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Argumentationsanalysen im Unterricht der frühen Jahrgangsstufen — eigenständiges Schließen mit...

Date post: 24-Jan-2017
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253 Ralph Schwarzkopf Argumentationsanalysen im Unterricht der fruhen Jahrgangs- stufen - eigenstandiges SchlieBen mit Ausnahmen Zusammenfassung: In diesem Artikel werden Interaktionsprozesse aus dem reguHiren Mathematikunterricht analysiert. Mittels der "funktionalen Argumentationsanalyse" werden die im Unterricht hervorgebrachten Begrundungen in argumentative Komponenten differenziert und inhaltlich analysiert. Die qualitative Analysemethode wird exemplarisch anhand einer Episode aus einer vierten Klasse der Grundschule durchgefiihrt. In der Episode werden im Kontext einer Textaufgabe zwei verschiedene Argumente hervorgebracht. Der Autor rekonstruiert zum einen diese Argumente aus Sicht der am Unterricht Beteiligten. Zum anderen arbeitet er das "argumentative Potential" der Begrundungen aus der Distanz des Experten heraus. Die Ergebnisse der Analyse werden abschlieBend in Bezug auf die Entwicklung von Eigenstandigkeit der Schuler im Argumentieren diskutiert. Abstract: This article deals with a qualitative analysis of regular mathematics classroom interaction. The "functional analysis of arguments" is presented: The reasons, produced by the participants of classroom interaction, are analysed regarding their argumentative-functional components. This analysis method is presented exemplary on the basis of an episode observed in a fourth grade class (primary school). In the episode there are two different arguments produced in the context of a word problem. The author tries on the one hand, to reconstruct these arguments as the participants of instruction view them. On the other hand the "argumentative potential" of the reasons is reconstructed from the distance of the expert. Finally, the results of the analysis will be discussed regarding the development of the pupils' independence in arguing. Einleitung In den Richtlinien und LehrpUinen des Mathematikunterrichts werden das Beweisen und das Argumentieren als wichtige Lemziele aufgefiihrt. Auch im Grundschulunterricht sollen die Kinder das Argumentieren lemen (vgl. z.B. Richtlinien und Lehrplane fi1r die Grundschulen in Nordrhein-Westfalen 1985, S. 21). Eine wesentliche Aufgabe des Mathematikunterrichts besteht demnach darin, solche Argumentationsfahigkeiten zu fordem. Dabei darfman die Fachspezifitat des Unterrichts nicht aus den Augen verlieren: Die Kinder sollen lemen, mathematisch zu argumentieren. Auch wenn die SchUler schon vielfaltige Erfahrungen mit Argumentationen in ihrer sozialen Umwelt gemacht haben, muss man davon ausgehen, dass mathematikspezifisches Argumentieren fi1r sie noch ungewohnt ist. 1m Unterricht der fri1hen Klassenstufen gibt es keine Norm fur mathematisches Argumentieren und SchUler und Lehrpersonen haben oft unterschiedliche Vorstellungen davon, was eine mathematische Begrundung sein solI. Vieles bleibt in der unterrichtlichen Kommunikation implizit, SchUler wissen oftmals nicht, welche Begrundung von der Lehrperson erwUnscht ist, und fi1r Lehrpersonen ist es haufig schwierig, die Begrundungen der SchUler zu verstehen und auf deren Beitrage angemessen zu reagieren. Besonders dann, wenn in einer Argumentation mehrere Begrundungen hervorgebracht werden, konnen die Verstandigungsprozesse zwischen Lehrpersonen und SchUlem sehr unUbersichtlich werden: Wurde auf verschiedene Wei sen ein und dieselbe Aussage oder wurden verschiedene Aussagen begrundet? Wie lassen sich die Begrundungen begriffiich voneinander trennen? Waren die Argumente richtig bzw. genUgend vollstandig hervorgebracht? Erganzen sich die Begrundungen oder stehen sie eher unzusammenhangend nebeneinander? FUr solche komplexen Kommunikations- (JMD 22 (2001) H. 3/4, S. 253-276)
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Ralph Schwarzkopf

Argumentationsanalysen im Unterricht der fruhen Jahrgangs­stufen - eigenstandiges SchlieBen mit Ausnahmen

Zusammenfassung: In diesem Artikel werden Interaktionsprozesse aus dem reguHiren Mathematikunterricht analysiert. Mittels der "funktionalen Argumentationsanalyse" werden die im Unterricht hervorgebrachten Begrundungen in argumentative Komponenten differenziert und inhaltlich analysiert. Die qualitative Analysemethode wird exemplarisch anhand einer Episode aus einer vierten Klasse der Grundschule durchgefiihrt. In der Episode werden im Kontext einer Textaufgabe zwei verschiedene Argumente hervorgebracht. Der Autor rekonstruiert zum einen diese Argumente aus Sicht der am Unterricht Beteiligten. Zum anderen arbeitet er das "argumentative Potential" der Begrundungen aus der Distanz des Experten heraus. Die Ergebnisse der Analyse werden abschlieBend in Bezug auf die Entwicklung von Eigenstandigkeit der Schuler im Argumentieren diskutiert.

Abstract: This article deals with a qualitative analysis of regular mathematics classroom interaction. The "functional analysis of arguments" is presented: The reasons, produced by the participants of classroom interaction, are analysed regarding their argumentative-functional components. This analysis method is presented exemplary on the basis of an episode observed in a fourth grade class (primary school). In the episode there are two different arguments produced in the context of a word problem. The author tries on the one hand, to reconstruct these arguments as the participants of instruction view them. On the other hand the "argumentative potential" of the reasons is reconstructed from the distance of the expert. Finally, the results of the analysis will be discussed regarding the development of the pupils' independence in arguing.

