Selbstbestimmung nicht bloß individuell verstan-den, sondern auf das kollektive Gemeinwesen bezogen wird und die freie Entfaltung der Persönlichkeit unter den Bedin-gungen der Datenverarbeitung deshalb den Schutz des Ein-zelnen gegen die unbegrenzte Erhebung, Speicherung und Verwendung „seiner“ persönlichen Daten verlange, kon-struiert das BVerfG das Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung als Eingriffsabwehrrecht und hält daran bis heute fest.20 Das mag der damals als neu empfundenen Gefährdung

17 BVerfGE 27, 1 (6) mit Bezugnahme auf BVerfGE 6, 32 (41); 6, 389 (433). 18 Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 9. Zur Rekombination der Strän-ge aus verschiedenen Zusammenhängen in der eingriffsab-wehrrechtlichen Verbürgung eines Entscheidungsrechts über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten Albers (Fn. 8), § 22 Rn. 61. 19 BVerfGE 65, 1 (42 f.), Hervorhebungen des Verf. 20 Krit. Albers, in: Haratsch/Kugelmann/Repkewitz (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht der Informationsgesell-schaft, 1996, S. 113. Zum „Sprung in der Argumentation“ auch Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 9 mit Fn. 40; Bull, Informatio-nelle Selbstbestimmung – Vision oder Illusion?, 2. Aufl. 2011, S. 33 f. Danach ist es eine Sache, dass die Sammlung und Verwendung von Informationen über Individuen nicht unbegrenzt erlaubt sein kann, die daraus entwickelte Schluss-folgerung, der Einzelne müsse grundsätzlich selbst über die

durch staatlich eingesetzte Großrechenanlagen geschuldet gewesen sein, erweist sich aber angesichts der neuen Gefähr-dungen durch private Akteure wie Facebook, Google oder andere Internetdienste als prekär, passt die Figur der Ein-griffsabwehr doch grundrechtsdogmatisch für Privatrechtsbe-ziehungen nicht. Der genetische Code des Rechts auf infor-mationelle Selbstbestimmung liegt in der bipolaren Konstel-lation eines für übermächtig gehaltenen Staates, dem die um individuelle „Selbstbestimmung“ angereicherte Handlungs-freiheit der Bürger einfach gegenübergestellt wird. Bis heute hat das BVerfG eine überzeugende Antwort auf die verfas-sungsrechtlichen Fragen des Datenschutzes im Privatrecht nicht gefunden.21 Zwar liegt mit der Figur der Schutzpflich-ten ein grundrechtsdogmatischer „Aufhänger“ bereit. Daraus folgt jedoch kein strikter Gesetzesvorbehalt für private Da-tenverarbeitungsvorgänge, sondern im Grunde nur, dass ein rechtlicher Rahmen zur tatsächlichen Sicherung des informa-tionellen Selbstschutzes bereitgestellt wird.22 2. BVerfGE 120, 378 (Kfz-Kennzeichenerfassung)

In einer Reihe von Entscheidungen hat das BVerfG den Ge-setzesvorbehalt zum Anlass genommen, die Verantwortung des Gesetzgebers für die differenzierte Strukturierung von Datenverarbeitungsvorgängen hervorzuheben.23 Dass es, wie es im Volkszählungsurteil heißt, kein „belangloses“ Datum geben kann, wird dahingehend präzisiert, dass es auf den Verwendungskontext ankommt.24 Hierdurch wird unterstri-chen, dass personenbezogene Daten erst in bestimmten Kon-texten zur Information werden und je nach Kontext eine völlig neue Bedeutung erhalten können.25

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wie es namentlich im informationsbezogenen Polizeirecht seinen Niederschlag gefunden hat, erweitert den grundrechtlichen Schutz von Verhaltensfreiheit, indem es ihn schon auf der

Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten be-stimmen, aber keineswegs zwingend. 21 Vgl. Bäcker, Der Staat 51 (2012), 91 (97 ff.). 22 BVerfG, Beschl. v. 17.7.2013 – 1 BvR 3167/08 = NJW 2013, 3086. 23 Vgl. Bull, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bun-desverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 627. 24 BVerfGE 120, 378 (399). Das war in BVerfGE 65, 1 (45) undeutlich geblieben. 25 Deshalb kann die Begrenzung der Verwendung eine Spei-cherung rechtfertigen, vgl. mit Blick auf die Speicherung und anschließender Übermittlung von personenbezogenen Tele-kommunikationsdaten BVerfGE 125, 260 (327 f.): „Eine Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten [...] setzt gesetzliche Regelungen zur Verwendung dieser Daten voraus. Die verhältnismäßige Ausgestaltung dieser Verwen-dungsregeln entscheidet damit nicht nur über die Verfas-sungsmäßigkeit dieses einen eigenen Eingriff begründenden Bestimmungen selbst, sondern wirkt auf die Verfassungsmä-ßigkeit schon der Speicherung als solcher zurück.“ Hieran kann ungeachtet aller Zweifelsfragen eine neue Regelung der Vorratsdatenspeicherung anknüpfen.

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AUFSÄTZE Claudio Franzius

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ZJS 3/2015 262

Stufe der Persönlichkeitsgefährdung beginnen lässt. Hier hat es den Anschein, als werde der Verzicht auf einen konkreten Nachteilsbezug26 durch den Hinweis auf die fehlende Be-nennbarkeit konkret bedrohter Rechtsgüter kompensiert. Es kommt zu einem in das Vorfeld verlagerten Gefährdungs-schutz. Einer vollständigen Entkoppelung von möglichen Rechtsgutverletzungen wird dadurch vorgebeugt, dass eine besondere Gefährdungslage verlangt wird.27

Das Urteil verdeutlicht die abwehrrechtliche Konstruktion des informationellen Selbstbestimmungsrechts und macht die Anforderungen des Gesetzesvorbehalts hinsichtlich der Be-stimmtheit der gesetzlichen Grundlage von der Intensität des Eingriffs abhängig, die durch das Zweckbindungserfordernis abgemildert wird. Weil die Anforderungen an die Zweckfest-legung der Minderung der Eingriffsintensität und nur mittel-bar der Sicherung der Parlamentsverantwortung dienen, kön-ne die Festlegung auch administrativ erfolgen.28 Auch der Auskunftsanspruch sowie allgemein die Einräumung von Kenntnis- und Einflussrechten der Betroffenen können gera-de bei heimlicher Datenverarbeitung aus Verhältnismäßig-keitsgesichtspunkten geboten sein. Das mildert den so ge-nannten chilling effect, aus Sorge vor einer Speicherung ab-weichender Verhaltensweisen durch solche Verhaltensweisen seine Grundrechte in Anspruch zu nehmen.29

In jüngeren Entscheidungen hat das BVerfG diesen Ein-schüchterungseffekt hervorgehoben.30 So vermittelt dem Ge-richt zufolge die automatische Erfassung von Kfz-Kenn-zeichen die Eindruck ständiger Kontrolle. Das „sich einstel-lende Gefühl des Überwachtwerdens“ könne zu Einschüchte-rungseffekten und in der Folge zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung von Grundrechten führen. Dadurch seien nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen betrof-fen, sondern auch das Gemeinwohl, weil „die Selbstbestim-mung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Hand-lungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten freiheitlichen Gemeinwesens“ ist.31 Dass es hierbei nicht allein um deutsche Befindlichkeiten geht, wir es also mit keiner querelle d’ allemand zu tun haben, dokumentiert das Urteil des EuGH zur Grundrechtswidrigkeit der Vorratsda-tenspeicherungsrichtlinie, das nach den Schlussanträgen von Generalanwalt Pedro Cruz-Villalón32 explizit auf Ausführun-

26 Krit. Bull (Fn. 20), S. 92. 27 Vgl. Britz (Fn. 6), S. 578 ff. 28 Vgl. Britz (Fn. 6), S. 584. 29 Siehe auch Masing, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechts-wissenschaft, 2010, S. 467 (490): „Besteht die Gefahr, dass jede Abweichung vom common sense festgehalten wird, ent-steht ein Anpassungsdruck, der individuell Zivilcourage hem-men und gesellschaftlich die Innovationskraft der Freiheit konterkarieren kann.“ 30 BVerfGE 113, 29 (46 f.); 115, 166 (188); 120, 378 (402); krit. Bull (Fn. 23), S. 641 ff. 31 BVerfGE 120, 378 (430); krit. Nettesheim, VVDStRL 70 (2011), 7 (28 f.); Bull (Fn. 20), S. 63 ff. 32 EuGH (Generalanwalt Cruz-Villalón), Schlussanträge v. 12.12.2013 – C-293/12 und C-514/12 (Digital Rights Ireland u.a.), Rn. 52, 72.

gen des BVerfG zum Einschüchterungseffekt der Vorratsda-tenspeicherung33 Bezug nimmt.34 3. BVerfGE 120, 274 (Online-Durchsuchung)

In seinem Urteil zur heimlichen Infiltration privater Compu-ter hat das BVerfG die Grenzen seiner Konzeption des grund-rechtlichen Datenschutzes erkannt und einer „Überfrachtung“ des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung vorzubeu-gen versucht. Werde ein informationstechnisches System zum Zweck der Telekommunikationsüberwachung technisch infiltriert, so ist mit der Infiltration die entscheidende Hürde genommen, um das System insgesamt auszuspähen.

Das BVerfG arbeitet heraus, dass den dadurch bewirkten spezifischen Gefährdungen der Persönlichkeit weder durch Art. 10 Abs. 1 GG noch durch Art. 13 Abs. 1 GG hinreichend begegnet werden könne. Danach schützt Art. 10 GG die lau-fende, nicht aber die abgeschlossene Kommunikation. Art. 13 GG schütze nur die räumliche Privatsphäre, nicht aber die Infiltration eines PC außerhalb der Wohnung. Auch das all-gemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf Schutz der Privatsphäre reiche nicht aus, um angemesse-nen Schutz zu gewährleisten:

„In seiner Ausprägung als Schutz der Privatsphäre ge-währleistet das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Einzel-nen einen räumlich und thematisch bestimmten Bereich, der grundsätzlich frei von unerwünschter Einsichtnahme bleiben soll […]. Das Schutzbedürfnis des Nutzers eines informati-onstechnischen Systems beschränkt sich jedoch nicht allein auf Daten, die seiner Privatsphäre zuzuordnen sind. Eine solche Zuordnung hängt zudem häufig von dem Kontext ab, in dem die Daten entstanden sind und in den sie durch Ver-knüpfung mit anderen Daten gebracht werden. Dem Datum selbst ist vielfach nicht anzusehen, welche Bedeutung es für den Betroffenen hat und welche es durch Einbeziehung in andere Zusammenhänge gewinnen kann. Das hat zur Folge, dass mit der Infiltration des Systems nicht nur zwangsläufig private Daten erfasst werden, sondern der Zugriff auf alle Daten ermöglicht wird, so dass sich ein umfassendes Bild vom Nutzer des Systems ergeben kann.“35

Weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf punktuelle Datenerhebungen ausgelegt ist, biete es keinen ausreichenden Schutz vor den Gefahren, die durch die Nut-zung informationstechnischer Systeme bedingt sind. Wer informationstechnische Systeme nutzt, ist gezwungen, dem System persönliche Daten zu liefern. Werde auf dieses Sys-tem zugegriffen, verfüge der Zugreifende auf Anhieb über einen potenziell großen und aussagekräftigen Datenbestand und sei auf weitere Datenerhebungs- oder Datenverarbei-tungsmaßnahmen nicht mehr angewiesen. Insofern bestehe bei Anwendung des Rechts auf informationelle Selbstbe-stimmung eine Schutzlücke. Diese Lücke schloss das BVerfG in der Entscheidung zur Online-Durchsuchung, indem es das

33 BVerfGE 125, 260 (320); anders die abw. Meinung des Richters Eichberger, BVerfGE 125, 364 (366). 34 EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12 und C-514/12 (Digital Rights Ireland u.a.), Rn. 37. 35 BVerfGE 120, 274 (311 f.).

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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ÖFFENTLICHES RECHT

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 263

Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG entwickelt:

„Soweit kein hinreichender Schutz vor Persönlichkeitsge-fährdungen besteht, die sich daraus ergeben, dass der Einzel-ne zu seiner Persönlichkeitsentfaltung auf die Nutzung in-formationstechnischer Systeme angewiesen ist, trägt das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Schutzbedarf in seiner lückenfüllenden Funktion über seine bisher anerkannten Ausprägungen hinaus dadurch Rechnung, dass es die Integri-tät und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme gewährleistet. Dieses Recht fußt gleich dem Recht auf infor-mationelle Selbstbestimmung auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Es bewahrt den persönlichen und privaten Le-bensbereich der Grundrechtsträger vor staatlichem Zugriff im Bereich der Informationstechnik auch insoweit, als auf das informationstechnische System insgesamt zugegriffen wird und nicht nur auf einzelne Kommunikationsvorgänge oder gespeicherte Daten.“36

Dieses, mitunter missverständlich als Computer-Grund-recht bezeichnete Recht schützt das Interesse des Nutzers, dass die von einem informationstechnischen System erzeug-ten, verarbeiteten und gespeicherten Daten vertraulich blei-ben. Erkennbar stellt das Gericht auf die Systemanforderun-gen ab und spezifiziert die Angemessenheitsprüfung. Der gesetzlich geregelte Eingriffsanlass muss nach Rang und Art der Gefährdung der Schutzgüter ein hinreichendes Gewicht aufweisen. Online-Durchsuchungen dürfen nur zum Schutze überragend wichtiger Rechtsgüter erfolgen. Das können der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder Landes, die Integrität von Leib, Leben und Freiheit oder schwere Strafta-ten sein. Was jedoch ein „informationstechnisches System“ ist und wie „Vertraulichkeit“ oder „Integrität“ zu bestimmen sind, bleibt nach der Entscheidung des BVerfG unsicher und hat im Schrifttum zur Kritik geführt.37 Trotz dieser offenen Fragen besteht eine Leistung des Rechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme darin, dass nunmehr auch in der Rechtsprechung des BVerfG deutlich wird, mit einem auf Entscheidungsbefugnis-se des Einzelnen fokussierten Schutzkonzept nicht immer weiter zu kommen.38 IV. Kritik und Neukonzeption Seit Jahren richtet sich die konzeptionelle Kritik am Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf die Konstruktion einer eigentumsanalogen Befugnis an etwas, was nur als sozialer Vorgang angemessen begriffen werden könne. Der vom BVerfG garantierte Schutz der Grundrechtsträger erfor-dert das Mitdenken von Kontexten und die Berücksichtigung kontextual gefasster mehrdimensionaler Grundrechtspositio-

36 BVerfGE 120, 274 (313). 37 Statt vieler Britz, DÖV 2008, 411 (413 ff.); Eifert, NVwZ 2008, 521 (522 ff.). 38 Zum objektiv-rechtlichen Rahmen des subjektiven Rechts auf „Gewährleistung“ der Integrität und Vertraulichkeit in-formationstechnischer Systeme Hoffmann-Riem, JZ 2014, 53 (57); siehe auch Ladeur, DÖV 2009, 45 (54 f.).

nen. Deshalb fokussiert die Kritik auf die abwehrrechtliche Konstruktion des Grundrechts, womit weder neue Gefähr-dungen durch private Unternehmen angemessen in den Griff zu bekommen sind noch die maßgebliche Grundrechtsfunkti-on für die Ausgestaltung des einfachen Rechts benannt ist. 1. Eigentumsanaloge Verfügungsbefugnis

Zwar hat das BVerfG schon im Volkszählungsurteil die sozi-ale Dimension von Informationsvorgängen herausgestellt. Der Einzelne habe kein Recht im Sinne einer absoluten, un-eingeschränkten Herrschaft über „seine“ Daten; er ist viel-mehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfal-tende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. In-formation, auch soweit sie personenbezogen ist, stelle kein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Allerdings hat das Gericht die soziale Dimension von Informationsverarbei-tungsvorgängen grundrechtsdogmatisch nicht im Schutzbe-reich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ver-ortet, sondern als Problem kollidierender Rechte in der Schrankendogmatik verarbeitet. Damit erscheint das informa-tionelle Selbstbestimmungsrecht als eine absolute Verfü-gungsbefugnis, die wie andere Grundrechte zugunsten ande-rer Rechte gegebenenfalls zurückstehen muss.

Ein so weiter Schutzbereich ist aber schlecht zu begrün-den. Eigentumsanaloge Informationsbeherrschungsrechte, die ein Recht auf das „Haben“ von Informationen beeinhalten würden, liefen darauf hinaus, dem Einzelnen ein Recht an Beobachtungen und Sinnkonstruktionen anderer zuzuwei-sen.39 Das kann schon vor dem Hintergrund der anderen Grundrechtspositionen nicht sein40 und vernachlässigt den sozialen Kontext, in den Informationen gestellt sind, ja da-durch überhaupt erst zu einer Information werden. Das muss keinen Abschied vom grundrechtlichen Datenschutz bedeu-ten. Die Vielfalt der Schutz- und Ordnungsbedürfnisse kann von der Grundrechtsdogmatik dadurch verarbeitet werden, dass Gewährleistungsgehalte mit Hilfe überindividueller Per-spektiven formuliert werden. 2. Verrechtlichung ohne Steuerungsleistungen

Inzwischen wird immer klarer, dass die Konzeption des BVerfG mit der Fokussierung auf die Eingriffsabwehr an Grenzen stößt und der reale Gewinn an Freiheitsschutz durchaus bestritten werden kann. Konzentriert man die Fra-gen des Datenschutzes auf die abwehrrechtlichen Gehalte der Grundrechte, liegen die Folgen auf der Hand, mögen sie mitunter auch zu drastisch beschrieben werden. Es droht eine Verrechtlichung, weil der Eingriff in den „Schutzbereich“ des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung den Gesetzes-

39 Vgl. Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 19; Albers, Rechtstheorie 33 (2002), 61 (81). 40 Das kulminiert in der Feststellung, eine unmittelbar an die individuelle Verfügungsbefugnis anknüpfende Konzeption gewähre Unmögliches (Informationsverfügungsbefugnis) oder normativ nicht Erforderliches (Datenverfügungsbefug-nis), vgl. Britz (Fn. 6), S. 567 f.

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AUFSÄTZE Claudio Franzius

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vorbehalt auslöst.41 Ein Blick in die Standardbefugnisse des Polizei- und Ordnungsrechts veranschaulicht den Zuwachs an rechtlichen Regelungen zur Legitimierung des informations-bezogenen Handelns der Polizei und Ordnungsbehörden. Das Bestimmtheitserfordernis für die Rechtfertigung von Eingrif-fen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung tritt in ein Spannungsverhältnis zur Normenklarheit, ist es den Be-troffenen angesichts der verstreuten Regeln im Bundesdaten-schutzgesetz und der Zunahme an bereichsspezifischen Rege-lungen in sachgebietsbezogenen Gesetzen doch kaum noch möglich, die Anforderungen für die Erhebung, Verwertung und Weitergabe von Daten zu erkennen.

Mit anderen Worten: Es droht nicht bloß eine Verrechtli-chungsfalle.42 Angesichts des sich schnell verändernden tech-nischen, sozialen und wirtschaftlichen Kontexts laufen die Regelungen des Datenschutzes auch Gefahr, ihre Steuerungs-kraft einzubüßen. Mehr Recht bedeutet nicht stets bessere Steuerungsfähigkeit.43 Obwohl eine Stärke des Datenschutzes in der Einbeziehung des sozialen Umfelds gesehen werden konnte, droht das Recht auf informationelle Selbstbestim-mung an der Realität aufzulaufen, soweit es nicht gelingt, den wachsenden Differenzierungsbedarf grundrechtlich aufzufan-gen. Statt Forderungen nach dem einen Grundrecht auf Da-tenschutz nachzugeben, wird man dem Charakter des Daten-schutzrechts als Querschnittsmaterie auch grundrechtsdogma-tisch zu entsprechen haben. Die Aufgabe der Wissenschaft liegt darin, die Beharrungskräfte der Rechtsprechung auf ihre Stimmigkeit zu überprüfen, die Folgen zu überdenken und Neukonzeptionen in die Diskussion über das eigentümliche Recht auf informationelle Selbstbestimmung einzuspeisen. 3. Ansätze einer Neukonzeption

Wie aber sehen solche Neukonzeptionen aus? Im Wesentli-chen lassen sich heute drei Strategien unterscheiden. Sie haben unterschiedliche Implikationen für die Rolle des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und den Daten-schutz. a) Reduzierung auf Missbrauchsschutz?

Die erste Option wäre eine „Abrüstung“ verfassungsrechtli-cher Vorgaben.44 Den Mittelpunkt der Kritik bildet die „Überdehnung“ des Rechts auf informationelle Selbstbestim-

41 Zur Rationalität dieses Vorgehens vgl. Masing (Fn. 29), S. 487 ff. 42 Von der „Verrechtlichung des Alltäglichen“ spricht Hoff-mann-Riem, AöR 123 (1998), 513, (527 f.); Bull (Fn. 20), S. 48; ausf. Bechler, Informationseingriffe durch intranspa-renten Umgang mit personenbezogenen Daten, 2010, S. 41 ff. 43 Am Beispiel des Rechts auf „Vergessenwerden“ Spiecker gen. Döhmann, KritV 2014, 28. Zum Vollzugsproblem auch Schoch, in: FS Stern, 2012, S. 1491 (1499, 1508), wonach die Überforderung des Gesetzgebers am Ende zur faktischen Un-wirksamkeit des geschaffenen Rechts führen könne. 44 Vgl. Bull (Fn. 20), S. 36 ff., der sich pauschal gegen die Ableitung von Prinzipien des Datenschutzrechts aus der Ver-fassung wendet.

mung, dessen Erstreckung in den öffentlichen Raum über den Schutz der Privatsphäre hinausgehe.45 Werde wegen der großen „Streubreite“ einer Maßnahme und schon wegen des bloßen „Gefühls“ des Überwachtwerdens ein Eingriff mit erheblichem Gewicht bejaht, gingen die Konturen des Ein-griffsabwehrrechts verloren. Vorgeschlagen wird kein Um-bau der Konzeption, aber eine Rückbesinnung auf die Schutzgüter der Privatheit und Verhaltensfreiheit mit der Abwehr von Gefährdungen und Verletzungen der Persön-lichkeit.46 Auch der extrem weite Eingriffsbegriff, der die „Illusion“ zur Grundrechtskategorie erhebe und bereits „ein Gefühl des Überwachtwerdens“ den Eingriff indizieren lasse, müsse überdacht werden.47 Die notwendige Konturierung des Schutzbereichs könne nur durch eine stärkere Rückkoppelung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung an das allgemeine Persönlichkeitsrecht zurückgewonnen werden und der Eingriffsbegriff bedürfe der Revision, weil anderenfalls nahezu jeder staatliche Umgang mit personenbezogenen Daten ohne oder gegen den Willen des Betroffenen als Ein-griff qualifiziert werden müsse und damit dem Vorbehalt des Gesetzes unterstellt wäre.48

Die Folge wäre ein enges Verständnis des Datenschutz-rechts ohne größere Auswirkungen auf die Informationsord-nung. Deren Ausgestaltungsvorgaben müssen dann aus ande-ren Grundrechten entwickelt werden, wofür das Persönlich-keitsrecht mit dem Schutz der Privatsphäre einen konzeptio-nell begrenzten Ansatz liefern würde. Auch der EuGH hat sein grundlegendes Datenschutz-Urteil in der Rechtssache Google Spain49 im Wesentlichen auf Art. 7 GRCh mit dem Schutz der Privatsphäre gestützt, obwohl der Datenschutz in Art. 8 GRCh eine eigene grundrechtliche Absicherung ge-funden hat. Es kann nach der Rechtsprechung des BVerfG aber nicht allein auf die Sphären des abgestuften Persönlich-keitsschutzes (Intim-, Privat- und Sozial- bzw. Öffentlich-keitssphäre) ankommen. Vielmehr sind die unterschiedlichen Verwendungskontexte mit dem jeweiligen Gefährdungspo-tential in den Blick zu nehmen.50 Eben das vermag die Auf-spaltung des Schutzes in speziell normierte Freiheitsrechte einerseits und die am „Sphärenschutz“ anknüpfende Persön-lichkeitsentfaltung andererseits nur begrenzt zu leisten. Dies umso mehr, wenn auf eine ex ante Steuerung der Verwen-

45 Im Urteil zur automatischen Kennzeichenerfassung hat das BVerfG bekräftigt, dass der grundrechtliche Schutz nicht schon deshalb entfällt, weil die betroffene „Information“ öffentlich zugänglich ist, vgl. BVerfGE 120, 378 (399). 46 Statt vieler Schoch (Fn. 43), S. 1507 f. 47 Schoch (Fn. 43), S. 1509. 48 Schoch (Fn. 43), S. 1509, 1512. Ähnlich Bull (Fn. 20), S. 40 ff., 57 ff., 94 ff. Zu weit Nettesheim (VVDStRL 70 [2011], 7 [43]), der auf einen Privatsphärenschutz in öffentli-chen Räumen ganz verzichten will. 49 EuGH, Urt. v. 13.5.2014 – C-131/12 (Google Spain), Rn. 80 ff. 50 Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 10 f.

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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ÖFFENTLICHES RECHT

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dungskontexte zugunsten eines ex post Rechtsschutzes ver-zichtet würde.51

Reduziert man das Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung auf einen Missbrauchsschutz, wäre die Reichweite des Datenschutzrechts begrenzt. Die maßgeblichen Vorgaben für die Informationsordnung müssten anderswo gesucht wer-den. Das wäre deutlich mehr als eine bloße Nachjustierung, sondern würde die bereits vorhandenen Strukturierungspoten-tiale des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung für die Ausgestaltung des Datenschutzes als Bestandteil der Informa-tionsordnung verspielen. b) Datenschutz als instrumentelle Freiheit?

Ähnlich argumentiert die Kritik an der Grundkonzeption, soweit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Gewährleistung „um ihrer selbst willen“ verstanden wird. Gabriele Britz stellt im Anschluss an Marion Albers heraus, dass es eine eigentumsanaloge Informationsverfügungsbe-fugnis nicht geben könne, weil Informationen ein antizipier-tes oder real vollzogenes soziales Phänomen fremder Sinn-konstruktion über personenbezogene Daten sind. Subjektive Beobachtungen und Sinnkonstruktionen anderer ließen sich schlicht nicht beherrschen. Demgegenüber wäre ein Beherr-schungsrecht an personenbezogenen Daten zwar „interakti-onsfrei“ zu denken. Beeinträchtigungen resultieren aber erst aus der Beobachtung und subjektiven Interpretation dieser Daten durch andere und deren daran anschließende Erwar-tungen und Maßnahmen bzw. aus der Antizipation von Beo-bachtung und nachteiliger Folge. Gefährdungen und Beein-trächtigungen entstehen eben erst in den Verwendungskon-texten, in denen Informationen über Betroffene generiert werden.52 Erst auf diese Verwendungszusammenhänge könne sich der Grundrechtsschutz im Kern beziehen, nicht auf die Preisgabe von Daten an sich.

Daraus wird nun aber gefolgert, das Recht auf informati-onelle Selbstbestimmung sei nur ein instrumentelles Recht im Dienste anderer Freiheitsgewährleistungen.53 An die Stelle einer eigentumsanalog konzipierten ursprünglichen Verfü-gungsbefugnis tritt eine Konzeption, die im Recht auf infor-mationelle Selbstbestimmung eine dienende Freiheit versteht, die zur Sicherung anderer Verhaltensfreiheiten zum Einsatz kommt. Das kulminiert in der Feststellung, die Abstützung auf den Gedanken der Selbstbestimmung sei missverständ-lich: Die Einräumung einer Datenverfügungsbefugnis als rechtliches Instrument zur Regulierung der Entstehung und Verwendung von Informationen könne mittelbar materielle Selbstbestimmung fördern. Aber eine eigenständige Kompo-nente des Selbstbestimmungsgedankens werde die Datenver-fügungsbefugnis nicht. Die informationelle Selbstbestim-mung sei lediglich ein Mittel der Sicherung von Verhaltens-freiheit, die ihrerseits im Selbstbestimmungsgedanken wur-

51 Dagegen auch Spindler, Persönlichkeitsschutz im Internet: Anforderungen und Grenzen einer Regulierung, Gutachten F zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, F 101 f. 52 Britz (Fn. 6), S. 567. 53 Vgl. Britz (Fn. 6), S. 566 ff.; Poscher, in: Gander (Hrsg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012, S. 167 (178 ff.).

zelt. Dafür greife die Verankerung allein im allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu kurz, weil sich die Notwendigkeit des Schutzes häufig auf Aspekte äußerer Entfaltungsfreiheit stüt-ze, die durch die speziellen Freiheitsrechte und subsidiär die allgemeine Handlungsfreiheit, nicht aber das verfassungs-rechtliche Persönlichkeitsrecht geschützt werden.54

Die soziale Dimension von Informationen hat das BVerfG bereits im Volkszählungsurteil anerkannt, aber grundrechts-dogmatisch als ein Problem kollidierender Rechte in der Schrankendogmatik verarbeitet. Gerade das impliziert die Annahme eines Rechts, das missverständlich als Verfü-gungsbefugnis über die „eigenen“ Daten verstanden wird. Wichtig wird in dieser Neukonzeption die Unterscheidung zwischen Selbstbestimmung als materielles Recht und in-strumentelles Recht. Das Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung sei nur letzteres, verstanden als Sicherung von Verhaltensfreiheit. Es sei konzeptionell auf den Schutz ande-rer, eben der gefährdeten Freiheiten ausgerichtet und deshalb ein akzessorisches Recht. Wegen der Ausrichtung auf den Schutz anderer Freiheiten werde nicht jede Informationsmaß-nahme vom Grundrecht auf informationelle Selbstbestim-mung erfasst, sondern nur solche, die eine Freiheit konkret beeinträchtigen oder die besondere Gefahr einer Freiheitsbe-einträchtigung begründen.

Ist aber noch nicht erkennbar, welches Rechtsgut nachtei-lig betroffen ist, vermag ein bloß akzessorischer Schutz nicht zu überzeugen. Für abstrakte Gefährdungslagen bleibt ein selbstständiger Schutz über Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG unverzichtbar, mag dieser auch weniger abwehrrechtlich als objektivrechtlich zu begründen sein, worüber sich ein differenziertes Schutzkonzept mit subjektivrechtlichen Ein-schlägen entwickeln ließe. Versteht man das Recht auf infor-mationelle Selbstbestimmung demgegenüber allein instru-mentell, wäre das Datenschutzrecht als solches kaum in der Lage, wesentliche Beiträge zur Ausgestaltung der Informati-onsordnung zu leisten. Wir könnten den Datenschutz getrost den Experten überlassen. c) „Zweiebenenkonzeption“ für den Daten- und Informa-tionsumgang

Statt die Strukturierungsvorgaben allein unter Verhältnismä-ßigkeitsgesichtspunkten zu entwickeln, setzt die „Zweiebe-nenkonzeption“ auf objektivrechtliche Pflichten, die nicht bloß punktuell bei Eingriffen in den nebulösen Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts subjektiv an-gestoßen werden, sondern eine vorgelagerte Strukturierungs-funktion haben, die für bestimmte Fragen subjektivrechtlich aufgeladen sein kann.55

Diese Konzeption sieht in den speziellen Freiheitsgewähr-leistungen des Grundgesetzes wichtige Anküpfungspunkte für den Datenschutz. Allerdings verdeutlichen gerade die Nachbarwissenschaften die Selektivität des traditionellen Freiheitsschutzes, der die soziale Konstitution der Freiheit weitgehend ausblendet. Erforderlich ist ein um die Sozialität

54 Britz (Fn. 6), S. 573. 55 Grundlegend Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, passim.

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AUFSÄTZE Claudio Franzius

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des Individiuums erweiteres Grundrechtsverständnis, das den Schutz im Hinblick auf den Umgang anderer mit personenbe-zogenen Informationen einschließen muss. Das gilt auch für die Aktivierung von Art. 2 Abs. 1 GG zum Schutz personel-ler Identität, Individualität oder sozialer Positionen.

Die Pointe liegt freilich in der Erweiterung der abwehr-rechtlichen Perspektive. Abwehrrechtliche Gehalte sind im Hinblick auf den Umfang mit personenbezogenen Daten bei den Schutzbereichen der Freiheitsrechte anzudocken, doch auf der vorgelagerten Ebene bestehe eine aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung folgende objektivrechtli-che Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung eines kommuni-kative Selbstbestimmung sichernden Informationsumgangs.56 Wie auch anderswo schließen objektiven Strukturierungs-pflichten das Entstehen subjektiver Rechtspositionen nicht aus. So macht es Sinn, die phasenübergreifenden Maßgaben der Zweckfestlegung und der Zweckbindung ebenso wie das Regelungselement der Erforderlichkeit weniger aus dem Übermaßverbot als Konsequenz individueller Entscheidungs-rechte hinsichtlich persönlicher Daten zu entwickeln, sondern aus objektivrechtlichen Verpflichtungen des Gesetzgebers. Aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG folgt auf einer grundlegend vorgelagerten Ebene die Verpflichtung zu einer sachgerechten und transparenzsichernden Gestaltung des Umgangs mit personenbezogenen Informationen und Daten, aber mit Blick auf die „Wissenskomponente“ freier Entfal-tung der Persönlichkeit auch zur Gewährleistung individuel-ler Kenntnismöglichkeiten und Einflusschancen als Leis-tungsrechte.57 Hinzu kommen Anforderungen an die Institu-tionalisierung adäquater Kontrollen, deren unionsrechtlich geforderte „Unabhängigkeit“ mit sachlichen Anforderungen an eine wirksame Datenschutzkontrolle gerechtfertigt werden kann.58

Demnach ist keine „Instrumentalität“ zugunsten anderer Freiheiten gefragt. Vielmehr sind passende „Abstimmungen“ mit anderen informationsbezogenen Verfassungsvorgaben erforderlich, um zu einer angemessenen verfassungsrechtli-chen Determination der einfachrechtlichen Ebene zu gelan-gen. Soweit am grundrechtlichen Topos „informationeller Selbstbestimmung“ festgehalten wird, kann dafür weder allein der Gedanke der Persönlichkeitsentfaltung in der Pri-vatsphäre noch ein übergreifender Aspekt der „Selbstbe-stimmung“ die Funktion eines Leitbildes übernehmen. Ge-fährdungen des informationellen Selbstbestimmungsrechts ist durch aus seinen objektivrechtlichen Schichten entwickelten Anforderungen zu begegnen, die sich auf die Verwendungs-zusammenhänge beziehen, worüber Vorgaben an die Gesetz-gebung für die Gestaltung von Informationszusammenhängen formuliert werden können, die dem Einzelnen durch Transpa-renz, Nachvollziehbarkeit und Beschränkung auf das Erfor-derliche die nötigen Selbstdarstellungsmöglichkeiten si-chert.59

56 Abl. Nettesheim, VVDStRL 70 (2011), 7 (29). 57 Albers (Fn. 8), § 22 Rn. 78 ff. 58 Vgl. Roßnagel, ZD 2015, 106. 59 Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 32. Frühzeitig bereits ders., JZ 1998, 822 (825 f.). Dass Formen der Kontextsteuerung eine

Mit dieser Konzeption des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wäre es möglich, das überkommene Da-tenschutzrecht informationsregulatorisch, aber nach Gefähr-dungslagen und Sachbereichen differenziert, fortzuentwi-ckeln. Weder ein enges (oben a) noch ein instrumentelles (oben b), sondern nur ein den Umgang mit Informationen regulierendes Datenschutzrecht dürfte im Lichte des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und der Judikatur des BVerfG eine angemessene Folie für seine Neukonzeption sein.60 Das aber verlangt, die informationelle Selbstbestim-mung im Vorfeld von Gefährdungen spezieller Freiheitsrech-te in den objektivrechtlichen Schichten als Vorgabe an den Gesetzgeber zu spezifizieren. Erforderlich ist ein „mehrdi-mensionales Konzept, das sein Gravitationszentrum in der kommunikativen Selbstbestimmung der Persönlichkeit hat und deren Leitbild nicht das Datengeheimnis, sondern die Wahrung von Selbstbestimmung in einer Datenverkehrsord-nung“ ist.61 Gerade für die neue Welt des Datenschutzes mit den Herausforderungen durch Big Data kommt es darauf an, von der Fokussierung auf Begrenzungen der Datenerhebung und -verwertung Abstand zu nehmen und stärker die Ord-nungsfunktionen des Rechts unter der Ermöglichungsfunkti-on technischer und selbstregulativer Schutzmechanismen herauszustellen. Der Verzicht auf informationelle Selbstbe-stimmung bzw. dessen Aufgehen im Persönlichkeitsrecht zugunsten einer Vorfeldsicherung spezieller Verhaltensfrei-heiten würde den Datenschutz demgegenüber um eine wich-tige Grundlage der Freiheitssicherung berauben.

Stattdessen müsste ein anspruchsvolles Konzept von Da-tenschutz, das wichtige Impulse für die Ausgestaltung der Rechtsordnung als Informationsordnung liefern könnte, ein auf die jeweiligen Gefährdungslagen reagierendes, aber viel-schichtiges Bündel von Maßgaben und Rechten im Hinblick auf den Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten entwickeln.62 Das Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung bildet hierfür einen wichtigen Ausschnitt, worüber sich die Regelungen des einfachen Rechts problemgerecht gestalten und angemessen koordinieren ließen. Auf diese Weise könnten die Bausteine des Datenschutzrechts konsis-tenter an grundrechtliche Vorgaben und das weder aufzuge-bende noch zu überschätzende Recht auf informationelle Selbstbestimmung angeknüpft werden. V. Internationale und europäische Herausforderungen Die geschilderten Neukonzeptionen sind vor die internationa-len und europäischen Herausforderungen des Datenschutzes gestellt. Angesprochen seien nur der NSA-Datenskandal, die

„signifikante Schutzbereichsverkürzung“ oder in anderer Weise eine „Entleerung“ des allgemeinen Persönlichkeits-rechts bewirken, lässt sich entgegen Schoch (Fn. 43), S. 1499 f. nicht darlegen. Es geht nicht darum, den Freiheits-schutz zu schmälern, sondern zu stärken. 60 Albers, Rechtstheorie 33 (2002), 61 (81 f.); zust. Cornils, in: Hain u.a. (Hrsg.), Datenschutz im digitalen Zeitalter, 2015, S. 11 (37 f., 55 f.). 61 Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 6. 62 Albers (Fn. 55), S. 357 ff.; dies. (Fn. 8), § 22 Rn. 69 ff.

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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ÖFFENTLICHES RECHT

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Sorge einer Verdrängung mitgliedstaatlicher Grundrechte durch die europäische Datenschutzgrundverordnung und das Phänomen von Big Data. 1. NSA und die Folgen

Die durch Edward Snowden angestoßenen Enthüllungen über die globale Überwachungspraxis der Geheimdienste werfen Fragen auf, für die es keine einheitliche Antwort gibt. Dass sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in Deutschland nur begrenzt eignet, die heimliche Tätigkeit der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) rechts-staatlich zu disziplinieren, versteht sich von selbst. Aber auch das Völkerrecht stößt an Grenzen. Die völkerrechtlichen Regeln zum Datenschutz gewähren keine individuellen Rech-te gegen Überwachungsmaßnahmen von Nachrichtendiens-ten.63 Das wirft die Frage nach der Rolle des europäischen Unionsrechts auf.64

Es liegt auf der Hand, dass die Schutzmechanismen des Unionsrechts gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union leichter durchsetzbar sind als gegenüber den USA. Mit Blick auf das TEMPORA-Programm des briti-schen Geheimdienstes GCHQ kommt ein Vertragsverlet-zungsverfahren nach Art. 258 AEUV gegen Großbritannien mit der Begründung in Betracht, dass die umfassende und anlasslose Überwachung überwiegend ausländischer Kom-munikationsteilnehmer gegen das Datenschutzgrundrecht (Art. 8 GRCh) und das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) verstößt.65

Aber auch Legalitätsbekundungen der amerikanischen Behörden mit Blick auf die Aktivitäten der NSA66 sind uni-onsrechtlich nicht einfach hinzunehmen. So ist nach Art. 25 Abs. 1 der Datenschutz-Richtlinie die Übermittlung perso-nenbezogener Daten in einen Drittstaat nur zulässig, wenn dieser ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet. In der Safe-Harbor-Absprache haben sich die USA verpflichtet, die europäischen Datenschutzstandards einzuhalten, was die Europäische Kommission veranlasste, durch die Entschei-dung 2000/250/EG festzustellen, dass aus EU-Sicht ausrei-chende Datenschutzstandards in den USA bestehen. Diese Entscheidung, die eine zentrale Grundlage für ökonomische Transaktionen amerikanischer Unternehmen in der EU bildet,

63 Näher Aust, AVR 52 (2014), 375. 64 Näher Ewer/Thienel, NJW 2014, 30. 65 Vgl. Schmahl, JZ 2014, 220 (226); Mayer, Mit Europarecht gegen die amerikanischen und britischen Abhöraktionen?, Teil 2: GCHQ, VerfBlog 2013/11/18, abrufbar unter http://www.verfassungsblog.de/mit-europarecht-gegen-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-2-gchq (22.5.2015). Soweit ein Grundrecht vor dem Inkrafttreten der Charta oder als Ausprägung sekundärrechtlicher Vorschriften anerkannt war, kommt es auf das im Protokoll Nr. 30 erklärte Opt Out des Vereinigten Königreichs nicht an, vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 –C-411/10 und C-493/10 (N.S./Secretary of State for the Home Department) = Slg 2011, I-13991, Rn. 122. 66 Zur Diskussion in den USA Gärditz/Stuckenberg, JZ 2014, 209.

kann von der Kommission überprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden.67 Zudem verleiht Art. 3 Abs. 1 dieser Entscheidung den Datenschutzbehörden der Mitgliedstaaten die Befugnis, zum Schutz von Privatpersonen bei der Verar-beitung personenbezogener Daten die Datenübermittlung an eine Organisation auszusetzen, wenn eine hohe Wahrschein-lichkeit besteht, dass die Grundsätze des Datenschutzes ver-letzt werden. Verwiesen wird auf die Befugnisse der nationa-len Datenschutzbehörde und damit auf § 38 Abs. 5 BDSG, wonach die Landesdatenschutzbehörde zur Gewährleistung der Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen Maßnahmen zur Beseitigung festgestellter Verstöße bei der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten anordnen kann. Das bedeutet, dass ungeachtet aller faktischen Schwierigkeiten schon de lege lata einem Unter-nehmen, das amerikanische Cloud-Dienste wie Dropbox oder iCloud einsetzt, die Übermittlung von Personaldaten in diese Dienste untersagt werden kann.68

Man kann sich fragen, ob der NSA-Skandal als Symbol der Internationalisierung der Herausforderungen des Daten-schutzes zu einer Renaissance der grundrechtlichen Schutz-pflichten führen wird.69 Das betrifft weniger die verfassungs-rechtliche Ebene, wo die Figur grundsätzlich anerkannt, wenn auch nur schwer gegenüber dem Gesetzgeber operationali-sierbar ist.70 Effektiveren Schutz könnte die Aktivierung unionsrechtlicher Schutzpflichten bieten. Zwar ist die Recht-sprechung bislang durch Zurückhaltung in der Annahme grundrechtlicher Schutzpflichten gekennzeichnet. Weil das europäische Datenschutzrecht jedoch durch einen grundsätz-lichen Gleichklang der Anforderungen gegenüber staatlichen und privaten Akteuren geprägt ist, das Handeln privater Ak-teure aber diesseits einer Zurechnung zum Staat nicht als Eingriff gewertet werden kann, könnte sich gerade der Daten-

67 So die Art. 29-Arbeitsgruppe nach Art. 29 Datenschutz-Richtlinie in einem Brief v. 13.8.2013, abrufbar unter http://ec.europa.eu/justice/data-protection/article-29/documentation/other-document/files/2013/20130813_letter_to_vp_reding_final_en.pdf. (22.5.2015). Siehe auch Dix, Safe Harbor am Ende? Eine Betrachtung aus aufsichtsbehördlicher Sicht, Vortrag beim 9. Europäischen Datenschutztag am 28.1.2015 in Berlin, ebenfalls im Internet abrufbar unter http://www.datenschutz-berlin.de/attachments/1089/741_943_1.pdf? (22.5.2015) 68 So die gemeinsame Erklärung der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom Juli 2013, vgl. Pressemittei-lung v. 24.7.2013, abrufbar unter http://www.datenschutz-bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen236.c.9283.de (22.5.2015). Zum Ganzen Mayer, Mit Europarecht gegen die amerikanischen und britischen Abhöraktionen?, Teil 1: NSA, VerfBlog 2013/11/18, im Internet abrufbar unter http://www.verfassungsblog.de/mit-europarecht-gegen-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa. (22.5.2015) 69 Zu den Grenzen Lenski, ZG 2014, 324. 70 Zu den Schutzpflichten des Staates im vorliegenden Kon-text Hoffmann-Riem, JZ 2014, 53 (56 f.); Deiseroth, DVBl 2015, 197 (199 ff.); Hahn/Johannes/Lange, DuD 2015, 71.

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AUFSÄTZE Claudio Franzius

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schutz für eine Aktivierung datenschutzrechtlicher Schutz-pflichten anbieten. Ein Beispiel liefert der Facebook-Datentransfer in die USA bzw. die NSA für das PRISM-Überwachungsprogramm. Hier wird mit Spannung das Urteil des EuGH in der Rechtssache Schrems erwartet.71 2. Europäische Datenschutzgrundverordnung: Verdrängung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung?

Ferner muss gesehen werden, dass das geltende Datenschutz-recht veraltet ist. Das gilt auch für die europäische Daten-schutz-Richtlinie, die aus einer Zeit stammt, in der die heuti-gen technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Datenspeicherung und -verwertung noch nicht bekannt wa-ren. Soll die Weiterentwicklung des Datenschutzes nicht der Rechtsfortbildung des EuGH überlassen bleiben, wäre ein zügiger Abschluss der Verhandlungen zu der seit Jahren diskutierten, aber namentlich von Deutschland blockierten Datenschutzgrundverordnung wünschenswert.