Einleitung In den Richtlinien und LehrpUinen des Mathematikunterrichts werden das Beweisen

und das Argumentieren als wichtige Lemziele aufgefiihrt. Auch im Grundschulunterricht sollen die Kinder das Argumentieren lemen (vgl. z.B. Richtlinien und Lehrplane fi1r die Grundschulen in Nordrhein-Westfalen 1985, S. 21). Eine wesentliche Aufgabe des Mathematikunterrichts besteht demnach darin, solche Argumentationsfahigkeiten zu fordem. Dabei darfman die Fachspezifitat des Unterrichts nicht aus den Augen verlieren: Die Kinder sollen lemen, mathematisch zu argumentieren. Auch wenn die SchUler schon vielfaltige Erfahrungen mit Argumentationen in ihrer sozialen Umwelt gemacht haben, muss man davon ausgehen, dass mathematikspezifisches Argumentieren fi1r sie noch ungewohnt ist. 1m Unterricht der fri1hen Klassenstufen gibt es keine Norm fur mathematisches Argumentieren und SchUler und Lehrpersonen haben oft unterschiedliche Vorstellungen davon, was eine mathematische Begrundung sein solI. Vieles bleibt in der unterrichtlichen Kommunikation implizit, SchUler wissen oftmals nicht, welche Begrundung von der Lehrperson erwUnscht ist, und fi1r Lehrpersonen ist es haufig schwierig, die Begrundungen der SchUler zu verstehen und auf deren Beitrage angemessen zu reagieren. Besonders dann, wenn in einer Argumentation mehrere Begrundungen hervorgebracht werden, konnen die Verstandigungsprozesse zwischen Lehrpersonen und SchUlem sehr unUbersichtlich werden: Wurde auf verschiedene Wei sen ein und dieselbe Aussage oder wurden verschiedene Aussagen begrundet? Wie lassen sich die Begrundungen begriffiich voneinander trennen? Waren die Argumente richtig bzw. genUgend vollstandig hervorgebracht? Erganzen sich die Begrundungen oder stehen sie eher unzusammenhangend nebeneinander? FUr solche komplexen Kommunikations-

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prozesse ist es hilfreich, geeignete Begriffe zur Verfiigung zu haben, mit denen sich die AuBerungen argumentationsspezifisch ordnen lassen.

Hier soll nicht dafiir pladiert werden, Argumentieren in den fiiihen Klassenstufen im Sinne einer "Abbilddidaktik" der Hochschule zu formalisieren und dadurch etwa BegrUndungsprozesse mathematisch exakter und eindeutiger zu gestalten. Vielmehr muss man versuchen, die im Unterricht stattfmdenden Argumentationen in ihrer Vielschichtigkeit zu verstehen. Die mathematikdidaktische Forschung ist gefordert, spezifische Begrifflichkeiten fUr Argumentationen zu entwickeln, mit denen man derartige komplexe Kommunikationsprozesse trotz ihrer UnUbersichtlichkeit analysieren und beschreiben kann. Dieses Ziel wurde in der Mathematikdidaktik bislang nicht genUgend verfolgt: Zwar gibt es z.B. viele Arbeiten, in denen schrifllich festgehaltene mathematische Argumentationen oder Begrlindungsprozesse in klinischen Interviews analysiert werden (z.B. Vollrath 1980, Stein 1986). Durch solche Forschungsarbeiten wird meist die Argumentations- bzw. Beweisfahigkeit der SchUler analysiert. Es wird etwa Uberprlift, wie sich das Unterrichten im Beweisen auf die individuelle Beweisfahigkeit der SchUler auswirkt und dam it die Umsetzung des Lemziels Argumentieren evaluiert (Stein 1986). In einem anderen Ansatz konstruiert man Lemumgebungen, in denen die SchUler von der Sache her zum Argumentieren gebracht werden sollen (z.B. Rohr 1995) - man schaffi also Voraussetzungen, damit im Unterricht Anlasse zum Argumentieren entstehen konnen und versucht dadurch, die Realisierung des Lemziels Argumentieren im Unterricht zu fOrdem. Die real im Unterricht stattfindenden Argumentationsprozesse werden in solchen Arbeiten aber nicht spezifisch als Argumentationen erforscht.

Krummheuer (z.B. 1992, 1997), der sich auf die Entwicklung einer interaktionistischen Lemtheorie konzentriert, analysiert in Fallstudien rational gefiihrte Diskurse im regularen Mathematikunterricht. Wesentlich sind dabei kollektive Argumentationen, d.h. Prozesse, die im Unterricht kooperatives Handeln ermoglichen bzw. sichem. In kollektiven Argumentationen kann das interaktiv hervorgebrachte Wissen das subjektive Wissen der Beteiligten systematisch Uberschreiten, und es kann dadurch Lemen stattfinden. Durch die Analyse solcher Prozesse kann also das Lemen im Unterricht interaktionistisch erklart werden. Der Begriff der kollektiven Argumentation umfasst allerdings eine Vielzahl von Prozessen, die m.E. der Spezifitat des Lemziels Argumentieren, wie es z.B. im nordrhein-westfalischen Lehrplan formuliert wird, nicht entsprechen. Krummheuer analysiert etwa Gruppenarbeitsprozesse, in denen SchUler gemeinsam eine mathematische Aufgabe IOsen als kollektive Argumentationen. In solchen Situationen rechnen sich die Kinder i.a. die Aufgaben vor, ohne dass sie die Losungsschritte explizit hinterfragen oder begrlinden (vgl. Krummheuer 1997, S.33). Diese Diskurse gleichen eher Erzahlungen als Begrlindungen, weshalb Krummheuer davon spricht, dass sich die Argumentationen in den narrativen Darstellungen der Losungsschritte aufiosen (Krummheuer 1997, S.II). In den Analysen solcher Phanomene geht es weniger darum, wie im Unterricht explizit Begrlindungen eingefordert bzw. hervorgebracht werden. Es wird vielmehr herausgearbeitet, wie die am Unterricht Beteiligten die Rationalitat ihrer Beitrage sichem, ohne dass sie die GUltigkeiten von Aussagen explizit hinterfragen.

In dem vorliegenden Forschungsprojekt (Schwarzkopf 2000) sollten im Unterricht stattfmdende Argumentationen von anderen Diskursarten begriffiich abgegrenzt und analysiert werden. Unter einer Argumentation wird hier ein zwischenmenschlicher Prozess verstanden, der folgendermaBen gekennzeichnet wird: Zum einen wird offentlich

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ein Begrtindungsbedarf angezeigt und zum anderen wird versucht, diesen Begrundungsbedarf zu befriedigen. Es wird dann von einem offentlich angezeigten Begrundungsbedarf gesprochen, wenn einer der Beteiligten explizit eine Begrtindung einfordert.