Gewiss stellt sich aus deutscher Sicht eine Reihe an Fra-gen. So ist der Bundesrat mit einer Subsidiaritätsrüge nach Art. 12 EUV i.V.m. Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit der Wahl des Instruments einer Verordnung nach Art. 288 Abs. 2 AEUV mit dem Versuch einer Vollregelung des Datenschut-zes für den öffentlichen und nicht-öffentlichen Bereich ent-gegen getreten.72 Die bereichsspezifischen Regelungen für den Umgang mit personenbezogenen Daten würden unterlau-fen und durch die Datenschutzgrundverordnung hinfällig. Mit der Zentralisierung der Datenschutzrechtsetzung entfielen nationale Umsetzungsspielräume, in denen die nationalen Grundrechte gelten. Vielfach wird die Sorge formuliert, da-mit wären Ausgestaltungsvorgaben nicht mehr dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sondern nur noch dem substanziell für schwächer gehaltenen Datenschutzgrundrecht aus Art. 8 GRCh zu entnehmen.73

Aber es muss gesehen werden, dass die Kritik in weiten Teilen aufgegriffen wurde und eine Reihe von Öffnungen für nationale Regelungen vorgesehen ist. Zwar bleibt es bei den abstrakten Erlaubnistatbeständen des Art. 6 des Verord-nungsvorschlags. Aber Art. 6 Abs. 3 lit. b in der Fassung der Entschließung des Europäischen Parlaments74 erlaubt den

71 Az. C-362/14. Es handelt sich um ein Vorabentscheidungs-ersuchen des Irischen High Court, demzufolge es Beweise gebe, dass Facebook der NSA den massenhaften und undiffe-renzierten Zugriff auf persönliche Daten ermögliche. Inso-weit stellt sich die Frage, ob die Europäische Kommission den grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 8 GRCh durch eine Aufhebung der Entscheidung 2000/250/EG zur Safe-Harbor-Absprache mit den USA entsprechen muss. 72 BR-Drs. 52/12, S. 1. 73 Statt vieler Masing, SZ v. 9.1.2011, S. 10, abrufbar unter: http://www.datenschutzbeauftragter-online.de/wp-content/uploads/2012/01/20120109_SZ_Masing_Datenschutz.pdf (22.5.2015); Roßnagel, DuD 2012, 553 f.; Roßnagel/ Kroschwald, ZD 2014, 495. 74 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. März 2014 zu dem Vorschlag für eine Verordnung

Mitgliedstaaten die Einzelheiten der Erlaubnistatbestände selbst zu regeln. Zudem reduzierte das Parlament die Fülle an Befugnissen der Kommission zur delegierten Rechtssetzung nach Art. 290 AEUV und für Durchführungsrechtsakte nach Art. 291 Abs. 2 AEUV. Stattdessen ist ausdrücklich ein Um-setzungsspielraum der Mitgliedstaaten vorgesehen, was man-cher Kritik die Grundlage nimmt.75 Auch die Betroffenen-rechte sind präziser geregelt. Dazu gehört die semantische Abrüstung im Hinblick auf das in Art. 17 des ursprünglichen Verordnungsentwurfs vorgesehene Recht einer Person, ver-gessen zu werden, das in seiner starken Fassung mit einer Verpflichtung des Verarbeiters, dafür zu sorgen, dass die verbreitete Information auch bei denen gelöscht wird, an die Daten übermittelt wurden, kaum praktikabel gewesen wäre.76

Es ist auch nicht so, dass mit einem Inkrafttreten der Da-tenschutzgrundverordnung die Rechtsprechung des BVerfG zum informationellen Selbstbestimmungsrecht obsolet wird. Dass mit der Neuregelung des Datenschutzes auf Unionsebe-ne der nationale Grundrechtsschutz verloren gehe, lässt sich so pauschal nicht sagen. Soweit die Datenschutzgrundverord-nung den Mitgliedstaaten explizit Spielräume belässt, werden die Unionsgrundrechte nicht verdrängt, aber die Anwendung nationaler Grundrechte auch nicht versperrt.77 Zwar bleiben Unsicherheiten, die nicht zuletzt dadurch befördert wurden, dass sich das BVerfG veranlasst sah, die Anwendung der Unionsgrundrechte im Fall der Antiterrordatei ohne Not auszuschließen.78 Wer aber mit der Verteidigung europäi-scher Datenschutzstandards in der Welt mit guten Gründen auf das Unionsrecht setzt, erhält – gewissermaßen als Schat-ten79 – die Unionsgrundrechte, die in der Hand des EuGH keine Bedrohung für die Grundrechtskulturen der Mitglied-staaten darstellen und das Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung auch nicht verkürzen müssen.

des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr = P7_TA-PROV(2014)0212. 75 Vgl. Albrecht, in: Hain u.a. (Hrsg.), Datenschutz im digita-len Zeitalter, 2015, S. 133 ff.; anders, aber wenig überzeu-gend Pötters, RDV 2015, 10. 76 Vgl. Hornung/Hofmann, JZ 2013, 163. 77 Vgl. Franzius, EuGRZ 2015, 139 (141 ff.); skeptischer Cornils (Fn. 60), S. 14 ff. 78 BVerfGE 133, 277 (316); dazu Volkmann, Jura 2014, 820. Umgekehrt lässt der EuGH bislang wenig Bereitschaft erken-nen, den Mitgliedstaaten die Ausfüllung sekundärrechtlicher Spielräume nach nationalen Grundrechten zu überlassen, vgl. EuGH, Urt. v. 24.11.2011 – C-468/10 und C-469/10 (ASNEF), Rn. 40, 43. 79 Lenaerts, AnwBl 2014, 772 mit dem zweifelhaften Bild, so wie ein Gegenstand die Konturen seines Schattens forme, bestimme auch das Unionsrecht die Konturen der Charta. Danach formen nicht die Grundrechte das System, sondern das System die Reichweite der Grundrechte, krit. Callewaert, ZEuS 2014, 79 (89 f.).

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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ÖFFENTLICHES RECHT

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3. Informationelle Selbstbestimmung im Zeichen von Big Data

Weder die Reaktionen auf die NSA-Affäre noch die EU-Datenschutzgrundverordnung liefern zufriedenstellende Ant-worten auf die zentralen Herausforderungen durch Big Data, die sich durch drei Dimensionen charakterisieren lässt: Ers-tens verweist Big Data auf das quantitative Anwachsen von Datensätzen auf der globalen Ebene. Die Informationsgesell-schaft produziert immer mehr Daten, die immer leichter und kostengünstiger gespeichert werden können. Zweitens – und hier liegt der Kern von Big Data – wird mit der technischen, wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeit gerechnet, immer detailliertere Informationen aus diesen Datensätzen und ihrer Verknüpfbarkeit herauslesen zu können, nicht zuletzt um auf dieser Grundlage Persönlichkeitsprofile zu entwickeln und auf das Verhalten der Menschen Einfluss zu nehmen. Damit verbunden erodieren drittens überkommene Vorstellungen von Kausalität. Es geht Big Data nicht einfach um die Maxi-mierung von Wissen, sondern um Wahrscheinlichkeiten, die sich mit Hilfe von neuen Algorithmen berechnen lassen. Soll darüber die Zukunft vorhersehbar werden, brauche es eine weitreichende Erfassung von Daten, die sich durch Zweck-bindungen nur schwer rechtsstaatlich disziplinieren lassen.

Insoweit bricht Big Data mit einem zentralen, gerade aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung entwickel-ten Prinzip des Datenschutzrechts, weil Daten ohne Zweck gesammelt und miteinander verknüpft werden. Das gebietet weniger die Verlängerung des „Abwehrdenkens“ in die wirt-schaftlich lukrative Welt von Big Data, sondern vielmehr die Suche nach neuen Trennungs- und Verknüpfungsregeln, die sich nur aus den objektiven Schichten informationeller Selbstbestimmung entwickeln lassen dürften. Jedenfalls wer-den moderne Regulierungskonzepte des Internets sich kaum allein in den tradierten, aber nicht auf die Online-Welt von Big Data – mit den wirtschaftlichen Konzepten des Profiling und Scoring80 – zugeschnittenen Bausteinen eines urheber-rechtsähnlichen Rechts auf informationelle Selbstbestim-mung ausbuchstabieren lassen.

Datenschutz, so formuliert es Johannes Masing, schützt schon dann, wenn es noch nicht wehtut.81 Das sei die Pointe des Datenschutzes, denn „wenn wir warten, bis sich die ge-speicherten Daten unmittelbar in Maßnahmen niederschla-gen, brauchen wir eigentlich keinen Datenschutz, sondern nur Schutz gegen die Maßnahmen“. Freilich symbolisiert Big Data das Paradox, dass Bürger trotz der Datenakkumulation, die über Präferenzen und damit auch Eigenschaften der Nut-zer vermehrt Auskunft gibt, personenbezogene Daten mehr oder weniger freiwillig preisgeben.82 Insoweit hat, worauf

80 Unergiebig BGH, Urt. v. 28.1.2014 – VI ZR 156/13 = NVwZ 2014, 747. 81 Masing, VVDStRL 70 (2011), 86. 82 Ob die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Facebook vorgesehene Einwilligung für die Weitergabe per-sonenbezogener Daten ausreicht, kann bezweifelt werden. Hier müsste es darum gehen, die datenschutzrechtlichen Gehalte des europäischen Kartellrechts stärker in den Blick

Hans-Heinrich Trute hingewiesen hat, der Zuwachs an In-formationsvorgängen mit personenbezogenen Daten im welt-weiten Maßstab neue Gefährdungen durch weitreichende „Möglichkeiten der Dokumentation und Manipulation digita-lisierter personenbezogener Informationen, ihrer Kommerzia-lisierung und eines eher inkrementalen Verlustes von Freiheit durch Gewöhnung, Anpassung und Konventionsbildung“ zur Folge.83 Hier eine Verantwortung hoheitlicher Stellen hervor-zuheben, hat wenig mit Paternalismus zu tun, muss aber die veränderten gesellschaftlichen Einstellungen zur Kenntnis nehmen. Die Frontstellung liegt weniger in der Abwehr staat-licher Datenerhebung, sondern unter der Nivellierung der Entgegensetzung staatlicher oder privater Datenschutz- und Datennutzungsinteressen in der Nachfrage nach Informati-onsteilhabe des Bürgers an Informationsbeständen sowie im Neuzuschnitt der Schutzmechanismen vor privatem Daten-hunger.

Erforderlich wird ein transnationales Datenschutzrecht, das stärker als bisher auf die Zunahme privater Gefährdungen der Selbstbestimmung zugeschnitten ist, aber auch die uni-ons- und völkerrechtlichen Schutzmechanismen in den Blick zu nehmen hat, ohne dadurch deren Aufnahme und Einbet-tung im nationalen Datenschutzrecht zu vernachlässigen.84 Insoweit hat die Ausdifferenzierung der Regulierungskonzep-te neben der Bedeutung privater Gefährdungspotentiale die Ebenenverschränkungen zu berücksichtigen, was zu der Fra-ge führt, inwieweit den nationalen Zielen des Datenschutzes auf Unionsebene entsprochen werden kann. Hierfür sollte man sich von der Vorstellung einer pauschalen Übertragung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auf die Unionsebene lösen.85 Die never ending story um die Vorrats-datenspeicherung86 zeigt, dass effektiver Schutz auch vom EuGH87 zu erwarten ist, der in seinem Google-Urteil88 trotz aller Kritik89 seine Bereitschaft für innovative Lösungen

zu bekommen. Datenschutzrecht ist nicht nur Technikrecht, sondern auch Wettbewerbsrecht. 83 Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 4. 84 Allg. Franzius, Recht und Politik in der transnationalen Konstellation, 2014, S. 96 ff. 85 Anders Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 8 GRCh Rn. 1, der von der Exis-tenz eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auf Unionsebene ausgeht. Der EuGH nimmt Anleihen an der vom BVerfG entwickelten Figur, versteht informationelle Selbstbestimmung aber anders. 86 Anders Leutheusser-Schnarrenberger (DuD 2014, 589) mit der Hoffnung auf ein Ende der Debatte. Davon kann heute, nachdem ein Vorschlag für eine deutsche Regelung einer an-lasslosen, aber begrenzten Vorratsdatenspeicherung angekün-digt ist, keine Rede mehr sein. 87 Nachdrücklich Bäcker, Jura 2014, 1263. 88 EuGH, Urt. v. 13.5.2014 – C-131/12 (Google Spain), Rn. 99. 89 Befürchtet wird, dass die Balance zwischen Kommunikati-onsfreiheit und Persönlichkeitsschutz aus den Augen gerät, vgl. Masing, Vorläufige Einschätzung der Google-Entscheidung des EuGH, VerfBlog 2014/8/14, abrufbar unter

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AUFSÄTZE Claudio Franzius

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unter Beweis gestellt hat. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird dadurch nicht verdrängt, in seiner Bedeutung für die Anleitung des Gesetzesrechts aber relati-viert. Ob es ratsam ist, auf einen Export dieser dogmatischen Figur zu setzen, erscheint zweifelhaft. Dass die informatio-nelle Selbstbestimmung auf Unionsebene nicht schutzlos ist, wird kaum zu bestreiten sein, mag man auch gut beraten sein, sich nicht allein auf das Unionsrecht und den EuGH zu ver-lassen.

http://www.verfassungs-blog.de/ribverfg-masing-vorlaeufige-einschaetzung-der-google-entscheidung-des-eugh (22.5.2015). Positivere Einordnung: Spiecker gen. Döhmann, in: Hain u.a. (Hrsg.), Datenschutz im digitalen Zeitalter, 2015, S. 61 (78 ff.).

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Flug 4U 9525 Anlass für eine Reform der ärztlichen Schweigepflicht? Von Wiss. Mitarbeiterin Beryll Krenkel , LL.M. (London), Mainz* Die These, dass der Kopilot des Germanwings-Flugs 4U 9525 den Airbus absichtlich an den Bergen der Alpen hat zerschellen lassen, gilt mittlerweile als erhärtet. Der Mann soll den Absturz u.a. aus suizidalen Motiven herbeigeführt haben. Er befand sich wegen Depressionen oder zumindest depressionsähnlichen Erkrankungen in Behandlung. An dem Absturztag war er krankgeschrieben – er flog trotzdem und tötete sich selbst und 149 weitere Personen. Nahezu zwangs-läufig drängte sich die Frage auf, ob die Tragödie nicht hätte verhindert werden können, wenn der behandelnde Arzt die Fluggesellschaft über den psychischen Befund des Kopiloten informiert hätte. Schnell wurden Forderungen laut, die ärzt-liche Schweigepflicht müsse „gelockert“ werden, um derarti-ge Szenarien zukünftig zu verhindern. Führt man sich diese Diskussion vor Augen, könnte man fast glauben, die ärztliche Schweigepflicht gelte de lege lata absolut, selbst wenn ein Patient eine Gefahr für Dritte darstellt. Doch der Eindruck täuscht. Dieser Beitrag möchte daher Unklarheiten über Grundlagen und Durchbrechungen der Schweigepflicht aus-räumen. Zugleich soll dargelegt werden, warum die disku-tierte „Lockerung“ der ärztlichen Schweigepflicht aus recht-licher Sicht bedenklich erscheint. I. Grundlagen der Schweigepflicht Die Schweigepflicht eines Arztes und Berufspsychologen er-gibt sich aus dem zivilrechtlichen Behandlungsvertrag, dem Berufsrecht, vorwiegend aber aus dem Strafrecht.1 Die zent-rale Norm der Schweigepflicht eines Berufsgeheimnisträgers ist in § 203 StGB zu erblicken. 1. Schutzgut der Schweigepflicht

Über das Schutzgut der strafrechtlichen Schweigepflicht be-steht eine geradezu alteingesessene Uneinigkeit. Nach der maßgeblich von Lenckner und Bockelmann zuweilen vertre-tenen „sozialen Theorie“ soll der Geheimnisschutz letztend-lich den sozialen Belangen der Allgemeinheit dienen. An-hänger dieser Theorie argumentierten, dass die strafbewehrte Schweigepflicht ein Vertrauen der Allgemeinheit in die Dis-kretion der Heilberufe schaffe und somit die Funktionsfähig-keit der Gesundheitsversorgung sicherstelle.2 Dieser Auffas-sung traten Anhänger der sog. „Individualschutzlehre“ seit je- * Die Verf. ist Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Volker Erb an der Johan-nes-Gutenberg-Universität Mainz und schreibt dort ihre Dis-sertation über materiell-rechtliche Probleme der ärztlichen Schweigepflicht. 1 Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6, 12. Aufl. 2009, § 203 Rn. 10 ff. 2 Lenckner, NJW 1965, 321 (322); ders., in: Schönke/ Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 27. Aufl. 2006, § 203 Rn. 3; Bockelmann, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 3. Aufl. 1967, S. 15.

her entgegen.3 So betonte Rogall, dass ein allgemeinschüt-zender Charakter der ärztlichen Schweigepflicht schon nicht mit der Historie der Norm vereinbar sei.4

Tatsächlich wurde die ärztliche Schweigepflicht bereits durch das Preußische Strafgesetzbuch in § 155 PrStGB als individualschützende Norm dem Abschnitt „Verletzung der Ehre“ zugeordnet und behielt auch in weiteren Kodifizierung-en eine systematische Stellung, die auf einen individualschüt-zenden Charakter hindeutet.5 Ebenso ist § 203 StGB als eine Tat gegen den „persönlichen Lebens- und Geheimbereich“ dem 15. Abschnitt des StGB zugeordnet und schließt sich un-mittelbar den Beleidigungsdelikten des 14. Abschnitts an, welche zweifelsfrei einen Schutz von Individualrechtsgütern bezwecken. Die Ausgestaltung als Antragsdelikt in § 205 Abs. 1 StGB spricht ebenfalls gegen die These, dass der Bruch der Schweigepflicht Rechtsgüter der Allgemeinheit verletzt. Besonders deutlich vermag aber der verfassungs-rechtliche Kontext den individualschützenden Charakter von § 203 Abs. 1 StGB zu belegen. Das BVerfG leitete in seinem sog. „Volkszählungsurteil“ das besondere sphärenübergrei-fende Recht auf informationelle Selbstbestimmung von dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht her.6 Demnach steht es jedem Einzelnen frei über die „Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“7 Im Zusammen-hang mit medizinischen Daten bedeutet dies, dass alle Infor-mationen über Anamnese, Diagnose oder sonstige ärztliche Maßnahmen der Privatsphäre angehören und der Wille des Einzelnen, solche Daten vor fremden Einblicken zu bewah-ren, Achtung verdient.8 Der Staat muss nicht nur seinerseits dieses Grundrecht respektieren, sondern ist über den verfas-sungsrechtlichen Schutzauftrag ebenfalls gehalten, Verlet-zungen durch Privatpersonen zu verhindern.9 § 203 Abs. 1 StGB setzt diesen Schutzauftrag für die besonders sensiblen medizinischen Daten um und gilt als verfassungsrechtliche Konkretisierung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.10 Der Sinn und Zweck der ärztlichen Schweigepflicht besteht somit darin, einen individualistischen Geheimnisschutz zu gewähren, der darüber hinaus die Grundvoraussetzung für eine ungestörte Beziehung zwischen Arzt/Berufspsychologe

3 Schünemann, ZStW 90 (1978), 11 (13); Rogall, NStZ 1983, 1 (4). 4 Rogall, NStZ 1983, 1 (4). 5 Vgl. Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, 1851, S. 321; Theuner, Die ärztliche Schweigepflicht im Strafrecht, 2009, S. 50 ff. 6 BVerfG NJW 1984, 419 (422). 7 BVerfG NJW 1984, 419 (422). 8 BVerfG NJW 1972, 1123 (1124). 9 BVerfG NJW 1958, 257; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 73. Lfg., Stand: Dezember 2014, Art. 2 Rn. 135 ff. 10 BT-Drs. 7/550, S. 235; Schünemann, ZStW 90 (1978), 11 (19, 27).

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AUFSÄTZE Beryll Krenkel

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und Patient bildet.11 Die sozialen Belange, wie etwa die Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung, sind bloße Schutzreflexe und nicht integraler Bestandteil des individua-listischen Geheimnisschutzes. Entgegenstehende Aufklä-rungsinteressen der Allgemeinheit können den generellen tatbestandlichen Schutz eines Patientengeheimnisses daher nicht in Frage stellen.12 Allerdings lässt sich ebenfalls dar-über streiten, welchen genauen Inhalt das von § 203 Abs. 1 StGB geschützte Individualrechtsgut haben soll. Früher wur-de vorwiegend vertreten, dass das besondere, freiwillig ge-wählte Vertrauensverhältnis zwischen Berufsgeheimnisträger und Geheimnisinhaber das Schutzgut des § 203 Abs. 1 StGB sei.13 Diese Auffassung lässt sich vor dem verfassungsrecht-lichen Hintergrund von § 203 Abs. 1 StGB aber nicht mehr halten. Wären nur freiwillig gewählte Vertrauensbeziehungen vom Schutz des § 203 Abs. 1 StGB erfasst, stünde der Ge-heimnisschutz von Personen, die sich zwangsweise von Ärz-ten oder Psychologen untersuchen und behandeln lassen müssen (wie etwa Piloten, die sich Einstellungsuntersuchun-gen der Fluggesellschaften sowie Untersuchungen durch „Fliegerärzte“ zu unterziehen haben) in Frage. Aber auch diese Personen sind Grundrechtsträger von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Die Schweigepflicht eines Arztes oder Berufspsychologen kann daher nicht von einem freiwil-lig gewählten Vertrauensverhältnis abhängen.14 Das Schutz-gut der Schweigepflicht ist vielmehr in dem individuellen Interesse bzw. Willen des Patienten an der Geheimhaltung zu erblicken.15 2. Straftatbestandlicher Umfang der Schweigepflicht

Der straftatbestandliche Umfang der Schweigepflicht ist dem Schutzgut entsprechend extensiv zu verstehen. § 203 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB verbieten Ärzten und Berufspsycholo-gen Geheimnisse, welche ihnen anvertraut wurden oder sonst bekanntgeworden sind, unbefugt zu offenbaren. Als Geheim-nisse gelten dabei alle Tatsachen, die eine andere Person betreffen und die zudem einen geheimen Charakter besit-

11 Schünemann (Fn. 1), § 203 Rn. 14 ff.; Fischer, Strafge-setzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 62. Aufl. 2015, § 203 Rn. 2. 12 Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 203 Rn. 7; OLG Schleswig NJW 1985, 1090 (1092); Schünemann (Fn. 1), § 203 Rn. 27; Fischer (Fn. 11), § 203 Rn. 6; Braun, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 222 (233); Rogall, NStZ 1983, 1 (4). 13 RGSt 13, 60 (62, 63); Kohlhaas, GA 1958, 65 (66); Poiger, NJW 1954, 1107. 14 OLG Köln NJW 2000, 3656 (3657); Braun (Fn. 12), S. 238; Bosch, Jura 2013, 780 (783). 15 Ob der Wille oder das Interesse Schutzgut des § 203 Abs. 1 StGB ist, bleibt weiterhin umstritten (vgl. Cierniak/Pohlit, in: Joecks/Miebach [Hrsg.], Münchener Kommentar zum Straf-gesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 203 Rn. 1 ff.). Der Streit wirkt sich jedoch vorwiegend auf die rechtliche Handhabung von Drittgeheimnissen aus und kann daher an dieser Stelle offen gelassen werden.

zen.16 Die psychische Erkrankung eines Piloten stellt eine solche Tatsache dar, sofern noch nicht ein unüberschaubarer bzw. unkontrollierbarer Kreis von Personen Kenntnis von der Krankheit hat. Die h.A. fordert zudem, dass der Betroffene an der Geheimhaltung der Tatsache ein aus subjektiver Perspek-tive verständliches Interesse aufweist.17 Dieses normative Geheimnismerkmal soll lediglich als Korrektiv fungieren, um übergezogenen „Flausen“ und „Launen“ eines Patienten an der Geheimhaltung den Boden zu entziehen.18 Einem Piloten wird man ein verständliches Interesse an der Geheimhaltung seiner medizinischen Konditionen jedoch nicht versagen kön-nen. Das Geheimhaltungsinteresse einer erkrankten Person drängt sich sogar geradezu auf, wenn ihr Gesundheitszustand berufliche Implikationen haben kann. Die psychische Erkran-kung eines Piloten stellt folglich ein straftatbestandliches Geheimnis im Sinne von § 203 Abs. 1 StGB dar.

Des Weiteren erfordert der Tatbestand, dass die Erkran-kung dem Berufsgeheimnisträger „als“ Arzt bzw. Berufspsy-chologe anvertraut oder sonst bekannt geworden ist. Zwi-schen dem Berufsgeheimnisträger und dem Patienten muss gemäß dem Schutzgut der Schweigepflicht hierfür jedoch kein besonderes Vertrauensverhältnis bestehen. Vielmehr un-terliegt jeder Arzt oder Berufspsychologe, der einer Person funktional in seiner beruflichen Eigenschaft gegenübertritt, der strafrechtlichen Schweigepflicht.19 Deswegen ist nicht nur der „private“ Arzt oder Psychotherapeut des Piloten, sondern auch der Psychologe, der Einstellungsuntersuchun-gen für die Fluggesellschaften durchführt, sowie der „Flie-gerarzt“, der Flugtauglichkeitszeugnisse ausstellt, zunächst durch § 203 Abs. 1 StGB zur Verschwiegenheit über psychi-sche Erkrankungen des Piloten verpflichtet. II. Durchbrechungen der Schweigepflicht de lege lata Dieser grundsätzliche Geheimnisschutz verhindert allerdings nicht, dass die Schweigepflicht eines Berufsgeheimnisträgers im Einzelfall auf Ebene der Rechtswidrigkeit durchbrochen werden kann. 1. Entbindung von der Schweigepflicht

Zunächst kann ein Geheimnisinhaber stets in die Offenbarung seiner Geheimnisse rechtfertigend einwilligen und so den Arzt oder Psychologen von der Schweigepflicht entbinden.20

16 Lenckner/Eisele (Fn. 12), § 203 Rn. 5, 7; Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 203 Rn. 6. 17 OLG Hamm NJW 2001, 1957 (1958); OLG Köln NJW 2000, 3656; Küper/Zopfs, Strafrecht, Besonderer Teil, 9. Aufl. 2015, Rn. 255; Cierniak/Pohlit (Fn. 15), § 203 Rn. 20; Spickhoff, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 203-205 StGB Rn. 2. 18 Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 5. Aufl. 2015, § 8 I. Rn. 363. 19 BGH NStZ 1993, 142; OLG Köln NJW 2000, 3656 (3657); Cierniak/Pohlit (Fn. 15), § 203 Rn. 40. 20 H.A. rechtfertigende Einwilligung (Ulsenheimer [Fn. 18], § 8 I. Rn. 373; Heger, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch,

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Flug 4U 9525 STRAFRECHT

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Die Einwilligung muss nicht immer ausdrücklich erklärt werden, sondern kann sich auch aus den Umständen des Einzelfalls ergeben.21 Eine derartige Entbindungserklärung wird zumindest stillschweigend im Zusammenhang mit der Bewerbung zur Pilotenausbildung abgegeben. Wer sich bei der Lufthansa oder ihren Tochterunternehmen (wie z.B. Germanwings) bewirbt, muss sich sowohl der Berufsgrund-untersuchung (BU) als auch der Firmenqualifikation (FQ) des Deutschen Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin unter-ziehen.22 Im sog. FQ-Test werden die Persönlichkeitsmerk-male der Kandidaten unter anderem durch Psychologen ge-testet. Der Bewerber nimmt an solchen Untersuchungen ge-rade zu dem Zweck teil, dass seine Eigenschaften und Quali-fikationen festgestellt und dem potentiellen Ausbilder – der Lufthansa oder ihren Tochtergesellschaften – übermittelt werden. In der freiwilligen Partizipation ist somit jedenfalls eine stillschweigende Entbindungserklärung des zukünftigen Piloten zu erblicken.23 Der Psychologe, der die Bewerber testet, ist folglich nicht durch seine Schweigepflicht daran gehindert, Untersuchungsergebnisse mit der Fluggesellschaft zu teilen. 2. Offenbarungspflichten und -befugnisse als Rechtferti-gungsgründe

Der Pilot dürfte hingegen wenig geneigt sein, seinen eigenen Arzt/Psychotherapeut oder „Fliegerarzt“ von der Schweige-pflicht zu befreien, wenn es um Krankheiten geht, die seine Fähigkeit zur sicheren Berufsausübung beeinträchtigen kön-nen. Dies bedeutet aber nicht, dass die Schweigepflicht dieser Berufsgeheimnisträger absolut gilt. Ihre Verschwiegenheits-pflicht kann durch spezialgesetzliche sowie strafrechtliche Offenbarungspflichten oder -befugnisse durchbrochen wer-den. a) Spezialgesetzliche Offenbarungspflichten

Für zahlreiche Fallkonstellationen hat der Gesetzgeber bereits spezialgesetzliche Offenbarungspflichten erlassen. So ist et-wa jeder Arzt durch das Infektionsschutzgesetz verpflichtet, bestimmte ansteckende Krankheiten seiner Patienten zu mel-den.24 Ebenso existieren auf dem Gebiet der Flugmedizin spezialgesetzliche Offenbarungspflichten. Gemäß der VO

Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 203 Rn. 18; Spickhoff [Fn. 17], § 205 StGB Rn. 34); a.A. tatbestandausschließendes Einver-ständnis (Weidemann, in: von Heintschel-Heinegg [Hrsg.], Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 10.11.2014, § 203 Rn. 33 ff.; Cierniak/Pohlit [Fn. 15], § 203 Rn. 55, 58). 21 Spickhoff (Fn. 17), § 205 StGB Rn. 24. 22 Website des Deutschen Instituts für Luft- und Raumfahrt-medizin, im Internet abzurufen unter http://www.dlr.de/me/desktopdefault.aspx/tabid-5051/8499_read-14806/ (28.5.2015). 23 Vgl. Braun (Fn. 12), S. 245. 24 Siehe hierzu §§ 7 ff. Infektionsschutzgesetz (IfSG); Heberer, Das ärztliche Berufs- und Standesrecht, 2. Aufl. 2001, S. 321, 323.

(EU) Nr. 1178/201125 sowie dem Luftverkehrsgesetz (LuftVG) und der Verordnung über Luftfahrtpersonal (Luft-PersV) müssen sich Piloten zum Erwerb sowie zum Erhalt ihrer Fluglizenz von staatlich anerkannten „Fliegerärzten“ auf ihre medizinische Flugtauglichkeit untersuchen lassen. An die medizinische Flugtauglichkeit eines Piloten werden eben-falls psychische Anforderungen gestellt.26 Fluguntauglich wird ein Pilot infolge von psychiatrischen Erkrankungen, wie etwa einer Schizophrenie. Psychische Probleme, die, wie et-wa Depressionen, in das Fachgebiet der Psychologie fallen, führen hingegen nicht zwangsläufig zur Versagung der medi-zinischen Flugtauglichkeit. Die Flugtauglichkeit kann jedoch im Falle von psychischen Auffälligkeiten durch eine neurolo-gische oder psychiatrische Spezialuntersuchung überprüft werden.27 Die Schweigepflicht von Ärzten, die solche Flug-tauglichkeitsuntersuchungen durchführen, ist gegenüber dem Fluglizenzgeber – dem Luftfahrtbundesamt – bereits weitest-gehend durchbrochen. § 32 LuftVG i.V.m. § 21 LuftPersV bilden spezialgesetzliche Offenbarungspflichten, nach denen ein „Fliegerarzt“ dem Luftfahrtbundesamt mitzuteilen hat, wenn ein Pilot für fluguntauglich befunden wurde.

Eine darüber hinausgehende spezialgesetzliche Pflicht, nach der jegliche psychische Erkrankung den Fluggesell-schaften oder sonstigen Stellen zu melden wäre, existiert weder für „Fliegerärzte“ noch für den „privaten“ Arzt/Psy-chologen des Piloten. Offenbarungspflichten und -befugnisse können sich aber, auch ohne ein derartiges Gesetz, aus dem Strafgesetzbuch ergeben. b) Strafrechtliche Offenbarungspflichten: §§ 138, 139 Abs. 3 S. 2 StGB

Plant ein Patient bestimmte Straftaten, ist die Schweigepflicht eines jeden Arztes und Psychologen durchbrochen. § 138 StGB normiert eine strafbewehrte Pflicht, bevorstehende, enumerativ aufgezählte Straftaten anzuzeigen. Wegen der hohen Bedeutung der Schweigepflicht ist die Anzeigepflicht eines Berufsgeheimnisträgers durch § 139 Abs. 3 S. 2 StGB bezüglich vieler Delikte zwar dergestalt relativiert, dass sich ein Arzt oder Psychologe lediglich bemühen muss, den Täter von der Ausführung der Tat abzubringen. Mord oder Tot-schlag sind jedoch nicht Gegenstand dieser Einschränkung, sodass der Arzt oder Psychologe zu der Anzeige solcher Taten stets verpflichtet ist.28 Erfährt der Arzt oder Psychologe glaubhaft, dass sein Patient infolge einer psychischen Er-krankung plant, andere Menschen durch die Herbeiführung eines Flugzeugabsturzes zu töten, muss er sein Schweigen brechen.

25 Anhang IV [Teil-Med] = ABl. EU 2011 Nr. L 311, S. 173. 26 MED.B.001 (Acceptable Means of Compliance and Guid-ance Material to Part-MED) zu der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011 = ABl. EU 2011 Nr. L 311, S. 178. 27 MED.B.001 zu der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011= ABl. EU 2011 Nr. L 311, S. 178. 28 Hohmann, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kom-mentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 3, 2. Aufl. 2012, § 139 Rn. 15-21; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 12), § 139 Rn. 5.

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AUFSÄTZE Beryll Krenkel

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c) Offenbarungsbefugnisse als Rechtfertigungsgründe: § 34 StGB

Weiterhin kann § 34 StGB die Geheimnisoffenbarung eines Arztes oder Psychologen rechtfertigen, wenn diese zur Ab-wehr einer konkreten Gefahr für ein wesentlich höherrangi-ges Rechtsgut erforderlich ist. beispielsweise in einem Fall bejaht, in dem eine Patientin durch ihre krankheitsbedingte Fahruntüchtigkeit eine Gefahr für Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer darstellte und sich von einer weiteren Straßenverkehrsteilnahme nicht abbringen ließ.29

Sollte infolge einer Erkrankung des Piloten eine Gefahr für Leib und Leben von Flugzeuginsassen und -besatzung bestehen, wird eine Offenbarung dieser Krankheit demnach regelmäßig ebenfalls eine Notstandshandlung des Arztes oder Psychologen darstellen, die den Anforderungen des § 34 StGB entspricht. Allerdings müsste der Bruch der Schweige-pflicht das relativ mildeste Mittel zum Schutz der Flugsicher-heit darstellen.30 Eine Geheimnisoffenbarung gegenüber der Fluggesellschaft oder anderen Behörden wird dieser Anforde-rung grundsätzlich nur entsprechen, wenn der Pilot auch nach einer Konfrontation nicht von seiner Berufsausübung absieht. Sollte sich der Pilot uneinsichtig zeigen, wird der Bruch der Schweigepflicht zum Schutze der Flugsicherheit regelmäßig auch der Interessen- und Güterabwägung des § 34 StGB standhalten. Gewiss steht auf Eingriffsseite zwar ein gewich-tiges Rechtsgut in Gestalt des geschützten Selbstbestim-mungsrechts des Patienten. Weiterhin basiert auf diesem Geheimnisschutz die ungestörte Beziehung zwischen Patient und Arzt/Berufspsychologe und kann durch eine Indiskretion des Berufsgeheimnisträgers in Frage gestellt werden. Unter-schätzt werden darf auch nicht das Ausmaß an Schäden, das für den Piloten mit einer Geheimnisoffenbarung einhergeht. Die Offenbarung eines Geheimnisses ist nicht nur ein irrever-sibel Vorgang, sie kann darüber hinaus für den Geheimnisbe-troffenen schwere negative berufliche und zwischenmensch-liche Folgen haben. Allerdings steht dem Geheimnisschutz des Piloten in der Interessen- und Güterabwägung des § 34 StGB das Leben der Flugzeuginsassen und -besatzung und damit das Rechtsgut von höchstem Rang unter den Persön-lichkeitswerten gegenüber.31 Aus diesem abstrakten Wertge-fälle ergibt sich bereits eine überaus starke Tendenz in der Abwägung zu Gunsten des Lebens.32 Weiterhin ist zu berück-sichtigen, dass der Pilot durch seine fortgeführte Berufsaus-übung selbst die Quelle der Gefahr darstellt. Der Schutz von Leib und Leben der Flugzeuginsassen und -besatzung wird somit den Geheimnisschutz des Piloten im Falle einer Gefahr wesentlich überwiegen.

Jedoch dürfte die Bejahung einer Notstandslage ein Prob-lem darstellen, wenn es um psychische Erkrankungen des

29 BGH NJW 1968, 2288 (2290); Ulsenheimer (Fn. 18), § 8 I. Rn. 376; Erb, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kom-mentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 34 Rn. 112; siehe auch OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 8.7.1999 – 8 U 67/99 = NStZ 2001, 150. 30 Vgl. Erb (Fn. 29), § 34 Rn. 93. 31 Erb (Fn. 29), § 34 Rn. 112. 32 Erb (Fn. 29), § 34 Rn. 113.

Piloten, wie etwa um die Depression bzw. das depressions-ähnliche Leiden des Kopiloten des Germanwings-Flugs 4U 9525, geht. Es ist anzuzweifeln, ob in diesen Fällen festge-stellt werden kann, dass von dem Piloten eine notstandsfähi-ge Gefahr ausgeht. Hierfür müsste es nach den konkreten tatsächlichen Umständen wahrscheinlich sein, dass es zum Eintritt eines schädigenden Ereignisses – dem suizidal moti-vierten Flugzeugabsturz – kommt.33 Aber auch ein Mensch mit Depressionen und suizidalen Gedanken kann sich im Rahmen seiner Autonomie grundsätzlich frei für oder gegen eine Schädigung von anderen Menschen entscheiden. Nicht jeder suizidale Pilot wird ein bemanntes Flugzeug für seine Selbsttötung benutzen. Zwar kann der Wahrscheinlichkeits-grad des Eintritts des schädigenden Ereignisses umso gerin-ger sein, je größer das drohende Schadensausmaß und ge-wichtiger das betroffene Rechtsgut ist – womit bereits eine relativ geringe Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes für eine notstandsfähige Gefahr ausreicht.34 Jedoch bleibt zweifelhaft, ob die psychische Erkrankung als einziger kon-kreter Umstand die Schädigung von Leib und Leben anderer Personen wahrscheinlich genug macht. Dass sich eine Gefahr für die Flugsicherheit nicht aus jedem psychischen Problem eines Piloten herleiten lässt, bestätigen auch die Vorschriften über die medizinischen Anforderungen an die Flugtauglich-keit. Psychische Leiden, die keine psychiatrischen Krankhei-ten darstellen, führen nämlich – im Gegensatz zu vielen ande-ren medizinischen Konditionen – nicht zwangsläufig zur medizinischen Fluguntauglichkeit eines Piloten.35 Dies unter-scheidet den Fall eines depressiven Piloten von dem Fall, der von dem BGH zur Geheimnisoffenbarung zum Schutze der Verkehrssicherheit entschieden wurde. In diesem Fall stand die krankheitsbedingte Fahruntüchtigkeit der Patientin auf-grund einer psychiatrischen Erkrankung nämlich fest.36 Der Arzt oder Psychologe wird die Gefahr, die von einem Piloten mit Depressionen ausgeht, daher vielmehr an weiteren kon-kreten Anhaltspunkten des Einzelfalls festmachen müssen, wie etwa konkret geäußerten Phantasien, Absichten o.Ä. Sollte eine Gefahr aber feststellbar sein, wird die Geheimnis-offenbarung nach den zuvor dargestellten Grundsätzen re-gelmäßig durch § 34 StGB gerechtfertigt sein. III Reformbedürftigkeit? De lege lata sind die rechtlichen Rahmenbedingungen gege-ben, um bestehende Gefahren abzuwenden, die von Piloten mit psychischen Erkrankungen für die Flugsicherheit ausge-hen.

33 BGHSt 18, 271 (272); 48, 255 (258); Erb (Fn. 29), § 34 Rn. 60; Momsen, in: von Heintschel-Heinegg (Fn. 20), § 34 Rn. 4. 34 Vgl. BGHSt 18, 271 (272); Erb (Fn. 29), § 34 Rn. 71; Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, § 34 Rn. 39. 35 MED.B.001 der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011= ABl. EU 2011 Nr. L 311, S. 178. 36 BGH NJW 1968, 2288.

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Flug 4U 9525 STRAFRECHT

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Dem Gesetzgeber steht es natürlich frei, von seinem legis-lativen Gestaltungsspielraum Gebrauch zu machen und wei-tere Offenbarungspflichten und -befugnisse zu schaffen. Denkbar wäre der Erlass einer konkretisierenden Offenba-rungsbefugnis, die dem Arzt oder Psychologen die Abwä-gung des § 34 StGB für diese spezielle Fallkonstellation vorgibt und erleichtert, wie dies etwa durch die Kinder-schutzgesetze für Fälle der Kindeswohlgefährdung geschehen ist.37 So könnte eine spezialgesetzliche Offenbarungsbefugnis zukünftig Ärzte und Psychologen ermächtigen, psychische Erkrankungen von Piloten zu melden, wenn dies erforderlich ist, um eine Gefahr für Leib und Leben der Flugpassagiere und -besatzung abzuwenden. Doch es verbliebe auch mit einem solchen Gesetz stets das Problem, dass es im Einzelfall nur schwer feststellbar sein wird, ob eine Gefahr überhaupt besteht. Im Nachhinein weiß man, dass vom Kopiloten des abgestürzten Germanwings-Fluges 4U 9525 eine Gefahr ausging. Eine Geheimnisoffenbarung wäre durch § 34 StGB gerechtfertigt gewesen. Jedoch schien keiner der Ärzte die Gefahr zu erkennen, was nicht überrascht, weil ein vollstän-diger „Blick in den Kopf“ eines Patienten auch Psychologen und Ärzten unmöglich ist. Konkrete Anhaltspunkte für eine Gefahr kann oft nur der Patient selbst durch die Offenlegung seiner Gedankenwelt liefern. Dieses Problem ist tatsächlicher Natur.

Diese Problematik kann auch nicht rechtlich umgangen werden, indem eine Offenbarungsbefugnis oder -pflicht ge-schaffen wird, die auf das Vorliegen einer Gefahr verzichtet und allein psychische Auffälligkeiten von Personen in gefah-renträchtigen Berufen voraussetzt. Denn so sehr der Wunsch nach einer absoluten Sicherheit infolge von Tragödien – wie der des Absturzes des Germanwings-Fluges – aufkommen mag, genügt dieser Wunsch in einem liberalen Rechtsstaat nicht zur unbegrenzten Einschränkung von Individualfreihei-ten. Der gesetzgeberische Spielraum endet vielmehr dort, wo die Grenze zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung überschrit-ten wird.38 Ein Gesetz, das Berufsgeheimnisträger verpflich-tet oder befugt, psychische Krankheiten zu melden, ohne eine Gefahr vorauszusetzen, würde diese Grenze überschreiten. Der Geheimnisschutz der betroffenen Grundrechtsträger wäre durch ein solches Gesetz ausnahmslos eingeschränkt, obwohl es wahrscheinlich ist, dass mangels Gefahr überhaupt keine Kollisionslage mit anderen Rechtsgütern besteht. Denn psy-chische Erkrankungen begründen wegen der verbleibenden Autonomie des Menschen nicht zwangsläufig eine Gefahr für Rechtsgüter Dritter. Die Prävalenz von Straftaten ist bei de-pressiven Menschen nicht höher als bei der Normalbevölke-rung.39 Dies unterscheidet die Situation eines psychisch kran-ken Piloten von den offenbarungspflichtigen Situationen, die beispielsweise vom Infektionsschutzgesetz oder § 138 StGB erfasst werden. Ein Patient, der mit einer ansteckenden Krankheit infiziert ist, setzt Personen, die mit ihm in Kontakt

37 Vgl. BT-Drs. 17/6256, S. 20 zu § 4 des Kinderschutz-Kooperations-Gesetzes des Bundes (KKG). 38 BVerfG NJW 1972, 1123 (1124). 39 Göppinger, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 7 C. Rn. 66.

stehen, einer Ansteckungsgefahr aus, ob er will oder nicht. Ebenso hat sich in Fällen des § 138 StGB die Gefahr bereits konkretisiert, da sich der Patient im Zuge einer autonomen Entscheidung zur Begehung einer Straftat entschlossen hat. Jegliches psychische Leiden in einem gefahrenträchtigen Beruf zur alleinigen Voraussetzung einer Offenbarungspflicht oder -befugnis zu machen, wäre hingegen wegen der Unge-wissheit einer Gefahr eine unverhältnismäßige Einschrän-kung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. IV. Zusammenfassung Es liegt nicht an einer mangelnden rechtlichen Einschränkung der ärztlichen Schweigepflicht, dass die Tragödie des Ger-manwings-Fluges 4U 9525 nicht verhindert werden konnte. Die berufsgeheimnisrechtlichen Rahmenbedingungen zur Abwendung von Gefahren für die Flugsicherheit existieren bereits. Psychologen, die Bewerber der Pilotenausbildung testen, sind gegenüber der Fluggesellschaft von ihrer Schwei-gepflicht entbunden. Ferner sind „Fliegerärzte“ spezialgesetz-lich verpflichtet, dem Luftfahrtbundesamt die medizinische Fluguntauglichkeit eines Piloten mitzuteilen. Darüber hinaus muss ein jeder Berufsgeheimnisträger gemäß §§ 138, 139 Abs. 3 S. 2 StGB sein Schweigen brechen, wenn zu seiner Kenntnis gravierende Straftaten, wie die Verursachung eines Flugzeugabsturzes, bevorstehen. Weiterhin ist die Offenba-rung von psychischen Erkrankungen eines Piloten durch § 34 StGB gerechtfertigt, wenn dies erforderlich ist, um eine Ge-fahr für Leib und Leben von Flugzeuginsassen und -be-satzung abzuwenden.

Der Grund, warum sich Szenarien wie der Absturz des Germanwings-Fluges 4U 9525 dennoch nicht immer verhin-dern lassen, liegt darin, dass das Bestehen einer Gefahr nur schwer festgestellt werden kann. Psychische Auffälligkeiten eines Piloten können für sich allein genommen nämlich noch keine Gefahr für Rechtsgüter Dritter begründen. Dies ist kein Problem, das rechtlich gelöst werden kann. Das Grundrecht eines Menschen auf informationelle Selbstbestimmung darf nicht schon deswegen gravierend eingeschränkt werden, weil sich der Grundrechtsträger zu einer Schädigung von Rechts-gütern Dritter entschließen könnte. Eine absolute Sicherheit kann kein Rechtssystem garantieren. So verständlich der Wunsch auch sein mag, Tragödien wie die des Absturzes des Germanwings-Fluges 4U 9525 in Zukunft verhindern zu kön-nen, kann diesem Wunsch nicht mit einer weiteren Durchbre-chung der ärztlichen Schweigepflicht entsprochen werden.

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ZJS 3/2015 276

Übungsfall: HALEC Von Anja Nitschke, Dr. Carsten Hörich, Halle (Saale)* Ausgangsfall Im Verlauf der Händel-Festspiele 2012 werden an mehreren Tagen insgesamt 25 Personen im Alter von 15 bis 70 Jahren in das Universitätsklinikum eingeliefert, die an einer akuten Darminfektion leiden. Drei ältere Patienten versterben nach wenigen Tagen. Untersuchungen durch Spezialisten ergeben, dass es sich um eine neue Variante das Erregers EHEC han-delt, dem sie den Namen HALEC geben. Unmittelbar nach-dem die Oberbürgermeisterin der Stadt X in Sachsen-Anhalt von den Vorfällen erfahren hat, bildet sie einen Krisenstab, an dem der Leiter des Ordnungsamtes, ein Vertreter des städ-tischen Gesundheitsamtes sowie ein spezialisierter Professor der Universitätsklinik beteiligt sind.

Nach Auskunft der behandelnden Ärzte ist davon auszu-gehen, dass die Infektion durch die Nahrungsaufnahme ver-ursacht wurde. Bei der durch den Krisenstab angeordneten Befragung der Betroffenen stellt sich heraus, dass alle an einer Gala-Veranstaltung teilgenommen haben, die ein Buffet der Catering-Firma „Grün und Gesund“ (GUG) bereithielten. Daraufhin ordnet er gegenüber der GUG an, Proben der ver-wendeten Lebensmittel sicherzustellen, alle Mitarbeiter ge-sundheitlich zu untersuchen und Auskunft über die Lieferan-ten, deren Waren für das entsprechende Buffet verwendet wurden, zu erteilen.

Die zwei Tage später folgenden Untersuchungsergebnisse belegen, dass die Ursache im für das Buffet verwendeten Rindfleisch lag. Da das Rindfleisch ausschließlich von zwei Erzeugern, den Betrieben A und B, geliefert wurde, werden die Betriebe untersucht und jeweils Proben genommen. Die Untersuchungen führt das private Labor L im Auftrag der Stadt X durch. Dabei kommt es zu einer Verwechslung der Proben, weshalb L dem Krisenstab fälschlicherweise mitteilt, dass die HALEC-Verseuchung auf die Produkte der Firma B zurückzuführen ist. Daraufhin ordnet der Krisenstab die so-fort vollziehbare Schließung der Firma B an. Der Inhaber der Firma B lässt seine Tiere und Produkte nochmals von dem Spezialisten S untersuchen, der keine Belastung mit HALEC feststellen kann. Das wird auch dem Krisenstab mitgeteilt, der darin allerdings nur eine taktische geschäftspolitische Maßnahme sieht und insoweit nicht bereit ist, eine erneute Untersuchung durchzuführen. Fragestellungen 1. Sind die Maßnahmen des Krisenstabs der Stadt X gegen-über der Firma GUG rechtmäßig?

2. Die Firma B möchte sich gegen die Schließung, die aufgrund der Verwechslung der Proben angeordnet wurde, wehren – nicht zuletzt, weil ihr erhebliche finanzielle Einbu-ßen mit jedem weiteren Tag der Schließung drohen. Wie kann sie das schnellst möglich erreichen?

* Die Autorin Nitschke ist Referendarin am OLG Bezirk Frankfurt am Main. Der Autor Hörich ist wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht von Prof. Dr. Kluth an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Für die Bearbeitung sind für die Beurteilung der Maß-nahmen des Krisenstabes allein die Regelungen des SOG LSA zugrunde zulegen. Erweiterung Eine Woche später wurden weitere Infektionen bekannt, weshalb der Krisenstab eine erneute Untersuchung der Firma A vornehmen lässt. Dabei wird festgestellt, dass die Ursache der Infektion dort lag. Da der Krisenstab mit der Schlie-ßungsverfügung zugleich eine Verzehrwarnung hinsichtlich der Produkte der Firma B in einer Pressemeldung herausge-geben hat, sind der B Aufträge im Wert von 150.000 € ge-kündigt worden. Neue Aufträge sind bis zur Aufklärung nicht erteilt worden. Daher verlangt sie von der Stadt X Ersatz des Schadens i.H.v. 15.000 €, was dem Gewinn aus den gekün-digten Aufträgen entspricht. Darüber hinaus verlangt die Firma B 25.000 € mit der Begründung, dass dies dem Ge-winn in der Zeit bis zur Aufklärung des Fehlers entspricht, den sie in diesem Zeitraum gewöhnlich erzielt hätte.

Da die Stadt X eine eigene Verantwortung abstreitet, er-hebt die Firma B nach erfolglosem Widerspruch fristgerecht Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht. Prüfen Sie in einem Gutachten Zulässigkeit und Begründetheit dieser Klage.

Hinweis: Sollte eine Unzulässigkeit dieser Klage festge-stellt werden, ist die Begründetheit in einem Hilfsgutach-ten zu prüfen.

Lösung

A. Frage 1

I. Sicherstellung verwendeter Lebensmittel 1. Ermächtigungsgrundlage

Nach § 45 Nr. 1 SOG LSA1 können die Sicherheitsbehörden und die Polizei eine Sache sicherstellen, um eine gegenwärti-ge Gefahr abzuwehren. 2. Formelle Rechtmäßigkeit

a) Zuständigkeit

Grundlegend ist nach §§ 89 Abs. 2, 1 Abs. 1 S. 1 SOG LSA die Gemeinde für die Aufgaben der Gefahrenabwehr sachlich zuständig.2 Vorliegend hat der Krisenstab die Maßnahme

1 Wortgleiche Regelungen finden sich in nahezu allen ande-ren Landesgesetzen; Ausnahmen hiervon: § 26 Abs. 1 SächsPolG; § 23 Abs. 1 BremPolG; § 32 Abs. 1 PolG, wo-nach „die Polizei [...] eine Sache sicherstellen (kann), wenn dies erforderlich ist, um den Eigentümer oder den rechtmäßi-gen Inhaber der tatsächlichen Gewalt vor Verlust oder Be-schädigung der Sache zu schützen.“ 2 Grundlegend zur Zuständigkeit: Schoch, in: Schmidt-Aßmann/Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2008, Kap. 2 Rn. 263 ff. Darin finden sich zahlreiche Litera-

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HALEC ÖFFENTLICHES RECHT

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angeordnet. Hierbei handelt es sich um ein Gremium der Stadt X, welches nach § 3 Nr. 7 i.V.m. § 82 Abs. 1 Nr. 1 SOG LSA als allgemeine Sicherheitsbehörde zu klassifizie-ren ist.

Die örtliche Zuständigkeit bemisst sich nach § 88 Abs. 1 S. 2 SOG LSA, wonach die Behörde, in deren Bezirk die zu schützenden Interessen verletzt oder gefährdet werden, zu-ständig ist. In der Stadt X kam es im Zeitpunkt der Festspiele zu einem erhöhten Aufkommen von erkrankten und lebensge-fährdeten Personen. Örtlich und sachlich zuständig ist damit die Stadt X. b) Verfahren

Grundsätzlich ist gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG eine Anhörung der Befragten als Adressaten von belastenden Verwaltungs-akten notwendig. Diese erfolgte hier nicht. Bei Gefahr im Verzug wird in § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG eine Ausnahme vom Anhörungserfordernis gemacht. Gefahr im Verzug be-steht dabei, wenn der durch die Anhörung bedingte Zeitver-lust auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die zu tref-fende Regelung zur Zielerreichung zu spät käme.3 Mit der Sicherstellung sollte die Verhinderung einer weiteren Ver-breitung verunreinigter Lebensmittel ohne zeitliche Verzöge-rung erreicht werden. Eine vorherige Anhörung hätte dem entgegengestanden. Damit bestand Gefahr im Verzug und von einer Anhörung konnte abgesehen werden. c) Form

Es gelten keine besonderen Formvorschriften (vgl. § 37 Abs. 2 VwVfG). Wird ein Verwaltungsakt schriftlich erteilt, muss er jedoch begründet werden (§ 39 VwVfG). d) Ergebnis

Die Sicherstellung erfolgte somit formell rechtmäßig. 3. Materielle Rechtmäßigkeit

Eine Sache kann nach Maßgabe des § 45 Abs. 1 Nr. 1 SOG LSA sichergestellt werden, wenn eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren ist.4 a) Gefahr für die öffentliche Sicherheit5

Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit liegt gemäß § 3 Nr. 1, Nr. 3 lit. a SOG LSA vor, wenn im konkreten Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit für die aufgezählten Rechtsgüter ein Schaden eintreten wird. Die Infektionsquelle und der dadurch absehbare Scha- turnachweise für die konkreten Regelungen in den verschie-denen Bundesländern. 3 BVerwG, Urt. v. 1.12.1983 – 3 C 27/82; Hermann, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOK VwVfG, § 28 Rn. 24. 4 Zur Sicherstellung Schoch (Fn. 2), Kap. 2 Rn. 235 ff. 5 Im SOG LSA sind die Gefahrenbegriffe in § 3 Nr. 3 SOG LSA legal definiert; Legaldefinitionen finden sich sonst nur in § 3 Abs. 3 SOG M-V, § 2 Nr. 1 Nds. SOG; allgemein zum Begriff der Gefahr Schoch (Fn. 2), Kap. 2 Rn. 84 ff.

den für die Gesundheit und das Leben vieler Personen stellen eine solche Gefahr dar. b) Gegenwärtigkeit der Gefahr

Gegenwärtig ist eine Gefahr gemäß § 3 Nr. 3 lit. b SOG LSA, wenn das schädigende Ereignis bereits begonnen hat oder unmittelbar bzw. in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht.6 Es wurden be-reits mehrere Personen durch die Infektionsquelle mit dem Virus infiziert. Das schädigende Ereignis hat also bereits begonnen und die Gefahr ist gegenwärtig im Sinne von § 3 Nr. 3 lit. b SOG LSA. c) Störer

Gemäß § 8 Abs. 1 SOG LSA ist die Maßnahme gegen den Inhaber der tatsächlichen Gewalt zu richten.7 Vorliegend geht die Gefahr von den Lebensmitteln aus, welche die Firma GuG z.B. zur Herstellung von Buffets auf größeren Veran-staltungen verwendet. Damit ist die GuG Zustandsstörer nach § 8 Abs. 1 SOG LSA.8 d) Sicherstellungsanordnung

Der Sicherstellung als hoheitliche Begründung der tatsächli-chen Gewalt über eine Sache muss eine Anordnung voraus-gehen. Das ist vorliegend erfolgt. e) Ermessen/Verhältnismäßigkeit gemäß §§ 5, 6 SOG LSA

Schließlich muss die Sicherstellung gemäß § 5 Abs. 1, Abs. 2 SOG verhältnismäßig sein. Sie ist geeignet den legitimen Zweck – nämlich die Abwehr der Infektionsgefahr durch die Lebensmittel – zu verwirklichen. Ein milderes Mittel ist nicht ersichtlich. Fraglich ist, ob sie auch angemessen ist. Es be-stand die Gefahr einer Epidemie, die eine sehr hohe Zahl an Menschen beeinträchtigen kann. Betroffen und gefährdet sind dabei die Rechtsgüter des Lebens und der Gesundheit zahl-reicher Personen, denen im Vergleich zu den betroffenen Eigentumspositionen der Firma GuG ein schwereres Gewicht zukommt. Infolgedessen ist die Sicherstellung angemessen und die Verhältnismäßigkeit gewahrt. Schließlich lässt sich auch kein Fehler in der Ausübung des pflichtgemäßen Er-messens (vgl. § 6 Abs. 1 SOG, § 114 VwGO) erkennen. 4. Ergebnis

Die Sicherstellung ist damit formell und materiell rechtmä-ßig.

6 Vgl. auch § 3 Abs. 3 Nr. 2 SOG M-V; § 2 Nr. 1b Nds. SOG. 7 Vgl. § 14 ASOG Bln; § 6 BbgPolG, § 8 SOG; § 7 HSOG; § 70 SOG M-V; § 5 PolG NRW; § 5 POG; § 5 SPolG; § 219 LVwG SH; § 8 ThürPAG; § 5 SächsPolG; § 6 BremPolG; § 7 Nds. SOG; § 7 PolG; Art. 8 PAG. 8 Geht man hingegen davon aus, dass letztlich die Firma GuG der die Gefahr verursachende Akteur ist, weil sie die Le-bensmittel erst durch Verarbeitung in den Verkehr bringt, ist maßgebend auf § 7 Abs. 1 SOG LSA abzustellen. So könnte die GuG auch als Handlungsstörerin gewertet werden.

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II. Gesundheitsuntersuchung aller Mitarbeiter der Firma GuG 1. Ermächtigungsgrundlage

Einschlägige Ermächtigungsgrundlage für die Untersu-chungsanordnung ist § 41 Abs. 5 SOG LSA. 2. Formelle Rechtmäßigkeit

Die Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formanforderungen wurden gewahrt.9 3. Materielle Rechtmäßigkeit

a) Voraussetzungen des § 41 Abs. 5 S. 1 SOG LSA

Nach Maßgabe des § 41 Abs. 5 S. 1 SOG LSA kann eine Person bei Gefahr für deren Leib, Leben oder Gesundheit körperlich untersucht werden.10 aa) Gefahr für Freiheit, Leib oder Leben des Untersuchten

Eine Gefahr für Leib oder Leben ist gemäß § 3 Nr. 3 lit. d SOG LSA eine Gefahr, bei der eine nicht nur leichte Körper-verletzung oder der Tod einzutreten drohen. Die Mitarbeiter der GuG sind mit den Lebensmitteln, die Ursache für bereits eingetretene Gesundheitsschädigungen und den Tod einiger Patienten sind, in Kontakt gekommen. Insoweit kann eine Gefahr für Leib oder Leben nicht ausgeschlossen werden.11 bb) Richterliche Anordnung oder Gefahr im Verzug

Eine körperliche Untersuchung darf grundsätzlich nur mit richterlicher Anordnung durchgeführt werden.12 Eine solche liegt nicht vor. Gemäß § 41 Abs. 5 S. 4 SOG LSA darf die Anordnung bei Gefahr im Verzug auch durch die Polizei erfolgen.13 Hier hat der Krisenstab die Maßnahme angeord-net. Es müsste sich daher bei dem Krisenstab um eine Poli-

9 Vgl. dazu A. I. 2., Da sich hier keine Änderungen für die Verfahrens-, Form und Zuständigkeitsanforderungen erge-ben, kann der Bearbeiter auf seine bereits getätigten Ausfüh-rungen verweisen. 10 In einigen Bundesländern finden sich entsprechende Vor-schriften: § 15 Abs. 4 S. 1 SOG; § 36 Abs. 5 S. 1 HSOG; § 17a S. 1 SPolG; § 18 Abs. 3 S. 1 POG; differenzierter § 53 Abs. 4 S. 1 SOG M-V; § 22 Abs. 4 S. 1 Nds. SOG. 11 Hier kommt es maßgebend darauf an, dass der Bearbeiter beachtet, dass die Gefahr für die Untersuchten besteht, da § 41 Abs. 5 SOG LSA keine Rechtsgrundlage für eine Unter-suchung zum Schutz Dritter bietet. Dass die Maßnahme zu-gleich der Identifikation der Gefahrenquelle dient, steht dem hier aber nicht im Wege. 12 § 45 Abs. 5 S. 2 SOG LSA; vgl. auch § 15 Abs. 4 S. 3 SOG; § 36 Abs. 5 S. 2 HSOG; § 17a S. 3 SPolG; § 18 Abs. 3 S. 3 POG; § 53 Abs. 4 S. 5 SOG M-V; § 22 Abs. 4 S. 3 Nds. SOG. 13 Vgl. § 15 Abs. 4 S. 6 SOG; § 17a S. 6 SPolG; § 53 Abs. 4 S. 6 SOG M-V; In den Gesetzen der Bundesländer Nieder-sachsen und Rheinland-Pfalz ist eine nachträgliche richterli-che Bestätigung vorgesehen: § 22 Abs. 4 S. 5 Nds. SOG; § 18 Abs. 3 S. 6 POG.

zeibehörde handeln. Gemäß § 3 Nr. 9 SOG LSA umfasst die Polizei institutionell Polizeibehörden und Polizeidienststel-len. Der Krisenstab ist weder Teil der in § 76 SOG genannten Polizeibehörde, noch kann er einer Polizeidienststelle zuge-ordnet werden. Der Krisenstab ist mithin kein Teil der Polizei und durfte die körperliche Untersuchung nicht anordnen. b) § 13 SOG LSA als Ermächtigungsgrundlage für die Unter-suchung?

Fraglich ist, ob die Anordnung des Krisenstabes auf § 13 SOG LSA als Ermächtigungsgrundlage gestützt werden kann. Bei § 41 Abs. 5 SOG LSA handelt es sich um eine Standardmaßnahme des Polizei- und Ordnungsrechtes, die ihrerseits abschließende Regelungen trifft und einen Rück-griff auf die Generalklausel verbietet.14 Da die Anordnung des Krisenstabes nach § 41 Abs. 5 SOG LSA rechtswidrig ist, darf sie nicht auf § 13 SOG LSA gestützt werden. c) Zwischenergebnis

Die Gesundheitsuntersuchung ist rechtswidrig. III. Auskunftserteilung über Lieferanten und Waren bei Befragung 1. Ermächtigungsgrundlage

Gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 SOG LSA können Befragungen durchgeführt werden, sofern tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, das der Betreffende sachdienliche Angaben zur Aufklärung machen kann. Einschlägige Er-mächtigungsgrundlage ist mithin § 14 Abs. 1, Abs. 2 SOG.15 2. Formelle Rechtmäßigkeit

Die Befragung erfolgte formell rechtmäßig.16 3. Materielle Rechtmäßigkeit

a) Konkrete Gefahr für öffentliche Sicherheit

Eine konkrete Gefahr im Sinne des § 3 Nr. 3 lit. a SOG liegt vor.17 b) Tatsächliche Anhaltspunkte für die Möglichkeit sachdien-licher Angaben

Zudem müssen tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Adressat der Maßnahme sachdienliche Angaben zur Aufklärung des Sachverhaltes machen kann. Die Firma GuG kennt die Lieferanten der Waren, weshalb davon auszugehen ist, dass sie sachdienliche Angaben ma-chen können.

14 Vgl. Schoch (Fn. 2), Kap. 2 Rn. 56 m.w.N. 15 Allgemein zum Auskunftsverlangen Schoch (Fn. 2), Kap. 2 Rn. 196 ff.; vgl. andere Landesregelungen z.B.: § 13 Brem-PolG; § 20 PolG; § 12 HSOG; § 28 SOG M-V; § 9a POG. 16 Vgl. Ausführungen unter A. I. 2. 17 Siehe dazu A. I. 3. a).

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c) Auskunftspflicht

Eine Auskunftspflicht besteht gemäß § 14 Abs. 2 S. 1 SOG LSA für den in §§ 7, 8 SOG LSA genannten Personenkreis. Die Firma GuG ist als Inhaberin der tatsächlichen Gewalt über die verunreinigten Nahrungsmittel Störer im Sinne des § 8 SOG.18 Damit ist sie auskunftspflichtig. d) Ermessen/Verhältnismäßigkeit

Die Mitarbeiter verfügen über sachdienliche Informationen hinsichtlich der Warenlieferanten. Die Befragung ist geeignet den legitimen Zweck – Abwehr der Infektionsgefahr – zu verwirklichen. Ein milderes Mittel ist nicht ersichtlich. Die Epidemie kann eine sehr hohe Zahl an Menschen beeinträch-tigen. Daher ist die Befragung auch angemessen. Ein Fehler in der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens (vgl. § 6 Abs. 1 SOG, § 114 VwGO) ist nicht erkennbar. 4. Ergebnis

Die Befragung ist damit formell und materiell rechtmäßig. B. Frage 2

I. Zulässigkeit 1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Eine aufdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich. Gemäß § 40 Abs. 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg er-öffnet, wenn es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, nicht verfassungsrechtlicher Art handelt und keine abdrän-gende Sonderzuweisung einschlägig ist. Die Streitigkeit ist öffentlich-rechtlich, wenn sie nach Maßgabe des öffentlichen Rechts zu entscheiden ist.19 Streitentscheidend sind hier Normen des SOG LSA und damit Normen des öffentlichen Rechts. Mangels Beteiligung von Verfassungsorganen liegt auch eine nicht verfassungsrechtliche Streitigkeit vor. Schließlich ist keine abdrängende Sonderzuweisung ersicht-lich. Damit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. 2. Statthafte Antragsform

Die statthafte Antragsart richtet sich nach dem Antragsbegeh-ren. Die Firma B begehrt letztlich die Aufhebung der Schlie-ßungsverfügung. Für eine solche Aufhebung müsste die auf-grund der fehlerhaften Untersuchung vorhandene Tatsachen-grundlage durch eine erneute Prüfung korrigiert werden. Fraglich ist, wie sie dieses Ziel schnellstmöglich erreichen kann.

Vorläufigen Rechtschutz gewähren §§ 80, 80a VwGO und § 123 VwGO, wobei das Verfahren nach § 123 VwGO

18 Siehe dazu A. I. 3. c); Falls der Bearbeiter unter entspre-chender Argumentation in der GuG einen Handlungsstörer erblickt, so ist dieser auch von § 14 SOG LSA als Auskunfts-verpflichteter erfasst. 19 Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 40 Rn. 204; ausführlich zu den Theorien und der Frage, in welchem Umfang diese zur Anwendung gelangen Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwal-tungslehre, § 2 Rn. 67 ff.

gegenüber den §§ 80, 80a VwGO subsidiär ist, § 123 Abs. 5 VwGO.20 Damit könnte die B das Ziel, die Schließungsver-fügung aufzuheben, durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erreichen, indem sie gegen die sofortige Vollziehbar-keit der Schließungsverfügung vorgeht. Die Firma B wäre danach dazu berechtigt, ihre Tätigkeit zumindest vorläufig wieder aufzunehmen. Dieser Antrag kann aber nur Erfolg haben, wenn die Patt-Situation zwischen den beiden Untersu-chungsergebnissen überwunden würde. Der Nachweis der Rechtswidrigkeit hängt dabei allein davon ab, dass die Feh-lerhaftigkeit der Untersuchung durch das Labor L nachgewie-sen wird. Diese Frage kann das Verwaltungsgericht nicht eigenständig entscheiden, sondern müsste ebenfalls einen Gutachter einsetzen. Deshalb zielt der Antrag der Firma B zutreffend auf eine Verpflichtung der Stadt Halle zur Vor-nahme einer erneute Untersuchung ab. Ein abweichendes Er-gebnis im Rahmen einer erneuten Untersuchung der Proben würde dann eine Aufhebung der Schließungsverfügung au-tomatisch nach sich ziehen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es ausnahmsweise an-gemessen, einen Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO, gerichtet auf die Verpflichtung der Stadt Halle zur erneuten Untersu-chung der Proben, zuzulassen. Dabei zielt der Antrag auf die einstweilige Änderung des bestehenden Zustandes, womit es sich um eine Regelungsanordnung im Sinne von § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO handelt.21 3. Antragsbefugnis

Die Firma B müsste antragsbefugt sein, § 42 VwGO analog.22 Hierzu müsste sie geltend machen können, in eigenen Rech-ten verletzt zu sein. Durch die bestehende Betriebsschließung kann B ihren Tätigkeiten nicht mehr nachgehen und erleidet erhebliche wirtschaftliche Nachteile. Eine Verletzung der Rechte aus Art. 12 Abs. 1 GG kann daher nicht von vornher-ein ausgeschlossen. Damit kann die Antragsbefugnis aus Art. 12 Abs. 1 GG abgeleitet werden.23

20 Als Faustregel kann sich gemerkt werden, dass § 123 Abs. 1 VwGO grundsätzlich zur Anwendung gelangt, wenn eine Verpflichtungs-, Unterlassungs-, Leistungs- oder Fest-stellungsklage in der Hauptsache statthaft wäre. Entsprechen-des gilt für den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bei Anfech-tungsklagen, vgl. insgesamt dazu VGH München, Beschl. v. 27.7.2007 – 8 CS 07.1023; Kuhla, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOK VwGO, § 123 Rn. 11; Allerdings gilt diese Annahme nicht ausnahmslos. 21 Vgl. dazu allgemein Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/ Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 123 Rn. 49 f. 22 Zur Antragsbefugnis im Rahmen des einstweiligen Recht-schutzes Schoch (Fn. 21), § 123 Rn. 107 f.; Kuhla (Fn. 20), § 123 Rn. 35 ff. 23 Bereits an dieser Stelle könnte der Bearbeiter auf einen möglichen Aufhebungsanspruch aus § 48 Abs. 1 VwVfG oder auf einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfah-rens nach § 50 VwVfG abstellen (Dazu C. II. 1.). Dennoch genügt auch eine allgemein gehaltene Lösung, die auf Art. 12 GG Bezug nimmt, den gesetzlichen Anforderungen an die Antragsbefugnis.

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4. Antragsgegner

Der Antrag ist gemäß § 78 Nr. 1 VwGO analog gegen den Bund, das Land oder die Körperschaft, deren Behörde die Untersuchung angeordnet und die Schließungsverfügung erlassen hat, zu richten.24 Vorliegend ordnete der Krisenstab die Maßnahmen an. Deren Rechtsträger ist die Stadt H, die insoweit der richtige Antragsgegner ist. 5. Beteiligtenfähigkeit

Antragsgegner und Antragssteller müssten beteiligtenfähig sein. In Bezug auf die Firma B folgt diese aus § 61 Nr. 1 VwGO.25 Entsprechendes gilt für die Stadt H. 6. Zwischenergebnis

Damit ist der Antrag zulässig. II. Begründetheit des Eilantrags Der Antrag nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO ist begründet, wenn eine einstweilige Anordnung zur Regelung des vorläu-figen Zustandes hinsichtlich des streitigen Rechtsverhältnis-ses nötig ist, um wesentliche Nachteile abzuwehren. Im Rahmen der Begründetheit ist zu prüfen, ob ein Anordnungs-anspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft vorliegen.26 1. Anordnungsanspruch

Es bedarf zunächst eines materiellen Anspruchs, den die Firma B als Antragstellerin in der Hauptsache verfolgt.27 Eine materiell-rechtliche Rechtsposition, aus der sich vorliegend ein Anspruch auf erneute Untersuchung ableiten lässt, folgt aus dem sog. Folgenbeseitigungsanspruch. Dieser ist zwar in erster Linie auf die Aufhebung des Verwaltungsaktes gerich-tet, durch den die Betriebsschließung verfügt wurde. Er schließt aber auch als „Minus“ und als verfahrensrechtliche Voraussetzung den Anspruch auf erneute Untersuchung we-gen der vorliegenden Zweifel ein.

Weiter ist ein Anspruch aus § 48 Abs. 1 VwVfG denkbar. Dieser ist auch auf nicht bestandskräftige Verwaltungsakte anwendbar und begründet einen Anspruch auf Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes – jedenfalls in Form eines Anspruchs auf Ermessensbetätigung, wozu dann auch die erneute Beweiswürdigung gehört.28

24 Vgl. zur Frage der Bestimmung des Antragsgegners im Vorläufigen Rechtsschutz Meissner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 78 Rn. 53 f. 25 Wegen mangelnder Angaben über die Rechtsform der Firma kann offen bleiben, ob eine natürliche oder juristische Person vorliegt. 26 § 123 Abs. 3 i.V.m. § 921 ZPO. Dazu Kuhla (Fn. 20), § 123 Rn. 59 ff. 27 Vgl. Schoch (Fn. 21), § 123 Rn. 69. Wichtig für die vorlie-gende Bewertung ist, dass ein nicht nur auf die Aufhebung, sondern auch auf den Verfahrensschritt bezogener Anspruch gesucht und herausgearbeitet wird. 28 Aus dem Amtsermittlungsgrundsatz des § 24 VwVfG lässt sich eine subjektiv-rechtliche Position nicht ableiten. Denk-bar wäre noch die Ableitung eines Anspruchs auf erneute

2. Anordnungsgrund

Die Anordnung muss notwendig sein, um wesentliche Nach-teile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO.29 Der Firma B drohen aufgrund der Schließung erhebliche finanzielle, existenzbedrohende Ein-bußen. Mit jedem weiteren Tag der Schließung erhöht sich diese Gefahr. Zu beachten ist weiterhin die Nachhaltigkeit der Beeinträchtigung der Betriebsausübung, da diese die Möglichkeit eines späteren Ausgleichs der erlittenen Einbu-ßen als fraglich erscheinen lässt.30 Damit würden ohne die Anordnung wesentliche Nachteile eintreten. Mithin liegt ein Anordnungsgrund vor. 3. Keine Vorwegnahme der Hauptsache

Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist nicht ersichtlich. 4. Ergebnis

Damit ist der Antrag zulässig und begründet. C. Lösung zur Erweiterung Anknüpfungspunkt der Klage vor dem Verwaltungsgericht ist nicht die Betriebsschließung, sondern die Verzehrwarnung. I. Zulässigkeit der Klage vor dem Verwaltungsgericht Die Firma B macht hier einen Schadensausgleich aus § 69 Abs. 1 S. 2 SOG geltend. Aufgrund der Sonderzuweisung des § 75 SOG LSA für polizeirechtliche Ansprüche auf Scha-densausgleich an die ordentliche Gerichtsbarkeit ist der Ver-waltungsrechtsweg ausgeschlossen. Auch für ein Schadener-satzverlangen aus Amtspflichtverletzung, Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB, ist der Verwaltungsrechtsweg wegen der Son-derzuweisung des Art. 34 S. 3 GG ausgeschlossen.

Es liegen somit zwei abdrängende Sonderzuweisungen vor und die Zulässigkeit der Klage vor dem Verwaltungsge-richt ist zu verneinen. Das Verwaltungsgericht wird die Klage gemäß § 83 S. 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 S. 1 GVG an das Landgericht Halle verweisen.

Die Begründetheit des Anspruchs ist somit im Hilfsgut-achten zu prüfen.

Untersuchung aus § 51 VwVfG, wobei auf das Vorliegen eines neuen Beweismittels in Gestalt der Untersuchungser-gebnisse des S abzustellen wäre. Problematisch ist der Rekurs auf diese Vorschrift aber, weil der Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig ist. Deshalb scheidet auch dieser Weg i.E. aus. 29 Zum Gesamten vgl. Kuhla (Fn. 20), § 123 Rn. 126 ff. 30 Vgl. Kuhla (Fn. 20), § 123 Rn. 129 mit zahlreichen weite-ren Nachweisen.

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II. Hilfsgutachten: Begründetheit der Klage vor dem Landgericht 1. Schadensausgleich gemäß § 69 Abs. 1 S. 2 SOG

Gemäß § 69 Abs. 1 S. 2 SOG31 ist demjenigen, der durch eine rechtswidrige Maßnahme der Polizei oder der Sicherheitsbe-hörden eine Einschränkung in seinen Rechten erleidet der hieraus entstandene Schaden zu ersetzen.32 a) Rechtswidrige Maßnahme

Eine rechtswidrige Maßnahme liegt vor, wenn die Verzehr-warnung rechtswidrig ist.33 aa) Ermächtigungsgrundlage

Weder die spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen (auf-grund des Bearbeitervermerks) noch eine polizeiliche Stan-dardmaßnahme kommen in Betracht. Vielmehr ist die Gene-ralklausel des § 13 SOG einschlägig. bb) Formelle Rechtmäßigkeit

Die Verzehrwarnung erfolgte formell rechtmäßig. cc) Materielle Rechtmäßigkeit

Hierfür muss eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicher-heit vorliegen.34 Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit beruht dabei auf einer Prognose.35 Eine konkrete Gefahr kann auch vorliegen, wenn irrtümlich das Vorliegen einer Gefahr angenommen wird, sofern die Prognose auf einer pflichtge-mäßen, verständigen und besonnenen Einschätzung beruht.36 Die Schließungsanordnung ist auf die Gefahr bezogen, wel-che vermeintlich von den Lebensmitteln der Firma B ausgeht. Dass die Lebensmittel in Wahrheit nicht mit Bakterien kon-taminiert waren, war dem Krisenstab selber nicht bekannt. Vielmehr beruhte diese Fehleinschätzung auf den Fehlern des Labors. Fraglich ist nunmehr, ob sich der Krisenstab diesen Fehler zurechnen lassen muss, was eine nicht pflichtgemäße Einschätzung der Gefahr bedeuten und die Anscheinsgefahr entfallen lassen würde.

Bei der Beauftragung des privaten Labors handelt es sich um die Einbeziehung eines Verwaltungshelfers in die Erfül-lung einer Verwaltungsaufgabe.37 In diesen Fällen sind Feh-

31 Vgl. § 64 Abs. 1 S. 2 HSOG; § 68 Abs. 1 S. 2 SPolG; § 68 Abs. 1 S. 2 POG; § 80 Abs. 1 S. 2 Nds. SOG. 32 Vgl. allgemein zu den Grundsätzen der Kostentragung im Gefahrenabwehrrecht Kluth, in: Kluth (Hrsg.), Landesrecht Sachsen-Anhalt, 2. Aufl. 2010, § 3 Rn. 421 ff. 33 Folgend ist daher inzident die Rechtmäßigkeit der Ver-zehrmaßnahme zu prüfen. 34 Zum Gefahrenbegriff siehe B. I. 3. a). 35 Mit anderen Worten ist der Beurteilungszeitpunkt der Zeit-punkt des polizeilichen Einschreitens, so Kluth (Fn. 32), § 3 Rn. 139. 36 Vgl. näher zur Anscheinsgefahr Kluth (Fn. 32), § 3 Rn. 152. 37 Ein Überblick über die Formen der Ausführung von Ver-waltungshandeln durch Beauftragung Privater findet sich in

ler und Verschulden des Verwaltungshelfers der Verwaltung wie eigenes Handeln zuzurechnen, denn die Verlagerung der Aufgabenerfüllung durch die Verwaltung auf Private darf nicht zu Lasten des Bürgers erfolgen. Das gilt auch im Rah-men der Gefahrermittlung. Wenn die Sicherheitsbehörde bei der Erstellung der Gefahrenprognose einen Verwaltungshel-fer einbezieht, so muss der Maßstab des besonnenen und pflichtbewussten Beamten auch auf das Handeln des Verwal-tungshelfers erstreckt werden.38

Im vorliegenden Fall wurden die Proben von Mitarbeitern des Labors verwechselt. Obwohl dazu keine näheren Einzel-heiten mitgeteilt werden, stellt eine solche falsche Zuordnung eine grobe Fahrlässigkeit und Pflichtverletzung dar. Der Krisenstab muss sich diese Fehler des Labors zurechnen lassen und hat somit nicht pflichtgemäß gehandelt. Es liegt deshalb keine Anscheins-, sondern eine Scheingefahr vor.39 dd) Ergebnis

Die Maßnahme ist deshalb materiell rechtswidrig.

Alternativprüfung: Wenn ein Bearbeiter zu dem Ergebnis kommt, dass eine (Anscheins-) Gefahr im Sinne des § 3 Nr. 3 lit. a SOG LSA vorliegt, so ist im Rahmen der wei-teren Prüfung auf folgende Punkte zu achten: Die Firma B ist mangels Sachgewalt über die vermeintlich kontami-nierten Lebensmittel bzw. mangels Verhaltensverantwort-lichkeit nicht Störerin.

b) Beschränkung der Rechte der B?

Problematisch ist, dass die Verzehrwarnung an die Verbrau-cher adressiert und nicht direkt an die B gerichtet ist. Fraglich ist daher, ob die B in ihren Rechten beschränkt ist, da sonst der Anspruch nach § 69 Abs. 1 S. 2 SOG LSA entfallen wür-de.

In Betracht kommt eine mittelbare Beeinträchtigung der Berufsfreiheit der B aus Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG. Diese schützt die unternehmerische Tätigkeit der B. Allerdings stellt die Verbreitung zutreffender und sachlich gehaltener Informationen am Markt kein Grundrechtseingriff dar, auch wenn sich das nachteilig für einen Marktteilnehmer auswirkt.40 Hier werden aber gerade falsche Informationen verbreitet. Daher sind die allgemeinen Kriterien eines Ein-griffs anzuwenden. Die Warnung vor den Nahrungsmitteln der B wird aufgrund ihrer Brisanz einen weiten Personenkreis

Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl. 2010, § 67 Rn. 24 ff. 38 So im vergleichbaren Fall der fehlerhaften Laboruntersu-chung von BSE-Proben, BGH NJW 2005, 286 (287); Pietzcker, AöR 132 (2007), 393 (399). 39 Eine Begründung der Gefahr unter Verweis auf die konta-minierten Lebensmittel ist fehlerhaft, da für die Prüfung der Maßnahme gegen Firma B es allein darauf ankommt, ob ihr Fleisch eine Gefahr darstellt. 40 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 12 Rn. 19. Vgl. Ruffert, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 12 Rn. 59 ff.

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erreichen und das Ansehen der B erheblich schmälern. Die unternehmerische Tätigkeit wird ohne sachlichen Grund aus der Sphäre des Unternehmens erheblich erschwert. Damit ist die B in ihrer Berufsausübung beeinträchtigt und es liegt ein Eingriff und somit eine Inanspruchnahme vor.41 c) Schaden

Fraglich ist, welche Schadensposten ersatzfähig sind. Einer-seits verlangt B den entgangenen Gewinn aus den Aufträgen, die infolge der Betriebsschließung gekündigt wurden (15.000 €) und andererseits den entgangenen Gewinn, der im Zeitraum der Schließung gewöhnlich erzielt worden wären (25.000 €). Art und Umfang des Schadensausgleichs bemes-sen sich nach § 70 SOG LSA. Demnach wird der Ausgleich nur für Vermögensschäden gewährt (§ 70 Abs. 1 S. 1 SOG). Entgangener Gewinn wird für den Ausfall des gewöhnlichen Verdienstes ausgeglichen.

Damit sind beide Schadensposten von § 70 SOG LSA umfasst. Beide Schäden gehen nicht über den Ausfall des gewöhnlichen Dienstes hinaus und stehen mit der Maßnahme der Sicherheitsbehörde im unmittelbaren Zusammenhang. Damit greift der Ausschlussgrund des § 70 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 und Alt. 2 SOG LSA nicht. d) Ergebnis

B hat gegen die Stadt einen Anspruch auf Zahlung von insge-samt 40.000 € aus § 69 Abs. 1 S. 2 SOG LSA. 2. Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung aus Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB42

Gemäß Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB hat der Hoheitsträger den Schaden zu ersetzen, der entsteht, wenn in Ausübung eines öffentlichen Amtes eine gegenüber einem Dritten be-stehende Amtsplicht verletzt wird. a) Passivlegitimation

Nach Art. 34 S. 1 GG haftet die Körperschaft, in deren Dienst der Amtswalter steht. Amtswalter ist der die Verzehrwarnung herausgebende Krisenstab. Allerdings stehen nur zwei Ange-hörige des Krisenstabes im Dienst der Stadt. Der Professor ist Angestellter der Universität, welche nicht Teil der Stadtver-waltung ist. Fraglich ist, ob bzgl. dessen Dienstausübung ebenfalls die Stadt Halle passivlegitimiert ist. Wird eine Pri-vatperson im Rahmen der Erfüllung öffentlicher Aufgaben tätig, so ist der Hoheitsträger passiv legitimiert, der die öf-fentliche Aufgabe an die Privatperson übertragen hat.43 Der

41 Dieser Punkt könnte im Gutachten auch knapper abgehan-delt werden. 42 § 69 Abs. 4 SOG stellt klar, dass Ersatzansprüche aus Amtspflichtverletzung auch bei Vorliegen der Voraussetzun-gen des § 69 Abs. 1 SOG unberührt bleiben. Diese Ansprü-che sind hier daher zu prüfen. 43 Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 37), § 67 Rn. 137. So auch die st. Rspr. des BGH. Eine Diskussion der weiteren hierzu vertretenen Theorien war hier überflüssig, da alle Ansichten zum selben Ergebnis kommen.

Krisenstab wurde durch die Stadt Halle einberufen und mit der Aufgabe der Abwehr der Infektionsgefahr betraut. Auch hat die Stadt Halle den Professor in den Krisenstab gerufen. Damit ist die Stadt Halle passiv legitimiert. b) In Ausübung eines öffentlichen Amtes44

Die Betriebsschließung wurde durch den Krisenstab ange-ordnet. Aufgabe des Krisenstabes ist die hoheitliche Funktion der Gefahrenabwehr. Insofern übt er ein öffentliches Amt aus.45 c) Verletzung einer einem Dritten gegenüber obliegenden Amtspflicht

Jedem Amtsträger obliegt die Pflicht zu sorgfältigem Verhal-ten gegenüber Dritten und zwar auch dann, wenn er nur im Interesse der Allgemeinheit tätig wird.46 Das Labor hat die Proben verwechselt. Eine solche Verwechslung ist vermeid-bar und offenbart mangelnde Sorgfalt. Diese Pflichtverlet-zung muss sich der Krisenstab zuzurechnen lassen. Eine Amtspflichtverletzung des Krisenstabes liegt vor. d) Kausalität

Die Schadensfolgen sind der Anstellungskörperschaft nur dann zuzurechnen, wenn sie durch das Verhalten eines Amtswalters verursacht wurde. Hier ist auf die Adäquanz-, nicht die Äquivalenztheorie zurückzugreifen.47 Demnach muss die Handlung im Allgemeinen und nicht nur unter be-sonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Herbeiführung des Erfolges geeignet sein. Eine pflichtwidrige und falsche Gefahrenprognose durch eine Sicherheitsbehörde ist regelmäßig geeignet die Inanspruch-nahme eines unbeteiligten Dritten anstelle des Störers zu verursachen. Damit ist die haftungsbegründende Kausalität gegeben. e) Verschulden

Eine Amtshaftung nach § 839 BGB tritt nur bei vorsätzli-chem oder fahrlässigen Handeln des Amtswalters in Be-tracht.48 Für ein vorsätzliches Handeln liegen hier keine An-haltspunkte vor. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr er-forderliche Sorgfaltspflicht außer Acht lässt. Der Krisenstab hat aufgrund der Auskunft des Labors gehandelt. Das Labor hat nach den Regeln der wissenschaftlichen Sorgfalt zu han-deln, welche eine Verwechslung von Proben ausschließt.

44 Die Rechtsstellung des Handelnden ist dabei unbeachtlich; entscheidend ist seine Tätigkeit, Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 37), § 67 Rn. 15 ff. 45 Das Labor handelt nicht in Ausübung eines öffentlichen Amtes und kann nicht unter dieses Tatbestandsmerkmal sub-sumiert werden. Das Handeln des Labors muss die Stadt sich, wie oben angemerkt, zurechnen lassen. 46 Reinert, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), BeckOK BGB, § 839 Rn. 36; Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 37), § 67 Rn. 54 ff. 47 Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 37), § 67 Rn. 87 f. 48 Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 37), § 67 Rn. 93.

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HALEC ÖFFENTLICHES RECHT

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Diese Regeln wurden nicht eingehalten. Damit hat das Labor, was sich der Krisenstab als Amtswalter zurechnen lassen muss, die Amtspflichtverletzung fahrlässig verschuldet. f) Haftungsprivileg

Zwar steht B ein Anspruch nach § 69 Abs. 1 S. 2 SOG LSA zu, allerdings greift die Subsidiaritätsklausel nicht, wenn ein Ersatzanspruch gegen eine Körperschaft des öffentlichen Rechts besteht.49 Der Ersatzanspruch nach § 69 Abs. 1 S. 2 SOG LSA besteht gegen die Stadt Halle, einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts. Das Haftungsprivileg des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB greift nicht. g) Schaden

Der ersetzbare Schaden bemisst sich nach §§ 249-255, 842-847 BGB. Als entgangen im Sinne des § 252 BGB gilt der Gewinn, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insb. nach den getrof-fenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Der Gewinn von 15.000 €, der infol-ge der Kündigung verloren gegangen ist, konnte mit Wahr-scheinlichkeit erwartet werden und ist daher ersatzfähig. Er ist infolge der Amtspflichtverletzung verloren gegangen (haf-tungsausfüllende Kausalität). Auch der Gewinn von 25.000 €, den B im Zeitraum bis zur Aufklärung des Fehler gewöhnlich erzielt hätte, konnte mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden und ist also ersatzfähig. h) Ergebnis

B hat gegen die Stadt einen Anspruch auf Zahlung von 40.000 € aus Art. 34 GG, § 839 BGB. 3. Schadensausgleich aus weiteren Anspruchsgrundlagen?

Ein Schadensausgleich aus weiteren Anspruchsgrundlagen kommt hier nicht in Betracht. D. Gesamtergebnis Bzgl. der vom Krisenstab ergriffenen Maßnahmen sind die Sicherstellungsanordnung und das Auskunftsverlangen for-mell und materiell rechtmäßig. Gegen die Schließungsverfü-gung kann sich die B im Wege des § 123 Abs. 5 VwGO weh-ren. Der Antrag hat Aussicht auf Erfolg.

Die B hat gegen die Stadt Halle einen Anspruch auf Schadenersatz i.H.v. 40.000 € gemäß § 69 Abs. 1 S. 2 SOG LSA und § 839 BGB i.V.m. Art. 14 GG.

49 Staudinger, in Schulze u.a. (Hrsg.), BGB, 7. Aufl. 2012, § 839 Rn. 31.

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ZJS 3/2015 284

Übungsfall: In der Gosse Von Prof. Dr. Georg Steinberg, Leonie Schönemann, Wiesbaden* Dieser Fall wurde an der EBS – Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden im Frühjahrstrimester 2015 in der kleinen Übung (2. Trimester) im Strafrecht gestellt. Die Be-arbeitungszeit betrug 120 Minuten. Von den 49 Teilnehme-rinnen und Teilnehmern bestanden 36 (= 73 %) die Klausur, der Notendurchschnitt lag bei 4,87 Punkten. Sachverhalt Joachim (J) fuhr am frühen Morgen des 25.11.2014 mit dem Auto von einer Feier bei Freunden, wo er bis um 03.00 Uhr einige Gläser Bier getrunken hatte, nach Hause. Dabei kolli-dierte er um 05.00 Uhr mit dem Fußgänger Florian (F), der volltrunken auf die Straße getorkelt war. F fiel schwer ver-letzt in die Gosse. Wäre J nicht übermüdet und alkoholisiert gewesen, hätte er schneller reagieren und ausweichen kön-nen, so dass F unverletzt geblieben wäre.

J stieg aus seinem Auto. Sein erster Impuls war, sofort mit seinem Handy Hilfe herbeizuholen. Er entschied sich dann aber aus Angst vor den Folgen des Geschehenen statt-dessen rasch weiterzufahren, obwohl er erkannte, dass F noch zu retten war, wenn er Hilfe erhielt, sonst jedoch seinen Ver-letzungen erliegen werde. Letzteres nahm J hin. Auch ging er davon aus, sich allenfalls wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar zu machen.

Einige Minuten nachdem J verschwunden war, kam die Ehefrau Edith (E) des Weges, die (wieder einmal) auf der Suche nach dem oftmals nächtens zechenden F war. Als E den F in der Gosse liegen sah, beschloss sie, keine Hilfe herbeizuholen, sondern nach Hause zu gehen, obwohl auch sie erkannte, dass F lebensgefährlich verletzt war. Auch sie nahm in Kauf, dass F versterben werde, was dann auch ge-schah.

Die polizeilicherseits veranlasste Blutentnahme um 10.00 Uhr desselben Tages ergab bei J eine Blutalkoholkonzentrati-on von 0,5 Promille. Bearbeitervermerk Prüfen Sie die Strafbarkeit des J nach den §§ 212, 222 StGB.

Die Strafbarkeit der E ist nicht zu prüfen. Abwandlung Prüfen Sie die Strafbarkeit des J nach den §§ 212, 222 StGB für die Konstellation, dass er zwar (wie im Ausgangsfall) betrunken und übermüdet war, dass er aber, auch wenn er nüchtern und ausgeruht gewesen wäre, die Kollision mit dem plötzlich auf die Straße torkelnden F nicht hätte verhindern können.

* Prof. Dr. Georg Steinberg ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Steuerstraf-recht an der EBS – Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden, Leonie Schönemann war dort Wiss. Mitarbeite-rin.

Lösungsvorschlag zur Strafbarkeit des J

A. Ausgangsfall

I. Strafbarkeit nach § 222 StGB wegen der Kollision J könnte sich nach § 222 StGB strafbar gemacht haben, in-dem er mit seinem Auto mit dem F kollidierte.

Hinweis: Aufgrund der chronologischen Abfolge der Er-eignisse und weil die Kollision Anknüpfungspunkt für die spätere Haftung als Garant sein kann, ist zwingend die hiesige Prüfungsreihenfolge zu wählen. Eine Strafbarkeit nach § 212 Abs. 1 StGB bezogen auf die Kollision zu prüfen, ist überflüssig, da J insoweit evidentermaßen vor-satzlos handelte.

1. Tatbestand

a) Kausale Erfolgsherbeiführung

Der tatbestandsmäßige Erfolg des § 222 StGB ist mit dem Tod des J eingetreten. Die Handlung des J, dass er das Fahr-zeug führte und mit F kollidierte, müsste kausal gewesen sein, dürfte also nicht hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.1 Ohne die Kollision wäre F nicht auf diese Weise gestorben, sodass J den Tatbestandserfolg kausal herbeiführte. b) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorher-sehbarkeit des Erfolgseintritts

J müsste objektiv sorgfaltswidrig gehandelt, also die im Ver-kehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen haben.2 Der generelle Sorgfaltsmaßstab ergibt sich aus den Anforderun-gen, die bei ex ante-Betrachtung der Gefahrenlage an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen zu stellen sind, der dem Verkehrskreis des Täters angehört und sich in seiner konkreten Lage befindet.3

Eine Sorgfaltspflichtverletzung könnte sich aus der Alko-holisierung des J ergeben. J hatte um 10.00 Uhr, also fünf Stunden nach der Kollision, eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,5 Promille. Legt man – zu seinen Gunsten – den medizinisch minimal möglichen Abbauwert von 0,1 Pro-mille pro Stunde zugrunde,4 so hatte J im Kollisionszeitpunkt 1,0 Promille BAK. Dieser Wert liegt nur knapp unter dem der absoluten Fahruntüchtigkeit (1,1 Promille).5 Mit diesem BAK-Wert und zusätzlich übermüdet Auto zu fahren ent-spricht aufgrund der stark verminderten Reaktionsfähigkeit und der objektiven Vorhersehbarkeit eines Unfalls nicht der erforderlichen Sorgfalt. J handelte objektiv sorgfaltswidrig.

1 Vgl. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 6. 2 Vgl. Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2014, § 52 Rn. 15. 3 Rengier (Fn. 2), § 52 Rn. 15. 4 Vgl. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 44. Aufl. 2015, Rn. 412. 5 BGHSt 37, 89.

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Übungsfall: In der Gosse STRAFRECHT

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c) Objektive Zurechenbarkeit

aa) Bezogen auf die Herbeiführung der Kollision

Der Tod des F müsste dem J objektiv zurechenbar sein, es müsste sich also eine durch seine Handlung gesetzte rechtlich missbilligte Gefahr in diesem konkreten tatbestandlichen Er-folg verwirklicht haben.6 Die allein durch den Betrieb des Fahrzeugs gesetzte Kollisions- und Lebensgefahr ist nicht rechtlich missbilligt, wohl aber das Fahren unter Alkoholein-fluss (vgl. §§ 316 und § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB) und trotz starker Müdigkeit (vgl. § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB). Auf dieser Pflichtwidrigkeit müsste auch der eingetretene Unfall beruht haben.7 Wäre J nüchtern und ausgeruht gefah-ren, hätte er dem F ausweichen können, der Unfall wäre nicht eingetreten. Somit bestand der Pflichtwidrigkeitszusammen-hang von Alkoholkonsum und Übermüdung zur Kollision. Jedenfalls zwischen Tathandlung und Kollision besteht also der objektive Zurechnungszusammenhang. bb) Keine Rettungshandlung seitens J

Man könnte sich fragen, ob das Unterlassen von Hilfsmaß-nahmen seitens des Täters selbst, hier also des J, den Zurech-nungszusammenhang zwischen Erfolgseintritt und Ersthand-lung unterbricht. Das ist aber nicht plausibel, weil die durch die Ersthandlung gesetzte Gefahr über das spätere Unterlas-sen hinaus weiter wirkt und sich dann realisiert. Eine mate-rielle Doppelbestrafung kann auf Konkurrenzebene vermie-den werden. Dass J nicht zugunsten des F Hilfsmaßnahmen ergriff, unterbricht also nicht den Zurechnungszusammen-hang bezogen auf die Ersthandlung des J.