Die Abgrenzung des Argumentierens von anderen im Unterricht beobachtbaren Diskursarten (z.B. Beschreiben, Erzahlen, ... ) geschieht in dieser Arbeit durch eine Definition auf der sprachlichen Ebene. "Argumentieren" lasst sich durchaus anders defmieren (vgl. z.B. in der Mathematikdidaktik Krummheuer 1997, der das "Habermassche Diskurs-Modell" dem "ethnomethodologischen Retlexivitatstheorem" entgegenstellt oder in der Pragmalinguistik Klein 1980, der eine Argumentation als rationale Beilegung thematisierter Strittigkeiten ansieht). In dem hier beschriebenen Ansatz wurde diese Defmition gewahlt, urn den Besonderheiten des Argumentierens gegenilber anderen mathematischen Aktivitaten (z.B. dem ProblemlOsen) gerecht zu werden. So wird etwa das Vorrechnen einer Aufgabe nur dann als Argumentation bezeichnet, wenn die Rechnung erkennbar von den am Unterricht Beteiligten als Begrtindung fUr eine Aussage gekennzeichnet wird. Dies ware zum Beispiel dann der Fall, wenn die Lehrperson fUr das Ergebnis einer Rechenaufgabe explizit eine Begrtindung einfordert ("warum ist die Losung richtig?", "stimmt das?"), ein Schiller daraufhin ein das Ergebnis liefemdes Rechenverfahren vorfiihrt und die am Unterricht Beteiligten den Begrtindungsbedarf als befriedigt anzeigen, d.h. wenn keine weiteren Begrtindungen eingefordert oder hervorgebracht werden (wenn etwa zur nachsten Aufgabe ilbergegangen wird). Wird dagegen nach der Uisung einer Rechenaufgabe gefragt ("was kommt heraus?"; "wie hast du das gemacht?") und daraufhin die Ltisung etwa mit Hilfe eines Rechenverfahrens produziert, so gilt dieser Prozess des Vorrechnens nicht als Argumentation (sondem eher als Problemlosen).

In der Arbeit wird versucht, im Mathematikunterricht real stattfindende Argumentationen mit Hilfe von spezifisch dazu entwickelten Begriffen und Analysemitteln transparent zu machen. Der Autor befmdet sich mit diesem Forschungsinteresse gleichsam "zwischen zwei Stilhlen": Auf der einen Seite geht es urn mathematische Begrtindungen, deren Strukturen aus Sicht der formalen Logik frei yom Kontext der Geschehnisse bestehen und analysiert werden konnen. Auf der anderen Seite geht es urn eine Analyse zwischenmenschlicher Prozesse, in denen Begrilndungen aus humanwissenschaftlicher Sicht nur im sozialen Kontext des Unterrichts einen Sinn erhalten. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, eine Verb in dung zwischen diesen logischen und padagogischen Aspekten von Argumentationen im Mathematikunterricht herzustellen. Diese Verbindung kann weder den Erwartungen der formalen Logik noch den Regeln humanwissenschaftlicher Ansatze vollends gerecht werden, da sich diese Ansatze in ihren Rigorositaten gegenseitig ausschlieBen. Es handelt sich hier urn ein generelles Problem mathematikdidaktischer Unterrichtsanalysen, in den en der Blick zugleich auf den inhaltlichen Unterrichtsgegenstand und auf das mehrschichtige Verstehen der am Unterricht Beteiligten gerichtet ist. Der Autor der vorliegenden Arbeit begegnet diesem Problem, indem er auf unterschiedliche Theorien zurtickgreift, die sich in empirischen Untersuchungen bereits bewahrt haben und die miteinander vertraglich sind. 1m Einzelnen sind dies zum einen die Interaktionstheorie des Mathematiklemens und -lehrens, wie sie von den Mitgliedem der Arbeitsgruppe Bauersfeld fUr die qualitative Analyse von Mathematikunterricht fruchtbar gemacht wurde (z.B. Krummheuer 1992, KrurnmheuerlV oigt 1991, Voigt 1984). Zum anderen zieht der Autor Ansatze heran, die in der Pragmalinguistik fUr empirische Analysen von

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Argumentationen und deren "alltagslogischen Strukturen" verbreitet verwendet werden (z.B. Klein 1980, Toulmin 1975, Weingarten/Pansegrau 1993).

Das Ziel der Arbeit ist nicht die Entwicklung oder Beurteilung von Lemumgebungen fUr die Verwirklichung des Lemziels Argumentieren. Vielmehr soil auf deskriptive Weise ein begrifflicher Rahmen zur Analyse von Argumentationen insbesondere in frtihen Klassenstufen bereitgestellt werden, durch den soIche Prozesse beschrieben und verstanden werden konnen. Gemaf3 den ethnomethodologischen und interaktionistischen Ansatzen wird dabei zum einen versucht, die "Wirklichkeit" so zu erfassen, wie sie von den Beobachteten wahrgenommen und in der Interaktion dargestellt wird (vgl. z.B. Voigt 1984, S.12): Es wird herausgearbeitet, auf welche Weise die am Unterricht Beteiligten subjektiv versuchen, einen in der Interaktion explizit angezeigten Begrundungsbedarf zu befriedigen. Zum anderen wird mittels einer Analyse der Begrundungen aus der Distanz des Experten versucht, argumentative Strukturen von Begrundungsprozessen herauszuarbeiten. Diese Strukturen mUssen nicht notwendigerweise mit den subjektiven Sinnzuschreibungen der am Unterricht Beteiligten Ubereinstimmen (vgl. etwa Oevermann (1979), der latente Sinnstrukturen von Interaktionen herausarbeitet).