Hinweis: Dass das Problem gesehen und gelöst wird, kann allenfalls von sehr guten Bearbeitungen erwartet werden.

cc) Keine Rettungshandlung seitens E

Fraglich ist, wie es sich auswirkt, dass die kurz darauf ein-treffende E keine Hilfe für den F herbeiholte. Das hängt da-von ab, wie ihr Handeln strafrechtlich zu bewerten ist.

Hinweis: Der Bearbeitervermerk schließt lediglich die se-parate, nicht diese Inzidentprüfung der Strafbarkeit der E aus. Überdies § 211 StGB zu prüfen ist überflüssig, weil für die hiesige Zurechnungsfrage irrelevant.

Sie könnte sich nach §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben. Den Tod des F als tatbestandsmäßigen Erfolg des § 212 Abs. 1 StGB führte sie, indem E trotz der Möglich-keit dazu keine erfolgsabwendende Hilfe herbeiholte, durch dieses Unterlassen (quasi-)kausal herbei.8 Zu aktivem Tun verpflichtet nach § 13 StGB im Sinne einer Garantenstellung war E als Ehefrau, die für den Schutz der Rechtsgüter des Ehepartner einzustehen hat, was auch die Abwendung von

6 Vgl. Rengier (Fn. 2), § 13 Rn. 46. 7 Vgl. Krey/Esser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2012, § 50 Rn. 1354. 8 Vgl. Rengier (Fn. 2), § 49 Rn. 8 f.

Todesgefahren einschließt.9 Sie erfüllte also, auch angesichts der Gleichwertigkeit des Unterlassens mit aktivem Tun im Sinne von § 13 Abs. 1 a.E. StGB, den objektiven Tatbestand. Sie erfüllte, indem sie vorsätzlich, d.h. wissentlich und wil-lentlich handelte, nämlich ihre kausale Herbeiführung des Todes des J billigend in Kauf nahm, auch den subjektiven Tatbestand.10 Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte han-delte die E auch rechtswidrig und schuldhaft, verwirklichte also §§ 212 Abs. 1, 13 StGB.

Fraglich ist also, wie sich das spätere schuldhafte Reali-sieren einer vorsätzlichen Unterlassungstat durch einen ande-ren auf die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs zur Erst-handlung (hier der Kollision) auswirkt. Man kann dies stets für zurechnungsirrelevant halten mit dem Argument, dass auch die fahrlässige Ermöglichung einer Vorsatztat pflicht-widrig ist, also eine Fahrlässigkeitshaftung begründet.11 Demnach ist der Todeserfolg dem J zuzurechnen. Nach der Lehre von den Verantwortungsbereichen kann jedem nur das zugerechnet werden, wofür er selbst verantwortlich ist.12 Demnach lässt das dazwischentretende Verhalten anderer Personen die Zurechnung grundsätzlich entfallen, und Aus-nahmen bedürfen besonderer Begründung.13 Für eine solche Ausnahme bezogen auf das Dazwischentreten der E kann nur angeknüpft werden an die Besonderheit, dass E Unterlas-sungstäterin war. Zwar stellt der Gesetzgeber das pflichtwid-rige Unterlassen in der Rechtsfolge (abgesehen von § 13 Abs. 2 StGB) dem aktiven Tun gleich; bezogen auf das hiesi-ge Zurechnungsproblem muss aber bedacht werden, dass das Unterlassen im Gegensatz zum aktiven Tun den durch den Ersttäter in Gang gesetzten Geschehensablauf nicht verän-dert. Die Haftung des J steht, mit anderen Worten, nicht unter der Bedingung des Nichteingreifens Dritter.14 Somit unter-brach die E durch ihr (wenn gleich tatbestandsmäßiges) Nichteingreifen auch nach diesem Ansatz nicht die Zurechen-barkeit des Todeserfolgs zur Ersthandlung. Sondern dem J ist der Erfolg objektiv zurechenbar; er erfüllte den Tatbestand des § 222 StGB.

Hinweis: Nur von sehr guten Bearbeitungen ist die Erörte-rung des Problems in dieser Breite zu erwarten; erwartet werden darf aber, dass das Problem überhaupt gesehen und nachvollziehbar gelöst wird. Eine Zurechnungsunter-brechung ist nur mit sehr guter Begründung vertretbar.

9 Vgl. Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2013, Kap. 22 Rn. 40. 10 Vgl. Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 11. Aufl. 2014, § 15 Rn. 7. 11 Joecks (Fn. 10), § 222 Rn. 27 f.; vgl. auch BGH StV 2013, 1. 12 Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 4 Rn. 83; Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 137; Lenckner, in: Bockel-mann/Kaufmann/Klug (Hrsg.), Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, 1969, S. 506. 13 Kühl (Fn. 12), § 4 Rn. 85. 14 Vgl. Otto, in: Dölling (Hrsg.), Jus humanum, Grundlagen des Rechts und Strafrecht, Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag, 2003, S. 505.

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ÜBUNGSFALL Georg Steinberg/Leonie Schönemann

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ZJS 3/2015 286

Anders bewerten kann man die Konstellation, dass der zuständige Arzt – als Zweithandlung – das durch die Erst-handlung verletzte Opfer zu retten unterlässt.

2. Rechtswidrigkeit

J handelte rechtswidrig. 3. Schuld

a) Schuldfähigkeit

J könnte aufgrund des Alkoholkonsums schuldunfähig nach § 20 Var. 1 StGB gewesen sein. Dies hängt von der BAK zum Tatzeitpunkt ab. In dubio pro reo ist nun bei der Rückbe-rechnung von dem medizinisch größtmöglichen Abbauwert (0,2 Promille pro Stunde + einmaligem Sicherheitszuschlag von 0,2) auszugehen.15 Demnach lag die BAK des J zum Tat-zeitpunkt bei 1,7 Promille. Dieser Wert liegt weit unter 3,0 Promille bzw. 3,3 Promille bei Tötungsdelikten (Richtwerte für die Schuldunfähigkeit). Somit war J zum Tatzeitpunkt schuldfähig. b) Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung bei subjektiver Vor-hersehbarkeit des Erfolges

J müsste subjektiv sorgfaltswidrig gehandelt haben, also nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage gewesen sein, die Sorgfaltspflicht zu erfüllen und die Mög-lichkeit der Tatbestandsverwirklichung vorherzusehen.16 Mangels gegenläufiger Anhaltspunkte mit Blick auf die psy-chische Verfassung des J hatte er die genannten Kenntnisse und Fähigkeiten, handelte also subjektiv sorgfaltswidrig. Somit handelte er, auch mangels Entschuldigungsgründen, schuldhaft. 4. Ergebnis

J hat sich nach § 222 StGB strafbar gemacht. II. Strafbarkeit nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB, weil J keine Hilfe herbeiholte J könnte sich nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB strafbar gemacht haben, indem er nach der Kollision keine Hilfe per Handy herbei holte. 1. Objektiver Tatbestand

a) Kausale Erfolgsherbeiführung

Der Taterfolg, der Tod des F, ist eingetreten. J müsste die Verhinderungshandlung trotz Möglichkeit unterlassen haben. J hatte die Möglichkeit gehabt, mit seinem Handy Hilfe her-bei zu holen, dies tat er aber nicht. Auch war dieses Unterlas-sen, indem es nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Tod des J mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele, quasikausal für den Erfolg.

15 Vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 4), Rn. 412. 16 Vgl. Rengier (Fn. 2), § 52 Rn. 83.

b) Objektive Zurechenbarkeit

Durch sein Nichteinschreiten trotz Hilfsmöglichkeit setzte J die rechtlich missbilligte Gefahr, dass F an den Verletzungen sterben werde. Dass E durch ihr Unterlassen ebenfalls schuldhaft den T des F herbeiführte, kann die Zurechnung nicht unterbrechen, weil ein solches Dazwischentreten, wenn es den Zurechnungszusammenhang bei fahrlässiger Hand-lung des Ersttäters nicht unterbricht (s.o.), erst recht nicht den Zurechnungszusammenhang zu Lasten des vorsätzlich han-delnden Ersttäters unterbricht. c) Garantenstellung

Des Weiteren müsste J nach § 13 Abs. 1 StGB verpflichtet gewesen sein, die Handlung vorzunehmen, sich also in einer Garantenstellung befunden haben. Hier könnte sich eine Be-schützergarantenstellung aus Ingerenz, nämlich dem voran-gegangenen Tun des J ergeben haben. Wer durch rechtlich missbilligtes Verhalten die Gefahr eines Schadenseintritts heraufbeschwört, ist als Garant verpflichtet, den Schadens-eintritt zu verhindern.17 Durch sein sorgfaltswidriges Fahren schuf J die Lebensgefahr für den F, war also verpflichtet, diese als Garant abzuwenden. d) Gleichwertigkeit bezüglich aktiven Tuns

Das Nichteinschreiten des J entsprach auch im Sinne von § 13 Abs. 1 a.E. StGB aktivem Handeln. e) Zwischenergebnis

J erfüllte den objektiven Tatbestand. 2. Subjektiver Tatbestand

J müsste vorsätzlich, also mit Wissen und Wollen der Tatbe-standsverwirklichung gehandelt haben. J wusste um seine Möglichkeit Hilfe zu holen und erkannte auch, dass er da-durch den Erfolg abwenden konnte. Der Vorsatz des J könnte jedoch nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB ausgeschlossen sein mit Blick darauf, dass er im Tatzeitpunkt glaubte, sich allenfalls wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar zu machen, also keine Kenntnis von seiner Garantenpflicht hatte. Allerdings erkannte J die garantenstellungsbegründenden Umstände (Kollision) und unterlag nur einem Subsumtionsirrtum über seine Garantenpflicht. Dies schließt den Vorsatz nicht aus.18 A handelte also vorsätzlich, also auch subjektiv tatbestands-mäßig. 3. Rechtswidrigkeit

J handelte rechtswidrig. 4. Schuld

a) Schuldfähigkeit

A war schuldfähig (s.o.).

17 Vgl. Kühl (Fn. 12), § 18 Rn. 91. 18 Vgl. Roxin (Fn. 1), § 12 Rn. 101.

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Übungsfall: In der Gosse STRAFRECHT

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b) Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens

Möglicherweise war es dem J nicht zuzumuten, sich norm-gemäß zu verhalten. Die Pflichterfüllung ist unzumutbar, wenn der Garant durch sie eigene billigenswerte Interessen preisgeben würde, die dem Gewicht des drohenden Erfolges entsprechen; dabei müssen unter Berücksichtigung der Ret-tungschancen die widerstreitenden Interessen einschließlich des Grades der ihnen drohenden Gefahren gegeneinander abgewogen werden.19 Hier standen das höchst gefährdete Leben des F gegen das Interesse des J, nicht als Vortattäter entdeckt zu werden. Zwar genießt die Selbstbelastungsfrei-heit einen zentralen Status im Strafprozessrecht, aber das materielle Recht formuliert mit § 211 Abs. 2 Gr. 3 Alt. 2 StGB sowie mit § 142 StGB eine andere Gewichtung. Jeden-falls angesichts der Bedeutsamkeit des Lebens als höchstes Rechtsgut (vgl. auch Art. 2 Abs. 2 GG) und der sehr guten Rettungschancen (sowie auch der Möglichkeit eines anony-men Anrufs) war dem J das normgemäße Verhalten zuzumu-ten. Insoweit entfällt der Schuldvorwurf nicht. c) Verbotsirrtum

J unterlag, indem er davon ausging, er sei nicht im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB zum Handeln verpflichtet, einem Gebots-irrtum im Sinne von § 17 S. 1 StGB.20 Diesen hätte er aber angesichts dessen, dass nach allgemeiner Lebensauffassung die Herbeiführung einer Gefahrenlage zu deren Abwendung verpflichtet, bei gehöriger Anspannung des Gewissens21 ver-meiden können. Somit kommt als Rechtsfolge diesen Irrtums allenfalls eine Strafmilderung nach § 17 S. 2 StGB in Be-tracht, kein Schuldentfall nach § 17 S. 1 StGB. J handelte schuldhaft. 5. Ergebnis

J hat sich nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB strafbar gemacht. III. Konkurrenzen und Gesamtergebnis (Ausgangsfall)22

J ist strafbar nach § 222 und nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB. Aufgrund des zäsurbildenden neuen Tatentschlusses stehen diese beiden Delikte in Handlungsmehrheit, § 53 Abs. 1 StGB. Fraglich ist, ob Gesetzeskonkurrenz besteht, ob näm-lich die vorsätzliche Zweittat die fahrlässige Ersttat als mit-bestrafte Vortat konsumiert. Das ist der Fall, wenn der Un-rechtsgehalt der Ersttat den der Zweittat voll umfasst. Hier betreffen beide Taten denselben Erfolg; das Unrecht der fahrlässigen Tat ist, als Ingerenz, Basis der Vorsatztat. Somit umfasst die Zweittat voll das Unrecht der Ersttat, so dass die Ersttat zurücktritt. J ist im Gesamtergebnis strafbar nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB.

19 Rengier (Fn. 2), § 49 Rn. 47. 20 Vgl. Rengier (Fn. 2), § 49 Rn. 53. 21 Vgl. BGHSt 2, 201. 22 Die Konkurrenzen sind praktisch bedeutungsvoll; erst mit ihrer Klärung schließen Sie das Gutachten ab, weswegen hier keine Ungenauigkeiten unterlaufen sollten. Näheres zum Umgang mit den Konkurrenzen im Gutachten bei Steinberg/ Bergmann, Jura 2009, 905.

B. Abwandlung

I. Strafbarkeit nach § 222 StGB wegen der Kollision J könnte sich nach § 222 StGB strafbar gemacht haben, in-dem er mit seinem Auto mit F kollidierte. 1. Tatbestand

a) Kausale Erfolgsherbeiführung und objektive Sorgfaltswid-rigkeit

A führte den tatbestandsmäßigen Erfolg kausal herbei (s.o.). Seine Tathandlung war auch objektiv sorgfaltswidrig (s.o.). b) Objektive Zurechenbarkeit

Durch das Autofahren in alkoholisiertem und übermüdetem Zustand setzte er eine rechtlich missbilligte Todesgefahr. Fraglich ist der Pflichtwidrigkeitszusammenhang, ob also der Tod des F gerade auf der Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfalt beruhte. Wäre J nüchtern und ausgeruht gewesen, hätte er dem F trotzdem nicht ausweichen können, der Tod des F wäre also dennoch eingetreten.

Ob man der Risikoerhöhungslehre folgen mag, die den Pflichtwidrigkeitszusammenhang bereits dann bejaht, wenn die Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens das Erfolgsrisiko er-höht hat,23 kann angesichts dessen, dass über eine solche Risikoerhöhung im konkreten Fall nichts bekannt ist, dahin-stehen. Es entfällt somit zugunsten des J der Pflichtwidrig-keitszusammenhang, ebenso der Tatbestand. 2. Ergebnis

J hat sich nicht nach § 222 StGB strafbar gemacht. II. Strafbarkeit nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB, weil J keine Hilfe herbeiholte J könnte sich nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB strafbar gemacht haben, indem er dem F nach der Kollision keine Hilfe per Handy herbeiholte. 1. Objektiver Tatbestand

J führte den Tod des F durch sein Nichteingreifen trotz Mög-lichkeit quasikausal herbei (s.o.). Fraglich ist jedoch, ob J im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB zum Handeln verpflichtet, also Garant war. Anders als im Ausgangsfall beruhte die durch J gesetzte Lebensgefahr des F nicht auf der Sorgfaltswidrigkeit von J’s Verhalten, sondern auf dem rechtlich gebilligten Fahren eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr.

Auch sorgfaltskonformes Vorverhalten als Basis einer In-gerenz ausreichen zu lassen,24 missachtet, dass hierdurch die strafrechtliche Irrelevanz des Vorverhaltens widersprüchlich-erweise konterkariert würde25 und ausufernde Haftungen als Garant drohen.26 Für die betreffenden Fälle verbleibt die ausreichende Sanktionierungsmöglichkeit nach § 323c StGB. Daher ist sowohl bei sorgfaltskonformem Vorverhalten als

23 Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 88-105. 24 Vgl. Arzt, JA 1980, 715. 25 Vgl. Rengier (Fn. 2), § 50 Rn. 89. 26 Vgl. Joecks (Fn. 10), § 13 Rn. 58.

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auch – wie hier – bei Entstehung einer Gefahrenlage ohne Pflichtwidrigkeitszusammenhang eine Garantenstellung auf-grund von Ingerenz zu abzulehnen.27 J war also nicht Garant. Der objektive Tatbestand entfällt.

Hinweis: Die andere Ansicht ist vertretbar. 2. Ergebnis

J hat sich nicht nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB strafbar ge-macht. III. Gesamtergebnis (Abwandlung) J bleibt straflos.

27 Rengier (Fn. 2), § 50 Rn. 89.

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Examensklausur: Ein vertanes Talent und die Verlockungen des elektronischen Zah-lungsverkehrs Von Wiss. Mitarbeiter Sebastian Laudien, Hannover* Der Fall wurde im Wintersemester 2014/2015 als Examens-klausur im Rahmen des Hannoverschen Examensstudiums (HannES) gestellt. Die Klausur ist als schwer einzustufen. Auch wenn eine Durchfallquote i.H.v. 39% grundsätzlich als gering einzuschätzen ist, so wurde durchschnittlich nur eine Punktzahl von 3,7 Punkten erreicht; die Note „vollbefriedi-gend“ und besser erreichten nur zwei Bearbeiter.

Eine wesentliche Schwierigkeit der Klausur besteht darin, dass die Bearbeiter zunächst erkennen müssen, dass der ggf. exotisch anmutende Sachverhalt bekannte Rechtsgutsverlet-zungen zum Gegenstand hat. So gilt es Vermögens-, Ur-kunds-, Sachbeschädigungs- und Geheimnisschutzdelikte (§§ 202a f. StGB) zu prüfen. Auch wenn letztere typischer-weise nicht zum Kernbereich der Ausbildung gehören, ist ihre Praxisrelevanz umso größer.1 Sachverhalt Hacker H ist ein begnadetes Talent seiner Zunft. Da er weder Angebote der freien Wirtschaft noch des öffentlichen Diens-tes anzunehmen gedenkt, ist er aktuell noch auf prekäre Ar-beitsverhältnisse angewiesen. Zurzeit arbeitet er aushilfswei-se an der Rezeption eines Hotels. Dort ist er für die Abwick-lung der Zahlungsvorgänge zuständig. Aber auch hier schaut sich H nach weiteren Einkommensmöglichkeiten um. Er fasst den Entschluss in das Geschäft mit Kreditkartendaten und -betrügereien einzusteigen.

* Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht (Prof. Dr. Carsten Momsen) und Mitglied der Forschungsstelle für Bank- und Kapitalmarktrecht sowie Kapitalmarktstrafrecht an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover. 1 Vgl. Bundesministerium des Innern, Polizeiliche Kriminal-statistik 2013, S. 67 f. (im Internet abrufbar unter http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Nachrichten/Pressemitteilungen/2014/06/PKS2013.pdf?__blob=publicationFile [19.5.2015]); Bundeskriminalamt, Bundeslage-bild Zahlungskartenkriminalität 2013 (abrufbar unter www.bka.de/nn_193360/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Zahlungskartenkriminalitaet/zahlungskartenkriminalitaet__node.html?__nnn=truewww.bka.de [19.5.2015]; Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), BaFinJournal Februar 2015, S. 13 ff. [abrufbar unter http://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/BaFinJournal/2015/bj_1502.html [19.5.2015]; siehe auch exemplarisch für konkrete Vorfälle Diehl, Der Spiegel v. 18.8.2014, S. 36; Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.8.2014 (abrufbar unter http://www.faz.net/-gus-7su7x [19.5.2015]). Den Problem-schwerpunkten des Sachverhalts liegen die Entscheidungen BGH, Beschl. v. 14.1.2010 – 4 StR 93/09 = NStZ 2010, 275; BGH, Beschl. v. 6.7.2010 – 4 StR 555/09 = NStZ 2010, 154 (zum sog. Skimming) sowie BGH, Beschl. v. 14.2.2012 – 3 StR 392/11 = NStZ 2012, 627 (zur fehlenden Aneignungs-komponente bei Wegnahme) zugrunde.

Um einen ersten Datensatz zu erhalten, präpariert er das handelsübliche Lesegerät an der Hotelrezeption so, dass bei einer Zahlung mittels Kreditkarte (Zahlungskarte mit Garan-tiefunktion) nicht nur – wie gewohnt – die Kreditkartendaten vom Magnetstreifen für den Zahlungsvorgang ausgelesen werden, sondern unmittelbar vor Beginn dieser Datenübertra-gung die fraglichen Daten auch auf einem gesondert ange-brachten USB-Stick gespeichert werden. Im Zahlungsfall be-dient stets der Kunde das Lesegerät. Dabei wird weder der Zahlungsvorgang beeinflusst, noch bedurfte es eines größeren Manipulationsaufwands bezüglich des Lesegeräts, da die Da-ten unverschlüsselt auf dem Magnetstreifen gespeichert sind. Im Anschluss an die Datenerhebung beabsichtigt H entspre-chende Kartendubletten zu erstellen. Doch bevor er damit be-ginnen kann, fällt ihm auf, dass ihm – unbedacht wie er sei-nen ersten Coup nun mal angegangen ist – die persönlichen Identifikationsnummern (PINs) der jeweiligen Kreditkarten fehlen, sodass ein Geldabheben – anders als eigentlich beab-sichtigt – ohne diese nicht möglich sein wird. Enttäuscht ver-wirft er daher das weitere Vorgehen und vernichtet den Da-tensatz.

Nun aber will H professioneller vorgehen. Zu diesem Zweck verschafft er sich Zugang zu gegen unbefugten Zu-griff durch Dritte gesondert geschützte Server des Kreditinsti-tuts Cash Unltd. (C), um dort direkt sowohl die Kreditkarten-daten, die dazugehörigen Prüfnummern als auch die entspre-chenden PINs einer Vielzahl Kunden auszulesen. Dank seiner außerordentlichen IT-Fähigkeiten gelingt es ihm sogar die Kreditkartenlimits der betroffenen Konten aufzuheben, so-dass endlich „Geld ohne Ende“ fließen könne, so der H. In Besitz der neu gewonnenen Daten fertigt er tags darauf Kre-ditkarten-Dubletten an, indem er die Magnetstreifen von Kre-ditkarten-Rohlingen (sog. White-Plastics) mit den entspre-chenden Daten bespielt.

Für den „Eigenbedarf“ hat sich H insbesondere die Nut-zung der Kreditkartendaten seines wohlhabenden Nachbarn N vorbehalten, die zufällig auch Teil des Datensatzes sind. Mit der entsprechenden Dublette ausgestattet, sucht H mehre-re Filialen der C auf. An den dortigen Bankautomaten gelingt es ihm unter Eingabe der PIN insgesamt einen Betrag von 25.000 € abzuheben. Am Folgetag fällt H auf, dass er auch einen neuen Fernseher gebrauchen könnte. Kurzerhand be-stellt er einen Fernseher im Wert von 5.000 € online als Selbstabholer. Im Rahmen des Zahlungsvorgangs gibt er die Kreditkartendaten des N sowie die dazugehörige Prüfnummer ein. Diese Daten werden angenommen. Da sich N jedoch für Einkäufe in dieser Höhe gesondert für das sog. mTAN-Verfahren angemeldet hatte, stellt sich dem H eine neue Schwierigkeit. Denn nur wenn er zusätzlich die für jeden Einzelkauf mittels SMS an das Handy des N übermittelte mTAN eingibt, kann er den Bestellvorgang über den Fernse-her abschließen. Umgehend passt er den N im Hausflur ab und entwendet diesem geschickt dessen Handy. Die transak-tionsgebundene mTAN kann er daraufhin erfolgreich einge-

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ÜBUNGSFALL Sebastian Laudien

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ben. An dem Handy als solches hat H allerdings keinerlei Interesse, zurückgeben will er es dem N aber auch nicht. Daher zerstört er das Handy schließlich.

Da die Kreditkarte des N innerhalb kürzester Zeit mit enormen Beträgen belastet wurde, schlägt das Überwa-chungssystem der C Alarm. Das Kreditinstitut setzt sich mit N in Verbindung und lässt nachfragen, ob sich N die fragli-chen Zahlungen erklären könne. N, der soeben im Begriff ist eine von seiner Frau schon seit langem ersehnte Kette im Wert von 20.000 € zu kaufen, sieht eine günstige Gelegenheit gekommen. Noch bevor er auf die Nachfrage der C reagiert, flüstert er der Verkäuferin der Kette zu: „Mit Karte, bitte!“. Verunsichert aufgrund des diebischen Lächelns nimmt sie die Kreditkarte des N entgegen und – noch bevor dieser das Tele-fongespräch fortsetzt und die Kreditkarte in der Folge ge-sperrt werden kann – ist die Kette bezahlt. Dem Angestellten der C gibt er dann noch zu verstehen, dass er im Ausland sei und sich daher die Zahlungsflüsse im Inland nicht erklären könne, er aber selbstverständlich davon ausgehe, dass diese und „etwaige“ andere Belastungen – so wie er es aus zahlrei-chen Verbrauchermagazinen kenne – erstattet würden. Die durch den Angestellten veranlasste Sperrung der Karte kommt freilich zu spät, der Erstattungsbetrag zugunsten des N beläuft sich auf 50.000 €. Bearbeitervermerk Prüfen Sie die Strafbarkeit von H und N nach dem StGB. Strafanträge gelten als gestellt. Die §§ 145d, 152 ff., 164 StGB sind nicht zu prüfen. Lösungsvorschlag

Tatkomplex 1: Auslesen der Daten (sog. Skimming)

I. § 202a Abs. 1 StGB, Ausspähen von Daten H könnte sich des Ausspähens von Daten nach § 202a Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er im Zuge der Bearbei-tung der Zahlungsvorgänge die Kreditkartendaten der Hotel-kunden so hat auslesen lassen, dass sie auch ihm persönlich schließlich zur Verfügung standen.2

Die auf den Magnetstreifen hinterlegten Kreditkartenda-ten sind Daten im Sinne des § 202a Abs. 2 StGB.3 Da die den Kreis der Berechtigten determinierenden kartenausgebenden Kreditinstitute4 wohl kaum ein Interesse daran haben dürften, dass die Kreditkartendaten ihrer Kunden auch dem H persön-lich zur Kenntnis gelangen, ist mit dem Auslesen durch H von einem unbefugten Sich-Verschaffen der Daten auszuge-hen.5

Fraglich ist aber, ob die Kreditkartendaten mit einer be-sonderen Zugangssicherung versehen waren. Das Auslesen durch H hätte gerade unter Überwindung einer solchen Zu-gangssicherung erfolgen müssen. Nach dem BGH fehlt es bei

2 Instruktiv zum Prüfungsaufbau Jahn, JuS 2010, 1030 (1031). 3 Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (267). 4 Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 202a Rn. 8. 5 Vgl. Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (267).

Kreditkarten, deren Daten unverschlüsselt auf dem Magnet-streifen gespeichert sind, an einer besonderen Sicherung ge-gen unberechtigten Zugang im Sinne von § 202a Abs. 1 StGB.6 H konnte hier die entsprechenden Kreditkartendaten mittels eines handelsüblichen Lesegeräts auslesen. Auch wenn die Sicherung hier auf einem Magnetstreifen erfolgt und die Daten damit nicht unmittelbar wahrnehmbar sind, so ist darin gerade (noch) keine besondere Sicherung zu sehen.7 Darüber hinausgehende Schutzeinrichtungen, die einen unbe-rechtigten Zugriff ausschließen oder zumindest erheblich erschweren,8 sind – anders als z.T. bereits in der Praxis be-stehend9– nicht ersichtlich. Mithin scheiden die betroffenen Kreditkarten als taugliche Tatobjekte im Sinne von § 202a Abs. 1 StGB aus. II. § 202b StGB, Abfangen von Daten Das Auslesen und anschließende Speichern der Daten erfolgt unmittelbar vor Beginn der Datenübertragung. Mithin fängt H keine Daten aus einer nichtöffentlichen Datenübermittlung ab, sondern bildet gerade den Empfänger des vorgeschalteten Auslesens der Daten.10 III. §§ 263a Abs. 1 Alt. 3, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB, Compu-terbetrug Eine Strafbarkeit wegen Computerbetrugs ist nur nach § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB denkbar, denn bei der Kreditkartennut-zung durch die Kunden am Lesegerät erfolgt grundsätzlich eine Verwendung richtiger Daten.11 Tatbestandlich erfasst ist dabei nicht nur die eigenhändige, sondern auch eine mittelba-re Eingabe in den Datenverarbeitungsvorgang, bei der sich der Täter einer anderen, vorsatzlos handelnden Person – der jeweiligen Kreditkartenkunden – bedient.12 Der Streitstand, ob die Verwendung unbefugt vorgenommen wurde („unbe-fugte Verwendung von Daten“) kann hier dahin stehen,13 da es dem (bloßen) Auslesen der Daten bereits an einer Beein-flussung eines Datenverarbeitungsvorgangs fehlt; denn das Ergebnis des Zahlungsvorgangs wird gerade nicht beein-flusst. Damit besteht keine Strafbarkeit nach § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB.

6 BGH, Beschl. v. 14.1.2010 – 4 StR 93/09 = NStZ 2010, 275 und BGH, Beschl. v. 6.7.2010 – 4 StR 555/09 = NStZ 2010, 154. 7 BGH, Beschl. v. 6.7.2010 – 4 StR 555/09 = NStZ 2010, 154. 8 Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 11. Aufl. 2014, § 202a Rn. 13. 9 Hierzu auch Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 f. 10 Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (268) 11 Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kom-mentar, 62. Aufl. 2015, § 263a Rn. 9. 12 Fischer (Fn. 11), § 263a Rn. 8. 13 Näher dazu Wohlers/Mühlbauer, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl. 2014, § 263a Rn. 36 ff; Fischer (Fn. 11), § 263a Rn. 10 ff.

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Ein vertanes Talent und die Verlockungen des elektronischen Zahlungsverkehrs STRAFRECHT

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IV. § 303b Abs. 1 StGB, Computersabotage Auch fehlt es einer Strafbarkeit wegen Computersabotage an einem tatbestandlichen Erfolg. Beim (bloßen) Auslesen der Daten fehlt es an einer Verursachung einer erheblichen Stö-rung im Sinne des § 303b Abs. 1 StGB.14 V. § 303a Abs. 1 Alt. 4 StGB, Datenveränderung Gleichsam kommt es auch nicht zu einer rechtswidrigen Ver-änderung von Daten, sodass auch eine Strafbarkeit wegen Datenveränderung ausgeschlossen ist. VI. § 303 Abs. 1 StGB, Sachbeschädigung Auch wenn das Auslesen keine Datenveränderung mit sich bringt, so könnte indes die Manipulation des Lesegeräts eine Sachbeschädigung begründen. Je nach Sachverhaltsinterpre-tation und entsprechender Darlegung im Rahmen der Prüfung ist hier sowohl die Annahme als auch Ablehnung der Sachbe-schädigung betreffend das Tatbestandsmerkmal des Beschä-digens als nicht ganz unerhebliches substantielles Einwirken nach § 303 Abs. 1 StGB vertretbar.15 Regelmäßig wird es beim Skimming aber nicht zu Substanzeinwirkungen kom-men. VII. §§ 269 Abs. 1 Alt. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB, Fälschung beweiserheblicher Daten H beabsichtigt mit den ausgelesenen Daten Kartendubletten zu erstellen. Hierfür ist zunächst deren Speicherung auf ei-nem USB-Stick erforderlich. Auch wenn die gespeicherten Daten für sich mangels Wahrnehmbarkeit, also fehlender Perpetuierung, (noch) keine unechte Urkunde im Sinne von § 267 StGB darstellen,16 so könnte sich H gleichwohl mit der Speicherung wegen Fälschung beweiserheblicher Daten in mittelbarer Täterschaft nach §§ 269 Abs. 1 Alt. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er die unwissen-den Kreditkartenkunden dazu veranlasst an dem von ihm präparierten Lesegerät zu zahlen, um so die Daten vom Mag-netstreifen auslesen und sie schließlich auf dem USB-Stick speichern zu können. 1. Objektiver Tatbestand

Als beweiserhebliche Daten gelten solche, die dazu bestimmt sind, bei einer Verarbeitung im Rechtsverkehr als Beweisda-ten für rechtlich erhebliche Tatsachen benutzt zu werden,17 d.h. für ein Rechtsverhältnis Beweis zu erbringen.18 Die den Zahlungsvorgang ermöglichenden Kreditkartendaten bilden solche Daten, denn die auf dem Magnetstreifen hinterlegten Daten beinhalten eine Garantieerklärung des kartenausgeben-den Kreditinstituts zugunsten des Karteninhabers.19

14 Näher Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 303b Rn. 9. 15 Fischer (Fn. 11), § 303 Rn. 6. 16 Vgl. Joecks (Fn. 8), § 269 Rn. 1. 17 Fischer (Fn. 11), § 269 Rn. 4. 18 Joecks (Fn. 8), § 269 Rn. 6. 19 Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (268 f.).

Mit der Sicherung auf dem USB-Stick speichert H die Daten auch in der Weise, dass bei Überführung in ein wahr-nehmbares Falsifikat – bspw. durch Erstellung einer Karten-dublette auf der Grundlage dieser Daten – eine unechte Ur-kunde vorliegen würde; denn allein die auf dem Magnetstrei-fen hinterlegten Daten genügen, um bei Erstellung einer Kartendublette den Anschein einer weiteren Gedankenerklä-rung zu erregen.20 Die Kenntnis der PIN braucht es dafür nicht.

Die unwissenden Kreditkartenkunden handeln im Zeit-punkt des Zahlungsvorgangs als absichtslos-doloses Werk-zeug bezüglich des Speicherns und mithin der Fälschung be-weiserheblicher Daten im Sinne von § 269 Abs. 1 Alt. 1 StGB. 2. Subjektiver Tatbestand

H handelt demgegenüber gerade mit dem Willen, die Kredit-kartenkunden kraft überlegenden Wissens zum Zwecke der Speicherung der beweiserheblichen Daten einzusetzen, indem er sie zur Zahlung am Lesegerät veranlasst. Somit handelt er vorsätzlich als mittelbarer Täter.

Zudem kam es H gerade darauf an, die beweiserheblichen Daten zu speichern; mithin handelte er vorsätzlich bezüglich des objektiven Tatbestands. Auch handelt H im Zeitpunkt der Tat mit dem Willen die beweiserheblichen Daten, wenn auch nicht zur Täuschung im Rechtsverkehr, so jedoch wohl zur nach § 270 StGB gleichgestellten fälschlichen Beeinflussung einer Datenverarbeitung im Rechtsverkehr einzusetzen, weil er die Kartendubletten für Geldabhebungen an einem Auto-maten einzusetzen beabsichtigte. Dass H das weitere Vorge-hen nach der Speicherung verwirft, ist unbeachtlich.

Hinweis: Wird unter dem Begriff des Geldabhebens indes die Nutzung eines Bankschalters verstanden, so bliebe es in Bezug auf den zu täuschenden Schalterangestellten bei einer Täuschung im Rechtsverkehr.

3. Rechtswidrigkeit/Schuld

Hinweis: An dieser Stelle ist allein mit dem Behauptungs-stil (Urteilsstil) zu operieren, mithin verbietet sich eine gutachterliche Darstellung des Prüfungspunktes.21

4. Strafzumessung

H könnte Regelbeispiele nach § 269 Abs. 3 i.V.m. § 267 Abs. 3 StGB verwirklicht haben. H schaut sich nach weiteren Einkommensquellen um und beabsichtigt in das Geschäft mit Kreditkartendaten und -betrügereien einzusteigen, sodass davon auszugehen ist, dass er sich dergestalt durch wieder-holte Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende und nicht

20 Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (268). 21 Instruktiv zur Wahl des (jeweils) sachangemessenen Stils in der (Klausur-)Bearbeitung Lagodny/Mansdörfer/Putzke, ZJS 2014, 157 (159).

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ÜBUNGSFALL Sebastian Laudien

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ganz unerhebliche Einnahmenquelle verschaffen will; mithin handelt er gewerbsmäßig im Sinne von Abs. 3 Nr. 1.22

Hinweis: Bei entsprechender Darstellung ist freilich auch Gegenteiliges vertretbar.

Auch könnte H die Sicherheit des Rechtsverkehrs angesichts der großen Zahl der betroffenen beweiserheblichen Daten gem. Abs. 3 Nr. 3 erheblich gefährdet haben. Das Vorliegen einer solchen Gefährdung ist normativ zu bestimmen.23 Selbst wenn also die z.T. in der Lit. vertretene Grenze von 20 Tatobjekten wohl überschritten worden sein dürfte,24 so fehlt es gleichwohl an hinreichenden Hinweisen darauf, dass be-reits damit eine erhebliche Beeinträchtigung der Sicherheit des Rechtsverkehrs gegeben ist. Nicht zuletzt verwirft H – noch bevor er erste Dubletten herstellen kann – das weitere Vorgehen. 5. Ergebnis

H hat sich nach § 269 Abs. 1 Alt. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB strafbar gemacht. Tatkomplex 2: Zugriff auf die Server der C/Aufheben der Kreditkartenlimits/Erstellung der Kreditkarten-Dubl et-ten

I. § 202a StGB, Ausspähen von Daten Indem sich H Zugang zu den mit besonderer Zugangssiche-rung versehenen Servern der C verschafft und dort Kreditkar-tendaten einschließlich Prüfnummern und PINs einer Viel-zahl Kunden ausliest, hat er sich Zugriff auf Daten im Sinne von § 202a Abs. 2 StGB, die nicht für ihn bestimmt sind, unter Überwindung einer besonderen Zugangssicherung ver-schafft. H handelt vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft. Von einer Strafantragsstellung nach § 205 Abs. 1 StGB ist auszugehen. Mithin besteht eine Strafbarkeit nach § 202a Abs. 1 StGB. II. § 303a Abs. 1 Alt. 4 StGB, Datenveränderung Mit der Aufhebung der Kreditkartenlimits hat H, ohne dazu befugt zu sein, den Informationsgehalt (Aussagewert) der jeweiligen Kreditkartendaten (Daten im Sinne von § 202a Abs. 2 StGB, s.o.), insoweit verändert, als sie ihren ursprüng-lichen Verwendungszweck – den Verfügungsrahmen für die einzelnen Kreditkarten zu begrenzen – nicht länger erfüllen.25 Da ein Strafantrag nach § 303c StGB als gestellt gilt, besteht somit auch eine Strafbarkeit nach § 303a Abs. 1 Alt. 4 StGB.

22 Ausführlich Fischer (Fn. 11), Vor § 52 Rn. 61 f. 23 Vgl. Fischer (Fn. 11), § 267 Rn. 54. 24 Wittig, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Straf-gesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 267 Rn. 100 m.w.N; a.A. Heine/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 267 Rn. 108. 25 Näher Stree/Hecker (Fn. 14), § 303a Rn. 2 ff., 8.

III. § 269 Abs. 1 Alt. 1 StGB, Fälschung beweiserhebli-cher Daten Um die ausgespähten Kreditkartendaten auf die Magnetstrei-fen der Karten-Rohlinge spielen zu können, ist es zwingend erforderlich auch diese zuvor auf einem Datenträger zu spei-chern, wobei H erneut beweiserhebliche Daten in der Weise speichert, dass bei anschließender Erstellung der Kartendub-letten eine unechte Urkunde vorliegt (s.o.). H handelt aber-mals vorsätzlich bezüglich der Merkmale des objektiven Tatbestands sowie mit dem Willen einen Datenverarbeitungs-vorgang im Rechtsverkehr fälschlich beeinflussen zu wollen (§ 270 StGB, vgl. oben). Rechtswidrigkeit und Schuld sind gegeben. Aus strafzumessungsrechtlicher Sicht ist auch hier von gewerbsmäßigem Handeln (§ 269 Abs. 3 i.V.m. § 267 Abs. 3 Nr. 1 StGB) auszugehen. Da H Dubletten auf der Grundlage aller erhaltenen Kreditkartendaten anfertigt, kann davon ausgegangen werden, dass auch ohne Kenntnis über deren weitere Verwendung eine erhebliche Gefährdung für die Sicherheit des Rechtsverkehrs besteht, denn die Vielzahl betroffener Kunden dürfte sich, wenn sie von dem Ausspähen ihrer Daten Kenntnis hätte, veranlasst sehen, rechtserheblich aktiv zu werden.26 Somit hat sich H nach § 269 Abs. 1 Alt. 1 StGB strafbar gemacht. IV. § 267 Abs. 1 Alt. 1 StGB, Urkundenfälschung Mit der Überführung der Kreditkartendaten in wahrnehmbare Kartendubletten bilden diese nun auch verkörperte menschli-che Gedankenerklärungen. Da sie die C als kartenausgeben-des Kreditinstitut bei gewöhnlicher Nutzung im Bankautoma-tenverkehr als Aussteller der Kartendubletten erkennen las-sen,27 obwohl deren tatsächlicher Aussteller der H ist, besteht auch eine Strafbarkeit nach § 267 Abs. 1 Alt. 1 StGB wegen Herstellung unechter Urkunden. Bezüglich § 267 Abs. 3 StGB gilt das zu § 269 Abs. 3 StGB Gesagte entsprechend. V. Konkurrenzen § 269 StGB tritt neben § 267 StGB, da die Dubletten die Garantieerklärung zugunsten der Karteninhaber sowohl op-tisch wahrnehmbar als auch in magnetisch codierter Form auf dem Magnetstreifen mit sich führen.28 Auch im Übrigen stehen die Delikte in Idealkonkurrenz. Tatkomplex 3: Einsatz der Dublette der Kreditkarte des N/Kauf des Fernsehers

I. § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB, Computerbetrug (durch das Geldabheben) Indem H an den Bankautomaten der C mit Hilfe der Dublette der Kreditkarte des N Geld abhebt, könnte er sich des Com-puterbetrugs strafbar gemacht haben.

26 Vgl. Heine/Schuster (Fn. 23), § 267 Rn. 108. 27 Näher zum Begriff der Gedankenerklärung i.S.d. § 267 StGB Fischer (Fn. 11), § 267 Rn. 3; vgl. hierzu auch Seidl/ Fuchs, HRRS 2011, 265 (268). 28 Erb, in: Joecks/Miebach (Fn. 13), § 267 Rn. 221.

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1. Objektiver Tatbestand

Da die auf dem Magnetstreifen der Dublette kopierten Kre-ditkartendaten denen auf der Originalkarte entsprechen, ver-mitteln beide den gleichen Informationsgehalt. Mithin ist auch im Einsatz der Dublette eine Verwendung richtiger Daten im Sinne von § 263a StGB zu sehen.29 Die Verwen-dung müsste unbefugt erfolgt sein. Berechtigter Karteninha-ber ist der N. Bedient sich indes H dieser Daten mittels der erstellten Dublette, so erfolgt dies ohne Berechtigung der kartenausgebenden C, die die Garantieerklärung nur zuguns-ten des N erteilt hat (s.o.). Erfolgt nun mit Hilfe der Dublette eine Eingabe dieser Daten in den Datenverarbeitungsvorgang der Bankautomaten, so ist zwar das Ergebnis inhaltlich rich-tig, da die eingegebenen Daten einschließlich PIN grundsätz-lich zur Abhebung berechtigen; jedoch nur in Bezug auf N. Die Auszahlung an H stellt damit insofern ein kausal herbei-geführtes unzutreffendes und beeinflusstes Ergebnis eines Datenverarbeitungsvorgangs dar, als die Auszahlung unbe-fugtermaßen erfolgt.30

Die Auszahlungen wirken unmittelbar vermögensmin-dernd. Fraglich ist aber, ob und bei wem ein kausaler Vermö-gensschaden eintritt. Zwar wird mit den Abhebungen das Konto des N im Verhältnis zu C auf der Grundlage des mit ihr geschlossenen Zahlungsdienstevertrags (§ 675f BGB) belastet, diese Zahlungsvorgänge sind aber nach § 675j Abs. 1 S. 1 BGB nur dann gegenüber N wirksam, wenn die-ser den Zahlungsvorgängen zugestimmt hat. An einer solchen Autorisierung fehlt es hier aber gerade, sodass N gegen die C gem. § 675u S. 2 BGB einen Anspruch auf Erstattung der Überweisungsbeträge hat. Einwendungen dagegen sind nicht ersichtlich. Mithin lässt sich in Bezug auf N bei einem Ver-gleich der Gesamt-Vermögenslage vor und nach den (Ein-zel-)Verfügungen kein Vermögensschaden feststellen.31 Gleichwohl lässt sich ein solcher aufseiten der C feststellen, denn diese trägt den wirtschaftlichen Schaden der durch sie getätigten Auszahlungen. 2. Subjektiver Tatbestand

H handelt mit Vorsatz bezüglich der Merkmale des objekti-ven Tatbestands. Auch kommt es ihm gerade darauf an sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen; mithin handelt H mit dem Willen eine rechtswidrige, stoffgleiche Bereicherung vorzunehmen. 3. Rechtswidrigkeit/Schuld

Hinweis: Siehe Fn. 21.

4. Strafzumessung

Insoweit man die Abhebungen auch im Zusammenhang mit dem Ausgangsmotiv des H sieht, weitere Einnahmequellen

29 Wohlers/Mühlbauer (Fn. 13), § 263a Rn. 28. 30 Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (271); vgl. auch BGH, Urt. v. 22.11.1991 – 2 StR 376/91 = NStZ 1991, 180; Joecks (Fn. 8), § 263a Rn. 25. 31 Fischer (Fn. 11), § 263 Rn. 88.

erschließen zu wollen, ist abermals das Regelbeispiel des gewerbsmäßigen Handelns (§ 263a Abs. 2 i.V.m. § 263 Abs. 3 Nr. 1) erfüllt. Von einem Vermögensverlust großen Ausmaßes (Abs. 3 Nr. 2) kann bei einem Gesamtbetrag von 25.000 € regelmäßig noch nicht ausgegangen werden.32 5. Ergebnis

H hat sich nach § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB strafbar gemacht. II. § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB, Computerbetrug (durch die Internetbestellung) Mit der Eingabe der Kreditkartendaten, der Prüfnummer sowie der transaktionsgebundenen mTAN nimmt H erneut eine Verwendung richtiger Daten im Sinne von § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB vor (s.o.). Gleichermaßen führt auch die Eingabe im Rahmen des Bestellvorgangs insofern zu einem kausal herbeigeführten unzutreffenden Ergebnis eines Datenverar-beitungsvorgangs, als die Überprüfung der Kreditkartendaten (einschließlich Prüfnummer) sowie der mTAN grundsätzlich eine Berechtigung zur Zahlung mit der Kreditkarte des N suggerieren, ihre Verwendung gleichwohl aber unbefugter-maßen erfolgt.

H handelt vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft. Aus strafzumessungsrechtlicher Sicht gilt das unter I. 4. Gesagte entsprechend. Es besteht eine Strafbarkeit nach § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB. III. § 242 Abs. 1 StGB, Diebstahl Das Handy des N ist eine fremde bewegliche Sache für H. Mit dessen Entwendung bricht er fremden und begründet eigenen Gewahrsam; verwirklicht also das objektive Tatbe-standsmerkmal der Wegnahme.

Bezüglich der Verwirklichung der objektiven Tatbe-standsmerkmale ist ihm jedenfalls dolus eventualis vorzuwer-fen. H müsste zudem mit Zueignungsabsicht gehandelt ha-ben. H wollte zwar Zugriff auf das Handy des N nehmen, jedoch nur deshalb, um sich anschließend in Kenntnis der mTAN zu setzen. Mithin ist fraglich, ob H somit auch mit dem Willen handelt, das Handy wenigstens vorübergehend in seinen Vermögensbestand aufnehmen zu wollen (Aneig-nungsabsicht). Nach Auffassung des BGH fehlt es an einer Aneignungskomponente, wenn der Täter nur die (bloße) Ver-wertung der auf einem Datenträger gespeicherten Daten unter Zuhilfenahme des die Daten beinhaltenden Geräts beabsich-tigt.33 Hier besteht gerade kein darüber hinausgehendes ver-mögensrelevantes Interesse des H; im Zeitpunkt der Weg-nahme beabsichtigte er sich weder den Substanz- oder Sach-wert des Handy anzueignen noch dessen Wert durch den vor-übergehenden Gebrauch zu mindern.34 Die ausgeübte Eigen-

32 Anstatt vieler Fischer (Fn. 11), § 263 Rn. 215a. 33 BGH, Beschl. v. 14.2.2012 – 3 StR 392/11 = NStZ 2012, 627. 34 Vgl. BGH, Beschl. v. 14.2.2012 – 3 StR 392/11 = NStZ 2012, 627; zust. Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 37. Aufl. 2014, Rn. 152; Hecker, JuS 2013, 468 (469); abl. Jäger, JA 2012, 709 f.; weitere Fälle, in denen es

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ÜBUNGSFALL Sebastian Laudien

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macht beschränkte sich hier ausschließlich auf das Interesse der – hier aufgrund fehlender Überwindung besonderer han-dyeigener Zugangssicherungen – tatbestandslosen Ausspä-hung der mTAN.35 Auch dürfte zweifelhaft sein, ob H im Zeitpunkt der Wegnahme bereits mit Enteignungsvorsatz handelt, da der Entschluss, das Handy schließlich zerstören zu wollen, im Zeitpunkt der Wegnahme noch nicht abschlie-ßend gefasst war. Mithin besteht keine Strafbarkeit nach § 242 Abs. 1 StGB. IV. § 246 Abs. 1 StGB, Unterschlagung Auch fehlt es in Bezug auf die Zerstörung des Handy an einer Manifestation des Zueignungswillens. Eine äußerlich in Er-scheinung tretende Zueignungshandlung, die sich nach Maß-gabe der auf eine vermögensrelevante Bestandsänderung ab-zielende Zueignungsabsicht gem. § 242 StGB bestimmt,36 kann bereits gedankenlogisch nicht in der Zerstörung des Handy gesehen werden, da dies gerade kein Verhalten zum Ausdruck bringt, wonach sich H die Sache selbst oder den in ihr verkörperten Wert zumindest vorübergehend aneignet. Dies ist allein für den Fall des eigennützigen – also bestim-mungsgemäßen – Verbrauchs einer Sache denkbar.37

Mit der Zerstörung des Handys hat sich H also auch nicht nach § 246 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. V. § 303 Abs. 1 StGB, Sachbeschädigung Mit der Zerstörung des Handy verwirklicht H aber eine Straf-barkeit nach § 303 Abs. 1 StGB. VI. § 269 Abs. 1 Alt. 3 StGB, Fälschung beweiserhebli-cher Daten Sowohl durch das Geldabheben mittels Dublette als auch durch Eingabe der Kreditkarten im Rahmen des Bestellvor-gangs gebraucht H die zuvor tatbestandlich gespeicherten beweiserheblichen Daten. VII. § 267 Abs. 1 Alt. 3 StGB, Urkundenfälschung Jedenfalls der Einsatz der Kartendublette begründet auch eine Strafbarkeit nach § 267 Abs. 1 Alt. 3 StGB wegen Gebrau-chens einer unechten Urkunde. VIII. Konkurrenzen Idealkonkurrenz (§ 52 StGB) besteht jeweils für den Einsatz der Dublette der Kreditkarte des N bzw. den Kauf des Fern-sehers zwischen §§ 263a, 267 Abs. 1 Alt. 3, 269 Abs. 1 Alt. 3 StGB. Zudem bildet §§ 267 Abs. 1 Alt. 3, 269 Abs. 1 Alt. 3 StGB nach ständiger Rechtsprechung mit den in Tatkomplex 2 verwirklichten Urkundsdelikten nur eine Tat.38 Im Übrigen an einer Aneignungskomponente fehlt BGH, Urt. v. 27.1.2011 – 4 StR 502/10 = NStZ 2011, 699 (Kutten-Fall); OLG Nürnberg, Beschl. v. 7.11.2012 – 1 StOLG Ss 258/12 = NStZ-RR 2012, 78 (Fanjacken-Fall). 35 Vgl. Hecker, JuS 2013, 468 (469). 36 Vgl. Wessels/Hillenkamp (Fn. 33), Rn. 309. 37 Wessels/Hillenkamp (Fn. 33), Rn. 153. 38 Vgl. Fischer (Fn. 11), § 267 Rn. 58; § 269 Rn. 12.

besteht zwischen den Strafbarkeiten in Tatkomplex 3 Real-konkurrenz (§ 53 StGB). Tatkomplex 4: Die Zahlung des N

I. § 266 Abs. 1 StGB, Untreue Für eine Untreue-Strafbarkeit fehlt es dem N bereits an einer (echten) Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB gegenüber dem kartenausstellenden Kreditinsti-tut, der C. II. § 266b Abs. 1 Alt. 2 StGB, Missbrauch von Scheck- und Kreditkarten Gleichwohl könnte sich N nach § 266b Abs. 1 Alt. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er die ihm von der C als Aus-steller überlassene Kreditkarte missbräuchlich einsetzt und C damit zu einer Zahlung veranlasst. In der Tat veranlasst N mit dem Kauf der Kette die C wirksam zur Zahlung i.H.v. 20.000 €. Fraglich ist aber, ob N damit missbräuchlich han-delt. Missbräuchlich handelt, wer wirksam nach außen, im Rahmen seines rechtlichen Könnens, die ihm im Innenver-hältnis gesetzten Grenzen (rechtliches Dürfen) überschrei-tet.39 Die Missbrauchsmöglichkeiten durch den berechtigten Karteninhaber ergeben sich daher aus dessen vertraglichen Hauptpflichten gegenüber dem Aussteller; (bloße) Neben-pflichtverletzungen vermögen nicht die mit dem Merkmal des Missbrauchs im Sinne des § 266b Abs. 1 StGB geforderten gravierenden Vertragsverletzungen zu begründen.40 Die ver-traglichen Hauptpflichten des berechtigten Karteninhabers beschränken sich regelmäßig darauf, dass die Kreditkarte nur innerhalb des vereinbarten Verfügungsrahmens zu nutzen ist (vgl. § 675k BGB) und die Forderungen des Ausstellers je-weils zum Fälligkeitszeitpunkt zu befriedigen sind.41 Ein Verfügungsrahmen besteht für die Kreditkarte des N ohnehin nicht mehr (s.o.). Auch ist von der Solvenz des N auszuge-hen. Ob auch darüber hinausgehende Rücksichtnahmepflich-ten bestehen, die ggf. dadurch verletzt worden sind, dass N die Kreditkarte nutzt, obwohl er von C kontaktiert und mit dem Verdacht des Missbrauchs seiner Kreditkartendaten kon-frontiert wird und zudem daraufhin wahrheitswidrig angibt, dass er sich im Ausland aufhalte – mithin also weder für die fraglichen noch weitere inländische Belastungen verantwort-lich ist –, ist nicht relevant, da diese allenfalls unbeachtliche Nebenpflichtverletzungen zu begründen vermögen. Mithin fehlt es an einer missbräuchlichen Nutzung der Kreditkarte. III. § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB, Computerbetrug Auch hat N mit der Zahlung unter Nutzung seiner Kreditkarte keine richtigen Daten zur Beeinflussung des Ergebnisses eines Datenverarbeitungsvorgangs verwendet, da er die Daten – anders als in Tatkomplex 3 I. – gerade nicht unbefugterma-

39 BGH, Beschl. v. 3.12.1991 – 4 StR 538/91 = NStZ 1991, 278; Joecks (Fn. 8), § 266b Rn. 12. 40 BGH, Beschl. v. 3.12.1991– 4 StR 538/91 = NStZ 1991, 278 (279). 41 Rengier, in: Hilgendorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Heinz zum 70. Geburtstag, 2012, S. 808 (813 f.).

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Ein vertanes Talent und die Verlockungen des elektronischen Zahlungsverkehrs STRAFRECHT

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ßen einsetzt. Dies wäre nur denkbar, wenn die Kreditkarte bereits im Zeitpunkt der Zahlung gesperrt gewesen und eine Zahlung gleichwohl erfolgt wäre. IV. § 263 Abs. 1 StGB, Betrug (ggü. dem Angestellten der C, zulasten der C) Mit der wahrheitswidrigen Aussage, dass er derzeit im Aus-land sei und daher im Inland keine Zahlungen der C veranlas-sen könne, täuscht N den für die C handelnden Bankange-stellten über die Tatsache, dass er soeben die Zahlung der Kette vorgenommen hat (Dreiecksbetrug). Aufgrund dessen besteht auf Seiten der C irrtümlich der Eindruck, dass auch die mit dem Kauf der Kette einhergehende Belastung auf eine missbräuchliche Nutzung der Kreditkartendaten des N durch Dritte zurückzuführen ist. Infolgedessen verfügt der Ange-stellte der C vermögenswirksam in Gestalt des Erstattungsbe-trags i.H.v. 50.000 €. Da jedoch in der Zahlung der Kette ein autorisierter Zahlungsvorgang zu sehen ist, besteht nach § 675u S. 1 BGB tatsächlich nur ein Erstattungsanspruch i.H.v. 30.000 € des N gegen die C. Somit besteht ein Vermö-gensschaden in Höhe des Kaufpreises der Kette (20.000 €).

N handelt vorsätzlich bezüglich der Merkmale des objek-tiven Tatbestands. Auch wollte er sich gerade um den in der Kette liegenden rechtswidrigen, stoffgleichen Vermögensvor-teil bereichern. N handelt rechtswidrig und schuldhaft. Dem-nach besteht eine Strafbarkeit nach § 263 Abs. 1 StGB.

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BGH, Urt. v. 25.6.2014 – VIII ZR 10/14 Singbartl/Dziwis _____________________________________________________________________________________

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E n t s c h e i d u n g s b e s p r e c h u n g

Fristwahrender Widerspruch gegen Mietvertragsfortset-zung bei demnächst erfolgender Zustellung Die Frist für die Erklärung des Widerspruchs gegen die stillschweigende Verlängerung des Mietverhältnisses (§ 545 BGB) wird durch eine vor Fristablauf eingereichte und gem. § 167 ZPO „demnächst“ zugestellte Räumungs-klage gewahrt. (Amtlicher Leitsatz). BGB §§ 545, 573a, 573c, 204; ZPO § 167 BGH, Urt. v. 25.6.2014 – VIII ZR 10/14 (LG Kassel, AG Kassel)1 I. Einleitung Die vorliegende Entscheidung behandelt die schon seit Jahr-zehnten umstrittene Frage, ob § 167 ZPO auch für solche Fristen gelten soll, die durch außergerichtliche Geltendma-chung gewahrt werden können.2 Dabei ist hiesiges Urteil examensrelevant, weil man zum einen die Kündigungsvor-aussetzungen prüfen muss und zum anderen die eventuelle stillschweigende Verlängerung des Mietverhältnisses gem. § 545 BGB zu thematisieren hat.3 Ferner ist aber auch beach-tenswert, dass die vorliegende Judikatur nicht nur ein miet-rechtliches Spezifikum darstellt, sondern vielmehr über die mietrechtlichen Grenzen hinaus Sprengkraft entfaltet. So stellt sich beispielsweise das Parallelproblem im Arbeitsrecht bei § 15 Abs. 4 AGG. Für die Geltendmachung seines Ent-schädigungsanspruchs muss der Arbeitnehmer bzw. der Be-werber die materielle Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG einhalten. Auch auf diesem arbeitsrechtlich geprägten Gebiet ist fraglich, ob gemäß § 167 ZPO, der eine Vorverlagerung auf den Zeitpunkt der Anhängigkeit anordnet, bereits die fristgerechte Einreichung einer Klage, die erst nach Fristab-lauf dem Beklagten zugestellt und somit rechtshängig wird, zur Fristwahrung ausreichend ist.4 Das hier zu besprechende Urteil ist vor allem für Studierende besonders lehrreich. Denn es erfordert eine grundsätzliche Beschäftigung mit dem Sinn

1 Die Entscheidung ist abrufbar unter https://www.jurion.de/Urteile/BGH/2014-06-25/VIII-ZR-10_14 (17.5.2015). 2 Vgl. die Kehrtwende des Bundesgerichtshofs in BGHZ 177, 319 = NJW 2009, 765. 3 In folgender Urteilsbesprechung wird jedoch nicht auf die Wirksamkeit der Kündigung eingegangen, da Schwerpunkt die Behandlung von § 167 ZPO sein soll. 4 Vgl. hierzu die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, in der dieses entschieden hat, dass § 167 ZPO auch auf die Gel-tendmachung des Anspruchs nach § 15 Abs. 4 AGG Anwen-dung finde, selbst wenn die Fristwahrung auch außergericht-lich möglich ist; vgl. BAG NZA 2014, 924, in dem die ältere anders lautende Rechtsprechung aufgegeben wird. Vgl. als Beispiel für die ältere Rechtsprechung BAG NZA 1998, 1225.

und Zweck des § 167 ZPO sowie mit der Fragestellung, ob eine nahezu inflationär anmutende Ausweitung des Anwen-dungsbereichs der genannten zivilprozessrechtlichen Vor-schrift angezeigt ist. II. Sachverhalt Gegenstand des Streits zwischen der vermietenden Klägerin und ihrem Sohn, dem beklagten Mieter, bildete die Frage nach dem Fortbestand des zwischen den bezeichneten Partei-en jedenfalls seit Sommer 2011 existierenden Mietvertrages. Am 5.1.2012 kündigte die Klägerin, welche Nießbraucherin an einem im Eigentum eines Bruders des Beklagten stehen-den Einfamilienhaus war und dieses ebenfalls bewohnte, das Mietverhältnis mit Wirkung zum 31.7.2012 (§§ 573c Abs. 1 S. 1, 573a Abs. 1 S. 2 BGB).5 Indes räumte der Beklagte die Wohnung nicht, sodass eine auf §§ 546 Abs. 1, 549 Abs. 1, 985 BGB gestützte Räumungsklage am 7.8.2012 eingereicht wurde. Die Zustellung an den Beklagten erfolgte jedoch erst am 22.9.2012 und damit nach Ablauf der für die Erklärung des Widerspruchs maßgeblichen Zwei-Wochen-Frist des § 545 S. 1 BGB. Nach dem Tod der Klägerin setzte der Bru-der des Beklagten den Prozess auf klägerischer Seite fort. III. Kernaussagen und Würdigung 1. Bedeutung von § 167 ZPO

Für das Verständnis des § 167 ZPO entscheidend ist die Un-terscheidung zwischen der Anhängigkeit und Rechtshängig-keit der Klage. Lediglich den Zeitpunkt der Anhängigkeit der Klage kann der Kläger bestimmen. Anhängig wird eine Klage bereits durch die Einreichung der Klageschrift bei Gericht.6 Der Eintritt der Rechtshängigkeit hingegen, welche mit der amtlichen Zustellung der Klageschrift an den Beklagten be-gründet wird (siehe §§ 253 Abs. 1, 261 Abs. 1 ZPO), entzieht sich gänzlich der Einflusssphäre des Klägers.7 Indes werden an sich nicht schon durch die Klageeinreichung, sondern erst durch die Klageerhebung gewisse prozessrechtliche8 wie auch insbesondere materiell-rechtliche Rechtsfolgen, die sich auf die Rechtsstellung der beteiligten Streitparteien auswir-

5 Zumal der Beklagte bereits vor dem Abschluss des Mietver-trages das Einfamilienhaus auf der Grundlage eines unent-geltlichen Nutzungsverhältnisses unter Familienangehörigen bewohnt hatte, stellte sich das Problem, ob auch dieser Zeit-raum der Überlassung des Wohnraums in die Berechnung der Kündigungsfrist trotz des Nichtbestehens eines mietvertragli-chen Rechtsgrundes einzufließen hatte. Dies verneinte der BGH mit einem Verweis auf das Fehlen eines Vertrauenstat-bestands: für den Beklagten habe keinerlei Kündigungsschutz bestanden, denn die Klägerin habe jederzeit das Verhältnis auflösen können, vgl. BGH NJW 2014, 2568 f. 6 Vgl. Pohlmann, Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 120. 7 Dörndorfer, in: Beck’scher Online-Kommentar zur ZPO, Ed. 16, Stand: 1.3.2015, § 167 Rn. 1. 8 Zu den prozessrechtlichen Wirkungen der Klageerhebung zählen vor allem die so genannte perpetuatio fori nach § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO und die Möglichkeit der Erhebung der Ein-rede der Rechtshängigkeit gemäß § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO.

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BGH, Urt. v. 25.6.2014 – VIII ZR 10/14 Singbartl/Dziwis _____________________________________________________________________________________

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ken, hervorgerufen. So ordnet beispielsweise § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB die Verjährungshemmung im Falle der Klageer-hebung an. Nunmehr erlangt § 167 ZPO Relevanz, der in den von ihm umschriebenen drei Tatbestandsvarianten der Frist-wahrung durch Zustellung, des Neubeginns der Verjährung sowie der Verjährungshemmung eine Vorverlagerung auf den Zeitpunkt der Anhängigkeit bestimmt. Insofern dient § 167 ZPO einem Interessenausgleich zwischen dem Zustellungs-veranlasser und dem Zustellungsempfänger.9 Zum einen soll dem Zustellenden nicht die Ungewissheit der Dauer des Zu-stellungsverfahrens, auf das er keinerlei Einfluss ausüben kann, aufgebürdet werden, sodass die an die Rechtshängig-keit geknüpften Rechtswirkungen auf den Zeitpunkt der An-hängigkeit zurückdatiert werden. Dieser Schutzzweck entfällt indes und § 167 ZPO findet keine Anwendung, wenn die Verzögerung der Zustellung auf das Verhalten des Zustel-lungsveranlassers zurückzuführen ist. Zum anderen stellt die Rechtshängigkeitsfiktion des § 167 ZPO gleichfalls sicher, dass der Zustellungsempfänger in seinem Vertrauen darauf geschützt wird, eine durch Fristablauf erworbene Rechtsstel-lung nicht gewissermaßen „zeitlich unbegrenzt“10 durch eine übermäßig verspätete Zustellung der Klage einzubüßen. Zu diesem Zweck statuiert § 167 ZPO das Erfordernis der „dem-nächst“ erfolgenden Zustellung. 2. Anwendbarkeit des § 167 ZPO auch auf Fristen, die durch außergerichtliche Geltendmachung gewahrt werden können

a) Allgemeines

Im streitgegenständlichen Fall hatte sich der BGH mit dem Rechtsproblem auseinanderzusetzen, ob die Frist für die Er-klärung des Widerspruchs gegen die stillschweigende Ver-längerung des Mietverhältnisses durch eine vor Fristablauf eingereichte und gem. § 167 ZPO zwar demnächst, jedoch erst nach Fristablauf zugestellte Räumungsklage gewahrt wird. Soll im Wege der Zustellung eine auch außergerichtlich einhaltbare Frist gewahrt werden, so tritt die Wirkung des § 167 ZPO bereits mit dem Eingang der Klageschrift bei Ge-richt ein, wenn die Zustellung demnächst erfolgt. Dies ent-schied der BGH 2008 im Kontext eines urheberrechtlichen Anspruchs.11 Mit anderen Worten: Die Bestimmung des § 167 ZPO ist grundsätzlich selbst in solchen Fällen anwend-bar, in denen durch die Zustellung eine Frist gewahrt werden soll, zu deren Einhaltung der Kläger nicht unbedingt auf die gerichtliche Mitwirkung angewiesen ist. Da mehrere tausend Klagen im Jahr bei den Gerichten eingehen, können in dem Zeitraum zwischen Anhängigkeit und Rechtshängigkeit oft mehrere Wochen liegen. Für solche Fälle wurde § 167 ZPO geschaffen. Vor dem Hintergrund der oben erwähnten, dem Gebiet des Urheberrechts entstammenden BGH-Entschei-dung aus dem Jahre 2008 bedarf es für das hier zu bespre-chende Urteil einer eingehenden Erörterung der Frage, ob die

9 Eichele, in: Saenger, Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2015, § 167 Rn. 1. 10 Dörndorfer (Fn. 7), § 167 Rn. 1; Brand, NJW 2004, 1138. 11 BGH NJW 2009, 765 (767).

2008 eingeleitete Rechtsprechungsänderung auf mietrechtli-che Fälle übertragbar ist.12 b) Stillschweigende Verlängerung des Mietverhältnisses gem. § 545 BGB?

Setzt der Mieter nach Ablauf der Mietzeit den Gebrauch der Mietsache fort, so verlängert sich das Mietverhältnis auf un-bestimmte Zeit, sofern nicht eine Vertragspartei ihren entge-genstehenden Willen innerhalb von zwei Wochen erklärt.13 In casu lancierte der Vermieter im unmittelbaren Anschluss an die an sich eintretende rechtsumgestaltende Wirkung der Kündigung eine Räumungsklage, ohne zuvor den Mieter hiervon benachrichtigt zu haben. Die Klage wurde jedoch erst am 22.9.2012 zugestellt und damit erst nach Ablauf der Wi-derspruchsfrist des § 545 S. 1 BGB rechtshängig. Damit steht nun die Frage im Raum, ob eine innerhalb der Widerspruchs-frist des § 545 S. 1 BGB eingereichte, jedoch erst nach deren Ablauf zugestellte Klage zur Fristwahrung genügt. Wendete man nämlich § 167 ZPO in dieser Konstellation an, so wäre der Widerspruch rechtzeitig erklärt worden. aa) Frühere Argumentationslinie des Bundesgerichtshofs und der obergerichtlichen Rechtsprechung mit Blick auf § 167 ZPO und außergerichtliche Fristen

In der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,14 der Instanzgerichte15 sowie in Teilen der Literatur16 wurde die Ansicht vertreten, dass § 167 ZPO auf außergerichtliche Fristen gerade keine Anwendung finde. Begründet wurde dies damit, dass § 167 ZPO den Zweck habe, den Parteien das von ihnen nicht mehr kalkulierbare Risiko einer Verspä-tung der amtlichen Zustellung abzunehmen. Ebenso soll die Regelung die Entstehung verzögerungsbedingter Schäden verhindern. Vor diesem Hintergrund darf der Sinn und Zweck des § 545 BGB nicht außer Acht gelassen werden, der gerade darin besteht, dass die Parteien möglichst bald über die Be-endigung des Mietverhältnisses Bescheid wissen. Diese Ziel-setzung würde indes in der gerichtlichen Praxis angesichts von Zustellungsverzögerungen, insbesondere in der Ferien-zeit, an die Grenzen des Faktischen stoßen. Ferner wurde ins 12 Vgl. die frühere Rechtsprechung, in der die Meinung ver-treten wurde, die Regelung über die Rückwirkung der Zustel-lung auf den Zeitpunkt der Einreichung der Klage gelte nur für die Fälle, in denen eine Frist lediglich durch Inanspruch-nahme der Gerichte gewahrt werden könne, vgl. nur BGH WM 1971, 383 (384) und BGH NJW 1982, 172; Kehrtwende der Rechtsprechung in BGH NJW 2009, 765. 13 So expressis verbis § 545 S. 1 BGB. 14 Vgl. beispielsweise BGH WM 1971, 383 (384). 15 Vgl. LG Berlin NZM 2001, 40; OLG Stuttgart NJW-RR 1987, 788. 16 Vgl. Roth, in: Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2013, § 167 Rn.3; Hermann, in: Beck’scher Online-Kom-mentar zum BGB, Ed. 34, Stand: 1.2.2015, § 545 Rn. 5, der zumindest auf das Problem hinweist; Blank, in: Schmidt-Futterer, Kommentar zum BGB, 11. Aufl. 2013, § 545 Rn. 22, aber jetzt wohl auch anders, vgl. ders., LMK 2014, 361721.

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Feld geführt, dass § 167 ZPO eine eng auszulegende Aus-nahmevorschrift sei und gerade für die Schwebelage zwi-schen Anhängigkeit und Rechtshängigkeit geschaffen worden sei.17 In den Fällen außergerichtlich einhaltbarer Fristen je-doch schaffe erst der Kläger eine solche Schwebelage, ohne dass dies von Gesetzes wegen zur Fristwahrung zwingend erforderlich sei. bb) Heutiges Verständnis des Bundesgerichtshofs bzgl. der Anwendbarkeit des § 167 ZPO auf außergerichtliche Fristen

Der Bundesgerichtshof hat im streitgegenständlichen Fall den Rechtsprechungswandel aus dem Jahr 2008 bestätigt. Das oberste deutsche Zivilgericht betont die Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.18 Eindeutiger als durch die Einreichung einer Räumungsklage könne näm-lich der Vermieter seinen Widerspruch gegen die Verlänge-rung des Mietverhältnisses nach § 545 BGB gar nicht zum Ausdruck bringen. Derjenige, der mit der Klage die stärkste Form der Geltendmachung von Ansprüchen wähle, müsse sich darauf verlassen können, dass die Einreichung der Kla-geschrift die Frist wahre.19 In der Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 2008, die die Kehrtwende zu dieser Rechtsfrage einläutete, brachte der BGH ferner noch einen Erst-Recht-Schluss aus § 132 Abs. 1 BGB vor:20 Laut § 132 Abs. 1 S. 1 BGB kann der Zugang einer Willenserklärung im Wege der Zustellung durch Vermittlung eines Gerichtsvollziehers be-wirkt werden. Zur Wahrung auch außergerichtlich einhaltba-rer Fristen genügt bei demnächst erfolgender Zustellung aufgrund der in § 132 Abs. 1 S. 2 BGB in Verbindung mit. §§ 191, 192 Abs. 2 S. 1, 167 ZPO angeordneten Rückwir-kung bereits die Übergabe des Schriftstücks an den Gerichts-vollzieher. In gleichartigen Fällen könne für eine Zustellung durch Vermittlung des Gerichts sodann nichts anderes gel-ten.21 3. Kritische Würdigung der Rechtsprechungsänderung

Der Bundesgerichtshof weitet seine 2008 begonnene Recht-sprechungsänderung nun auch auf das Mietrecht aus, wobei die Kehrtwende aus mehrerlei Gründen kaum zu überzeugen vermag. Mit der Schaffung des § 167 ZPO verfolgte der Gesetzgeber gerade den Zweck, zur Förderung der Rechtssi-cherheit die ungewisse Zeitspanne zwischen Anhängigkeit und Rechtshängigkeit einer Klage gewissermaßen zu über-brücken. Zumal der Kläger nach der Einreichung der Klage keinen Einfluss mehr auf deren rechtzeitige Zustellung hat, erscheint es unbillig, das Verzögerungsrisiko dem Kläger aufzubürden. In casu sind die Dinge hingegen anders gela-gert. Zwar unterstreicht der Bundesgerichtshof wiederholt den unter dem Aspekt der Rechtssicherheit gebotenen Schutz des Klägers, also des Vermieters. Indes wird auf die erhöhte Schutzbedürftigkeit des Erklärungsempfängers keinerlei 17 Vgl. Feldhahn, in: Prütting/Wegen/Weinreich, Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2014, § 545 Rn. 9. 18 Vgl. BGH NJW 2014, 2568 (2569). 19 Vgl. BGHZ 177, 319 = NJW 2009, 765. 20 Siehe hierzu BGH NJW 2009, 765 (767). 21 Vgl. BGHZ 177, 319 = NJW 2009, 765 (767).

Rücksicht genommen. Sollte die Klage erst sechs Wochen nach ihrer Einreichung zugestellt werden, so befände sich der Mieter mangels anderweitiger Hinweise des Vermieters über die von § 545 BGB gedeckte Dauer von zwei Wochen hinaus zusätzlich noch vier weitere Wochen lang in Unkenntnis darüber, ob das Mietverhältnis nun weiterhin Bestand haben werde oder nicht. In der von § 545 BGB nicht mehr erfassten Zeitspanne dürfte aber der Mieter – irrtümlich, sofern man der BGH-Ansicht folgt – davon ausgehen, dass sich das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortsetze. Dies wider-spricht dem Sinn und Zweck von § 545 BGB, innerhalb von lediglich zwei Wochen für klare Rechtsverhältnisse zwischen Mieter und Vermieter zu sorgen.22 Vor allem aber stehen dem Erklärenden mehrere Möglichkeiten zur Fristwahrung zur Verfügung. So hätte auch eine formlose Erklärung des Ver-mieters genügt, in der auf das Räumungsverlangen hingewie-sen23 oder sogar eine Räumungsfrist24 gewährt wird. Um den anderen Vertragspartner nach Ablauf von zwei Wochen (vgl. § 545 BGB) vor Rechtsunsicherheit zu bewahren, die vom Gesetz nicht mehr gedeckt ist, sich über einen ungewissen Zeitraum erstreckt und deren Bestehen sich regelmäßig sogar der Kenntnis des beklagten Vertragspartners entziehen dürfte, ist der Widersprechende im Kontext des § 545 BGB gehalten, auf einen faktisch fristwahrenden Übermittlungsweg auszu-weichen. Das muss nicht unbedingt die Klage sein. Mithin legt der Bundesgerichtshof § 167 ZPO zu weit aus. IV. Folgen für Studium, Prüfung und Praxis Die vorliegende Entscheidung weist aufgrund der Verzah-nung von materiellem Recht und Zivilprozessrecht eine ge-steigerte Examensrelevanz auf. Im Übrigen sei auf die paral-lele Problematik der Anwendbarkeit des § 167 ZPO im Rah-men der Geltendmachung von Schadensersatz- und Entschä-digungsansprüchen nach § 15 Abs. 1, Abs. 2 AGG in den zeitlichen Grenzen der Frist des § 15 Abs. 4 S. 1 AGG hin-gewiesen.25 In der Praxis kann man wohl bereits in dem Kün-digungsschreiben des Vermieters die Erklärung des Wider-spruchs erblicken. Der Mieter muss eben nur eindeutig er-kennen können, dass das Mietverhältnis unter keinen Um-ständen fortgesetzt werden soll. Sollte sich ein Widerspruch nicht aus dem Kündigungsschreiben ableiten lassen, so reicht auch schon eine einfache Erklärung aus. Es bedarf allerdings nicht immer einer kostspieligen und aufwändigen Klage, um zu seinem Recht zu kommen. Abzuwarten bleibt, ob der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zur Anwendbarkeit des § 167 ZPO bei außergerichtlich einhaltbaren Fristen auch auf andere Rechtsgebiete ausdehnt.

Akademischer Rat a.Z. Jan Singbartl, cand. iur. Thomas Dziwis, LMU München

22 Vgl. BGH NJW-RR 1988, 76. 23 Vgl. BGH NJW-RR 2006, 1385. 24 Vgl. LG Wuppertal ZMR 1968, 268. 25 BAG NZA 2014, 924.

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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Pauschales Kopftuchverbot und Glaubens- und Bekennt-nisfreiheit 1. Der Schutz des Grundrechts auf Glaubens- und Be-kenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) gewährleistet auch Lehrkräften in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die Freiheit, einem aus religiösen Gründen als verpflichtend verstandenen Bedeckungsge-bot zu genügen, wie dies etwa durch das Tragen eines islamischen Kopftuchs der Fall sein kann. 2. Ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekun-dungen (hier: nach § 57 Abs. 4 SchulG NW) durch das äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrak-ten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schul-frieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentli-chen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule ist unver-hältnismäßig, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zu-rückzuführen ist. Ein angemessener Ausgleich der verfas-sungsrechtlich verankerten Positionen - der Glaubens-freiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Be-kenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erzie-hungsauftrags - erfordert eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm, nach der zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss. 3. Wird in bestimmten Schulen oder Schulbezirken auf-grund substantieller Konfliktlagen über das richtige reli-giöse Verhalten bereichsspezifisch die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht, kann ein verfas-sungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen, religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungs-bild nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern etwa für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden. 4. Werden äußere religiöse Bekundungen durch Pädago-ginnen und Pädagogen in der öffentlichen bekenntnisof-fenen Gemeinschaftsschule zum Zweck der Wahrung des Schulfriedens und der staatlichen Neutralität gesetzlich untersagt, so muss dies für alle Glaubens- und Weltan-schauungsrichtungen grundsätzlich unterschiedslos ge-schehen. (Amtliche Leitsätze) GG Art. 3 Abs. 1, 3; Art. 33 Abs. 2, 3; Art. 4 Abs. 1, 2; Art. 12 Abs. 3; Art. 101 Abs. 1 S. 2 EMRK Art. 9; Art. 14 AGG § 7 Abs. 1 BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/101

1 Abgedruckt in NJW 2015, 1359; im Internet abrufbar unter

I. Einführung Die öffentliche Schule ist ein zentraler Ort für den freiheitli-chen Verfassungsstaat. Das gilt in Deutschland in besonde-rem Maße, weil hier durch eine strikte Schulpflicht und ein quantitativ relativ schwaches Privatschulwesen die staatlich veranstaltete Schule kein bloßes Angebot ist, das bei Nichtge-fallen auch abgelehnt oder umgangen werden könnte. Des-wegen gelten hohe Anforderungen an die Rechtfertigung des staatlichen Erziehungsmandats. Jede einzelne Schule, ja der gesamte Unterricht ist daran zu messen, ob sie zur „Entfal-tung der Persönlichkeit“ der Schülerinnen und Schüler bei-tragen, die schon Grundrechtsträger sind und gleichzeitig in der verantwortlichen Ausübung ihrer Grundrechte ertüchtigt werden sollen. Welche „Zutaten“ sind dafür erforderlich? Welche Grenzen sind zu beachten?

Insbesondere Religion und religiöse Identität sind für die-se Fragen ein maßgebliches Referenzgebiet. In vielfacher Weise wurde die moderne Schule gegen kirchliche Len-kungsansprüche erkämpft – aber zugleich ist Religion immer eine Herausforderung für ein Bildungswesen geblieben, das weder oberflächlich noch totalitär sein will.

Die Rolle der Religion in der Schule zu bestimmen, ist daher eine natürliche Aufgabe der Verfassungsrechtsdogma-tik. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht auch auf diesem Feld mit wichtigen Grundsatzentscheidungen eine Schlüsselrolle eingenommen. Die hier anzuzeigende Ent-scheidung zur grundsätzlichen Zulässigkeit religiöser Bekun-dungen auch durch Lehrkräfte („Kopftuch II“) setzt eine Reihe fort, die seit den 1970er Jahren von den Vorgaben für die Ausgestaltung der Gemeinschafts- und Bekenntnisschule2 über das Schulgebet3 und das Kruzifix4 bis zum Kopftuch I-Urteil5 reicht.

Mit der letztgenannten Entscheidung hatte das BVerfG (2. Senat) im Jahr 2003 unterbunden, dass Lehrkräften das Tragen eines Kopftuchs oder ähnlicher Symbole auf der Grundlage allgemeiner beamtenrechtlicher Folgepflichten untersagt werden könne, eine spezielle gesetzliche Regelung aber für denkbar gehalten. Die daraufhin erlassenen Gesetze und die darauf beruhende Rechtspraxis sind der Gegenstand des vorliegenden Beschlusses des 1. Senats. Die Entschei-dung hat Bedeutung für die grundsätzliche Justierung des Religionsverfassungsrechts (Pflichtwissen!) wie für die Fra-ge, in welchem Verhältnis die Senate des BVerfG zueinander stehen und wie sie miteinander Verfassungsrechtsprechung betreiben (für Feinschmecker).

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/01/rs20150127_1bvr047110.html (26.5.2015). 2 BVerfGE 41, 29/65/88. 3 BVerfGE 52, 223. 4 BVerfGE 93, 1. 5 BVerfGE 108, 282.

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ZJS 3/2015 300

II. Entscheidung 1. Sachverhalt und Entscheidungsinhalt

Die beiden Beschwerdeführerinnen haben die deutsche Staatsbürgerschaft, sind türkischer Abstammung und musli-mischen Glaubens. Sie unterrichteten als Angestellte des Landes Nordrhein-Westfalen als Sozialpädagogin bzw. als Lehrerin im muttersprachlichen Unterricht in türkischer Sprache. Während der Unterrichtszeit trugen beide ein isla-misches Kopftuch, was sie mit ihrer religiösen Überzeugung begründeten.

Nach der Kopftuch-I-Entscheidung erließ NRW im Jahr 2006 ebenso wie andere Bundesländer ein grundsätzliches Verbot religiöser Bekundungen durch Lehrkräfte. § 57 Abs. 4 SchulG lautete danach:

„(4) Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äu-ßere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschauli-chen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerin-nen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer gegen die Men-schenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfas-sung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhal-tensgebot nach Satz 1. Das Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht und in den Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen.“

Nach dem Inkrafttreten der Bestimmung wurden die Be-schwerdeführerinnen durch die Schulbehörde bzw. den Schulleiter aufgefordert, das islamische Kopftuch während des Unterrichts abzulegen. Die Beschwerdeführerin I kam der Aufforderung nach, ersetzte aber das islamische Kopftuch durch eine Baskenmütze und einen Rollkragenpullover, so dass die Haare, der Haaransatz, die Ohren und der Hals wei-terhin bedeckt blieben. Die Beschwerdeführerin II widersetz-te sich der Aufforderung und unterrichtete weiterhin mit einem islamischen Kopftuch.

Beide erhielten von der Schulbehörde bzw. dem Land Nordrhein-Westfalen eine schriftliche Abmahnung mit der Ankündigung, dass das Arbeitsverhältnis bei unverändertem Verhalten gekündigt würde. Begründet wurde dies in beiden Fällen mit der Gefährdung des Schulfriedens und der Wah-rung der staatlichen Neutralität.

Die Klagen vor dem Arbeitsgericht gegen die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte der Beschwerdeführe-rinnen und die spätere Kündigung der Beschwerdeführerin II wurden mit der Begründung abgewiesen, dass es sich bei dem Tragen einer Baskenmütze sowie dem Tragen eines islamischen Kopftuchs um eine an die Außenwelt gerichtete Kundgabe religiöser Überzeugung handele. Diese sei im Sinn der genannten Vorschrift dazu geeignet eine Gefährdung des Schulfriedens oder der staatlichen Wahrung der Neutralität

hervorzurufen. Die Berufungen vor dem Landesarbeitsgericht blieben erfolglos, die Revisionen vor dem Bundesarbeitsge-richt wurden abgewiesen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die arbeitsrechtlichen Maßnahmen aufgehoben, das Gebot religiöser Zurückhaltung nach § 57 Abs. 4 S. 1 f. SchulG NW einer verfassungskon-formen Auslegung unterzogen und die Privilegierung „christ-licher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ nach S. 3 für verfassungswidrig und nichtig er-klärt. Die Entscheidung erging mit 6:2 Stimmen, Bundesver-fassungsrichterin Hermanns und Bundesverfassungsrichter Schluckebier haben ein gemeinsames Sondervotum erstattet. 2. Argumentation des BVerfG

Der 1. Senat konzentriert sich auf zwei zentrale Argumente: Das Verbot religiöser Bekundungen durch Lehrkräfte in der Schule sei unverhältnismäßig, wenn es bereits auf eine abs-trakte Gefahrenlage bezogen werde. Zweitens sei eine Bes-serstellung bestimmter religiöser Äußerungen gleichheits-rechtlich verboten.

Zum ersten Punkt führt das BVerfG aus, dass ein „Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild, das bereits die abstrakte Gefahr einer Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität ausreichen lässt, […] im Blick auf die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Pädagogen jedenfalls unangemessen und damit unver-hältnismäßig [ist], wenn die Bekundung nachvollziehbar auf ein als verpflichtend empfundenes religiöses Gebot zurück-führbar ist.“6 Dabei geht der Senat – wie inzwischen weitge-hend anerkannt – davon aus, dass die Grundrechte der Lehr-kräfte auch während des Dienstes gelten. Es läge ein erhebli-cher Eingriff in das Grundrecht auf Glaubens- und Bekennt-nisfreiheit vor, da das Bedeckungsgebot in der Öffentlichkeit für die Beschwerdeführerinnen nachvollziehbar als religiös verpflichtend aufgefasst werde. Eine Rechtfertigung käme angesichts der zunächst schrankenlosen Gewährleistung der Religionsfreiheit nur bei verfassungsimmanenten Schranken in Betracht.7 Der Schulgesetzgeber verfolge insoweit legitime Ziele, u.a. den grundrechtlichen Schutz vor religiöser Indokt-rination und den Schutz des Schulfriedens als Voraussetzung des staatlichen Erziehungsauftrags.8 Doch könne ein solcher Eingriff erst bei einer engeren Auslegung der Verbotsnorm gerechtfertigt werden. Denn die entgegenstehenden Rechts-güter seien durch das Verhalten selbst typischerweise gerade (noch) nicht gefährdet; insbesondere gebe es keinen An-spruch auf einen religionsfreien öffentlichen Raum.9 Erfor-derlich sei eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schul-frieden. Eine solche Gefahr könne vorliegen, wenn Dritte „sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck“ in den Schulen

6 BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 80. 7 BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 83 ff. 8 BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 97 ff. 9 BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 100 ff.

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hineintrügen; ggfs. könne eine solche Lage dann „über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden“ sein. Freilich sei auch dann eine anderweitige Verwendungsmöglichkeit der betroffenen Lehrkräfte in Betracht zu ziehen.10

Zum zweiten wendet sich der Senat dann der Privilegie-rungsvorschrift des § 57 Abs. 4 S. 3 zu. Das Argument, diese Norm überhaupt zu prüfen, lautet: „Die Prüfung der Norm ist auch auf Satz 2 und Satz 3 des § 57 Abs. 4 SchulG NW zu erstrecken, obgleich sich die Arbeitsgerichte ausdrücklich nur auf das Bekundungsverbot des Satzes 1 gestützt haben. Der Regelung liegt ein einheitliches Konzept zugrunde. […] Der von den Beschwerdeführerinnen beanstandete Satz 3 knüpft gleichfalls an Satz 1 an und ist in die Prüfung einzubeziehen, weil seine Privilegierung christlicher und jüdischer Religio-nen den Beschwerdeführerinnen bei der Anwendung des Satzes 1 gleichheitswidrig nicht zugute kommt.“11

Dazu ist anzumerken, dass diese letztgenannte Vorschrift in der Tat der politische Kern des Streits nach „Kopftuch I“ war: Die vielfach gewünschte Zurückdrängung des Kopf-tuchs sollte mit einer Absicherung insbesondere christlicher Symbole verknüpft werden. Mehrere Gerichte hatten darauf-hin eine verfassungskonforme Auslegung der entsprechenden neuen Vorschriften vorgenommen.12 Das entsprechende Ar-gument des BAG im vorliegenden Rechtsstreit zielte auf den Unterschied zwischen der (verbotenen) „Bekundung“ des Glaubens und der (für christlich-jüdische Bildungs- und Kul-turwerte oder Traditionen erlaubten) „Darstellung“. Das BVerfG weist jedoch darauf hin, dass es im Gesetzgebungs-verfahren und allerorten ausdrücklich darum gegangen sei, christlich oder jüdisch begründete Kleidungsvorschriften („Nonnenhabit und Kippa“) zu schützen, also gerade doch ein religiöses Privileg zu errichten. Daher sei eine geltungserhal-tende Auslegung der klar gleichheitswidrigen Norm nicht möglich.13

Die Entscheidung prüft im letzten Abschnitt noch weitere rechtliche Implikationen, insbesondere in Bezug auf die EMRK, ohne insoweit das Ergebnis zu verändern.14

Das anschließende Sondervotum wirft der Mehrheitsent-scheidung vor, diejenigen Verfassungsrechtsgüter zu gering veranschlagt zu haben, die der religiösen Freiheit der Lehr-kräfte entgegenstehen. Insbesondere sei auch der Gestal-tungsspielraum des Landesgesetzgebers bei der Ausgestal-tung der multipolaren Grundrechtsverhältnisse missachtet worden, der sich für die gefundene Regelung (Abwehr einer abstrakten Gefahr) auf „Kopftuch I“ habe berufen können. Richtigerweise sei statt des von der Mehrheit gewählten An-satzes (konkrete Gefahr) zu unterscheiden, ob die in Rede stehenden religiösen Bekundungen starke religiöse Aus-

10 BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 113 ff. 11 BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 79. 12 Vor allem BVerwGE 121, 140 (147 ff.). 13 BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 123 ff. 14 BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 139 ff.

druckskraft hätten; insofern hätte die Trägerin einer Basken-mütze auch nach Auffassung des Sondervotums keinen ar-beitsrechtlichen Maßregelungen ausgesetzt werden dürfen. Die verfassungskonforme Auslegung des § 57 Abs. 4 S. 3 (Schutz der Darstellung „abendländischer“ Traditionen), die die Fachgerichte vorgenommen hätten, sei zu Unrecht ver-worfen worden. III. Bewertung und Ausblick 1. Religionsverfassungsrechtliche Verortung

Die positive Grundhaltung gegenüber der Religion ist verfas-sungsrechtlich ein wesentliches Rechtfertigungselement der allgemeinen öffentlichen Pflicht-Schule. Denn Religion ist ein wesentlicher (möglicher) Faktor persönlicher Identität, der geachtet werden muss, will staatliche Erziehung legitim gestaltet sein. Das gilt im religionsneutralen Staat prinzipiell für alle Religionen im gleichen Sinn. Daraus sind Folgerun-gen für die Rechtsstellung der Lehrkräfte zu ziehen: Das vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Gesamtziel der „Ent-faltung der Persönlichkeit“ der Schülerinnen und Schüler verlangt einen „im Angesicht der Kinder“ gestalteten Unter-richt, der sich nicht als Vollzug abstrakter Vorgaben rekon-struieren lässt, sondern stets gerade auch vom konkreten Geschehen vor Ort seine Legitimation empfängt. Aus diesem Grund ist die Rolle und Rechtsstellung der einzelnen Lehr-kräfte vergleichsweise stark – ohne ihre Gestaltungskraft und ihre Persönlichkeit kann (Pflicht-)Schule auch in verfas-sungsrechtlicher Sicht nicht gelingen.

Die Einsicht in diese Zusammenhänge hat der Rechtspre-chung des BVerfG seit jeher zugrundgelegen. Daher ist zu betonen, dass die in der Einleitung genannten Entscheidun-gen eine gemeinsame Linie bilden und trotz unterschiedlicher Akzente nicht etwa im Widerspruch zueinander stehen: Im-mer geht es darum, gleichzeitig einen Raum für Religion in der öffentlichen Schule zu ermöglichen und dabei zugleich den Schutz vor staatlicher Überwältigung zu sichern. Um diesen doppelten Grundsatz durchzusetzen, kann religiöse Überzeugung nicht staatlich verordnet werden (kein Kruzifix an der Wand), sehr wohl aber auch durch Lehrkräfte in die Schule eingebracht werden (durch Kopftuch wie Nonnenha-bit wie Kippa), weil ihnen zugleich zugetraut und abverlangt wird, dass sie ihre Überzeugung nicht missionarisch verfol-gen, sondern stets ihr Gegenüber in seiner Identität achten und einbeziehen. Deswegen setzt auch die im Sondervotum starkgemachte Frage nach der Bedrängung von Schü-ler(innen) und Dritten durch glaubensstarke Lehrkräfte auf der falschen Ebene an: Selbstverständlich wäre eine missio-nierende, den Gegenüber bedrängende Haltung unzulässig – aber darauf kann durch das äußerliche Zeichen des Kopftuchs nach zutreffender Auffassung der Senatsmehrheit gerade noch nicht geschlossen werden. Und ist dann nicht in der Tat erst einmal naheliegend, dass kopftuchtragende Lehrerinnen mit Migrationshintergrund, die Studium und Referendariat in Deutschland mit Erfolg abgeschlossen haben, gerade nicht für Abschottung und die Zurückstufung der Frau stehen, sondern für das Gegenteil, für den eigenen Weg, zu dem sie auch ihre Schülerinnen und Schüler bestärken können?

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ZJS 3/2015 302

Für die Herausforderungen der pluralen Gesellschaft kann die Entscheidung daher nur begrüßt werden. Dabei ist es keine Frage: Wenn hier für den besonderen Ort Schule ein verpflichtendes Toleranzgebot vorgegeben wird, sind damit neue Anstrengungen verbunden. Aber was wäre schulpoli-tisch die Alternative? Wer die Religion aus der Schule aus-sperrt, treibt Außenseiter ebenso wie Eliten letztlich in ein abgesondertes, klientelbezogenes Schulwesen. 2. Verfassungsprozessuale und schulpraktische Aspekte

Gegen die Entscheidung sind verschiedene Bedenken erho-ben worden. Vier Aspekte können unterschieden werden: Nicht weiter verfolgt werden muss aus verfassungsrechtlicher Sicht der erste Einwand, die Entscheidung sei eine Schwä-chung der kulturellen Grundlagen unseres Gemeinwesens, weil die hervorgehobene Rolle des Christentums gefährdet werde. Das Grundgesetz verhält sich zur Religion positiv, aber gegenüber den Religionen neutral.