Das empirische Datenmaterial der vorliegenden Arbeit stammt aus dem Mathematikunterricht von jeweils vier Klassen der vierten lahrgangsstufe der Grundschule und der ersten lahrgangsstufe des Gymnasiums (fiinfte Klassenstufe). Es wurden in jeder Klasse fiinf aufeinanderfolgende Mathematikstunden beobachtet und auf Video band aufgezeichnet. Den Lehrpersonen und den SchUlem wurde zwar das Forschungsinteresse zu Beginn der Untersuchung mitgeteilt, es fand aber keine gemeinsame Unterrichtsvorbereitung des Forschers mit den Lehrpersonen statt ~ in diesem Sinne handelt es sich urn regularen Unterricht. Die Unterrichtsinhalte der aufgezeichneten Stunden stammen aus den Bereichen der Teilbarkeitslehre, des Sachrechnens und der Rechenverfahren (vierte Klasse), sowie aus den Gebieten der Termumformungen, der schriftlichen Rechenverfahren und des Sachrechnens (fiinfte Klasse). Es wurden nur soIche Szenen transkribiert und genauer analysiert, in denen nach der Terminologie der Arbeit Argumentationen stattgefunden haben.

1m Folgenden soIl eine zentrale Frage der Arbeit beantwortet werden: Welche argumentativen Beziehungen lassen sich zwischen den AuJ3erungen in einer Argumentation rekonstruieren? Dazu wird zunachst die Analysemethode vorgesteIlt, nach der die Interpretationen in diesem Forschungsprojekt durchgefiihrt werden. Anschlie13end wird die Methode an einem Beispiel aus einer vierten Klasse exemplarisch demonstriert.

Die Analyse von Argumenten

Ein Hauptinteresse des Forschungsprojektes bestand darin, die im Unterrichtsprozess hervorgebrachten Argumente in argumentativ-funktionale Bestandteile zu differenzieren und zu beschreiben. Der Fokus lag dabei weniger darauf, ob die Beteiligten gewisse formal~logische Standards einhaIten. Der Forscher ging davon aus, dass in Argumentationen der frtihen lahrgangsstufen weniger die Formen der Argumente wesentlich sind, insbesondere weil den SchUlem noch kein gemeinsamer formaler Apparat fUr logisches Schlie13en zu Verfiigung stehen dUrfte. Allerdings haben die Kinder in ihrer "aIltagsweltIichen Umgebung" sicherlich bereits Erfahrung mit weniger standardisierten Argumentationsweisen gesammelt, die sie (wie auch die Lehrperson) in den Unterricht einbringen. Aus diesem Grunde wurden allgemeinere Argumentations-

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theorien herangezogen, die sich in den empirischen Wissenschaften zur Analyse zwischenmenschlicher Argumentationsprozesse au13erhalb wissenschaftlicher Diskurse bewahrt haben.

Es handelt sich hierbei insbesondere urn ein Argumentationsmodell, das von dem Wissenschaftsphilosophen Toulmin (1975) zur Beschreibung von "im Alltag" hervorgebrachten Argumenten entwickelt wurde. Bevor an einem Beispiel aus der Unterrichtspraxis der vierten Klassenstufe demonstriert wird, wie man dieses Modell zur Analyse von Argumentationen im Mathematikunterricht verwenden kann, soli es anhand eines fIktiven Beispiels eriautert werden. Diese VOrilberlegungen erscheinen dem Autor als hilfreich: Zum einen versucht er dadurch, die Komplexitat der empirischen Analyse zu entscharfen. Zum anderen werden die Vergleiche und Beziehungen zwischen den einflie13enden theoretischen Ansatzen losgelost yom konkreten Fall besser fassbar.

Das Toulminsche Modell anhand eines fIktiven Beispiels

Nach Toulmin (1975) wird ein Argument vorgebracht, urn die GUltigkeit einer Aussage zu rechtfertigen. Sein Interesse gilt u.a. der Mikrostruktur einer solchen Rechtfertigung1

: Wie kann man mit Hilfe einer unbezweiJelten Aussage auf die Gultigkeit einer begrundungsbedurftigen Aussage schliefJen? FUr diese Analyse stellt er ein Schema zur Verfiigung, durch das ein Argument in insgesamt fiinf verschiedene funktionale Komponenten aufgeteilt wird. Die Analyse der Argumente mit Hilfe des Toulminschen Schemas wird deswegen auch "funktionale Argumentationsanalyse" (vgl. Kopperschmidt 1989) genannt.

Zur Illustration stelle man sich die folgende Situation vor: 1m Mathematikunterricht einer zweiten Klasse wird das Dividieren auf enaktive Weise behandelt. Die SchUler sollen ein 32 blattriges Kartenspiel an eine vorgegebene Anzahl von SchUlem verteilen. Dieses Spiel wird einige Male durchgefiihrt und so etwa die Ergebnisse von 32:2 und 32:8 ermittelt. Anschlie13end sollen die Kinder weitere Divisionen in Partnerarbeit durchfiihren. In einer Schlilergruppe wird dabei die Aufgabe 32:3 thematisiert. Die SchUler verteilen erfolgreich 30 Karten an 3 Spieler und behalten (natUrlich) 2 Karten Ubrig. Darauthin stellt eines der Kinder fest: ,,32 kann man nicht an 3 verteilen". Die Lehrerin gibt sich mit der blo13en Feststellung nicht zufrieden und fordert eine BegrUndung daftir ein "warum meinst du, dass 32:3 nicht geht?" Wenn sich die SchUler auf die eingeforderte Argumentation einlassen, em lit die zu rechtfertigende Aussage im Argument die Funktion der Konklusion:

"Man kann 32 nicht an 3 verteilen". NatUrlich konnen die SchUler in dieser Situation anbringen, dass sie es probiert

hatten und deswegen sicher waren, dass man 32 nicht an 3 verteilen kann. Daraus ergabe sich kein unsinniges Argument - viele mathematische Sachverhalte, die an konkrete Zahlen gebunden sind, lassen sich durch eine sorgfaltige empirische Uberprilfung bestatigen. 1m Folgenden wird aber eine inhaltliche BegrUndung entwickelt.

Nach Toulmin muss man in einer Argumentation zumindest unbezweiJelte Aussagen angeben, durch die man versucht, die in Frage gestellte Aussage zu belegen. Eine unbezweifelte Aussage, die zur Begrilndung der obigen Behauptung angefiihrt werden konnte, ist etwa:

,,32 sind ja 2 mehr als 30 und 30 kann man an 3 verteilen".

1 Toulmin spricht von einer "feineren, physiologischen Struktur" einer Argumentation oder ktirzer von .. Mikroargumentationen" (5. Toulmin 1975, S. 86).

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Dieser Sachverhalt wurde zuvor von den Kindem enaktiv errnittelt - 30 der Karten lieJ3en sich an drei Spieler verteilen, dabei blieben 2 der 32 Karten ubrig - und kann dementsprechend als unbezweifelt angesehen werden. Die argumentative Funktion einer unbezweifelten Aussage, durch die eine Konklusion in einem ersten Schritt belegt werden soll, nennt Toulmin Datum. Narurlich kann nicht jede unbezweifelte Aussage die Funktion als Datum fUr eine bestimmte Konklusion erfiillen. Beispielsweise gibt die Aussage ,,13-2= 11" wohl keinen ersichtlichen Anlass dazu, nun die Aussage ,,32 kann man nicht an 3 verteilen" als wahr anzuerkennen. Urn zu verdeutlichen, warum gerade die angefUhrte Aussage zur Begriindung akzeptiert werden kann (wenn sie nicht bezweifelt wird), bedarf es einer weiteren funktionalen Komponente des Arguments, durch die ein argumentativer Zusammenhang zwischen den beiden Aussagen hergestellt wird. Diese Bruckenfunktion zwischen Datum und Konklusion wird von Toulmin warrant genannt. Es handelt sich hierbei urn Regeln, die man allgemein gehalten wie folgt forrnulieren kann:

"Solche Daten wie D berechtigen uns zu solchen Konklusionen oder Behauptungen wie K" (Toulmin 1975, S. 89).

Der von Toulmin recht offen gehaltene Begriff "warrant" wird in der deutschen Pragmalinguistik verbreitet mit dem Begriff "Schlussregel" ubersetzt, der in der forrnalen Logik bereits in einer anderen, standardisierten Weise verwendet wird. Es handelt sich also hierbei urn eine eher ungluckliche Wortwahl, insbesondere weil Toulmin sich auch in seiner Terrninologie von der forrnalen Logik abgrenzen will. Zwar hat sich die Obersetzung in der deutschsprachigert Pragmalinguistik durchgesetzt. Urn Verwirrungen zu verrneiden wird sie aber in diesem Artikel verrnieden und stattdessen "Argumentationsregel" im Sinne Toulmins "warrant" verwende{

Argumentationsregeln werden haufig nicht in dieser Allgemeinheit forrnuliert oder bleiben auch impJizit. Wenn die Lehrerin explizit nach einer Verbindung zwischen dem Datum und der Konklusion nachfragt ("was hat denn die 30 mit der 32 zu tun?"), konnte der Schuler etwa antworten: -"Wenn man 30 an 3 verteilen kann, kann man ja 32 nicht an 3 verteilen, das sind ja nur Zwei mehr". In einer allgemeineren "Version" konnte man in dies em Argument die folgende Argumentationsregel forrnulieren:

Datum Konklusion

32 ist30+2 und 30 kann Wahrschcinlich kunn man an 3 vencilt werden. 32 niehl an 3 vcneilen.

wegen

Argumentationsregel

Wenn a an 3 verteilbar isl. kann a+ 2 nicht an 3 verteilbar scin.

"Wenn a an 3 verteilbar ist, kann a+2 nicht an 3 verteilbar sein." Es wurden bislang drei verschiedene funktionale Komponenten eines Arguments

beschrieben, die nach Toulmin fUr jedes Argument benotigt werden. Das vorlaufige Schema erhalt dann die oben stehende Gestalt.

2 Diesen Vorschlag verdanke ich S. Schmidt.

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Bisher gleicht das Schema der folgenden bekannten Syllogismus-Form: Aist B.

AlieB sindC. irn Bsp.:

32 ist eine Zah!, die urn 2 groBer ist als eine durch 3 teilbare Zah!.

WenneineZahl x urn 2 groBeristals eine durch 3 teilbare Zahl, ist x nicht durch 3 teilbar.

A ist C. 32 ist nicht durch 3 teilbar.

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1m Untersehied zu diesem formal logisehen Sehluss weist Toulmins Schema aber noeh weitere funktionalen Komponenten auf. Diese stehen nieht notwendigerweise formal, sondem i.a. inhaltlich mit den tibrigen Komponenten in Verbindung und sind aus zwei Grunden notwendig: lum einen konnen in der Praxis des Argumentierens Argumentationsregeln in ihrer GUltigkeit hinterfragt werden. lum anderen kann man die Anwendbarkeit der Argumentationsregel auf den speziellen Fall des Datums anzweifeln. Hieraus ergeben sich naeh Toulmin zwei weitere funktionale Komponenten, die im Folgenden erHiutert werden.

Wird eine Argumentationsregel in ihrer Gultigkeit hinterfi'agt, muss man zu ihrer Belegung weitere unbezweifelte Aussagen angeben. Toulmin nennt die argumentative Funktion solcher Aussagen im Argument eine Sti1tzung. Diese dienen nieht unbedingt der formalen Ableitung der Argumentationsregel aus vorgegebenen Axiomensystemen. Vielmehr versueht man in nieht streng formal ausgeriehteten Kontexten mittels einer Sttitzung eine mogliehst groBe inhaltliche Plausibilitiit zu erzeugen, dureh die eine Argumentationsregel als gtiltig akzeptiert werden kann. Insbesondere wird die Argumentationsregel dureh die Sttitzung inhaltlieh an den Kontext der Argumentation gebunden. 1m Beispiel ware eine mogliehe Sttitzung die folgende:

"Man kann 2 Karten nieht an 3 Spieler verteilen". Naeh Toulmin ist die Mogliehkeit, mit einer bestimmten Stlitzung erne

Argumentationsregel zu belegen, von dem organisatorischen Kontext der Argumentation abhangig. So werden etwa in Geriehtsverhandlungen andersartige Sttitzungen akzeptiert als in Diskursen, die in einer Kneipe gefuhrt werden. 1m lusammenhang des Beispiels konnte man vermuten, dass im organisatorisehen Kontext eines Kartenspiels andere Sttitzungen akzeptiert werden als im Kontext mathematisehen Argumentierens (etwa in der Bruehreehnung). Dieser Kontext wird von Toulmin der Bereich einer Argumentation genannt - Sttitzungen sind also bereichsabhiingig.