Mit dem Verhältnis der Religionen hängt zweitens auch zusammen, ob und wie die Sondervorschrift nach § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG hier einzubeziehen war. Richtig ist, dass die Entscheidung des BVerfG auch ohne Normverwerfung gleichlautend hätte getroffen werden können. Der Senat be-dient sich eines Kunstgriffs, indem er feststellt, die Be-schwerdeführerinnen hätten sich gleichheitswidrig nicht auf diese Norm berufen dürfen. In der Sache wird man dieser etwas bemühten Konstruktion zustimmen können: Gerade in der Unterscheidung der Religionen liegt die Pointe der nun verworfenen Regelung. Hätte sich nicht ein Weg formulieren lassen, christlich-jüdische Religionsübungen zu schützen, wären die Antikopftuchgesetze in der Mehrzahl der betref-fenden Länder kaum ergangen (so in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland; auf die Unterscheidung verzichten allerdings bei ihrer Regelung Berlin, Bremen und Niedersachsen; keine Regelung wurde in Brandenburg, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern getroffen). Es liegt nun aber nahe, genau in dieser Unterscheidung eine kaum verhüllte Doppelbödigkeit auszumachen: Nach „außen“ Darstellung von Kultur, nach „innen“ aber (natürlich!) doch „Bekundung“ des christlichen Glaubens. Dieses Konzept will an die gelungene dialektische Ausrichtung der christlichen Gemeinschaftsschule als Schule für alle Staatsbürger anknüpfen.15 Ihm unterläuft aber ein Kategorienfehler: Dort ging es um die Institution Schule, die mit christlichen Inhalten so umgehen muss, dass sie auch für Nichtgläubige als Kulturwerte unterrichtet werden können (und dabei für Christen im gleichen Moment durchaus auch weiter Glaubenswahrheit zur Grundlage haben kann) – hier hingegen darum, persönliche Grundrechtsausübung in kultu-relle Übung umzudeuten. Das kann aber genauso wenig ge-lingen wie bei eindeutig religiösen Symbolen,16 und schon gar nicht überzeugt ein solches Vorgehen, wenn es nur be-stimmten Religionen angeboten wird. Angesichts der deshalb bestehenden engen Verbindung der Regelungselemente er-

15 BVerfGE 41, 29. 16 BVerfGE 93, 1.

scheint es insgesamt zulässig, die gesamte Regelung zu prü-fen – zumal die Ausnahmeregelung des S. 3 angesichts der verfassungskonformen Interpretation der Grundregel in S. 1 f. zukünftig leergelaufen wäre.

Schwerer wiegt drittens der Einwand, die Entscheidung missachte den Gestaltungsspielraum des Landesgesetzgebers, der sich in den vorgespurten Pfaden von „Kopftuch-I“ be-wegt habe. Denn hier ist die Frage der institutionellen Selbst-ermächtigung des Senats gleich in doppelter Weise aufgewor-fen. Überschreitet der Senat das Mandat des Verfassungsge-richts? Hätte er wenigstens das Plenum des BVerfG anrufen müssen, weil er von einer Vorentscheidung abweicht (§ 16 BVerfGG)?

Insofern wird zu unterscheiden sein: Das fortgesetzte Wechselspiel zwischen Gesetzgebung und Verfassungsrecht-sprechung ist ein markantes Kennzeichen unserer Rechtsord-nung. Tatsächlich ist Parlamentsgesetzgebung inzwischen oft Rechtsprechungsfolgengesetzgebung und nicht freie Dezisi-on. Je nach Sujet bittet die politische Praxis geradezu um Maßgaben, wie denn Regelungen verfassungsfest getroffen werden können. Positiv gewendet können solche Hinweise als Teil eines fortgesetzten Kommunikationszusammenhangs zwischen den Staatsfunktionen bezeichnet werden. Und nicht immer widerstehen Verfassungsgerichte den damit verbunde-nen Versuchungen in hinreichendem Maß. Richtigerweise wird aber eine verfassungsgerichtliche Kontrolle sich nicht darauf festlegen lassen, ob der Gesetzgeber die Hinweise zu-treffend aufgenommen und umgesetzt hat: Denn mit der (ja tatsächlich stets eigenständig ausgestalteten) Rechtsetzung hat eine gesetzliche Regelung einen prinzipiellen Eigenwert, der auf der anderen Seite auch wieder zu einer umfänglichen Kontrolle berechtigt. Zusammengefasst: Der Ärger der Lan-despolitik, die sich mit ihrer Regelung auf der sicheren Seite wähnte, ist nachvollziehbar, eine Grenzüberschreitung durch das BVerfG liegt insoweit aber nicht vor. Ganz im Gegenteil: Die Überlegung in manchen Gesetzgebungsstuben, Karlsruhe werde „nicht nochmal nachlegen“, geht nicht sicher auf – und das ist auch gut so.

Intrikat ist nun aber die Frage, ob der 1. Senat nicht zu-mindest das Plenum des BVerfG hätte anrufen müssen, weil er „in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung“ abweicht (§ 16 Abs. 1 BVerfGG). Das ist insbesondere in Bezug auf die neu formulierten Anforderungen an die Gefahrenlage angeführt worden, die von einer Regelung erfasst sein könn-te. Hatte nicht „Kopftuch I“ gerade (nur) für abstrakte Gefah-ren eine gesetzliche Regelung verlangt – und eben auch schon verbindlich für möglich gehalten? Auch das Sondervo-tum (u.a. der aus dem 2. Senat nach § 19 Abs. 4 BVerfGG zugelosten Richterin Hermanns) deutet diese Richtung an, wenn es von „Hinweisen und Maßgaben“ des anderen Senats spricht. Letztlich überzeugt jedoch auch dieser Einwand nicht, wie sich aus der näheren Ansicht der Vorentscheidung ergibt. Die Formel der damaligen Entscheidung lautete: „Dem zuständigen Landesgesetzgeber steht es jedoch frei, die bislang fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen, etwa indem er im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben das zulässige Maß religiöser Bezüge in der Schule neu be-

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BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 Wißmann _____________________________________________________________________________________

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stimmt. Dabei hat er der Glaubensfreiheit der Lehrer wie auch der betroffenen Schüler, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität in angemessener Weise Rechnung zu tragen.“ Und dann weiter: „Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein. Aus einer hierauf zielenden Regelung in den Schulgesetzen können sich dann für Lehrkräfte Konkreti-sierungen ihrer allgemeinen beamtenrechtlichen Pflichten auch in Bezug auf ihr äußeres Auftreten ergeben, soweit dieses ihre Verbundenheit mit bestimmten Glaubensüberzeu-gungen oder Weltanschauungen deutlich werden lässt. Inso-weit sind unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorga-ben auch gesetzliche Einschränkungen der Glaubensfreiheit denkbar.“ Danach hatte die damalige Entscheidung sowohl die bewusste Stärkung religionsbezogener Toleranz als auch die striktere, distanziertere Behandlung der Religion als grundsätzliche Handlungsmöglichkeiten benannt, die sich freilich jeweils an den vorgenannten Maßstab zu halten hät-ten.17 Angesichts dieser ganz offen gehaltenen Perspektiven der damaligen Entscheidung bestand allerdings jetzt für eine förmliche Entscheidung des Plenums kein Anlass und letzt-lich gar kein Raum: Denn über den jetzigen Streitgegenstand hatte der 2. Senat nicht entschieden, ja gar nicht entscheiden können. Eine Gesamtsaldierung der verfassungsrechtlichen Belastungen, die durch eine spätere Regelung eingetreten sind, war in „Kopftuch I“ nicht vorweggenommen worden. Vielmehr war für die Gestaltungsentscheidung des Gesetzge-bers ausdrücklich vorbehalten, dass die verfassungsrechtli-chen Maßgaben in diesem heiklen Feld zu beachten seien. Es wäre freilich zu wünschen gewesen, dass der 1. Senat das Verhältnis der Entscheidungen klarer herausgearbeitet hätte. Dabei wäre sogar die Chance gegeben gewesen, das komple-xe Verhältnis des „Doppelgerichts“ fortzuentwickeln und Maßstäbe für eine Auseinandersetzung mit älterer Judikatur zu benennen.

Ein letzter Einwand betrifft die Frage, wie die Praxis die neuen Vorgaben umsetzen soll. Teilweise entstand in den ersten Reaktionen der Eindruck, dass nun Handreichungen nachgefragt würden, wie denn der nötige Unfrieden in der Schule zu organisieren sei, damit das Kopftuchverbot doch aufrechterhalten werden könne. Dem sind Wortlaut und Telos der Entscheidung entgegenzuhalten: Das BVerfG verpflichtet alle Beteiligten auf Toleranz; das Kopftuch selbst ist gerade noch keine Gefahr. Freilich sind religiöse Bekundungen durchaus danach zu bewerten, wie massiv sie auftreten und in welcher konkreten Umgebung sie sich auswirken. Die osten-tative, geradezu uniformierte Bekleidung bleibt verboten ebenso wie die missionarische Haltung. Dies vorausgesetzt gilt, dass dort, wo doch Gefahr entsteht, zunächst den Störern entgegenzutreten ist, durch Erziehungs- und Ordnungsmaß-nahmen, ggfs. durch die Umsetzung von renitenten Schülern usw.: Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen. Wenn das BVerfG hier kompromisshaft auch abstrakte Regelungen zulasten der religiösen Lehrkraft für möglich hält, sollte das

17 BVerfGE 108, 282 (309 f.).

nicht als eigentliche Zielrichtung der Entscheidung missver-standen werden. Daher ist nun (möglichst durch gesetzliche Klarstellungen) erst einmal dafür Sorge zu tragen, dass als Normalfall religiöse Bekundungen von Lehrkräften in den Schulen ohne Störungen ermöglicht werden – und den Lehr-kräften zugleich verdeutlich wird, dass dies kein Sieg des religiösen Fundamentalismus, sondern das selbstbewusste Signal einer freiheitlich-toleranten Rechtsordnung ist, für die sie einzustehen haben, nicht zuletzt zugunsten derer, die anders oder Anderes glauben.

Prof. Dr. Hinnerk Wißmann, Münster

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BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14 Kümper _____________________________________________________________________________________

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ZJS 3/2015 304

E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Ausschluss aus dem Gemeinderat wegen „Verwirkung der Unbescholtenheit“ 1. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl gebietet, dass die Innehabung des Mandats ohne Dazwischentreten eines dritten Willens auf die Wahlentscheidung des Wäh-lers zurückzuführen sein muss. Eine Entscheidung Drit-ter über den Fortbestand des Mandats berührt den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, wenn sie den Erfolg des Wählervotums – das Gewähltsein – als solches in Frage stellt, nicht hingegen, wenn sie den Mandatsver-lust an wahlfremde Umstände anknüpft. 2. Die Wahrung oder Wiederherstellung der Fähigkeit des Gemeinderates, seine gesetzlichen Aufgaben wahrzu-nehmen, kann einen Grund des gemeinen Wohls darstel-len, der die mit dem Ausschluss eines Ratsmitgliedes ver-bundene Einschränkung der passiven Wahlrechtsgleich-heit zu rechtfertigen vermag. Demgegenüber reicht die Absicht, das Ansehen des Gemeinderates oder das Ver-trauen der Wähler in dessen Integrität zu schützen, hier-zu nicht hin. (Amtliche Leitsätze) GG Art. 28 Abs. 1 S. 2 VwGO § 113 Abs. 1 S. 4 RhPf-GemO § 31 Abs. 1 BVerwG, Urt. v. 21.01.2015 – 10 C 11.141 I. Einleitung Die Wahlrechtsgrundsätze gehören zum klassischen Kernbe-stand des öffentlich-rechtlichen Prüfungsstoffs in Studium und Referendarexamen.2 In Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG für die Wahlen zum Deutschen Bundestage festgelegt, werden sie durch Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG den Ländern auch für Wahlen auf Landes-, Kreis- und Gemeindeebene bundesverfassungs-rechtlich verbindlich vorgeschrieben und haben im Landes-recht eine entsprechende Regelung erhalten. In der hier anzu-zeigenden aktuellen Entscheidung des BVerwG zum im An-schluss an eine strafgerichtliche Verurteilung erfolgten Aus-schluss eines Ratsmitglieds aus dem Gemeinderat wegen „Verwirkung der Unbescholtenheit“ erfahren die Wahlrechts-grundsätze eine besondere Verknüpfung mit klassischen verwaltungsprozessualen Fragen der Fortsetzungsfeststel-lungsklage sowie mit einigen kleineren Problemkreisen wie der Gesetzgebungskompetenz, dem Verbot der Doppelbestra-fung und dem Bestimmtheitsgebot. Damit bietet sich der Fall als Vorlage für Prüfungsaufgaben nachdrücklich an und wird

1 Abrufbar unter juris, abgedruckt in KommJur 2015, 134, vorgesehen für BVerwGE. 2 Einschlägige Übersichten bei Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 30. Aufl. 2014, Rn. 77 ff.; Morlok/ Michael, Staatsorganisationsrecht, 2. Aufl. 2014, Rn. 195 ff.; Grzeszick, Jura 2014, 1110.

künftig mit einiger Wahrscheinlichkeit – in ggf. modifizierter Form – in der Studien- und Examenspraxis wiederkehren. II. Sachverhalt3

§ 31 Abs. 1 der rheinland-pfälzischen Gemeindeordnung (RhPfGemO) trifft folgende – bundesweit einmalige – Rege-lung:

„Ein Ratsmitglied, das nach seiner Wahl durch Urteil ei-nes deutschen Strafgerichts rechtskräftig zu einer Freiheits-strafe von mindestens drei Monaten verurteilt wird, kann durch Beschluß des Gemeinderats aus dem Gemeinderat aus-geschlossen werden, wenn es durch die Straftat die für ein Ratsmitglied erforderliche Unbescholtenheit verwirkt hat. Der Gemeinderat kann den Beschluß nur innerhalb eines Monats, nachdem er von der Verurteilung Kenntnis erhalten hat, fassen. Der Bürgermeister hat den Gemeinderat zu unter-richten, sobald er von der Verurteilung Kenntnis erhält.“

Der Kläger wurde bei der Kommunalwahl im Jahre 2009 in den Rat der beklagten Stadt gewählt. Ende 2010 wurde er wegen in Mittäterschaft begangener gefährlicher Körperver-letzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten auf Be-währung verurteilt. Der Kläger hatte im Zuge des Wahlkamp-fes gemeinsam mit Gleichgesinnten einen politischen Gegner, welcher Wahlplakate der Partei des Klägers abgerissen hatte, mit Faustschlägen und Tritten traktiert.

Nach Rechtskraft des strafgerichtlichen Urteils schloss der Rat der Beklagten den Kläger auf der Grundlage des § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO aus dem Stadtrat aus. Er begründete dies damit, die politische Willensbildung und die Vertretung der Bevölkerung könne nur durch integre Ratsmitglieder erfolgen; der Kläger habe durch sein Verhalten das Vertrau-ensverhältnis zum Wähler nachhaltig gestört und sich seiner Wahl unwürdig erwiesen.

Der Kläger griff diesen Ratsbeschluss im Wesentlichen unter Berufung auf die (Bundes- wie Landes-)Verfassungs-widrigkeit des § 31 RhPfGemO an. Unter anderem würden die auch für Kommunalwahlen geltenden Wahlrechtsgrund-sätze der Allgemeinheit, der Gleichheit und der Unmittelbar-keit der Wahl verletzt. VG und OVG gelangten indes zur Verfassungskonformität der Vorschrift und erachteten den Ausschluss des Klägers aus dem Stadtrat für rechtmäßig. Bei der turnusmäßigen Kommunalwahl im Jahre 2014 wurde der Kläger nicht mehr in den Stadtrat der Beklagten gewählt. III. Zentrale Entscheidungsgründe Mit seiner Revision hatte der Kläger dagegen Erfolg. Das BVerwG stellte unter Abänderung der klageabweisenden Ur-teile des VG und des OVG fest, dass der Ausschluss des Klägers aus dem Gemeinderat rechtswidrig war. 1. Das Fortsetzungsfeststellungsinteresse

Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung war zunächst dem Um-stand Rechnung zu tragen, dass zwischenzeitlich die Wahlpe-riode, für welche der Kläger in den Rat der Beklagten ge-

3 Ausführlich BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 1-10 (juris).

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wählt war, abgelaufen war. Somit hatte sich das ursprüngli-che Begehren des Klägers, den Ratsbeschluss über den Aus-schluss aufzuheben (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO), erledigt, und es fragte sich, ob das Begehren mit der Fortsetzungsfeststel-lungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) weiter verfolgt werden konnte. Zentrale Voraussetzung hierfür ist ein Fortsetzungs-feststellungsinteresse.4 Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist anzuerkennen bei drohender Wiederholungsgefahr, im Falle eines bestehenden Rehabilitationsinteresses oder als Präjudizinteresse zur Vorbereitung eines Amtshaftungs- oder Entschädigungsprozesses;5 ferner kommt es in bestimmten Fällen tiefgreifender Grundrechtsbeeinträchtigungen in Be-tracht, sofern es sich um typischerweise sich kurzfristig erle-digende Hoheitsakte handelt, die andernfalls einer gerichtli-chen Klärung nicht zugeführt werden könnten.6

Hier nahm das BVerwG zu Recht ein Rehabilitierungsin-teresse an, weil der Beschluss über den Ausschluss aus dem Stadtrat ein „eigenständiges Unwerturteil“ enthält und eine erfolgreiche Klage den Ansehensverlust des Klägers in der Öffentlichkeit wieder ausgleichen kann.7 Dagegen bestand keine Wiederholungsgefahr, weil ein erneuter Ausschluss des Klägers aus dem Gemeinderat im Anschluss an eine künftige Kommunalwahl nicht mehr auf dieselbe strafgerichtliche Verurteilung gestützt werden dürfte wie der streitgegenständ-liche. Auch ein Fall der typischerweise kurzfristigen Erledi-gung lag nicht vor, zumal bereits zwei Instanzen – noch vor Erledigung – über die Rechtmäßigkeit des Ratsbeschlusses entscheiden konnten. Und schließlich war ein Präjudizinte-resse ebenfalls zu verneinen, weil Schadensersatzansprüche des Klägers bereits mangels Schadens von vornherein nicht in Frage kamen. Insofern ging der Verweis des Klägers auf die ihm entgangenen Sitzungsgelder fehl, denn die einschlä-gigen Vorschriften der Gemeindeordnungen über die Ent-schädigung der Gemeinderäte bzw. der ehrenamtlich Tätigen sollen allein einen sitzungsbedingten Nachteil ausgleichen, den der Kläger nach seinem Ausschluss aus dem Rat ja über-haupt nicht mehr erleiden konnte.8 2. Das Verhältnis zum Strafrecht (Gesetzgebungskompetenz, Verbot der Doppelbestrafung)

Im Rahmen der Begründetheitsprüfung stand die Verfas-sungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage für den Aus-schluss aus dem Gemeinderat – § 31 RhPfGemO – ganz im Mittelpunkt. Hier hatte das BVerwG zunächst mit Blick auf die Gesetzgebungskompetenz des Landes das Verhältnis des

4 Umfassend zur Fortsetzungsfeststellungsklage Hufen, Ver-waltungsprozessrecht, 8. Aufl. 2011, § 18 Rn. 36 ff., § 29 Rn. 13 ff.; Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 640 ff.; Wolff, in: Wolff/Decker, Studienkommen-tar VwGO/VwVfG, 3. Aufl. 2012, § 113 VwGO Rn. 87 ff. 5 Vgl. zum Fortsetzungsfeststellungsinteresse nur die Über-sichten bei Hufen (Fn. 4), § 18 Rn. 47 ff.; Würtenberger (Fn. 4), Rn. 652 ff.; Wolff (Fn. 4), § 113 VwGO Rn. 108 ff. 6 Hierzu aus der jüngeren Rechtsprechung vor allem BVerwGE 146, 303 Rn. 29. 7 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 14 (juris). 8 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 13 (juris).

§ 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO zum Strafrecht zu klären, na-mentlich zu § 45 StGB, der als strafrechtliche Nebenfolge den Verlust der Wählbarkeit vorsieht und somit ebenfalls den Mandatsverlust bewirkt, allerdings eine Verurteilung wegen Verbrechens (§ 12 Abs. 1 StGB) und zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr voraussetzt.

Der Bund hat durch Erlass des StGB und verschiedener strafrechtlicher Nebengesetze seine konkurrierende Gesetz-gebungsbefugnis für das Strafrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG abschließend wahrgenommen,9 so dass den Ländern in diesem Bereich ein gesetzgeberisches Tätigwerden versperrt ist, vgl. Art. 72 Abs. 1 GG. § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO ent-hält jedoch, wie das BVerwG – ebenso wie zuvor bereits VG und OVG – mit Recht ausführt, kein Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG:10 Strafnormen pönalisieren straf-würdiges Unrecht, knüpfen somit an den Unrechts- und Schuldgehalt einer Tat an.11 So schließt § 45 StGB die allge-meine Wählbarkeit des Täters aufgrund des Unrechtsgehalts der abgeurteilten Tat für bestimmte Zeit aus. Demgegenüber rechtfertigt sich der Ausschluss auf der Grundlage von § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO nicht aus dem Unrechts- und Schuld-gehalt der Anlasstat, sondern aus den negativen Folgen der Verurteilung für die künftige Verwaltungstätigkeit des Ge-meinderates. § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO verfolgt daher keinen Strafzweck; Bezugspunkt, so das BVerwG prägnant, ist „nicht der Täter, sondern der Gemeinderat selbst“. Ent-sprechend hatten auch VG und OVG bereits den kommunal-rechtlichen Charakter der Vorschrift betont.

Lässt sich § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO nicht als Straf-norm einordnen, so muss auch ein Verstoß gegen das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) gem. Art. 103 Abs. 3 GG ausscheiden, weil der Kläger über die strafgerichtliche Verurteilung hinaus durch den Ausschluss aus dem Gemein-derat nicht ein weiteres Mal bestraft wird.12 Der Begriff der Strafe bezieht sich in Art. 103 Abs. 3 GG ebenfalls allein auf Sanktionen nach dem Kriminalstrafrecht und vergleichbare, an den Unrechts- und Schuldgehalt der begangenen Tat an-knüpfende Maßnahmen.13

9 Vgl. etwa Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. II, 6. Aufl. 2012, Art. 74 Rn. 14; für den Bereich des Nebenstrafrechts offener Oeter, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. II, 6. Aufl. 2010, Art. 74 Rn. 20. 10 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 16 (juris). 11 Vgl. etwa BVerfGE 22, 49 (79 ff., Verhängung von Krimi-nalstrafen durch die Finanzämter); 109, 190 (211 ff., Straftä-terunterbringungsgesetze der Länder); Oeter (Fn. 9), Art. 74 Rn. 14; Degenhart, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 74 Rn. 10. 12 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 18 (juris); ebenso bereits zuvor VG Trier, Urt. v. 8.5.2012 – 1 K 1302/11.TR, Rn. 33 (juris); OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12, Rn. 37 (juris). 13 Siehe etwa Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, GG-Studienkommentar, 2013, Art. 103 Rn. 22; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 103 Rn. 72.

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ZJS 3/2015 306

Anders als noch die Vorinstanzen, geht das BVerwG nicht mehr auf die rechtsstaatlich gebotene Bestimmtheit14 des § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO ein. VG und OVG hatten bereits eingehend dargelegt, dass die Formulierung „Verwir-kung der für einen Gemeinderat erforderlichen Unbeschol-tenheit“ die für die Gemeinderatstätigkeit erforderliche per-sönliche Integrität betrifft, welche das Ratsmitglied bei ein-schlägiger Verurteilung durch eigenes Verhalten verloren hat, wenn seine Verurteilung erhebliche Auswirkungen auf das Vertrauen der Wähler in die Arbeit des Gemeinderats hat. Da mithin § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO der Auslegung zugäng-lich sei,15 hatten sie einen Verstoß gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot verneint.16 3. Die Wahlrechtsgrundsätze (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG)

Den Kern des Urteils bildet die Prüfung der Vereinbarkeit von § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO mit den durch Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG auch für Gemeinderatswahlen bundesverfas-sungsrechtlich vorgeschriebenen Wahlrechtsgrundsätzen ei-ner allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und gehei-men Wahl.17 a) Freiheit der Wahl

Der Grundsatz der Freiheit der Wahl schützt die Ausübung des – aktiven wie passiven – Wahlrechts ohne Zwang und sonstige Beeinflussung von außen.18 Dem Kläger wird indes durch den Ausschluss aus dem Gemeinderat nicht die „Frei-heit sich als Kandidat aufstellen und wählen zu lassen“ ge-nommen.19 Auch der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl ist, wie das BVerwG zutreffend feststellt, nicht betroffen.20 Dieser Grundsatz besagt, dass das aktive und passive Wahl-recht grundsätzlich allen Bürgern zusteht; er soll verhindern, 14 Zum rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot im Überblick Degenhart (Fn. 2), Rn. 374 ff.; eingehend Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 129 ff. 15 Dazu, dass die Auslegungsfähigkeit einer Vorschrift den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots genügt, nur Degen-hart (Fn. 2), Rn. 374 f.; Schulze-Fielitz (Fn. 14), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 133. 16 Eingehend VG Trier, Urt. v. 8.5.2012 – 1 K 1302/11.TR, Rn. 62 ff. (juris); OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12, Rn. 39 (juris); vgl. ferner Barrot, LKRZ 2012, 320 (323). 17 Der Grundsatz der Geheimheit der Wahl – der Schutz vor einer Offenbarung des Wahlverhaltens – ist durch den Aus-schluss aus dem Gemeinderat ersichtlich nicht berührt und wird deshalb vom BVerwG nicht angesprochen; klarstellend noch OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12, Rn. 49 (juris). 18 Siehe nur Degenhart (Fn. 2), Rn. 82; Pieroth (Fn. 13), Art. 38 Rn. 9. 19 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 20 (juris), das zudem hervorhebt, auch die Freiheit der Mandatsaus-übung sei nicht betroffen, da es um das „,Ob‘ der Man-datsausübung überhaupt“ gehe. 20 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 22 (juris).

dass bestimmte Teile der Bevölkerung vom Wahlrecht ausge-schlossen werden.21 Die Wählbarkeit, um die es hinsichtlich der passiven Allgemeinheit der Wahl geht, wird indes durch den Ausschluss aus dem Gemeinderat für die laufende Wahl-periode nicht in Frage gestellt, denn der Kläger darf weiterhin bei Wahlen – auch bei künftigen Gemeinderatswahlen der Beklagten – kandidieren und sich wählen lassen. Darin liegt übrigens ein weiterer Unterschied zu § 45 StGB, der den Verlust der Wählbarkeit mit Blick auf jegliches Mandat oder Amt für die Dauer von fünf Jahren vorsieht.22 b) Unmittelbarkeit der Wahl

Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl fordert, dass die Volksvertreter direkt vom Wähler, d.h. ohne Mitwirkung einer Zwischeninstanz, gewählt werden.23 Ebenso wie das OVG, geht auch das BVerwG davon aus, dass sich der Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht allein auf die Dauer des Wahlverfahrens und die Erlangung des Mandats beschränkt, sondern darüber hinaus auch die Aufhebung des Mandats nicht von einer anderen Instanz als dem Wähler ausgehen darf.24 Dementsprechend ist die Unmittelbarkeit der Wahl z.B. nicht mehr gegeben, wenn Abgeordnete während ihrer Regierungszugehörigkeit ein sog. ruhendes Mandat beibehal-ten, das sie beim Ausscheiden aus der Regierung wieder auf-nehmen und damit das Mandat eines „Nachrückers“ wieder beenden können.25

Mit Blick auf den Ausschluss aus dem Gemeinderat nach § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO hält das BVerwG – anders als das OVG – den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl indes „noch“ nicht für einschlägig:26 Der Grundsatz werde nicht durch jede Entscheidung Dritter über den Fortbestand des Mandats berührt, sondern nur dann, wenn die Mandatser-teilung durch den Wähler – „das Gewähltsein als solches“ – durch eine Willensentscheidung Dritter in Frage gestellt werde. Dies folge zum einen aus dem historischen Ursprung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, der sich gegen die mittelba-re Wahl durch Wahlmänner richtete. Des Weiteren fordere bereits der Wortlaut „unmittelbar“ eine „kausale Relation“ zwischen Wählervotum und Mandatsbestand. Dieser Kausal-zusammenhang sei nicht berührt, wenn eine Entscheidung Dritter nicht die Wahlentscheidung selbst in Zweifel ziehe, sondern den Mandatsverlust an „wahlfremde Umstände“ an-

21 Statt vieler Degenhart (Fn. 2), Rn. 77; Pieroth (Fn. 13), Art. 38 Rn. 5. 22 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 22 (juris). 23 Degenhart (Fn. 2), Rn. 80; Pieroth (Fn. 13), Art. 38 Rn. 83; prägnant BVerfGE 3, 45 (49): der Wähler müsse „das letzte Wort haben“. 24 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 24 (juris); zuvor auch OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12, Rn. 48 (juris); anders Barrot, LKRZ 2012, 320 (321). 25 Dazu HessStGH, NJW 1977, 2065; hierzu und zu weiteren Beeinträchtigungen der Unmittelbarkeit auch Grzeszick, Jura 2014, 1110 (1113); Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 38 Rn. 76 ff. m.w.N. 26 Zum Folgenden BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 25 ff. (juris).

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knüpfe. So liege es im Falle des § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO, der mit der strafgerichtlichen Verurteilung einen wahlfrem-den Bezugspunkt aufweise.27 c) Gleichheit der Wahl

Das BVerwG nimmt stattdessen allein eine Beeinträchtigung der passiven Wahlrechtsgleichheit an.28 Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl besagt, dass alle Wahlberechtigten ihr Wahlrecht in formal gleicher Weise ausüben können.29 Mit Blick auf das passive Wahlrecht fordert er die Chancen-gleichheit aller Bewerber.30 Auch der Grundsatz der Wahl-rechtsgleichheit bezieht sich nicht allein auf den Wahlakt, sondern erstreckt sich auf den Fortbestand und die Zusam-mensetzung des gewählten Organs während der gesamten Wahlperiode.31 Durch einen Ausschluss aus dem Gemeinde-rat auf der Grundlage des § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO wird der Ausgeschlossene im Vergleich zu den übrigen Ratsmit-gliedern, die ihr Mandat weiterhin ausüben können, ungleich behandelt.32 Es fragt sich daher, ob sich hierfür eine verfas-sungsrechtliche Rechtfertigung finden lässt.

Die Wahlrechtsgrundsätze können nicht stets „in voller Reinheit verwirklicht“ werden.33 Daher können auch Ein-schränkungen der Wahlrechtsgleichheit durch zwingende Ge-meinwohlgründe gerechtfertigt sein, wenn diese Gründe ebenfalls verfassungsrechtlichen Rang und ein zumindest ebenbürtiges Gewicht haben.34 Ein entsprechender Gemein-wohlgrund liegt in der Verwirklichung der mit der Wahl ver-folgten Ziele, insbesondere in der Sicherung der Funktionsfä-higkeit der gewählten Vertretungsorgane.35 An diese Grund-sätze anknüpfend nimmt das BVerwG an, auch die in dem Ausschluss aus dem Gemeinderat nach § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO liegende Ungleichbehandlung könne aus Grün-

27 Ebenso ordnet das BVerwG den Mandatsverlust nach § 45 StGB ein und verweist ferner auf Fälle des Verlusts der Wählbarkeit durch Staatsangehörigkeitsverlust oder Wohn-sitzwechsel: BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 27 (juris). 28 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 28 ff. (juris). 29 BVerfGE 121, 266 (295, 297); 124, 1 (18); Pieroth (Fn. 13), Art. 38 Rn. 6; Grzeszick, Jura 2014, 1110 (1115). 30 Pieroth (Fn. 13), Art. 38 Rn. 6; Magiera, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 38 Rn. 90. 31 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 29 (juris) im Anschluss an BVerfGE 93, 373 (377). 32 Im Unterschied zum OVG RhPf (Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12, Rn. 46 [juris]) hält es das BVerwG nicht für not-wendig, dass die Wahl als Persönlichkeitswahl ausgestaltet ist: BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 30 (juris). 33 BVerfGE 3, 19 (24 f.); 59, 119 (124); Pieroth (Fn. 13), Art. 38 Rn. 21. 34 Siehe etwa BVerfGE 41, 399 (413); 95, 408 (418); 71, 81 (96); Pieroth (Fn. 13), Art. 38 Rn. 18; Grzeszick, Jura 2014, 1110 (1111). 35 Vgl. in diesem Zusammenhang insb. die Rechtsprechung zu den Sperrklauseln im Wahlrecht: BVerfGE 82, 322 (338); 95, 408 (409); 120, 82 (106 f.); vgl. hierzu auch Degenhart (Fn. 2), Rn. 87 ff.

den der Funktionsfähigkeit des Rates gerechtfertigt werden. Denn die Wahl des Gemeinderates verfehlte ihren Zweck der Bildung des kommunalen Hauptvertretungsorgans, wenn der Rat seine Aufgaben nicht oder nur eingeschränkt erfüllen könnte. Eine Rechtfertigung des Eingriffs in die passive Wahlrechtsgleichheit hänge jedoch davon ab, dass eine Be-einträchtigung der Funktionsfähigkeit typischerweise vorliegt oder hinlänglich konkret zu erwarten ist und dass die Un-gleichbehandlung eine Beseitigung dieser Störung mit hinrei-chender Sicherheit verspricht.36

Das OVG hatte § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO für verfas-sungskonform erachtet, weil die Vorschrift die Funktionsfä-higkeit des Gemeinderates wahre. Denn der Rat könne die Gemeindebevölkerung nur dann seiner Funktion gemäß rep-räsentieren, wenn er über hinreichendes Ansehen und über Akzeptanz in der Bevölkerung verfüge. Dies aber sei bei dem Verbleib eines nicht mehr im Sinne des § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO unbescholtenen Ratsmitglieds ggf. nicht mehr gewährleistet.37 d) Einschränkende verfassungskonforme Auslegung

Das BVerwG dagegen lässt einen Ansehensverlust bzw. einen Verlust an Repräsentationsfähigkeit nicht genügen. Der Gesichtspunkt der Repräsentationsfähigkeit des gewählten Organs ziele in erster Linie auf die Repräsentationsgenauig-keit und spreche damit gerade gegen eine Veränderung des Wahlergebnisses.38 Ein Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit lasse sich unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des gewählten Vertretungsorgans nur dann rechtfertigen, wenn auf die Fähigkeit des Gemeinderates zur Erfüllung seiner Verwaltungsaufgaben abgestellt werde. Der bloße Schutz der Integrität und der Akzeptanz des Gemeinderates in der Bevölkerung, wie sie der historische Gesetzgeber be-zweckte,39 reichten dagegen nicht aus. Dies führe jedoch nicht zur Verfassungswidrigkeit des § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO. Vielmehr lasse sich die Vorschrift verfassungs-konform dahingehend einschränkend auslegen, dass sie dem Schutz der Arbeitsfähigkeit des Rates diene. Ihr Anwen-dungsbereich beschränkt sich danach auf Fälle, in denen ein Ratsmitglied wegen einer Straftat verurteilt wurde, die in sachlichem Zusammenhang mit der Ratsarbeit steht und die

36 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 32 (juris); im Anschluss an BVerfGE 120, 82 (114, 5%-Sperrklausel bei der schleswig-holsteinischen Kommunalwahl). 37 OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12, Rn. 57 ff. (juris); vgl. auch zuvor VG Trier, Urt. v. 8.5.2012 – 1 K 1302/11.TR, Rn. 43 ff. (juris); kritisch Barrot, LKRZ 2012, 320 (322 f.). 38 BVerwG, Urt. v. 21.1.2012 – 10 C 11.14, Rn. 33 (juris); unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des Mandats des einzelnen Abgeordneten (BVerfGE 80, 188 [219, 222]; 84, 304 [321 f.]). 39 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 37 (juris); eingehend zum Entstehungshintergrund VG Trier, Urt. v. 8.5.2012 – 1 K 1302/11.TR, Rn. 30 ff. (juris); vgl. auch OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12, Rn. 36 (juris).

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die Arbeitsfähigkeit des Rates so nachhaltig stört, dass deren Sicherstellung den Ausschluss des Ratsmitglieds fordert.40

Die Notwendigkeit eines sachlichen Zusammenhangs der Straftat mit der Ratsarbeit ergibt sich dem BVerwG zufolge aus der in § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO enthaltenen Wendung „für ein Ratsmitglied erforderliche Unbescholtenheit“. Dieser Zusammenhang bestehe nicht allein im Falle einer in der Ratssitzung oder in sonstiger Ausübung des Mandats began-genen Straftat, sondern auch bei einer Straftat im Zuge des Wahlkampfs.41 Eine nachhaltige Störung der Arbeitsfähigkeit des Rates setze ferner voraus, dass die Straftat Anlass zu der Sorge gebe, von dem Ratsmitglied gehe auch künftig eine Gefährdung der Arbeitsfähigkeit des Rates aus. Die sei insbe-sondere in Fällen denkbar, in denen das Ratsmitglied organi-sierte Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung eingesetzt habe. Denn ein solches Verhalten stelle die freie demokratische Willensbildung in Frage.42

Nach diesen Maßstäben hätte im vorliegenden Fall man-ches dafür gesprochen, dass der vom BVerwG einschränkend interpretierte Anwendungsbereich des § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO eröffnet war. Doch waren hierzu keine für das BVerwG bindenden Feststellungen getroffen worden (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO). Vielmehr hatte der Rat der Beklagten – ausgehend von einem weiteren Schutzzweck und Anwen-dungsbereich der Vorschrift – den Ausschluss des Klägers allein auf eine Störung des Vertrauensverhältnisses zur Ge-meindebevölkerung gestützt und auch nicht geprüft, ob von dem Kläger künftig eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Rates ausgehen werde. Daher musste die Ausschlussent-scheidung für das BVerwG ermessensfehlerhaft (§ 1 Abs. 1 LVwVfG i.V.m. § 40 VwVfG) sein.43 IV. Bewertung und Ausblick Das Urteil überzeugt in den meisten Punkten; insbesondere erscheint es richtig, in der nur sehr vagen Gefahr eines Anse-hens- oder Akzeptanzverlusts des Gemeinderats keinen hin-reichenden Rechtfertigungsgrund für eine Einschränkung der Wahlrechtsgrundsätze zu sehen, zumal der Rat selbst kaum mit der notwendigen Objektivität über den eigenen Verlust an Ansehen und Akzeptanz befinden könnte. Ob der Rat selbst über seine fehlende Arbeitsfähigkeit urteilen kann, darüber musste das BVerwG nicht entscheiden; doch wäre es nach der Systematik der Gemeindeordnungen eher Sache der Kommunalaufsicht44 oder des Bürgermeisters45, über die

40 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 35 ff. (juris). 41 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 38 f. (juris), allerdings mit Einschränkungen hinsichtlich Taten „ohne jegliche politische Konnotation“, weil diesen der Bezug zur Ratsarbeit fehle. 42 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 40 (juris), auch unter Hinweis auf die kommunalrechtlichen Möglich-keiten eines Ausschlusses von der Sitzungsteilnahme als Ord-nungsmaßnahme. 43 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 41 (juris). 44 Beispiele: Beanstandung von Ratsbeschlüssen und Anord-nungen bei gemeindlichem Unterlassen, ggf. sogar Auflösung des Gemeinderats.

Funktionsfähigkeit des Verwaltungsorgans Gemeinderat zu wachen. Eine andere Sichtweise als das BVerwG könnte man womöglich auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz einnehmen: Hier fragt sich, ob die „Anknüpfung an wahlfremde Umstän-de“ ein trennscharfes Abgrenzungskriterium darstellt, lässt sich doch bspw. auch im Falle des sog. ruhenden Mandats der zum Mandatsverlust führende Umstand – das Ausscheiden des Abgeordneten aus der Regierung – durchaus ebenfalls als „wahlfremd“ qualifizieren. Doch auch bei Eingreifen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes dürfte die Rechtfertigung seiner Einschränkung jedenfalls nicht mit der Gefahr des Ansehens- und Akzeptanzverlusts zu leisten sein.

Für die Fallbearbeitung ist zunächst zu beachten, dass für das BVerwG im Revisionsverfahren allein Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG Prüfungsmaßstab sein konnte, in einem gewöhnlichen verwaltungsgerichtlichen Verfahren der ersten Instanz dage-gen Landesrecht zulässiger Prüfungsmaßstab wäre und des-halb ggf. die einschlägigen landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen herangezogen werden könnten bzw. müssten. Sind Aufgabenstellungen rein verfassungsrechtlich ausge-richtet, so kommen als Verfahren vor dem BVerfG allenfalls die abstrakte Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG sowie die Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG in Frage. Die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG scheidet dagegen aus, weil Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG nicht zu den dort genannten Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten gehört. Ggf. muss das Verfahrensrecht der Landes-verfassungsgerichtsbarkeit in den Blick genommen werden, das indes nicht allerorts eine Individualbeschwerde kennt.

Besonderheiten ergeben sich, wenn der hier besprochene Fall auf einen Ausschluss von Bundes- oder Landtagsabge-ordneten durch die betreffenden Volksvertretungen abgewan-delt wird. In derartigen Fällen ist zu berücksichtigen, dass neben den Wahlrechtsgrundsätzen auch das Statusrecht der Abgeordneten berührt sein kann.46 In diesem Zusammenhang ist auch auf die Diskussion über die Überprüfung von Bun-destags- und Landtagsabgeordneten auf eine frühere Mitar-beit in der DDR-Staatssicherheit hinzuweisen,47 wobei ein durch das Parlament ausgesprochener Mandatsverlust allein in Thüringen vorgesehen war.48 Verfassungsrechtlich frag-

45 Dies trifft insbesondere auf die vom BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 40 (juris), angeführte Ordnungs-maßnahme zu, ein Ratsmitglied von der Sitzungsteilnahme – ggf. dauerhaft – auszuschließen. 46 Dagegen ist der Gemeinderat kein Parlament, sondern Teil der Exekutive; die Ratsmitglieder verfügen demgemäß nicht über einen dem Abgeordneten vergleichbaren Status, sondern über ein „kommunalrechtliches Mandat eigener Prägung“; vgl. hierzu m.w.N. Röhl, in: Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, Kap. 1 Rn. 90 f. 47 Vgl. zur Abgeordnetenüberprüfung nach § 44c (§ 44b a.F.) AbgG BVerfGE 94, 351; 97, 408; 98, 139; 99, 19; Masing, JZ 1999, 1022. 48 Die einschlägige Vorschrift des § 8 ThürAbgÜpG wurde vom ThürVerfGH (LKV 2000, 441) für verfassungswidrig erklärt, freilich entscheidend deshalb, weil eine Regelung auf der Ebene der Verfassung notwendig sei; kritisch hierzu mit

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würdig erscheint eine solche „Selbstreinigung“ des Parla-ments vor allem unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit der Abgeordneten im Mandat.49 Der Abgeordnetenstatus ist auch bei der evtl. (verfassungs-)prozessualen Einkleidung zu be-achten: Einschlägig ist das Organstreitverfahren vor dem BVerfG resp. Landesverfassungsgericht/Staatsgerichtshof.

Die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG steht dagegen (Bundestags-)Abgeordneten für die Wah-rung ihrer Statusrechte nicht zur Verfügung.50

Dr. Boas Kümper, Münster

Recht Löwer, ThürVBl. 2000, 206 (210 f.); Grube, LKV 2000, 435 (437). 49 Eingehend Masing, JZ 1999, 1022 (1023 f.); zur Gleichheit im Mandat auch Morlok (Fn. 25), Art. 38 Rn. 128 f., 134, 161 ff. 50 Allgemeine Meinung, siehe etwa BVerfGE 43, 142 (148 f.); Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 122 f., die in der umfassenden Bezugnahme des Art. 93 Abs. 1 Nr.4a auf Art. 38 GG ein „Redaktionsverse-hen“ erblicken.

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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Zu den Voraussetzungen des Gewahrsams und des Ein-verständnisses nach § 242 StGB Ob bei Beobachtung des Diebstahls durch den Eigentü-mer oder durch andere, die zu seinen Gunsten einzu-schreiten gewillt sind, die Begründung neuen Gewahr-sams möglich ist, hängt von den Einzelumständen ab. (Amtlicher Leitsatz) StGB § 242 Abs. 1 OLG Hamm, Beschl. v. 29.4.2014 – 1 RVs 24/141 I. Sachverhalt Der Diebstahl ist ein „Evergreen“ in der strafrechtlichen Prüfungspraxis. Fragen zur Wegnahme und insbesondere zu den Gewahrsamsverhältnissen gehören zu den „beliebtesten“ innerhalb des Studiums und tauchen auch in der Praxis im-mer wieder auf, wie die hier vorliegende Konstellation ver-deutlicht:

A ist bei der Speditionsfirma T-GmbH beschäftigt. Die Aufgabe der T-GmbH besteht im Wesentlichen darin, Stück-gut bei der Fima T2 zu laden und dieses Stückgut sodann auf das Gelände der T-GmbH zu verbringen, dort zwischenzula-gern und binnen vorgegebener Fristen an die Kunden auszu-liefern. Bei Anlieferung von Ware wird diese mittels Liefer-zetteln bestimmten Lieferregionen zugeordnet und in hierfür vorgesehene Boxen gebracht. Zunächst nicht zuordenbare Ware kommt bis zu ihrer Zuordnung in eine separate Box.

Anfang März 2012 wendet sich A an L, der als Vorarbei-ter bei der Firma T2 tätig ist und bereits einige „krumme“ Ladungen im Interesse des A vorgenommen hat. In Abspra-che mit A lässt L am 6.3.2012 gegen Mittag auf dem Gelände der Firma T2 Waren ohne Lieferschein im Wert von 4.800 EUR, die dem A „zukommen“ sollen, mit auf den Lkw des A laden. Weitere für A bestimmte Ware lässt L auf einen ande-ren Lkw der T-GmbH laden, dessen Fahrer jedoch nicht in den Plan eingeweiht ist.

Mitarbeitern der Fa. T2, u.a. dem Logistikleiter, sind in-des Unstimmigkeiten bei der Verladung aufgefallen. Da der Logistikleiter aber ad hoc keinen hinreichenden Beweis für eine Straftat hat und nicht Mitarbeiter der Spedition vor aller Augen eventuell zu Unrecht des Diebstahls bezichtigen will, beobachtet er den Vorgang und ergreift lediglich Maßnahmen der Beweissicherung (Aufnahme von Fotos). Später will er „die Sache“ auf dem Gelände der Spedition überprüfen.

A befördert seine Ladung auf das Gelände der T-GmbH und lässt dort – auch die für ihn selbst bestimmten Waren – abladen. Einem dortigen Mitarbeiter sagt er auf dessen Nach-frage bzgl. der Ware, die nicht mit einem Ladezettel versehen ist, die Sendung würde am Folgetag geholt, ein Versandmit-arbeiter wisse Bescheid. Sämtliche für A bestimmte Ware – auch die von dem gutgläubigen Fahrer abtransportierten Teile – wird planmäßig in einer gesonderten Box abgelagert. Der

1 Die Entscheidung ist abgedruckt in NStZ-RR 2014, 209.

beabsichtigte Abtransport von dort gelingt A jedoch nicht mehr, weil die Ware am Nachmittag des Tattages von Mitar-beitern der Fa. T2 „sichergestellt“ werden kann. II. Einführung in die Problematik Nach § 242 Abs. 1 StGB begeht einen Diebstahl, wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht weg-nimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzu-eignen. Daraus ergibt sich folgendes Prüfungsschema:

1. Der Gewahrsamsbegriff

Das prüfungsrelevanteste Tatbestandsmerkmal des Diebstahls ist die Wegnahme. Diese kennzeichnet die Grenze zwischen vollendetem und versuchtem Diebstahl. Das wiederum hat Auswirkungen für die Abgrenzung zwischen Raub gem. § 249 StGB und räuberischem Diebstahl gem. § 252 StGB. Während der Einsatz eines qualifizierten Nötigungsmittels vor der Wegnahme den Anwendungsbereich des § 249 StGB eröffnet, fällt der Einsatz eines qualifizierten Nötigungsmit-tels nach der Wegnahme in den Tatbestand des § 252 StGB.

Unter Wegnahme versteht man den Bruch fremden und die Begründung neuen nicht notwendigerweise tätereigenen Gewahrsams.2 Danach beinhaltet die Wegnahme drei Schrit-te:3 � die Aufhebung des fremden – alten – Gewahrsams, � die Begründung neuen Gewahrsams und

2 Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommen-tar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 242 Rn. 48; Schramm, JuS 2008, 678 (680); Wittig, in: von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafge-setzbuch, Stand: 8.2.2015, § 242 Rn. 10. Beachte Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 1330. 3 Vgl. dazu Zopfs, ZJS 2009, 506 (507); Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 17. Aufl. 2015, § 2 Rn. 22.

I. Tatbestand 1. Objektiver Tatbestand

a) fremde bewegliche Sache b) Wegnahme

aa) ursprünglich fremder Gewahrsam bb) neuer Gewahrsam cc) Verschiebung gegen den Willen des

Berechtigten 2. Subjektiver Tatbestand

a) Vorsatz b) Zueignungsabsicht

aa) dolus directus I bzgl. mindestens vorüber- gehender Aneignung bb) dol. event. bzgl. dauernder Enteignung

c) Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Zueig- nung d) Vorsatz bzgl. c)

II. Rechtswidrigkeit III. Schuld

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� schließlich muss diese Gewahrsamsverschiebung durch Bruch, d.h. ohne oder gegen den Willen des alten Ge-wahrsamsinhabers erfolgen.4

Für das „Schicksal“ der Wegnahme ist also der Gewahrsams-begriff von zentraler Bedeutung. Wichtig ist zunächst, dass der Gewahrsam vom zivilrechtlichen Besitz zu unterscheiden ist, auch wenn es faktisch große Schnittmengen im Anwen-dungsbereich der beiden Begriffe gibt.5 Insbesondere finden aber die Rechtsfiguren des mittelbaren Besitzes gem. § 868 BGB, des Erbenbesitzes gem. § 857 BGB sowie des Besitz-dieners gem. § 855 BGB keine Entsprechung im Rahmen des weniger verrechtlichten strafrechtlichen Gewahrsamsbe-griffs.6

Gewahrsam ist im Grundsatz das tatsächliche, von einem Herrschaftswillen getragene Herrschaftsverhältnis einer Per-son über eine Sache.7 Der Gewahrsam verlangt danach mit der Herrschaftsmöglichkeit eine objektive Komponente und mit dem Herrschaftswillen ein subjektives Element.8 Unei-nigkeit besteht allerdings über die Frage, aus welcher Per-spektive man die Komponenten betrachtet: faktisch oder sozial-normativ. Historisch ist von einem faktischen Gewahr-samsbegriff auszugehen, der eine tatsächliche Herrschaft und einen natürlichen Herrschaftswillen zugrunde legt, wobei beides nach der Anschauung des täglichen Lebens interpre-tiert wird. Dieser faktische Gewahrsamsbegriff stößt aber an seine Grenzen. So kann die tatsächliche Herrschaftsmöglich-keit des vom Bauern auf dem Feld zurückgelassenen Pfluges nur fingiert werden. Gleiches gilt für den natürlichen Willen eines Schlafenden oder Bewusstlosen. Diese Probleme ver-suchte Welzel mit dem sog. sozialen Gewahrsamsbegriff zu

4 Zu beachten ist, dass die ganz überwiegende Ansicht das Merkmal „Bruch“ lediglich auf die Aufhebung des Gewahr-sams bezieht, nicht aber auf die Neubegründung, vgl. dazu etwa Schmitz (Fn. 2), § 242 Rn. 82; Rengier (Fn. 3), § 2 Rn. 64. Gleichwohl wird die hier vorgestellte Prüfungsreihen-folge auch nach ganz überwiegender Ansicht in dieser Form angewendet, vgl. dazu Rotsch (Fn. 2), Rn. 697. Im Ergebnis wirkt sich der Unterschied aber nur in den äußerst seltenen Fällen aus, in denen die Gewahrsamsaufhebung und die Neu-begründung des Gewahrsams zeitlich auseinanderfallen, vgl. zu diesem eher akademischen Problem Rotsch, GA 2008, 65 (71 ff.). 5 Rönnau, JuS 2009, 1088. 6 Samson, JA 1980, 285 (286); Kindhäuser, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetz-buch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 242 Rn. 30; Wessels/Hillen-kamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 37. Aufl. 2014, § 2 Rn. 93 f.; vgl. auch die Übersicht bei Jüchser, ZJS 2012, 195 (200). 7 Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 242 Rn. 8a. 8„Kurz gefasst verlangt Gewahrsam daher Herrschaftswillen und Herrschaftsmöglichkeit.“, Jäger, JA 2015, 390 (391).

überwinden.9 Er verzichtete bei der Bestimmung des Ge-wahrsams auf faktische Kriterien und stellte stattdessen auf eine soziale Zuordnung der Sache zu einer Person ab. Ist der Zugriff der Person auf die Sache sozial unauffällig und wird als selbstverständlich akzeptiert, so liegt nach dieser Ansicht Gewahrsam vor. Welzel ordnete jeder Person Tabuzonen – sog. Gewahrsamssphären – zu. Alles, was sich in dieser Ge-wahrsamssphäre befindet, steht im Gewahrsam der Person, der diese Tabuzone zugeordnet wird. Kollidieren zwei Sphä-ren, so geht die engere der weiteren vor, die dann eine sog. Gewahrsamsenklave bildet.

Zwar hat sich der soziale Gewahrsamsbegriff „begriff-lich“ nicht durchsetzen können. Gleichwohl haben Recht-sprechung und Literatur die wesentlichen Gedanken des sozialen Gewahrsamsbegriffs übernommen und vertreten heute einen sog. faktisch-sozialen Gewahrsamsbegriff. Ge-wahrsam ist danach das tatsächliche, von einem Herrschafts-willen getragene Herrschaftsverhältnis einer Person über eine Sache, was nach der Verkehrsauffassung, d.h. der sozialen Anschauung des täglichen Lebens zu beurteilen ist.10 „Für die Frage des Wechsels der tatsächlichen Sachherrschaft ist ent-scheidend, dass der Täter die Herrschaft über die Sache derart erlangt, dass er sie ohne Behinderung durch den alten Ge-wahrsamsinhaber ausüben und dieser über die Sache nicht mehr verfügen kann, ohne seinerseits die Verfügungsgewalt des Täters zu brechen.“11 Der wesentliche Unterschied zum sozialen Gewahrsamsbegriff besteht darin, dass der sozial-normative Maßstab des faktisch-sozialen Gewahrsams- begriffs lediglich eine korrigierende, aber keine konstituie-rende Funktion hat und damit kein selbstständiges Gewahr-samselement ist. Doch auch der soziale Gewahrsamsbegriff zieht die tatsächliche Sachherrschaftsmöglichkeit als Indiz zur Feststellung der sozialen Zuordnung heran. Der rechtliche Meinungsstreit ist daher eher terminologischer Art und in einer Klausur von untergeordneter Bedeutung.12 Die wesent-liche Leistung in einer Klausur besteht vielmehr in der voll-ständigen Auswertung des Sachverhaltes. Ratsam ist es in der Klausur ausgehend vom faktisch-sozialen Gewahrsamsbe-griff die den konkreten Einzelfall tragenden Gesichtspunkte herauszuarbeiten und im Rahmen einer wertenden Abwägung zu gewichten. „Hierbei sind insbesondere Faktoren wie der Ort des Geschehens (räumlicher Machtbereich des bisherigen Gewahrsamsinhabers?), die Größe des Gegenstandes (hand-

9 Welzel, GA 1960, 257. Zu den heutigen Vertretern des sozi-alen Gewahrsamsbegriffs zählt etwa Schmitz (Fn. 2), § 242 Rn. 62 ff. 10 Vgl. dazu Wessels/Hillenkamp (Fn. 6), Rn. 90; Küper/ Zopfs, Strafrecht, Besonderer Teil, Definitionen mit Erläute-rungen, 9. Aufl. 2015, Rn. 750; ausführlich dazu Bosch, Jura 2014, 1237. 11 BGH, Beschl. v. 16.9.2014 – 3 StR 373/14 = BeckRS 2014, 20034; vgl. auch BGH NStZ 1988, 270 (271). 12 So auch explizit Hecker, JuS 2015, 276 (277); Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 242 Rn. 24; Bosch, Jura 2014, 1237 (1238); Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 11. Aufl. 2014, § 242 Rn. 19 f.; beispielhaft Rotsch (Fn. 2), Rn. 1511 ff.

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lich, leicht, groß, sperrig?) sowie die faktischen Zugriffsmög-lichkeiten der Beteiligten auf den Gegenstand (nur mittels Eindringen in fremden „Tabubereich” oder unter Anwendung von Gewalt möglich?) in die Betrachtung einzubeziehen.“13

Visuell lässt sich der Gewahrsamsbegriff wie folgt komp-rimiert darstellen:

2. Der beobachtete Gewahrsamswechsel

Problematisch ist der – hier relevante – beobachtete Gewahr-samswechsel. Liegt diese Konstellation vor, so ist in vielen Klausuren nur der schlichte Hinweis zu lesen: „Der Diebstahl ist kein heimliches Delikt. Die Beobachtung steht der Weg-nahme damit nicht entgegen.“ Das kann im Ergebnis richtig sein, ist aber nicht zwingend. Diese phrasenhafte Aussage nimmt keinerlei Bezug zur oben genannten Definition der Wegnahme und steht damit definitorisch im „luftleeren Raum“.

Wird die Gewahrsamsverschiebung beobachtet, so stellen sich im Wesentlichen zwei Fragen: Steht diese Beobachtung der Neubegründung des Gewahrsams entgegen und könnte die Beobachtung mit einem Einverständnis gleichgesetzt wer-den? a) Gewahrsamsbegründung

Man könnte zunächst annehmen, dass der Täter, der bei der Gewahrsamsverschiebung beobachtet wird, deswegen keinen neuen Gewahrsam begründet, weil er aufgrund der Beobach-tung an der Herrschaft der Sache gehindert sein könnte. Drit-te sind jederzeit berechtigt, den Täter gem. § 127 Abs. 1 StPO festzunehmen oder gem. § 859 BGB Selbsthilfe auszu-üben.14 Dagegen ist allerdings anzumerken, dass die Beo-bachtung nicht die Überführung des Gegenstandes in die Gewahrsamssphäre des Täters verhindert, die die beste Be-herrschungsposition bietet, etwa wenn der Täter im Super-markt etwas einsteckt. Vielmehr erleichtert die Beobachtung lediglich die Rückerlangung des Gegenstandes.15

Etwas anderes kann sich allerdings ergeben, wenn für den Täter (aus der Sicht eines neutralen Beobachters) überhaupt

13 Hecker, JuS 2011, 374. 14 Eser/Bosch (Fn. 12), § 242 Rn. 40; ausführlich auch Bosch, Jura 2014, 1237 (1240 f.) 15 BGH NJW 1961, 2266; OLG Düsseldorf NJW 1993, 1492.

keine Chance besteht, mit dem Diebesgut zu entkommen.16 In diesen Fällen hätte der Täter faktisch nie die Möglichkeit, die Herrschaft über die Sache tatsächlich auszuüben. Zu berück-sichtigen sind also wiederum die Umstände des Einzelfalls, wobei die räumliche Entfernung des Beobachtenden vom Ort des Geschehens, die Schnelligkeit des Eingreifens sowie Um-fang und Gewicht der Beute von Relevanz sind.17 b) Einverständnis in die Gewahrsamsverschiebung („durch Bruch“)18

Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Beobachtung Auswir-kungen auf das tatbestandsausschließende Einverständnis in die Gewahrsamsverschiebung haben kann.

Anzumerken ist zunächst, dass der Beobachtende grund-sätzlich nur dann berechtigt ist, das Einverständnis zu erklä-ren, wenn er auch Gewahrsamsinhaber ist.

Sodann stellt sich die Frage, ob der Betroffene tatsächlich mit dem Übergang des Gewahrsams einverstanden ist. Dies ist grundsätzlich der Fall, wenn es sich um eine sog. Diebes-falle handelt.19 Typisch für eine solche Diebesfalle ist, dass der Täter die Sache in seinen Gewahrsam bringen soll, damit sie später bei ihm gefunden wird und er überführt werden kann. Der ursprüngliche Gewahrsamsinhaber ist dann mit der Gewahrsamsverschiebung einverstanden, mit der Folge, dass diese nicht mehr durch Bruch erfolgt und ein vollendeter Diebstahl ausscheidet.20 Davon abzugrenzen ist die bloße Beobachtung. Charakteristisch für eine solche Beobachtung ist, dass der Beobachtende gerade keinen Gewahrsamsüber-gang will und den Täter grundsätzlich in einem unmittelbar räumlich-zeitlichen Zusammenhang mit der Tat stellt. In diesem Fall liegt kein Einverständnis in die Gewahrsamsver-schiebung vor, sodass eine Wegnahme anzunehmen ist.

Zu beachten ist allerdings, dass die Begriffe „Diebesfalle“ und „bloße Beobachtung“ letztlich auch nur inhaltsleere Schlagworte sind. Auch bei diesem Problem ist es entschei-dend, dass der Sachverhalt ausgewertet wird und alle abwä-gungsrelevanten Faktoren in die Entscheidung mit einbezo-gen werden. III. Die Entscheidung A war vom Amtsgericht wegen gemeinschaftlichen Dieb-stahls zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wur-de. Die dagegen gerichtete Berufung des Angeklagten ver-warf das Landgericht. Das OLG Hamm hat zwar den Schuld- 16 Schmitz (Fn. 2), § 242 Rn. 80; vgl. auch BGH NJW 1975, 320. 17 Kindhäuser (Fn. 6), § 242 Rn. 60. 18 Liegt sogar ein Einverständnis in die Gewahrsamsver-schiebung vor, so kommt es auf die akademische Streitfrage, ob sich das Einverständnis nur auf die Aufhebung des Ge-wahrsams oder zusätzlich auch auf die Neubegründung des Gewahrsams beziehen muss, nicht an. 19 Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 62. Aufl. 2015, § 242 Rn. 23; Jäger, JA 2015, 390 (392); Wessels/Hillenkamp (Fn. 6), Rn. 118. 20 BGH NJW 1979, 729.

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OLG Hamm, Beschl. v. 29.4.2014 – 1 RVs 24/14 Brüning _____________________________________________________________________________________

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spruch bestätigt, ist aber der Ansicht, dass nur ein vollendeter Diebstahl vorliegt, soweit es um die Waren im Wert von 4.800 € geht. Das Verhalten in Bezug auf die Ware im Wert vom 800 € auf dem Lkw des gutgläubigen Fahrers begründe hingegen nur einen versuchten Diebstahl.

Zunächst befasst sich das OLG Hamm mit der Begrün-dung des neuen Gewahrsams durch A bezüglich der Ware, die auf seinen Lkw geladen wurde.

„Durch das unberechtigte Aufladen der Waren im Wert von 4.800 € haben der Angekl. und sein Mittäter fremde be-wegliche Sachen weggenommen. Sie haben gegen den Wil-len der Organe der Fa. T2, die einen generellen Sachherr-schaftswillen bzgl. der auf ihrem Gelände befindlichen Ge-genstände hatten, fremden Gewahrsam gebrochen und neuen Gewahrsam an den genannten Waren begründet. […] Bis zum Verladezeitpunkt bestand Gewahrsam der Fa. T2 an den genannten Waren […].

Mit der Verladung auf den Lkw des Angekl., spätestens mit dessen Verlassen des Betriebsgeländes, hat der Angekl. neuen Gewahrsam begründet. Der neue Gewahrsam muss nicht unbedingt ein tätereigener Gewahrsam sein, vielmehr kann dieser auch bei einem Dritten begründet werden. Der Senat kann daher hier dahinstehen lassen, ob der Angekl. bereits mit Verladung auf den Lkw selbst Gewahrsam erlangt hat oder aber zunächst nur Gewahrsam durch bzw. für die Organe der T-GmbH begründet worden ist. Entsprechendes gilt für die von dem früheren Mitangekl. L im Einvernehmen mit dem Angekl. veranlasste Verladung von Ware im Wert von 800 € auf einen anderen Lkw der Spedition.“21

Sodann setzt sich das Gericht mit der Frage auseinander, ob der Umstand, dass das Geschehen von Mitarbeitern der Fa. T2 beobachtet wurde, einer Gewahrsamsbegründung durch A entgegenstehen könnte.

„Dass das ganze Geschehen von Mitarbeitern der Fa. T2 beobachtet wurde, hindert die Annahme einer vollendeten Wegnahme und damit eines vollendeten Diebstahls hinsicht-lich der auf den Lkw des Angekl. verladenen Waren im Wert von 4.800 € nicht. Diebstahl setzt keine Heimlichkeit voraus. Ob bei Beobachtung des Diebstahls durch den Eigentümer oder durch andere, die zu seinen Gunsten einzuschreiten ge-willt sind, die Begründung eigenen Gewahrsams möglich ist, hängt von den Einzelheiten ab. Wesentlich sind z.B. die mehr oder weniger große räumliche Nähe des Eigentümers oder seiner Beauftragten und die Schnelligkeit ihres Eingreifens sowie Umfang und Gewicht des Diebesgutes, alles dies unter Umständen in Verbindung mit besonderen Alarmeinrichtun-gen. Hier bestand zwar seitens der Mitarbeiter der Fa. T2 ein Verdacht auf einen Diebstahl, sie haben aber die Täter ge-währen lassen und lediglich Maßnahmen zur Beweissiche-rung (Aufnahme von Fotos) ergriffen.“22

Zuvor hatte das Gericht zur Frage, ob die Gewahrsams-verschiebung durch Bruch erfolgt ist, bereits festgestellt:

„Dass die Organe dieses Unternehmens einen generellen Sachherrschaftswillen bzgl. der entwendeten Gegenstände hatten und zwangsläufig nicht damit einverstanden waren,

21 OLG Hamm NStZ-RR 2014, 209 (210). 22 OLG Hamm NStZ-RR 2014, 209 (210).

dass Ware zulasten des Unternehmens unentgeltlich fortge-schafft wird, liegt auf der Hand und bedarf – bzw. bedurfte auch im angefochtenen Urteil – keiner ausdrücklichen Er-wähnung.“23

Hinsichtlich der Ware im Wert von 800 €, die auf den Lkw des gutgläubigen Fahrers verladen wurde, sah das OLG Hamm die Voraussetzungen des Diebstahls dagegen nicht als erfüllt an.

„Anders verhält es sich bei der Ware (Wert 800 €), die auf den Lkw eines anderen – nicht eingeweihten – Fahrers der Spedition verladen wurde. Hier bestand die soeben darge-stellte Gefahr eines Verlustes nicht, sondern hier war zwangs-läufig eine Entladung auf dem Gelände der Spedition, von welcher ihrerseits keine Widerstände gegen eine Rückholung des Diebesgutes durch die Fa. T2 zu befürchten waren, zu erwarten. Bei dem raschen Zugriff war mithin ein endgültiger Verlust nicht zu gewärtigen. Insoweit ist die Tat im Ver-suchs-stadium stecken geblieben. Einer Abänderung des Schuldspruchs bedurfte es nicht, da ungeachtet der teilweise nicht erfolgten Begründung eigenen Gewahrsams nur ein einheitlicher vollendeter Diebstahl vorliegt.“24

IV. Bewertung der Entscheidung Auf den ersten Blick erscheint die Entscheidung konsequent und richtig. Schaut man aber genauer hin, so vermögen die Ausführungen zur Gewahrsamsbegründung des gut- bzw. bösgläubigem Fahrers sowie zum (fehlenden) Einverständnis in die Gewahrsamsverschiebung nicht zu überzeugen. 1. Begründung neuen Gewahrsams

Das OLG Hamm lässt zunächst die Frage offen, ob A bereits durch das Aufladen auf den Lkw neuen Gewahrsam an der Ware begründet hat. Diese Frage ist zu verneinen.25 Indem die Ware auf den Lkw des A geladen wurde, wurde diese zwar in eine Gewahrsamsphäre des A überführt. Gleichwohl ist dabei zu berücksichtigten, dass die Mitarbeiter der Fa. T2 zu diesem Zeitpunkt jederzeit Zugriff auf die Ladefläche des Lkw hatten. A hat also zum Zeitpunkt des Verladens noch keine optimale Beherrschungsmöglichkeit erlangt.

Gewahrsam könnte A allerdings in dem Moment begrün-det haben, in dem er mit seinem Lkw das Gelände der Fa. T2 verlassen hat. A hat zu diesem Zeitpunkt die tatsächliche Sachherrschaft erlangt und ihm ist die Ladung – jedenfalls der Teil der Gegenstände, die ohne Nachweis eines Liefer-scheins unberechtigt auf seinen Lkw verladen wurden –, sozial zuzuordnen. Auch die Beobachtung durch die Mitar-beiter der Fa. T2 ändert zunächst nichts an der Überführung der Gegenstände in die Gewahrsamssphäre des A, die die beste Beherrschungsposition bietet. Die Mitarbeiter der Fa. T2 haben mit dem Abtransport den ungehinderten Zugriff auf die Ladung verloren. Die Beobachtung erleichtert lediglich die Rückerlangung des Gegenstandes, hat aber keine Auswir-kungen auf die Beherrschungssituation des A.

23 OLG Hamm NStZ-RR 2014, 209 (210). 24 OLG Hamm NStZ-RR 2014, 209 (210). 25 Jäger, JA 2015, 390 (392).

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Fraglich ist darüber hinaus, ob zudem eine Gewahrsams-verschiebung an der Ware eingetreten ist, die auf den Lkw des gutgläubigen Fahrers verladen wurde. Auch hier könnte eine Gewahrsamsverschiebung in dem Moment eingetreten sein, als der Fahrer das Gelände der Fa. T2 mit dem Lkw verließ. Das OLG Hamm verneint diese Möglichkeit mit der Begründung, dass die endgültige Verlustwahrscheinlichkeit bei einem gutgläubigen Fahrer weniger groß sei. Schaut man genau hin, so beschreibt das Gericht jedoch keine Verlust-wahrscheinlichkeit, sondern vielmehr eine „Rückholwahr-scheinlichkeit“. Damit setzt das Gericht aber einen Gewahr-samsverlust gleichsam voraus. Entscheidend ist auch hier der Umstand, dass die Mitarbeiter der Fa. T2 keinen Zugriff mehr auf die Ware hatten, sobald der gutgläubige Fahrer das Ge-lände der Firma verlassen hatte. Die Ware befand sich in der Gewahrsamssphäre des Lkw-Fahrers, die diesem zuzuordnen ist. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass der Lkw-Fahrer einen generellen Beherrschungswillen bezüglich der in seinen Lkw verladenen Gegenstände hat. Daher ist anzunehmen, dass jedenfalls der gutgläubige Lkw-Fahrer neuen Gewahr-sam an den Gegenständen begründet hat.

Will man dieser Argumentation nicht folgen, so haben die Mitarbeiter der T-GmbH jedenfalls Gewahrsam an der Ware begründet, nachdem diese aus dem Lkw ausgeladen und in der separaten Box abgelagert wurde. Diese Box befindet sich in der Gewahrsamssphäre der T-GmbH und ist dem Zugriff den Mitarbeitern der Fa. T2 ohne Mitwirkung der Mitarbeiter der T-GmbH vollkommen entzogen. Eine Gewahrsamsver-schiebung ist damit vollzogen. Dieser Zeitpunkt geriet offen-bar nicht in das Blickfeld des OLG Hamm. 2. Einverständnis in die Gewahrsamsverschiebung

Sehr apodiktisch wirkt die Feststellung des OLG Hamm, dass es „auf der Hand liegt“, dass die Mitarbeiter der Fa. T2 mit der Gewahrsamsverschiebung nicht einverstanden waren.

Zunächst ist davon auszugehen, dass der Logistikleiter der Fa. T2 generell mit dem Gewahrsamsübergang auf die Mitarbeiter der Speditionsfirma T-GmbH einverstanden ist. Etwas anderes könnte sich hier allerdings aus dem Umstand ergeben, dass u.a. der Logistikleiter in Bezug auf die für A bestimmte Ware misstrauisch war, Beweissicherungsmittel ergriff und sich innerlich vorbehielt, den Vorgang später auf dem Gelände der T-GmbH zu überprüfen. Insoweit gilt aber, dass der rein innere Vorbehalt das generelle Einverständnis in den tatsächlichen Vorgang des Gewahrsamsübergangs nicht auszuschließen vermag.26 Greift man dagegen die obige Dif-ferenzierung zwischen der Diebesfalle und der bloßen Beo-bachtung auf, so ist festzustellen, dass hier kein Fall einer klassischen Diebesfalle gegeben ist. Denn der Logistikleiter hat die Ware hier gerade nicht wie bei einer Diebesfalle in der Absicht bereitgestellt, dass A diese gleichsam als „Kö-der“ entwendet. Vielmehr hat der Logistikleiter den Vorgang nur zufällig beobachtet und A auch nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Tat gestellt. Dies könnte zunächst gegen ein Einverständnis sprechen, wie es typischerweise bei der Diebesfalle (stillschweigend) erklärt wird. Entscheidend

26 Schmitz (Fn. 2), § 242 Rn. 91.

ist hier allerdings, dass der Logistikleiter bewusst darauf verzichtet hat, seine Zweifel sofort auszuräumen. Dabei ist auch nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Logistikleiter eines Unternehmens bei auftretenden Unstimmigkeiten nicht nach den Ladepapieren fragen kann. Darin wäre noch kein „Bezichtigen“ eines Diebstahls vor aller Augen zu sehen, für den Fall, dass die Papiere in Ordnung gewesen wären. Der Logistikleiter ließ die „verdächtige“ Ware – wie die übrige Ware desselben Geschäftsvorgangs – passieren, womit er eine bewusste Entscheidung über die Aufgabe des Gewahr-sams getroffen und damit sein Einverständnis erklärt hat.27 Dann aber ist die Gewahrsamsverschiebung nicht „durch Bruch“ erfolgt und eine vollendete Wegnahme scheidet – entgegen der Annahme des OLG Hamm – aus. A hätte sich dann nur wegen versuchten Diebstahls strafbar gemacht. IV. Ausblick Diebstahlsfälle gehören zum Standard des Prüfungsstoffes. Die vorliegende Entscheidung bringt in Bezug auf die Weg-nahme und den Gewahrsamsbegriff zwar wenig „Neues“. Der Fall enthält aber viel Argumentationspotential und ist daher zur Wiederholung des Stoffes und vor allem als Prüfungsauf-gabe bestens geeignet.

Privatdozentin Dr. Janique Brüning, Hamburg

27 A.A. OLG Hamm NStZ-RR 2014, 209; Hecker, JuS 2015, 276; im Ergebnis wie hier – aber mit anderer Begründung – Jäger, JA 2015, 390 (392).

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BGH, Beschl. v. 17.9.2014 – 1 StR 387/14 Putzke _____________________________________________________________________________________

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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Entziehung Minderjähriger durch Entziehung eines El-ternteils Entziehung Minderjähriger liegt auch dann vor, wenn ein sorgeberechtigter Elternteil zwangsweise für eine gewisse Dauer von seinem unter achtzehnjährigen Kind entfernt wird. (Amtlicher Leitsatz) StGB § 235 Abs. 1 BGH, Beschl. v. 17.9.2014 – 1 StR 387/141 I. Einleitung Zu § 235 StGB weist die Statistik für das Jahr 2013 immerhin 106 Abgeurteilte aus.2 Das ist viel, vergleicht man die statis-tische Häufigkeit etwa mit derjenigen der schweren Körper-verletzung nach § 226 Abs. 1 StGB (59 Abgeurteilte) oder des erpresserischen Menschenraubs nach § 239a StGB (92 Abgeurteilte). Gleichwohl wird § 235 StGB, der immerhin zum Pflichtstoff gehört, sowohl im juristischen Studium als auch in der Ausbildungsliteratur – wenn überhaupt – allen-falls am Rande behandelt.3 Dabei enthält dieser Tatbestand eine ganze Reihe lehrreicher Aspekte. Einer davon ist zu finden in einem Sachverhalt, über den der BGH zu entschei-den hatte. II. Sachverhalt Der Angeklagte und seine Ehefrau sind die Eltern zweier minderjähriger Kinder. Nach jahrelangem Ehestreit beschloss der Vater, sich seiner Frau „gänzlich zu entledigen“ und sie dazu zu ihrer Familie in die Türkei zurückzuschicken. Die beiden gemeinsamen Kinder wollte er bei sich in Deutsch-land behalten. Als seine Frau sich weigerte, auszureisen und die Kinder zurückzulassen, drohte der Angeklagte ihr mit dem Tode, wenn sie nicht in die Türkei ginge. Daraufhin ließ sie sich Anfang 2012 gegen ihren Willen in die Türkei brin-gen und gelangte erst Ende des Jahres wieder nach Deutsch-land.

Auf der Grundlage dieser Feststellungen verurteilte das Landgericht den Angeklagten wegen Entziehung Minderjäh-riger (§ 235 StGB) in Tatmehrheit mit Nötigung (§ 240 StGB). Dagegen legte der Verurteilte Revision ein, woraufhin der BGH das Urteil dahingehend änderte, dass er statt einer 1 Die Entscheidung ist online abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=b388f9cfc44cfb2cf4506b5b13d2d0e7&nr=69306&pos=0&anz=1 (23.5.2015) sowie BeckRS 2014, 20494 (gekürzte gedruckte Fassung in NStZ 2015, 85). – Meiner Wiss. Mitarbeiterin Jadwiga Loiko danke ich für ihre wertvolle Unterstützung. 2 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 (Rechtspflege, Strafverfolgung), Berichtszeitraum 2013, 2015, S. 68. 3 Siehe aber Putzke/Putzke, JA 2014, 183 (185 f.).

tatmehrheitlichen Begehung zwischen Nötigung und Entzie-hung Minderjähriger Tateinheit annahm. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Entziehung Minderjähriger bestätigte der 1. Strafsenat. III. Das Tatbestandsmerkmal „Entziehen“ nach her-kömmlicher Sicht Nach Ansicht des 1. Strafsenats hatte der Angeklagte zwei Personen unter achtzehn Jahren durch Drohung mit einem empfindlichen Übel einem Elternteil entzogen und somit § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB verwirklicht. Dass es sich bei dem Täter selbst um den ebenfalls sorgeberechtigten Vater der Kinder gehandelt hat, stand einer Verurteilung wegen Entzie-hung Minderjähriger nicht entgegen. Denn anders als Abs. 1 Nr. 2 kann Abs. 1 Nr. 1 auch durch einen sorgeberechtigten Elternteil gegenüber dem anderen begangen werden, sofern auch diesem Elternteil das Sorgerecht (zumindest teilweise4) zusteht.5 Dies ist in § 235 Abs. 1 und 2 StGB dadurch klarge-stellt, dass der „Elternteil“ in der Aufzählung der gegen eine Entziehung Minderjähriger geschützten Personen ausdrück-lich genannt ist.6

Diskussionswürdig war angesichts der für eine Kindes-entziehung zumindest unüblichen Sachverhaltskonstellation allein die Frage, ob der Angeklagte seiner Ehefrau die ge-meinsamen Kinder entzogen hatte, indem er durch seine Drohung deren Ausreise aus Deutschland bewirkt hatte.

Der 1. Strafsenat bejahte das: „Eine Entziehung im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht nur vor, wenn der Minderjährige unter den Voraussetzungen des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB vom Elternteil entfernt wird, sondern auch, wenn der Elternteil unter diesen Voraussetzungen vom Minderjährigen entfernt und ferngehalten wird“.7 Denn nach allgemeiner Ansicht ist ein Minderjähriger dem Sorgerechtsinhaber „entzogen“, „wenn das Recht zur Erziehung, Beaufsichtigung und Auf-enthaltsbestimmung durch räumliche Trennung für eine ge-wisse, nicht nur ganz vorübergehende Dauer so beeinträchtigt wird, dass es nicht ausgeübt werden kann“.8 „Das von § 235

4 Demgegenüber vertritt Geppert (in: Hirsch/Kaiser/ Marquardt [Hrsg.], Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 759 [774, 778]) die Auffassung, dass lediglich das volle Personensorgerecht geschützt sei. 5 Siehe Krehl, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 7/2, 12. Aufl. 2015, § 235 Rn. 3 f., 17 und 111. 6 BT-Drs. 13/8587, S. 38; Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 17. 7 BGH NJW 2014, 3589 Rn. 11. 8 Siehe nur BGHSt 10, 376 (378); 16, 58 (61); BGH NStZ 1996, 333; Braasch, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 235 StGB Rn. 8; Eser/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetz-buch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 235 Rn. 6; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 62. Aufl. 2015, § 235 Rn. 6; Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar, 6. Aufl. 2015, § 235 Rn. 3; Schroth, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, 2. Aufl. 2015, § 235 Rn. 7; Sonnen, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetz-

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StGB vorrangig geschützte Rechtsgut des Sorgerechts der für den jungen Menschen verantwortlichen Personen und das daraus abgeleitete Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht […] sind auch verletzt, wenn ein Elternteil selbst räumlich entfernt wird und seine Rechte deshalb nicht wahrnehmen kann“.9 Angesichts des nahezu einjährigen Aufenthalts der Mutter in der Türkei war die räumliche Trennung auch von nicht nur ganz vorübergehender Dauer.

In der Literatur wird ein Entziehen auch dann bejaht, wenn dem Sorgerechtsinhaber der Zugang zum Minderjähri-gen verwehrt wird, was etwa bei Einsperren des Berechtigten der Fall sei.10 Es genüge für ein Entziehen, dass der Erzie-hungsberechtigte vom Minderjährigen ferngehalten oder daran gehindert werde, zu diesem räumlich zu gelangen;11 eine Veränderung des Aufenthaltsorts des Minderjährigen selber sei in diesem Fall für die Tatbestandsverwirklichung nicht nötig.12 Bejaht wurde eine Entziehung auch für den Fall, dass jemand „die Eltern […] aus ihrem Haus weglockt, um dort mit der minderjährigen Tochter die der elterlichen Abreise folgenden Stunden voll auszukosten“,13 und allge-mein dann, wenn der vermeintliche Täter eine Beeinträchti-gung des Sorgerechts herbeiführt „durch Handlungen, die sich unmittelbar gegen den Obhutspflichtigen und Sorge-rechtsinhaber auswirken“14.

Wird der Berechtigte jedoch eingesperrt oder durch Dro-hungen mit dem Tod daran gehindert, sich dem Minderjähri-gen zu nähern, oder wird er von diesem durch listiges Vorge-hen weggelockt, lässt sich zunächst festhalten, dass der Täter

buch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 235 Rn. 15; Valerius, in: von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 10.11.2014, § 235 Rn. 6; Wieck-Noodt, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 235 Rn. 37. 9 BGH NJW 2014, 3589 Rn. 11. 10 Siehe etwa Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 6; Wieck-Noodt, (Fn. 8), § 235 Rn. 38. 11 Siehe nur Geppert (Fn. 4), S. 780 f.; Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 46; Sallum, Die strafrechtlichen Probleme der internatio-nalen Kindesentziehung beim Streit um das gemeinsame Kind, 2008, S. 73, 77 und 161 f.; ähnlich auch schon Fichtl, Die Entziehung Minderjähriger, 1912, S. 65; Nippgen, Der Kinderraub, 1930, S. 55 f. 12 Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 46. 13 Regel, „Entziehen“ und „Entführen“ Minderjähriger, 1975, S. 87; ähnlich wohl auch Schramm (Ehe und Familie im Strafrecht, 2011, S. 465), wenn er für den Fall, dass nach einem Ehestreit die Ehefrau die gemeinsame Wohnung ver-lassen will und bei der Auseinandersetzung um das gemein-same Kind der „Vater das Kind mit Gewalt an sich“ nimmt, ein „Entziehen“ (bzw. „Vorenthalten“) allein mit der Be-gründung ablehnt, dass das Sorgerecht in dieser Konstellation zwangsläufig „nur durch eine Person ausgeübt werden kann“ (Hervorhebung im Original), also „einer der beiden Elterntei-le auf das Kind verzichten“ müsse, und es daher als Angriffs-objekt ausscheide. 14 Regel (Fn. 13), S. 84, vgl. auch S. 87 (Hervorhebung im Original).

ein Tatmittel anwendet, das sich gegen den Berechtigten richtet.15 Für das zur Verwirklichung des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB zusätzlich erforderliche Tatmittel ist anerkannt, dass es sowohl gegen den Sorgeberechtigten als auch gegen die min-derjährige Person wie auch gegen Dritte angewandt werden kann.16 Bereits aus dem Gesetzeswortlaut folgt aber, dass zwischen dem Tatmittel und der Tathandlung zu unterschei-den ist: Allein aus dem Umstand, dass Gewalt, Drohung oder List gegenüber den Eltern vorliegt, kann nicht darauf ge-schlossen werden, dass auch die Tathandlung des „Entzie-hens“ gegeben ist. Entscheidend ist vielmehr, ob es für ein Entziehen – wie von der wohl allgemeinen Ansicht ange-nommen – tatsächlich im Wesentlichen allein auf eine Beein-trächtigung des Sorgerechts ankommt. IV. Kritik an der herrschenden Meinung 1. Verweis auf das geschützte Rechtsgut

Zur Begründung seiner Auslegung des Tatbestandsmerkmals „entziehen“ beruft sich der 1. Strafsenat darauf, dass § 235 StGB „vorrangig“ das Personensorgerecht „der für den jun-gen Menschen verantwortlichen Personen und das daraus ab-geleitete Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht“ schüt-ze.17 Als Beleg hierfür wird eine Entscheidung des 4. Strafse-nats aus dem Jahr 199918 angeführt. Der Umstand, dass diese – anders als die aktuelle Entscheidung – den zur Tatzeit (noch) geltenden § 235 StGB a.F. betraf, schien keiner be-sonderen Erwähnung wert. Problematisch erweist sich das insofern, als § 235 StGB a.F. nach herrschender Ansicht noch in erster Linie den Schutz der elterlichen oder sonstigen fami-lienrechtlichen Sorge bezweckte und den Interessen des Kin-des lediglich mittelbar diente,19 § 235 StGB nach neuer Rechtslage demgegenüber nicht nur die Personensorge, son-dern „unmittelbar auch die entzogene Person (Kind oder Jugendlicher) schützt“20. Diese Erweiterung hinsichtlich der unmittelbar geschützten Rechtsgüter wird insbesondere aus § 235 Abs. 4 Nr. 1 Var. 3 und Abs. 5 StGB abgeleitet.21 Ge-schützt ist dabei nicht (oder jedenfalls nicht umfassend)22 die 15 Vgl. Hey, Kinderraub und Entführung (§§ 235-238 R.St.G.B.), 1909, S. 35. 16 Siehe nur Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 69. 17 BGH NJW 2014, 3589 Rn. 11 unter Verweis auf BGH NJW 1999, 1344. 18 BGH NJW 1999, 1344. 19 Siehe zur alten Rechtslage nur BT-Drs. 13/8587, S. 23; BGH NJW 1999, 1344 (1345). 20 BT-Drs. 13/8587, S. 38; vgl. auch Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 1; Wieck-Noodt (Fn. 8), § 235 Rn. 1 und 8; Fischer (Fn. 8), § 235 Rn. 2; Nelles, in: Dencker/Struensee/Nelles/ Stein, Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz 1998, 1998, 3. Teil Rn. 28. 21 BT-Drs. 13/8587, S. 38 f.; Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 1; Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 33 f.; kritisch Schroeder, in: Kühne/ Jung/Kreuzer/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Klaus Rolinski zum 70. Geburtstag am 11. Juli 2002, 2002, S. 155 (161). 22 Während manche das dem Minderjährigen zustehende Rechtsgut als „Konkretisierung“ oder „Ausdruck“ seines Rechts der persönlichen Freiheit begreifen (so Wieck-Noodt

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persönliche Freiheit des Minderjährigen, sondern seine unge-störte körperliche und seelische Entwicklung.23

Da § 235 StGB nunmehr auch die körperliche und seeli-sche Integrität der minderjährigen Person als eigenständiges24 Rechtsgut schützt, kann das Vorliegen einer „Entziehung“ im Sinne des § 235 StGB nicht allein unter Hinweis auf eine Verletzung des (vermeintlich vorrangig geschützten) Sorge-rechts des Berechtigten begründet werden. Die Auslegung der Tathandlung muss vielmehr zusätzlich eine mögliche Be-einträchtigung oder Gefährdung des Minderjährigen als ent-zogene Person im Blick haben. Dass eine solche bereits mit jeder Verletzung des Sorgerechts zwingend verbunden ist, ist nicht anzunehmen, auch wenn das Interesse des Schutzbefoh-lenen in einem solchen Fall mittelbar betroffen sein mag25 und „Sorgerecht der Eltern und Entwicklungsrecht des Min-derjährigen [als] […] nur zwei verschiedene Aspekte eines und desselben Rechtsgedankens“26 verstanden werden. Denn das Interesse des Minderjährigen, vom Sorgerecht des für ihn Verantwortlichen zu profitieren, wurde (nach herrschender Ansicht) bereits durch § 235 StGB a.F. reflexartig über den Schutz des Personensorgerechts erfasst.27 Die Aufwertung des Kinder- und Jugendschutzes durch das 6. Strafrechtsre-formgesetz28 zu einem neben der elterlichen Sorge gleichwer-tig geschützten Rechtsgut verlöre jeden materiellen Gehalt, würde man das „neue“ Schutzgut mit dem über das Sorge-recht bewirkten mittelbaren Schutz des entzogenen Kindes gleichsetzen. Vielmehr zielt der Tatbestand des § 235 StGB in gleichem Maße auf die Gewährleistung der körperlichen und seelischen Integrität der entzogenen Person als eigen-ständiges Rechtsgut ab. Dem kann auch nicht entgegengehal-ten werden, dass die Tatbestände des § 235 Abs. 1 und 2 StGB auch dann verwirklicht sind, wenn der Aufenthalt beim Täter für das Kind keine Nachteile nach sich ziehen oder diesem sogar zugutekommen mag.29 Es genügt insoweit, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass sich eine räumliche Trennung von der elterlichen Familie in der Regel nachteilig

[Fn. 8], § 235 Rn. 8; Krehl [Fn. 5], § 235 Rn. 37), meinen andere, dass es nicht um die persönliche Freiheit des Schutz-befohlenen gehe (siehe Wolters, in: Wolter [Hrsg.], Systema-tischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 136. Lfg., Stand: Oktober 2012, § 235 Rn. 2; Schroth [Fn. 8], § 235 Rn. 2). 23 Vgl. Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 1; Wieck-Noodt (Fn. 8), § 235 Rn. 8. 24 Sallum (Fn. 11), S. 64; Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 36. 25 Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 32. 26 Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 37. 27 Dazu überblicksartig Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 32. Nach Geppert ([Fn. 4], S. 771 f.) sollte mit der Feststellung, dass § 235 StGB „auch“ oder „mittelbar“ dem Schutz des Minder-jährigen diene, zum Ausdruck gebracht werden, dass das elterliche Sorgerecht im Interesse des Minderjährigen ge-schützt werde, und zwar insofern, als „ein Auseinanderfallen von Sorgerecht und Sorgepflicht“ (Hervorhebung im Origi-nal) verhindert werden sollte. 28 BGBl. I 1998, S. 164. 29 So aber Schramm (Fn. 13), S. 468.

auf das Kind auswirkt.30 Gewährleistet ist eine solche Beein-trächtigung der Integrität des Kindes typischerweise dann, wenn der Täter den Minderjährigen dem Einflussbereich des Sorgeberechtigten entreißt und ihn an einen anderen Ort verbringt. 2. Der allgemeinsprachlich mögliche Wortsinn als Grenze der Auslegung

Doch selbst wenn sich aus den Gesetzesmaterialien ableiten lässt, dass § 235 StGB vorrangig dem Schutz des Personen-sorgerechts dient und es sich dabei um das vorrangig zu schützende Rechtsgut handelt, wäre damit die Frage nicht beantwortet, ob der Entzug eines Elternteils dem gesetzlichen Begriff „entziehen“ subsumiert werden kann. Denn jede Auslegung (auch die historische, also selbst der Wille des Gesetzgebers) findet eine Grenze beim allgemeinsprachlich noch möglichen Wortsinn. Eine Interpretation, die darüber hinausgeht, verletzt Art. 103 Abs. 2 GG.

Betrachtet man den Wortsinn des Begriffs „entziehen“, gelangt man dazu, dass diesem Ausdruck im alltäglichen Sprachgebrauch unterschiedliche Bedeutungen zukommen können. Dem Sinnzusammenhang des § 235 StGB lässt sich entnehmen, dass das Verb „entziehen“ in dieser Vorschrift in der allgemeinsprachlichen Bedeutung „nicht länger überlas-sen, nicht mehr in jmds. Besitz, Verfügungsgewalt o. Ä. lassen“31 verwendet wird.32 Spricht man aber davon, dass etwas nicht im Besitz oder in der Verfügungsgewalt einer Person gelassen bzw. belassen wird, deutet dies darauf hin, dass das Objekt nicht im Einflussbereich des Berechtigten verbleibt, weil es durch entsprechende Einwirkung darauf aus diesem Bereich entfernt wird. Man könnte stattdessen ebenso gut sagen, dass die Besitzverhältnisse oder die Verfügungs-gewalt der Person bezogen auf den Gegenstand geändert werden33 oder dass das Objekt aus dem Besitz oder der Ver-fügungsgewalt der Person entfernt oder weggenommen bzw. mitgenommen wird.34

In der Zusammenschau zeichnet sich somit ein allgemei-nes Begriffsverständnis ab, das eine tatsächliche Einwirkung auf den entzogenen Gegenstand impliziert, die dazu führt, dass dieser Gegenstand nicht mehr im Einflussbereich des

30 Zu dieser Annahme des Gesetzgebers (unter Verweis auf § 1666a BGB) siehe Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 36. 31 Duden, Bd. 10 – Das Bedeutungswörterbuch, 4. Aufl. 2010, S. 334, Stichwort „entziehen“ Nr. 1 lit. b. 32 Eine grammatikalische, für die hier interessierende Frage allerdings nicht ganz eindeutige Auslegung der Tathandlung „Entziehen“ findet sich auch in RGSt 18, 273 (277 f.): „Das Wort deutet eigentlich auf ein Trennen hin durch Ziehen dessen, was man trennen will.“ Hier werde es aber in über-tragener Bedeutung gebraucht, daher genüge „zur Entziehung die Beseitigung der früheren Verbindung“; siehe auch Freiesleben u.a., in: J. v. Olshausen’s Kommentar zum Straf-gesetzbuch, 12. Aufl. 1942, § 235 Anm. 2a; Fichtl (Fn. 11), S. 64. 33 Vgl. Duden (Fn. 31), S. 595, Stichwort „lassen“ Nr. 4. 34 Vgl. Duden (Fn. 31), S. 595, Stichwort „lassen“ Nr. 2 lit. c, Nr. 7 lit. a.

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Berechtigten ist. Wird davon gesprochen, dass einer Person etwas „entzogen ist“, wird man das Zustandspassiv zwar lediglich dahingehend verstehen, dass das Objekt nicht mehr dem Besitz oder der Verfügungsgewalt einer Person unter-liegt, ohne dem zugleich eine zwingende Aussage in Bezug auf eine wie auch immer geartete Einflussnahme zu entneh-men, die den beschriebenen Zustand herbeigeführt haben mag. Wird aber zum Beispiel eine Person im Keller eines Hauses eingesperrt oder unter Einwirkung von Gewalt an einen entfernten Ort verbracht, sodass sie nicht mehr zu dem vor ihrem Haus stehenden Fahrrad gelangen kann, liegt eine Formulierung wie „man entzieht der Person damit das Fahr-rad“ nach allgemeinem Sprachgebrauch wenig nahe. Man könnte in diesem Fall eher davon sprechen – und würde den zuletzt angeführten Satz in diesem Zusammenhang wohl letztlich auch so verstehen –, dass man der Person die Verfü-gungsgewalt über das Fahrrad entzieht, also wegnimmt. Das Objekt der Entziehung wäre bei genauer Ausdrucksweise damit aber ein anderes.