Krummheuer (1995)3 modifiziert den Begriff des Bereiehs folgendermal3en fur eine interaktionistisehe Perspektive auf Argumentationen: In der Interaktion urteilen die Beteiligten tiber Sinn und Unsinn innerhalb ihrer Rahmungen, d.h. innerhalb ihrer Siehtweise auf die Situation. Insbesondere ist es rahmungsabhangig, ob die Gtiltigkeit einer Argumentationsregel von den Beteiligten akzeptiert oder angezweifelt wird. Man kann also in dieser Siehtweise sagen, dass die Rahmung der Beteiligten einen Kontext "liefem", in dem Argumentationsregeln inhaltlieh gesttitzt werden konnen. 1m obigen Beispiel wird in der Argumentation eine Rahmung eingenommen, in der es urn die Verteilung von Spielkarten, urn eine mogliehe Deutung von Divisionen innerhalb der natlirliehen lahlen, geht. Diese Rahmung wird dureh die Angabe von Datum und Argumentationsregel aile in nieht deutlieh - die Sehtiler spreehen zwar vom "Verteilen", ob sie dabei aber noeh an ein konkretes Kartenspiel denken oder bereits davon abstrahieren ist aile in auf der spraehliehen Oberflaehe nieht erkennbar (auf diesen Aspekt wird in den naehsten Absatzen noeh etwas naher eingegangen). Prinzipiell konnen die

3 Auf Krummheuers Analysen wird am Ende des nachsten Abschnitts eingegangen.

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Beteiligten verschiedene Rahmungen einnehmen, die Argumentationsregel also auf unterschiedliche Weise stlitzen. Eine mogliche alternative Sttitzung fUr das obige Beispiel ware etwa der Verweis darauf, dass die multiplikative "Dreierreihe" in Dreierschritten und nicht in Zweierschritten ansteigt. In diesem Fall wtirde keine sachorientierte, sondern eine innermathematische Rahmung eingenommen.

1m Folgenden wird angenommen, dass den Beteiligten die Stiitzung mit Hilfe des Kartenspiels ausreicht, urn die Argumentationsregel zu akzeptieren. Dann kann nach Toulmin schlieBlich auch die als gtiltig anerkannte Argumentationsregel in ihrer Anwendbarkeit auf das konkrete Datum bezweifelt werden. Ein Zweifel konnte im obigen Beispiel aufkommen, wenn jemand an ein konkretes Kartenspiel denkt, in dem nicht aile Karten im mathematischen Sinne verteilt werden. Wenn ein SchUler eine solche Rahmung eingenommen hat, konnte er auch den Begriff "Verteilen" in einer spielspezifischen Weise deuten: Das Kartenspiel wtirde nicht in der Funktion einer Veranschaulichung fUr das Dividieren von Zahlen angesehen, sondern das Verteilen in einer Beschreibungsfunktion der faktischen Tatigkeit eines Kartengebers im Spiel verstanden. 1m Kontext eines Skat-Spiels wtirde sich zum Beispiel niemand daruber beschweren, dass die Karten noch nicht vollstandig verteilt wurden, wenn der Kartengeber den Skat in die Mitte legt. In diesem Beispiel ist also entscheidend, welche Funktion das Kartenspiel in der Rahmung der Kinder einnimmt. Falls die konkrete Vorstellung von einem faktisch existierenden Kartenspiel dominierend ist, kommt es au13erdem darauf an, an welches Kartenspiel sie denken. So gibt es Kartenspiele, in denen aile Karten an die Spieler verteilt werden mtissen und solche, in denen dies nicht erforderlich ist. Die Uberzeugungskraft der Argumentationsregel fUr dieses Argument ist in dieser Rahmung abhangig davon, ob in dem konkreten Kartenspiel aile Karten an die Spieler verteilt werden, oder ob einige Karten "in der Mitte" verbleiben.

Durch den Zweifel an der Anwendbarkeit der Argumentationsregel muss nicht notwendigerweise die Giiltigkeit der Regel im allgemeinen (d.h. in einer Vielzahl von Anwendungsmoglichkeiten, in diesem Beispiel in vie len Kartenspielen) verworfen werden. Die Frage ist vielmehr, inwieweit der Regel durch die Sttitzung ausreichend Sicherheit verliehen wird, urn innerhalb der Rahmung von der Argumentation aus dem Datum auf die Konklusion zu schlie13en. Mit anderen Worten: Die Beteiligten entscheiden durch die Reflexion tiber den inhaltlichen Kontext dariiber, ob eine Regel die Funktion einer tiberzeugenden Argumentationsregel fUr das thematisierte Argument erfiillen kann.

Hierin besteht ein besonders gravierender Unterschied zu den Schlussregeln, wie sie in der formalen Logik verstanden werden: Dem formal logischen Verstandnis von der GUltigkeit einer Regel in allen konstruierbaren Fallen wird von Toulmin ein eher empirisches Verstandnis von allgemeiner Gtiltigkeit im Sinne vieler denkbarer oder erlebter Faile entgegengestellt. Wird etwa eine Schlussregel in einem Syllogismus als gtiltig anerkannt, muss sie insbesondere fUr den speziellen Fall der Pramisse gelten - der Schluss auf die Konklusion ist gtiltig aile in aufgrund der Form (vgl. zur formalen Gtiltigkeit z.B. Buth 1996). Nach Toulmin kann man dagegen in der Praxis des Argumentierens i.a. nicht mit Hilfe einer anerkannten Argumentationsregel zweifelsfrei auf die Konklusion schlie13en, sondern es bedarf "modaler Operatoren" (z.B. "wahrscheinlich gilt", "moglicherweise gilt", o.a.), durch die man den Grad der Sicherheit angibt, mit dem man auf die Konklusion schlieJ3en kann. Urn diesen Grad der Sicherheit weiter zu konkretisieren, muss man die letzte funktionale Komponente eines

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Arguments, die Ausnahmebedingung, mit Aussagen besetzen. Es ergibt sich das unten stehende Schema.