Setzt § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB voraus, dass der Täter eine Person unter 18 Jahren dem Sorgeberechtigten entzieht, wird damit der Minderjährige als „Tatobjekt“ bzw. als „Objekt der Tathandlung“ bestimmt.35 Er ist somit derjenige, auf den die Handlung des Täters tatsächlich unmittelbar einwirkt. Der Sorgerechtsberechtigte ist von der Entziehung des Schutzbe-fohlenen dagegen lediglich betroffen.36

Der Blick auf den Wortlaut führt zudem zu der Erkennt-nis, dass ein „Entziehen“ eine Ortsveränderung des von der Einwirkung betroffenen Gegenstands beinhaltet. In Bezug auf das „Entziehen“ im Sinne des § 235 StGB besteht in Recht-sprechung und Lehre demgemäß weitgehend Einigkeit, dass diese Tathandlung eine räumliche Trennung zwischen der entzogenen minderjährigen Person und dem Sorgeberechtig-ten erfordere. Dadurch solle die Vorschrift konkretisiert und der Tatbestand mit Blick auf die geschützten Rechtsgüter sachgerecht eingeschränkt werden, da insbesondere nicht jede denkbare Beeinträchtigung des Sorgerechts eine Strafbarkeit wegen Entziehung Minderjähriger begründen solle.37 Eine wesentliche, der Ausübung des Personensorgerechts entge-genstehende Beeinträchtigung liege vielmehr nur vor bei

35 So etwa auch Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 2 f.; Wieck-Noodt (Fn. 8), § 235 Rn. 22 f.; Wolters (Fn. 22), § 235 Rn. 3 f. und Rn. 13; Schramm (Fn. 13), S. 458; ebenso schon Villnow (Archiv für Gemeines Deutsches und für Preußisches Strafrecht 24 [1876], 104 [117]), der zum Beleg dafür, dass der Minderjährige als „Objekt des Entziehens“ fungiert, dar-auf verweist, dass das „Gesetz sagt: ‚Wer eine minderjährige Person […] ihren Eltern oder ihrem Vormund entzieht‘ und nicht: ‚Wer einer minderjährigen Person […] ihre Eltern oder ihren Vormund entzieht.‘“ Anders dagegen Valerius (Fn. 8), § 235 Rn. 2, der als „Tat-“ bzw. „Angriffsobjekt“ das Sorge-recht bezeichnet. 36 Vgl. Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 2, der zwischen dem „Objekt der Entziehung“ und „den davon betroffenen Schutzpersonen“ unterscheidet. Ebenso Schramm (Fn. 13), S. 458. 37 So Sallum (Fn. 11), S. 75 f.

einer räumlichen Trennung der betroffenen Personen.38 Ver-langt man aber für ein „Entziehen“ eine räumliche Trennung, die, wie dies der allgemeinsprachliche Wortsinn nahelegt, durch eine Einwirkung auf die minderjährige Person herbei-geführt werden soll, ergibt sich, dass dieses Tatbestands-merkmal nur durch räumliche Entfernung des Schutzbefohle-nen verwirklicht werden kann. Bemerkenswert ist im Übri-gen, dass sich auch die herrschende Meinung zur Bestim-mung der Tathandlung in diesem Punkt nicht allein auf das (weite) Kriterium der Beeinträchtigung der Sorgerechtsaus-übung verlassen möchte, obwohl auf der Hand liegt, dass eine solche Beeinträchtigung auch ohne räumliche Trennung vor-liegen kann.39

Gestützt wird die restriktive Sichtweise zum Wortsinn von der Systematik: § 235 Abs. 2 Nr. 1 StGB enthält als Vor-aussetzung, dass der Täter in der Absicht handeln muss, das Kind ins Ausland zu verbringen. Dies legt nahe, dass das Tat-bestandsmerkmal „entziehen“ durch einen Ortswechsel des Kindes als Vorstufe der beabsichtigten Verbringung ins Aus-land begangen wird. Für ein solches Verständnis spricht zu-sätzlich, dass Abs. 2 Nr. 1 die „aktive Entführung“ von Kin-dern – im Unterschied zur „passiven Entführung“ in Abs. 2 Nr. 2 – erfassen soll.40

Auch § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB weist in diese Richtung: Nach dem in den Gesetzgebungsmaterialien formulierten Schutzzweck des § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB soll diese Vor-schrift der „besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern“ Rechnung tragen und „insoweit bereits die schlichte Weg-nahme, also eine Entziehung, bei der weder Gewalt oder Drohung noch List angewendet wird, unter Strafe […] stel-len“.41 Dies deutet darauf hin, dass § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB, wenn auch nicht unbedingt ausschließlich, so doch schwer-punktmäßig eine Tatbestandsverwirklichung durch räumli-ches Entfernen des Schutzbefohlenen verhindern soll.

Ein weiterer Beleg für eine im Gesetz angelegte unter-schiedliche Betroffenheit des Minderjährigen und des Sorge-rechtsberechtigten durch das Tatgeschehen ist darin zu sehen, dass mit der Bezeichnung „Opfer“ in § 235 Abs. 4 Nr. 1 und Abs. 5 StGB lediglich die minderjährige Person bzw. das Kind gemeint ist.42 Dafür spricht zum einen der Wortlaut von Abs. 4 Nr. 1 Var. 3.43 Dort ist die Rede von einer „erhebli-chen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwick-

38 Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 45. 39 Vgl. dazu etwa Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 10. Aufl. 2012, § 63 Rn. 60. 40 BT-Drs. 13/8587, S. 24, 38 f. 41 BT-Drs. 13/8587, S. 38. 42 So etwa BGH NStZ 2006, 447 (448); Wolters (Fn. 22), § 235 Rn. 18 und 20; Fischer (Fn. 8), § 235 Rn. 2, 16a; Braasch (Fn. 8), § 235 StGB Rn. 17 f.; Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 82; wohl auch Wieck-Noodt (Fn. 8), § 235 Rn. 90; Hardtung, Versuch und Rücktritt bei den Teilvorsatzdelikten des § 11 Abs. 2 StGB, 2002, S. 144. A.A. etwa Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 22 f.; Sonnen (Fn. 8), § 235 Rn. 23. 43 Siehe Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 39), § 63 Rn. 67; Wolters (Fn. 22), § 235 Rn. 18; wohl auch Hardtung (Fn. 42), S. 144.

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lung“. Dass es dabei nicht um die Sorgeberechtigten geht, liegt auf der Hand. Bestätigt wird dies durch die Gesetzesma-terialen.44 V. Fazit Wer einen sorgeberechtigten Elternteil zwangsweise für eine gewisse Dauer von seinem unter achtzehnjährigen Kind ent-fernt, macht sich nicht wegen Entziehens nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar. Denn dafür genügt es nicht allein, das Recht zur Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbe-stimmung durch räumliche Trennung für eine nicht nur ganz vorübergehende Dauer so zu beeinträchtigen, dass es nicht mehr ausgeübt werden kann. Vielmehr zieht in der vorliegen-den Sachverhaltskonstellation der Wortsinn einer derart wei-ten Auslegung eine Grenze. Die Annahme einer Strafbarkeit ist mit dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht vereinbar. Dass gleichwohl eine Strafbarkeit nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB in Betracht kommen könnte, weil die Kinder der Mutter durch den Vater vorenthalten wurden, ist eine andere Frage.

Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M., Passau

44 Dazu BGH NStZ 2006, 447 (448); Wolters (Fn. 22), § 235 Rn. 18.

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B u c h r e z e n s i o n

Peter Schlechtriem/Ulrich G Schroeter, Internationales UN-Kaufrecht, 5. Aufl., Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2013, 419 S., € 34,-. Die Vereinheitlichung des Kaufrechts ist nicht zuletzt wegen des Vorschlags für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (CESL)1 in aller Munde. Während sich dieses ohnehin kei-nesfalls unumstrittene2 Projekt eines optionalen Instruments jedoch noch in der Praxis würde bewähren müssen, ist das seit dem 1.1.1988 in Kraft befindliche UN-Kaufrecht (CISG)3 im unternehmerischen Kaufrechtsverkehr als verlässliches Regelwerk weithin anerkannt. Auch hat das CISG an juristi-schen Fakultäten - regelmäßig in Form eigenständiger Vorle-sungen innerhalb der internationalrechtlichen Schwerpunkt-bereiche - seinen festen Platz. Kein Wunder also, dass UN-Kaufrechtler einem etwaigen künftigen „Wettbewerb der Einheitskaufrechte“ recht „gelassen entgegensehen“ sowie das CESL als (jedenfalls für Handelskäufe) „verzichtbar“ be-trachten. Mit dieser selbstbewussten Haltung gegenüber dem vermeintlichen „Konkurrenzprodukt“ der EU beginnt dann auch der Schlechtriem/Schroeter (Rn. 23).

Um es vorweg zu nehmen: Diese Buchbesprechung wird äußerst positiv ausfallen. Wenn es ein Lehrbuch zu vollbrin-gen vermag, seinem Leser bereits beim ersten konzentrierten Durcharbeiten die grundlegenden Gedanken sowie die Sys-tematik eines Rechtsbereiches derart fundiert zu vermitteln, bleibt nur jener beifällige Befund. Und tatsächlich schafft der Schlechtriem/Schroeter genau dies. Es handelt sich hierbei um eines der seltenen Lehrbücher, bei dem es sich lohnt, es ganz durchzuarbeiten - dies jedenfalls dann, wenn der Leser erstmalig auf die Thematik „UN-Kaufrecht“ zugreift. Danach darf man getrost von sich behaupten, etwas vom CISG zu verstehen. Zugleich schafft der Rezipient sich einen hervor-ragenden Ausgangspunkt, um seine Kenntnisse sodann hier-auf aufbauend weiter zu vertiefen. Aber auch der versierte UN-Kaufrechtler mag sich mitunter im Schlechtriem/ Schroeter zuverlässig rückabsichern.

Das von Peter Schlechtriem begründete Werk hat Ulrich G. Schroeter in der aktuellen Auflage fortgeführt. Jedenfalls

1 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parla-ments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM (2011) 635 endg. 2 Siehe aus der Fülle des Schrifttums nur Ayad/Schnell, BB 2012, 1487; Groß, EuZW 2012, 521; Kroll-Ludwigs, GPR 2012, 181; Leible, BB 2008, 1469; Limmer/Huttenlocher/ Simon, EuZW 2013, 86; Loacker, EuZW 2014, 888; Mansel, WM 2012, 1253; ders., WM 2012, 1309; Mayer/Lindemann, ZEuP 2014, 1; Schulze, ZEuP 2014, 691; Wendehorst, ZEuP 2013, 199; Wendelstein, GPR 2013, 70. 3 Wiener UN-Übereinkommen über Verträge über den inter-nationalen Warenkauf v. 11.4.1980 = BGBl. II 1989, S. 588; in der Bundesrepublik Deutschland ist das Übereinkommen am 1.1.1991 in Kraft getreten, Gesetz zu dem Übereinkom-men der Vereinten Nationen vom 11.4.1980 über Verträge über den internationalen Warenkauf = BGBl. II 1989, S. 586.

in den zentralen Fragen (Vertragsabschluss; materielles Kauf-recht) geschieht dies trotz diverser inhaltlicher Änderungen weitgehend behutsam. In anderen Teilen (Anwendungsbe-reich; allgemeine Vorschriften; Schlussbestimmungen) ist die neue Handschrift hingegen – legt man die Vorauflage da-neben – nicht mehr zu verkennen. Schroeters Verdienst ist es, dass das Werk gleichwohl in sich stimmig bleibt. Insbesonde-re kann man dem im Gesamtumfang nicht unerheblich „an-gewachsenem“ Lehrbuch (von 282 auf 419 Seiten) einen nunmehr stärkeren internationalen Einschlag bescheinigen. Dies gilt einmal mit Blick auf eine deutlichere Berücksichti-gung des EU-Rechts, aber auch hinsichtlich einer stärker ausgeprägten Verwertung ausländischer Judikatur.

Warum nun ist das Lehrbuch also derart empfehlenswert? Ganz allgemein gilt Folgendes: Zunächst fallen die ein-

gängigen, unprätentiösen Formulierungen positiv auf. Nur äußerst selten muss man einen Satz zweimal lesen, um ihn zu verstehen. Das ermöglicht ein zügiges Durcharbeiten. Im Aufbau hält sich das Buch zwar im Ausgangspunkt „kom-mentarähnlich“ an die Reihung der CISG-Vorschriften, nimmt vor dem Hintergrund der inhaltlichen Abstimmung der Normen zueinander allerdings mitunter auch bereits knappe Vorgriffe und Inbezugnahmen vor,4 was dem Ver-ständnis des systematischen Zusammenspiels der einzelnen Regelungen förderlich ist. Ein gutes Händchen muss man auch für den wohl durchdachten Mix aus theoretischem In-formationsteil und den zugehörigen Beispielen - basierend zumeist auf tatsächlich ergangener Judikatur - bescheinigen. Auf diese Weise gerät die Darstellung nicht nur plastisch; man bekommt zudem recht schnell ein Gefühl für Tendenzen der internationalen Rechtsprechung. Auch die „inhaltliche Dichte“ des Lehrbuches erscheint vorzüglich abgestimmt. Weder wird Überflüssiges breitgetreten noch fehlt Wesentli-ches. Für künftige Auflagen bleibt in diesem Zusammenhang zu empfehlen, dies so beizubehalten und namentlich der Ver-suchung zu widerstehen, dem CESL im Rechtsvergleich allzu viel Platz einzuräumen. Dies mag anderen Büchern vorbehal-ten bleiben, will man die (trotz der Erweiterung in der aktuel-len Auflage noch) angenehm schlanke Struktur und den Fo-kus auf das Übereinkommen aufrechterhalten.

Als hilfreich erweist sich, dass der Übereinkommenstext am Ende des Buches (S. 363-388) ebenso abgedruckt ist wie das deutsche Vertragsgesetz (S. 389 f.) sowie ein Verzeichnis der Vertragsstaaten des CISG (S. 391-400). So liefert das Lehrbuch alles Notwendige aus einem Guss, der Studierende muss insbesondere keine zusätzlichen Gesetzessammlungen hinzuziehen, um zwischen den Erläuterungen und dem Normtext zu wechseln.

Inhaltlich besticht das Buch durch seine durchgängig ho-he Qualität. Die Ausführungen sind argumentativ nachvoll-ziehbar und methodisch abgesichert. Es verdient freilich Beachtung, dass Schroeter nicht stets die h.M. vertritt5 und auch von Schlechtriems Auffassung aus der Vorauflage gele-

4 Z.B. Rn. 307 ff. 5 Beispielsweise: Rn. 38; 60; 320; 427 f.; 471/566; 670 ff.; 734; 741; 753-755.

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gentlich abweicht.6 Er kennzeichnet dies jedoch (wenn auch zuweilen lediglich in der Fußnote, weshalb ein rascher Blick hierauf zu empfehlen ist) und vermag seine Ansichten so zu begründen, dass es den von ihm geführten Leser nicht selten überzeugt.

Nur einmal setzte das gedankliche, Beifall spendende Kopfnicken des Rezensenten verspätet ein. So ließ die Be-schreibung des Zusammenspiels der Brüssel I-VO7 mit dem CISG in den Rn. 353 und 522 den Lesefluss ein wenig ins Stocken geraten (beachte für ab dem 10.1.2015 erhobene Klagen die revidierte Fassung des Sekundärrechtsakts, die Brüssel Ia-VO)8. An den zuvor genannten Stellen geht es um die Bedeutung des in Art. 31 sowie Art. 57 CISG geregelten materiell-rechtlichen Liefer- bzw. Zahlungsortes für die örtli-che und internationale Zuständigkeit.

Sowohl § 29 ZPO (doppelfunktional bzgl. des internatio-nalen Gerichtsstands) als auch Art. 5 Nr. 1 lit. b erster Spie-gelstrich Brüssel I-VO bzw. Art. 7 Nr. 1 lit. b erster Spiegel-strich Brüssel Ia-VO stellen auf den Erfüllungsort als An-knüpfungspunkt ab. Im Unterschied zu § 29 ZPO, der den Erfüllungsort der jeweils streitgegenständlichen Verpflich-tung in Bezug nimmt und daher eine materielle Vorprüfung (grundsätzlich inklusive kollisionsrechtlicher Ermittlung des maßgebenden Statuts) bereits in der Zulässigkeit der Klage nach sich zieht,9 ist dies bei Art. 5 Nr. 1 lit. b erster Spiegel-strich Brüssel I-VO bzw. Art. 7 Nr. 1 lit. b erster Spiegel-strich Brüssel Ia-VO nicht veranlasst. Denn insoweit definiert gerade der erste Spiegelstrich der zuvor genannten Normen den Erfüllungsort für den „Verkauf beweglicher Sachen“ einheitlich, mithin losgelöst von der jeweils eingeklagten Forderung. Danach kommt es sowohl bei Käufer- als auch Verkäuferklagen auf den Ort in einem Mitgliedstaat an, an dem die Kaufgegenstände „nach dem Vertrag geliefert wor-den sind oder hätten geliefert werden müssen“. Dieses An-knüpfungsmoment ist dabei zuvörderst faktisch zu bestim-men.10 Soweit die EU-Zuständigkeitsregel räumlich-persön-lich greift, ist sie für UN-Kaufrechtsverträge grundsätzlich. zugrunde zu legen. Schroeter gesteht Art. 5 Nr. 1 lit. c, a Brüssel I-VO bzw. Art. 7 Nr. 1 lit. c, a Brüssel Ia-VO und

6 Etwa Rn. 237 a.E.; Rn. 752. 7 Verordnung (EG) Nr. 44 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 22.12.2000 = ABl. EG 2001 Nr. L 12, S. 1. 8 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parla-ments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 12.12.2012 = ABl. EU Nr. L 351, S. 1; dazu Domej, RabelsZ 78 (2014), 508; v. Hein, RIW 2013, 97; Staudinger/Steinrötter, JuS 2015, 1; zum Verbrau-cherprozessrecht Mankowski, RIW 2014, 625. 9 Ganz allgemein ist die Prüfung materiellen Rechts bereits in der Zulässigkeit der Klage kritikwürdig, autonome Begriffs-klärungen erscheinen demgegenüber grds. vorzugswürdig; vgl. dazu Staudinger/Steinrötter, JuS 2015, 1 (5); dies., JA 2012, 241 (247). 10 EuGH EuZW 2010, 301 (303, Car Trim [m. Anm. Leible]).

damit Art. 31 CISG (bzw. Art. 57 CISG) eine „Restbedeu-tung“ in folgenden Fällen zu (Rn. 353): Die faktische Über-nahme des Käufers könne nicht geklärt werden;11 bei der Auslegung vertraglicher Lieferklauseln; in Konstellationen, in denen der Lieferort außerhalb der EU oder in Dänemark liege. Problematisch erscheint die „Restbedeutung“ dabei in den zuletzt genannten Fällen. Liegt der „faktische“ Lieferort außerhalb der EU, erscheint tatsächlich angezeigt, auf jene Zuständigkeitsregeln der lit. c, a und damit einhergehend auf die de Bloos-12 und Tessili-Rechtsprechung13 des EuGH zu-rückzugreifen.14

Aber ist nicht eine andere Beurteilung im Falle des Lie-ferortes in Dänemark vorzunehmen? Zwar ist Dänemark ausweislich Art. 1 Abs. 3 Brüssel I-VO15 kein Mitgliedstaat im Sinne des Sekundärrechtsaktes; allerdings greift hier doch - so mag der internationalrechtlich vorgebildete Studierende im Hinterkopf haben - das (inzwischen an die Brüssel Ia-VO angepasste) Parallelabkommen.16 Müsste dann nicht wieder-um wegen des Gleichlaufs mit der Brüssel I-VO im Aus-gangspunkt der „faktische“ und einheitliche Erfüllungsort gelten und Art. 31 CISG (bzw. Art. 57 CISG) insofern also gerade nicht einschlägig sein? Dem ist nicht so: Zwar zielt das Parallelabkommen nicht allein (wenn auch in erster Li-nie) auf den dänischen Richter ab. Ausweislich seines Art. 10 Abs. 2 lit. a kommt dem Staatsvertrag aus mitgliedstaatliche Perspektive jedoch nur ein Vorrang zu, wenn der Beklagte in Dänemark wohnt bzw. die Art. 22 f. Brüssel I-VO/Art. 24 f. Brüssel Ia-VO einen dänischen Gerichtsstand konstituieren. Damit ist der lakonische Befund Schroeters also zutreffend. Wenn allein der Lieferort in Dänemark liegt, bleibt es bei

11 Dies sei bei Direktlieferungen an den Abnehmer des Käu-fers sowie der Veräußerung „schwimmender“ bzw. „rollen-der“ Ware der Fall. 12 Nach der de Bloos-Rechtsprechung des EuGH (Slg. 1976, S. 1497) kommt es auf den Erfüllungsort der jeweils streitge-genständlichen Verpflichtung an. 13 Ausweislich der Tessili-Doktrin (EuGH, Slg. 1976, S. 1473) muss das Gericht unter Rückgriff auf sein IPR (so-fern kein Einheitsrecht Platz greift) das einschlägige Sach-recht ermitteln, um den Erfüllungsort der betreffenden Pflicht festlegen zu können (m.a.W.: Keine autonome Begriffsbil-dung). 14 Dies jedenfalls dann, wenn die sonstigen Prämissen des fakultativen Gerichtsstands greifen (beachte insbesondere den Eingangssatz von Art. 5 Brüssel I-VO/Art. 7 Brüssel Ia-VO); Staudinger/Steinrötter, JuS 2015, 1 (7); dies., JA 2012, 241 (247); a.A. Rauscher, NJW 2010, 2251 (2254), wonach lit. b gegenüber lit. c, a im Lichte des Kriteriums der Sachnähe abschließend sei, wenn die einheitlichen Gerichtsstände des lit. b nicht in einen Mitgliedstaat führt. 15 Diese klarstellende Norm hat keinen Eingang in die Brüs-sel Ia-VO gefunden; siehe dort aber Erwägungsgrund 41. 16 Abkommen zwischen Dänemark und der EG über die An-erkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen = ABl. 2005 Nr. L 299, S. 62 ff.; ange-passt durch ABl. 2013 Nr. L 79, S. 4; siehe Pohl, IPRax 2013, 109.

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lit. c, a. Wohnt der Beklagte ebenfalls dort, greift das Paral-lelübereinkommen. Dann ist dessen fakultative Zuständig-keitsregel aber bereits deshalb a priori nicht einschlägig, weil die Prämisse des Eingangssatzes nicht erfüllt ist („in einem anderen Staat verklagt werden“)17. Es bleibt für künftige Auflagen anzuregen, dem Leser bei der Umschiffung derarti-ger potentieller gedanklicher Klippen mit einem erläuternden Satz zu Art. 10 des Parallelabkommens zu helfen. Dies mag freilich Geschmackssache sein. Jedenfalls ändert diese kleine Anregung nichts an der Strahlkraft des Werkes.

Im Einzelnen folgt das Lehrbuch folgendem Aufbau: Ein-gangs erläutert Schroeter die Vorgeschichte (Rn. 1-7), den Aufbau (Rn. 8-15) sowie die praktische Relevanz des UN-Kaufrechts (Rn. 16 f.), bevor die neueren Entwicklungen im Einheitsrecht in den Blick genommen werden (Rn. 18-23). Der eilige Leser mag dies überspringen, wenngleich ihm die Lektüre für ein besseres Gesamtverständnis ans Herz gelegt sei. Ähnliches gilt für den Teil, welcher sich den Schluss-klauseln widmet (Rn. 804-828).

Die dazwischen zu findenden Ausführungen sind sodann für den „UN-Kaufrecht-Anfänger“ obligatorisch, da es sich hierbei um den für die Falllösung entscheidenden Teil han-delt. Zunächst werden Anwendungsvoraussetzungen und An-wendungsbereich des Übereinkommens behandelt (Rn. 24-87). Nicht oft genug betont werden kann in diesem Zusam-menhang, dass das CISG ein opt-out-Instrument darstellt, es also abgewählt werden muss, soll es nicht zur Anwendung kommen (Art. 6 CISG). Die Gerichte legen hierbei einen tendenziell strengen Maßstab an.18 So ist die Formulierung „es gilt deutsches Recht“ nicht ausreichend, um das UN-Kaufrecht zu „deaktivieren“. Vielmehr wird in derlei Kons-tellationen das UN-Kaufrecht als Bestandteil der hiesigen Rechtsordnung mitgewählt. An verschiedenen Stellen wird – zu Recht – darauf hingewiesen, dass eine Rechtswahl trotz Geltung des CISG äußerst sinnvoll ist.19 Denn oftmals sind diverse „Zusatzanknüpfungen“20 über das IPR notwendig, um einen grenzüberschreitenden Kaufrechtsfall lösen zu können.

Es folgen Erläuterungen zur (autonom vorzunehmenden) Auslegung des Übereinkommens (Rn. 88-110). Dem schlie-ßen sich Ausführungen zur Regelungsmaterie und zu den sog. internen21 und externen22 Lücken sowie deren Ausfüllung23

17 Hervorhebung des Verf. 18 Als pars pro toto: OLG Hamm NJW-RR 2010, 708 (709); OLG Stuttgart OLG-Report 2008, 514. 19 Rn. 24, 51. 20 Dies gilt etwa für die Aufrechnung (beachte aber jüngst BGH BeckRS 2014, 20679, wonach konventionsinterne Maßstäbe dann maßgebend seien, wenn es sich um beidersei-tige, auf dem UN-Kaufrecht basierende Ansprüche aus dem-selben Vertragsverhältnis handele), die Abtretung, die Stell-vertretung, die Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die Inhalts-kontrolle von AGB, der Zinshöhe usw.; streitige Fälle finden sich in den Rn. 148-213. 21 Eine interne Lücke liegt vor, wenn die Regelungsmaterie des CISG betroffen ist (Art. 6 Abs. 2 CISG: „geregelte Ge-genstände“), die jeweilige Sachfrage aber gleichwohl nicht explizit im Übereinkommenstext behandelt wird.

an (Rn. 111-213). Hierbei handelt es sich um einen für Prü-fung und Praxis äußerst relevanten und anspruchsvollen Be-reich des UN-Kaufrechts, den Schwerpunktstudierende unbe-dingt aufmerksam lesen (und im Zweifel weiter vertiefen) sollten.

Daraufhin erläutert Schroeter allgemeine Vorschriften wie etwa die Auslegung von Willenserklärungen und die Formfreiheit (Rn. 214-238). Der nächste große Block betrifft die Vertragsabschlussregeln (Rn. 239-304). Diese dürften für deutsche Juristen – trotz sachlicher Abweichungen im De-tail24 – keine nennenswerten Schwierigkeiten aufwerfen.

Es folgt mit der Darstellung der Pflichten und Rechtsbe-helfe der Parteien (dritter Teil des Übereinkommens) der für Prüfung und Praxis wohl wichtigste Abschnitt (Rn. 305-803). Gerade an dieser Stelle erscheint es als Wohltat für den Ge-samtüberblick, dass dem Kapitel über die wesentliche Ver-tragsverletzung ein Abriss über die vier Basisrechtsbehelfe ([Nach-]Erfüllung, Zurückbehaltungsrechte, Schadensersatz und Vertragsaufhebung)25 vorgelagert ist.

Nach den allgemeinen Bestimmungen (Rn. 307-339) fol-gen die Pflichten des Verkäufers (Rn. 340-445) bei deren Verletzung die sodann dargestellten Rechtsbehelfe des Käu-fers (Rn. 446-509) greifen. Diesem Aufbau folgt spiegelbild-lich die Erläuterung der Käuferpflichten (Rn. 510-555) und der korrespondierenden Ansprüche des Verkäufers (Rn. 556-588). Nach den Spezifika stellt Schroeter – den Vorgaben des CISG-Textes folgend – die gemeinsamen Bestimmungen über die Käufer- und Verkäuferpflichten dar (Rn. 589-638). Hier hätte es sich meines Erachtens angeboten, diesen Teil nach vorne zu dem der übrigen allgemeinen Bestimmungen zu ziehen, da es sich entgegen der formalen Systematik des Übereinkommens um gemeinsame AT-Vorschriften handelt. Die Erklärung für den anderslautenden Ansatz des Buches findet sich in Rn. 306: Es soll die parallele Verwendung anderer Lehrbücher und Kommentare ermöglicht werden, welche ihrerseits entlang des CISG-Textes aufbauen. Das ist nachvollziehbar. Andererseits hätte der Schlechtriem/ Schroeter hier weiter an seiner ihn prägenden Ausrichtung - „Grundlagen- und Systemverständnis“ zu vermitteln - feilen

22 Eine externe Lücke liegt bei außerhalb der Regelungsmate-rie des CISG liegenden Sachfragen vor. 23 Interne Lücken sind anhand allgemeiner Grundsätze, sub-sidiär durch qua IPR berufenes unvereinheitlichtes Recht zu schließen (Art. 6 Abs. 2 CISG), externe Lücken nach Maßga-be des durch das Kollisionsrecht der lex fori berufenen inner-staatlichen Rechts. 24 So ist etwa ein Angebot im Grundsatz bis zu dem Zeit-punkt widerruflich, in dem der Empfänger seine Annahmeer-klärung abgesandt hat (Art. 16 Abs. 1 CISG). Im deutschen Recht kann das Angebot nur bis zum Zugang beim Empfän-ger widerrufen werden (§§ 130, 145 BGB). Ganz allgemein gilt im UN-Kaufrecht nicht (wie im hiesigen BGB) durch-gängig der Zugangsgrundsatz von empfangsbedürftigen Wil-lenserklärungen. Vielmehr sind Willenserklärungen oftmals lediglich absende-, nicht zugangsbedürftig (Art. 27 CISG). Sie müssen freilich zugangsfähig sein. 25 Hinzu tritt auf Käuferseite die Minderung.

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 323

und dem Lehrbuch mit einem Aufbau wider die formale Reihung der Normen und zu Gunsten der „inhaltlichen Sys-tematik“ ein Alleinstellungsmerkmal zuweisen können.

Hervorzuheben bleibt innerhalb dieses langen Kapitels, dass dem Leser in der Folge deutlich vor Augen geführt wird, dass an die Bejahung einer wesentlichen Vertragsverletzung (Art. 25 CISG) hohe Anforderungen zu stellen sind und da-mit regelmäßig Vertragsaufhebung (Art. 49, 64 CISG) sowie Ersatzlieferung (Art. 46 Abs. 2 CISG) als ultima ratio nicht durchgreifen (Rn. 317-337; 450; 483; 568-575). Verträge sollen im grenzüberschreitenden kommerziellen Kaufrecht nämlich möglichst erhalten, Rückabwicklungen vermieden werden.

Auch das „scharfe Schwert des Handelsrichters“ (Rn. 404) – die Rügeversäumung des Käufers, an welcher in der Praxis die meisten der Käuferklagen scheitern – wird dem Rezipienten anschaulich gemacht. Zu Recht sieht Schroeter das rein verkäuferschützende telos des Art. 39 Abs. 1 CISG mit der harschen Rechtsfolge des grundsätzlich26 vollständi-gen Anspruchsverlusts skeptisch. Tatsächlich erscheint es als probates Mittel, Unbilligkeiten ein Stück weit durch nicht allzu hohe Anforderungen an Warenuntersuchung sowie Mängelanzeige entgegenzuwirken (Rn. 404).

Bemerkenswert ist ferner, dass das aus dem deutschen Kaufrecht bekannte „Recht zur zweiten Andienung“ zwar ebenfalls im UN-Kaufrecht existiert; allerdings besteht hier weder eine Pflicht noch eine Obliegenheit des Käufers zur Nachfristsetzung. Vielmehr regelt Art. 48 CISG jenes Recht dadurch, dass der Verkäufer von sich aus tätig werden darf, um etwaige Mängel zu beheben. Er kann unter bestimmten Voraussetzungen den Käufer unter Fristsetzung zur Mittei-lung auffordern, ob Letzterer die (Nach-)Erfüllung annehmen möchte. Vor Ablauf der Frist sind Rechtsbehelfe des Käufers weitgehend gesperrt (Rn. 449 f.).

Schließlich finden sich Erläuterungen zum (grundsätz-lich27 verschuldensunabhängigen und äußerst praxisrelevan-ten) Schadensersatz (Rn. 639-743) sowie zu den Zinsen (Rn. 744-756) und der Rückabwicklung (Rn. 757-786), zu Bewahrungspflichten und dem Selbsthilfeverkauf (Rn. 787-803).

Es bleibt nach alledem zu resümieren: Für den fundierten Einstieg in das UN-Kaufrecht gibt kaum ein geeigneteres Lehrbuch auf dem Markt. Die sechste Auflage dieses vorzüg-lichen Werks soll frühestens Ende 2016 erscheinen, dann wohl nochmals (und vermutlich letztmalig) unter Schlechtriem/Schroeter firmierend. In der Folge dürfte die Umbenennung exklusiv auf den zuletzt genannten Rechtsleh-rer ins Haus stehen.

Wiss. Assistent Dr. Björn Steinrötter, Berlin/Hannover

26 Art. 44 CISG als Ausnahme. 27 Beachte aber Art. 79 f. CISG. Allerdings ist die Entlas-tungsmöglichkeit des Art. 79 Abs. 1 CISG an schwer zu überwindende Voraussetzungen geknüpft.

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Linke/Hau, Internationales Zivilverfahrensrecht Walter _____________________________________________________________________________________

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B u c h r e z e n s i o n

Hartmut Linke/Wolfgang Hau, Internationales Zivilverfah-rensrecht, 6. Aufl., Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln 2015, 365 S., € 39,80. Der Rechtsanwender sieht sich in einer globalisierten Welt immer häufiger mit grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkei-ten konfrontiert. Kenntnisse des Internationalen Zivilverfah-rensrechts (IZVR) gewinnen damit zunehmend an Bedeu-tung. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass mittlerweile auf eine Vielzahl aktueller Lehrbücher zu diesem Rechtsgebiet zurückgegriffen werden kann.

Auch das zu besprechende – von Hartmut Linke begrün-dete und seit der Vorauflage von Wolfgang Hau fortgeführte – Lehrbuch möchte dem Leser eine verlässliche Orientierung durch das IZVR mit weiterführenden Hinweisen bieten. Die 6. Auflage wurde zu diesem Zweck inhaltlich um knapp 100 Seiten erweitert und befindet sich auf dem Rechtsstand von Januar 2015. Zielgruppe sind Studierende, Wissenschaftler und Praktiker.

Die Schwerpunktsetzung des in 15 Paragrafen unterglie-derten Buches überzeugt: Nach einer äußerst gelungenen Ein-führung in das Themengebiet (§ 1), allgemeinen Lehren des IZVR (§ 2) sowie den völkerrechtlichen Rahmenbedingungen (§ 3) werden entsprechend ihrer herausragenden Bedeutung in Ausbildung und Praxis Fragen der internationalen Zustän-digkeit (§ 4-6) sowie der Anerkennung und Vollstreckbarer-klärung ausländischer Entscheidungen (§ 12-14) ausführlich behandelt. Doch kommen erfreulicherweise auch Ausführun-gen zu Kompetenzkonflikten (§ 7), ausländischen/auslands-ansässigen Verfahrensbeteiligten (§ 8), der Ermittlung und Anwendung ausländischen Rechts (§ 9), dem internationalen Beweisrecht (§ 10) und dem europäischen Erkenntnisverfah-ren (§ 11) nicht zu kurz. Abgerundet wird das Buch mit ei-nem Kapitel zum einstweiligen Rechtsschutz (§ 15).

Kollisions- und völkerrechtliche Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, um den Ausführungen folgen zu können. Fach-begriffe und Grundprinzipien werden vielmehr prägnant er-läutert und mit Beispielen veranschaulicht. Vorbildlich ge-lingt außerdem die Darstellung der unterschiedlichen Rechts-quellen (Europarecht, Konventionsrecht und autonomes Recht). Dies erleichtert nicht nur die ersten Berührungen mit dem IZVR, sondern ebenso eine Wiederholung und Wissens-kontrolle.

Seine wahre Stärke, namentlich das Aufzeigen übergrei-fender Strukturen und Zusammenhänge, kann das Buch aller-dings vor allem dann ausspielen, wenn sich der Leser nicht zum ersten Mal mit der Materie befasst. Den Einsteiger mag es mancherorts überfordern, wenn die Rechtsquellen bei den jeweiligen Sachfragen nicht isoliert betrachtet, sondern stets im Zusammenhang und in ihrem Zusammenspiel behandelt werden. Demgegenüber werden durch ein solches Vorgehen das tiefere Verständnis der entsprechenden Regelungen sowie die kritische Auseinandersetzung mit den behandelten Rechtsfragen gefördert. Diesem Zweck dienen ebenso die zahlreichen aufschlussreichen rechtspolitischen Erwägungen und die zum Teil vertiefte Behandlung besonders relevanter

Einzelprobleme. Sehr gelungen sind etwa die Passagen zu den Anerkennungshindernissen und dem Erfordernis einer Vollstreckbarerklärung ausländischer Entscheidungen. Die Darstellung erfolgt hierbei anschaulich und problemorien-tiert. Auf langatmige Ausführungen zu Selbstverständlichkei-ten und überflüssige Wiederholungen des Gesetzeswortlauts wird erfreulicherweise verzichtet. Manche – insbesondere für den Studenten relevante – Themen werden jedoch sehr knapp, zum Teil in einem Satz, abgehandelt. Beispielhaft ist die Erläuterung der internationalen Zuständigkeit in Verbrau-chersachen, bei welcher oftmals allein auf die ergangene EuGH-Judikatur verwiesen wird, deren kritische Würdigung aber unterbleibt. Gleiches gilt für die Frage, wann beim Timesharing von einer ausschließlichen Zuständigkeit nach Art. 24 Nr. 1 Brüssel Ia-VO auszugehen ist. Eine etwas aus-führlichere Betrachtung wäre wünschenswert, wenn auch der ausführliche Fußnotenapparat zahlreiche Vertiefungshinweise gibt.

Verzichtet wurde auf Hinweise zur Fallbearbeitung und Aufbauschemata. Dies ist jedoch aufgrund der unterschiedli-chen Zielgruppen des Lehrbuchs durchaus konsequent. Zu-dem finden sich in den Fußnoten Verweise auf Falllösungen in Ausbildungszeitschriften. Für zukünftige Auflagen erwä-genswert wäre es dennoch, ein Verzeichnis über die zitierten Falllösungen einzufügen, um dem interessierten Leser deren Auffinden zu erleichtern.

Das Schriftbild ist angenehm und der Text dank zahlrei-cher Absätze, Zwischenüberschriften und wohldosierter Her-vorhebungen übersichtlich gestaltet. Die ausführlichen Nor-men- und Sachverzeichnisse ermöglichen das zielgerichtete Nachschlagen. Zudem ist jedem Kapitel eine ausführliche Literaturübersicht vorangestellt und der bereits angesproche-ne Fußnotenapparat ist vorbildlich. Das Buch kann daher auch als Ausgangspunkt einer Literaturrecherche für eine Seminararbeit dienen. Ein Entscheidungsverzeichnis ist dem-gegenüber leider nicht enthalten. Angesichts der großen Zahl relevanter Rechtsprechung zum IZVR würde eine solche Übersicht das Buch als Nachschlagewerk weiter aufwerten. Zumindest ungewöhnlich erscheint schließlich die Fußnoten-zählung, die auf jeder neuen Seite bei „1“ beginnt. Das posi-tive äußere Gesamtbild wird dadurch aber nicht getrübt.

Insgesamt wird das Lehrbuch seinem selbstgesteckten Ziel, dem Leser eine verlässliche Orientierung durch das IZVR zu bieten, vollends gerecht. Vollständigkeit kann und darf - insbesondere bei einem Kurzlehrbuch zu einem so weiten und sich so dynamisch entwickelnden Rechtsgebiet - natürlich nicht erwartet werden. Dem ist sich Hau ausweis-lich des Vorworts auch bewusst. Umso lobenswerter ist die konzentrierte, auf das Wesentliche beschränkte und doch nie oberflächliche Darstellung auf knappem Raum. Das Buch eignet sich damit sowohl für den (anspruchsvollen aber loh-nenswerten) Einstieg in das Rechtsgebiet als auch zu dessen Wiederholung, Vertiefung und Auffrischung.

Jurist (Univ.) Stephan Walter, Passau

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Schmidt, Fallrepetitorium Allgemeines Verwaltungsrecht mit VwGO Traub/Fischer-Uebler _____________________________________________________________________________________

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 325

B u c h r e z e n s i o n

Thorsten Ingo Schmidt, Fallrepetitorium Allgemeines Ver-waltungsrecht mit VwGO, 2. Aufl., Verlag C.F. Müller, Hei-delberg u.a. 2014, 434 S., 35,99 €. Das kaum noch überschaubare Angebot an verwaltungsrecht-licher Studienliteratur wird manchem Studierenden die Aus-wahl eher erschweren als erleichtern. Das Werk von Thorsten Ingo Schmidt reiht sich aber nicht einfach in die lange Reihe verwaltungsrechtlicher Lehrbücher verschiedenen Umfangs ein, sondern sticht durch einen besonderen didaktischen Zu-gang hervor. Es handelt sich weder um ein klassisches Lehr-buch, in dem der Stoff systematisch dargestellt wird, noch um einen Klausurenkurs. Stattdessen präsentiert der Autor ein „Fallrepetitorium“, in dem der Lernstoff anhand von mehr als 750 Fragen und Übungsfällen vermittelt wird, die durch zahl-reiche Übersichten ergänzt werden.

Dieser Ansatz führt allerdings erfreulicherweise nicht zu einer thematischen Verengung auf wenige „Klausurklassi-ker“. Vielmehr wird das Verwaltungsprozessrecht und – erst-mals in der Neuauflage – das Verwaltungsverfahrensrecht in seiner ganzen Breite behandelt. Die ersten acht Teile sind dem allgemeinen Verwaltungsrecht gewidmet. Neben der obligatorischen Erläuterung der Handlungsformen der Ver-waltung (Verwaltungsakt, verwaltungsrechtliche Verträge, Rechtsverordnungen, Satzungen, Realakte u.a.) erhalten auch entlegenere Themengebiete wie das Verwaltungszustellungs-recht, das Recht der öffentlichen Sachen oder das Verwal-tungsorganisationsrecht angemessenen Raum. Dieser erste große Abschnitt des Fallrepetitoriums wird durch Fragen zu den wichtigsten Bereichen des systematisch recht unüber-sichtlichen Staatshaftungsrechts abgerundet.

Die folgenden fünf Teile des Buches beschäftigen sich mit dem Verwaltungsprozessrecht. Vor allem in diesem Ab-schnitt wird deutlich, warum das Buch in der Reihe „Refe-rendariat“ erscheint, wovon sich Studierende allerdings kei-nesfalls abschrecken lassen sollten. Umgekehrt ist es aber für Referendare uneingeschränkt geeignet, weil über die klassi-schen Fragen der Zulässigkeitsprüfung verschiedener Klage-arten hinaus auch die für die Vorbereitung auf das Assessor-examen wichtigen Themen wie Erledigung (§ 56), Streitwert (§ 59), Ablauf der mündlichen Verhandlung oder die Rechts-behelfe gegen gerichtliche Entscheidungen (§§ 62-66) be-handelt werden. Spätestens während des Referendariats wer-den es die Leser zu schätzen wissen, dass Schmidt immer wieder die Bezüge des Verwaltungs- zum Zivilprozessrecht aufzeigt und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Regelungen in VwGO und ZPO herausarbeitet.

Ebenfalls positiv hervorzuheben ist, dass das Werk kon-sequent die unions- und völkerrechtlichen Einflüsse verarbei-tet, ohne die sich das Verwaltungsrecht nur noch unvollstän-dig begreifen lässt. Angesprochen werden u.a. die Kompe-tenz für den Vollzug des EU-Rechts, die Rechtsschutzmög-lichkeiten gegen Rechtsakte der EU, aber auch die Figur des transnationalen Verwaltungsakts am praxisrelevanten Bei-spiel des Zollkodex.

Die Fragen und Übungsfälle werden durch knapp 50 Übersichten ergänzt. Deren Darstellungsform reicht von knappen Schaubildern, die das systematische Verständnis bestimmter Zusammenhänge erleichtern bis zu ausführlichen Prüfungsschemata aller wichtigen Klage- und Antragsarten. Dabei hält Schmidt mit überzeugenden Gründen (vgl. Nr. 353) am klassischen zweistufigen Aufbau (Zulässigkeit und Begründetheit) fest und orientiert sich damit an der Pra-xis der Rechtsprechung.

Sowohl die abstrakten Fragen als auch die kurzen Fälle hat Schmidt jeweils mit einem Schwierigkeitsgrad gekenn-zeichnet. Die Skala reicht dabei von Grundlagen (*) über etwas schwierigere Fälle für Studenten (**) bis hin zu Fällen für Referendare (***) und schließlich kompliziertere, entle-genere Probleme (****).

Als erste Orientierung ist diese Einteilung sicher hilfreich und berücksichtigt, dass sich die Benutzer des Fallrepetitori-ums in ganz unterschiedlichen Abschnitten ihrer juristischen Ausbildung befinden werden. Allerdings ist es auf den ersten Blick nicht ohne weiteres überzeugend, wenn einerseits das Spannungsverhältnis zwischen Geheimhaltungspflicht (§ 30 VwVfG) und Amtshilfe (§ 5 VwVfG) den „Grundlagen“ oder die Beweiserleichterungen im Verwaltungsprozess den „et-was schwierigeren“ Fällen für Studenten zugeordnet werden, während andererseits Klausurklassiker wie die Eingriffsquali-tät von staatlichen Warnungen oder die Besonderheiten der Aufhebung unionsrechtswidriger Subventionen als ***-Fälle für Referendare bewertet werden. Wenn es auch in der Natur der Sache liegt, dass man über die Zuordnung zu verschiede-nen Schwierigkeitsgraden im Einzelnen immer wird streiten können, mag es sich dennoch empfehlen, die Klassifizierung für eine weitere Neuauflage kritisch zu überprüfen.

Die Grundkonzeption als Fallrepetitorium bringt es mit sich, dass das Buch für den allerersten Einstieg in das Ver-waltungs(prozess)recht vermutlich weniger, zur Wiederho-lung und Vertiefung dafür umso besser geeignet ist. Neben reinen Wissens- und kurzen Verständnisfragen enthält das Buch eine Vielzahl kleinerer Fälle, anhand derer sich be-stimmte Probleme besonders gut veranschaulichen lassen. Der Leser wird herausgefordert, sich vor der Lektüre der Ant-worten selbständig Gedanken zu machen und eine überzeu-gende Lösung zu entwickeln.

Dabei lässt es sich kaum vermeiden, dass durch die Über-schriften der Fragen in einzelnen Fällen die Lösung bereits angedeutet wird. So wird z.B. in den Fällen zu den verschie-denen Formen der Ermessensfehler (Nr. 134 ff.) durch die Bezeichnung des Fehlers in der Überschrift der Weg zur Lösung bereits vorgezeichnet.

Die Antworten und Lösungshinweise sind durchweg gut nachvollziehbar und ausreichend ausführlich, ohne den stu-dentischen Leser mit Ausführungen über allzu entlegene Spezialprobleme und atypische Sonderfälle zu überfrachten. Schmidt findet hier einen sehr gelungenen Ausgleich zwi-schen der immensen Stofffülle, die sich aus der Kombination von Allgemeinem Verwaltungsrecht und Verwaltungspro-zessrecht ergibt und einem realistischen Sinn dafür, was von Studierenden und Referendaren selbst im oberen Bereich der

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Schmidt, Fallrepetitorium Allgemeines Verwaltungsrecht mit VwGO Traub/Fischer-Uebler _____________________________________________________________________________________

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Notenskala realistischerweise erwartet und verarbeitet wer-den kann.

Wer einzelnen Fragen vertieft nachgehen will, dem bietet Schmidt weiterführende Literaturhinweise auf dreifachem Wege: zunächst enthält das Buch im Anschluss an das In-haltsverzeichnis einen Überblick aller gängigen Lehrbücher, Kommentare und Fallsammlungen. Des Weiteren finden sich am Anfang jedes Kapitels Nachweise einschlägiger Literatur und schließlich tauchen – vermehrt in den Abschnitten, die das Verwaltungsprozessrecht behandeln – auch in den Ant-worten Hinweise zur vertiefenden Lektüre auf. Bei den sorg-fältig ausgewählten Literaturhinweisen orientiert sich Schmidt konsequent an seinem Leserkreis. Dementsprechend bilden Aufsätze aus den Ausbildungszeitschriften den Schwerpunkt.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass das „Fallrepetitorium Allgemeines Verwaltungsrecht mit VwGO“ nicht erst für Referendare eine lohnende Lektüre ist, sondern für jeden Studenten, der sein Grundwissen in diesen Fächern überprü-fen und erweitern möchte. Wer sich Schmidts Fallrepetitori-um bereits als Studierender anschafft, den wird es bis zum Zweiten Staatsexamen begleiten.

Akad. Rat Thomas Traub, stud. Hilfskraft Annika Fischer-Uebler, Institut für Kirchenrecht der Universität zu Köln


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