1m Folgenden soll noch einmal kurz auf den bereits an- Datum

gesprochenen VergleichlLa~t3~~;t~i~~~~~d~:" I-..,...-----..,...-~~I wahrs~:~~:~~~::n man

32 rucht an 3 verteilen.

zwischen Toulmins Modell fur Argumente und denen der formal en Logik eingegangen werden. Der "Dreierschritt" zwischen Datum, Argumentationsregel und Konklusion (dieser Teil des Schemas wird auch als "Kern des Arguments" bezeichnet) ist mit dem Syllogismus der

wegen

Argumentatlonsregel

Wenn a an 3 verte,lbar ist. kann a+2 niehl an 3 verteilbar sein

aufgrundvon

Stutzung

wenn mchl

Ausnahmebedlngung

Indem knnkrcten Kartensplcl kornrneneinige Karten III die "Mitte"

Man kann 2 Kanennichl an 3 Spieler vertl'Oen

formalen Logik vergleichbar. Wahrend Datum und Konklusion den Status von Aussagen haben, wird in der Argumentationsregel eine "Briicke" zwischen den Aussagen gesehen, eine Regel, durch die Gilltigkeit zu ilbertragen versucht wird.

Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Arten von Modellen besteht darin, dass in dem Toulminschen Schema weder Stiltzung noch Ausnahmebedingung formal mit dem Kern des Arguments zusammenMngen milssen. Sie bieten die inhaltliche Einbettung des Arguments, geben Hinweise auf die Rahmungen, innerhalb derer die Argumentierenden ilber die Stichhaltigkeit eines Arguments urteilen. Insbesondere die prinzipielle Moglichkeit, dass die Argumentationsregel, obwohl sie anerkannt wird, in ihrer Anwendung auf das konkrete Datum hinterfragt werden kann, ist nicht formal bedingt, sondern zielt auf die inhaltliche Vorstellung vom Argumentationsgegenstand abo 1m obigen Beispiel zielt die Ausnahmebedingung auf eine zur mathematik­didaktischen Intention alternative Deutung des Begriffs "Verteilen" abo

Wird etwa die oben beschriebene Argumentation im Kontext der Bruchrechnung in spateren Klassenstufen gefuhrt, ware eine andere Ausnahmebedingung denkbar: Man konnte die 2 ilbriggebliebenen Karten zerreillen und in Bruchstilcken an die "Spieler" verteilen. Wird das Problem "innermathematisch" gerahmt und das Verteilen der Karten als eine Veranschaulichung der Division gedeutet, ware das Zerreillen legitim und die oben formulierte Ausnahmebedingung "ernst" zu nehmen. In einer Rahmung, in der ein faktisch durchzufiihrendes Kartenspiel im Vordergrund steht, wilrde das ZerreiJ3en von Karten keinen plausiblen Zweifel an der Anwendbarkeit der Argumentationsregel hervorrufen und wohl eher als Scherz verstanden werden.

Das Schema von Toulmin bietet damit als Analysemittel auf der einen Seite die Moglichkeit, die hinter den Argumenten Iiegenden Rahmungen der Beteiligten herauszuarbeiten und auf der anderen Seite die hervorgebrachten Argumente auf der Grundlage der Rahmungen der Beteiligten zu verstehen. Die Beachtung von Rahmungen ist fur eine interaktionistische Perspektive auf Unterrichtsprozesse wesentlich, weil hier Lemen als eine "Modulation von Rahmungen" (Krummheuer z.B. 1992), kurz gesagt als eine Anderung der Sichtweise auf die Lerngegenstande, verstanden wird.

Die Unterscheidung zwischen "Stiltzung" und "Ausnahmebedingung" mag einem mathematischen Experten fremdartig erscheinen. In der Tat wilrde man in mathematischen Beweisen durch exaktere Formulierungen des Datums und der Argumentationsregel (und evtl. durch Fallunterscheidungen) daftir Sorge tragen, dass die

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GUltigkeit der Konklusion unabhangig von Ausnahmen gesichert ist. Es sei noch einmal daran erinnert, dass Toulmin sein Modell fUr Argumentationen des Alltags entwickelt hat, in denen i.a. keine so hochgradige Sicherheit erreicht wird, wie es fUr die Mathematik typisch, in alltaglichen, weniger standardisierten Situationen aber unUblich ist. Dem Autor scheint diese Unterscheidung fUr ein Verstandnis von schulischer Argumentation zumindest aus dem folgenden Grund hilfreich zu sein: In mUndlich gefuhrten Argumentationen handelt es sich urn zwischenmenschliche Interaktions­prozesse, in denen Argumente nicht in der "perfekten", zeitUberdauemden Form ent­wicke It werden, wie es in schriftlich fixierten mathematischen Beweisen ublich ist. In diesen Prozessen kommt es auf die situativ bedingten Standards der Beteiligten an, inwieweit eine Regel genUgend Uberzeugungskraft besitzt, urn das Argument zu akzeptieren. Dabei spielen (neben anderen) sachliche Vorstellungen, die an Ver­anschaulichungen, sachliche Kontexte eingekleideter Rechenaufgaben u.a. gebunden sind, eine fur die Mathematikdidaktik wesentliche Rolle. Die von den Kindem herzustelienden Beziehungen zwischen Veranschaulichung und Mathematik sind dabei oft problematisch. Insbesondere wenn beide Ebenen in BegrUndungen miteinander vemetzt werden, wird -aus Sicht des Experten - keine solche argumentative Sicherheit erreicht, wie es zwischen mathematischen Aussagen gewahrleistet werden kann. Das Toulminsche Schema bietet durch die Unterscheidung zwischen StUtzung und Ausnahmebedingung eine Moglichkeit, fur dieses Problem zu sensibilisieren. Es stellt Begriffe zur Verfiigung, urn die Entwicklung von eher konkreten, aus Sicht des Experten "unsicheren" Argumenten hin zu "sicheren" algebraischen BegrUndungen zu beschreiben. Die Frage, inwieweit das Argumentieren im Verlaufe der Schuljahre "mathematischer" wird, ist dann zum einen die Frage danach, ob die StUtzungen mathematikspezifischer werden (inhaltliche Dimension). Zum anderen lieBe sich differenziert untersuchen, wie die Beteiligten Datum, Argumentationsregel und Stiitzung so formulieren, dass der Schluss auf die Konklusion unabhangig von Ausnahmebedingungen erfolgen kann (formale Dimension).

Methodische Uberleliunlien zur funktionalen Amumentationsanalyse

Toulmin erhebt in seiner Arbeit den Anspruch, dass Rechtfertigungen prinzipieli aus den hier vorgestellten funktionalen Komponenten bestehen. Alierdings entwickelt er sein Schema anhand selbst konstruierter fiktiver Beispiele, in denen sich die Komponenten durch das Hinterfragen ihrer GUltigkeiten und kontextgebundenen Relevanzen fUr die zu rechtfertigende Aussage ergeben. Einen empirischen Beleg fUr die Brauchbarkeit des Schemas anhand einer Analyse von dokumentierten empirischen Fallen liefert Toulmin nicht. Dies wird in der Pragmalinguistik durchaus kritisch gesehen (vgl. etwa Klein (1980, S. 25), der ein allgemeineres Schema zur Analyse von Argumenten bereitstellt). Der Pragmalinguist Kopperschmidt raumt dem Schema zwar "argumentationsanalytische Praktikabilitat" ein, die durch "die bereitwillige Rezeption des Schemas in der einschlagigen Literatur" hinreichend belegt sei (Kopperschmidt 1989, S. 30). Er weist aber zugleich darauf hin, dass das Schema kein "Abbild der Realitat" darstelit, dass insbesondere die Argumentierenden ihre BegrUndungen selbst nicht in Toulminsche Komponenten unterteilen:

"Die verschiedenen argumentativen Funktionstrager sind freiiich nur selten an der Oberflachenstruktur ihrer sprachlichen Formulierung erkennbar; sie mUssen meistens erst durch eine entsprechende Rollenanalyse (Kopperschmidt verwendet hier "Funktion" und "Rolle" in derselben Bedeutung, R.S.) als solche identifiziert werden" (Kopperschmidt 1989, S. 30).

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Argumentationsanalysen 263

Auch in der vorliegenden Arbeit musste die Aufspaltung der Aui3erungen in argumentativ-funktionale Anteile im Detail oft unabhangig von sprachlichen Markierungen der Beteiligten geschehen. Ihnen war das Toulminsche Schema nicht bekannt, und narurlich fragte in der Interaktion niemand im Sinne der Terminologie Toulmins nach einer "StUtzung fUr eine Argumentationsregel". Die funktionale Argumentationsanalyse ist eine Interpretation von Begriindungsaktivitaten der am Unterricht Beteiligten - sie ist dementsprechend nicht algorithmisierbar, sondem abhangig yom konkreten analysierten Fall. Allerdings geschah sie auch nicht willkUrlich, sondem sie wurde im Verlauf des Forschungsprozesses reflektiert und systematisiert. 1m Folgenden sollen einige Punkte angegeben werden, nach den en sich der Autor bei der Analyse gerichtet hat, bevor die funktionale Argumentationsanalyse im nachsten Abschnitt exemplarisch an einer Unterrichtsepisode vorgeflihrt wird.

GemaI3 dem ethnomethodologischen Ansatz der Arbeit wird davon ausgegangen, dass sich die Beteiligen ihre Deutungen von einer Situation gegenseitig anzeigen. Diese Sichtweise aufInteraktion macht sich auch der Interpret in der Analyse nutzbar:

"Indem die Interaktionsteilnehmer sich gegenseitig anzeigen, wie sie eine Handlung verstehen, zeigen sie das auch dem Interpreten an" (Voigt 1984, S. 114).

In den beobachteten Unterrichtsprozessen zeigen sich die Beteiligten etwa gegenseitig an, welche Aussage begriindet werden soli - nur solche Episoden werden analysiert, in denen ein Begriindungsbedarf explizit angezeigt wird (z.B. "warum kann man 32 nicht an 3 verteilen?"). Diese Aussage wird in der Analyse als Konklusion des eingeforderten Arguments angesehen, wenn darauf folgend AUi3erungen hervorgebracht werden, die von den Betei!igten als zugehOriges Begriindungsangebot akzeptiert werden. Die Frage, welche Aussage als Konklusion angesehen wird, klart sich also im Argumentations­prozess zwischen Lehrperson und SchUlem.

Desweiteren zeigen sich die Interagierenden an, welche AUi3erungen zur Rechtfertigung der begrundungsbedUrftigen Aussage angebracht werden, indem sie etwa begrundende sprachliche Artikel verwenden (z.B. "wei! 32 ja 2 mehr sind als 30"). Aui3erdem wird in der Analyse davon ausgegangen, dass sich die Beteiligten gegenseitig anzeigen, wann eine Argumentation endet. Dies geschieht etwa, indem die Lehrperson die Beitrage der SchUler zusammenfasst und diese explizit als Begriindung deklariert. Oder aber sie zeigt sich unzufrieden mit den bislang hervorgebrachten Aspekten und macht dadurch klar, dass etwa andere StUtzungen entwickelt werden mUssen oder aber die hervorgebrachte Begriindung bislang nicht genUgend ausflihrlich expliziert wurde, urn den Begrundungsbedarf zu befriedigen (z.B. "nun lass doch mal das Kartenspiel weg" oder "was hat die 30 hier mit der 32 zu tun").

Die Analyseeinheit der funktionalen Argumentationsanalyse beginnt, wenn die Beteiligten auf solche Weise einen Begriindungsbedarf anzeigen. Sie endet zu dem Zeitpunkt, an dem die Interagierenden AUi3erungen als ein Begriindungsangebot akzeptieren. Der Interpret rekonstruiert die in dieser Sequenz hervorgebrachten Beitrage als ein Argument im Sinne der Toulminschen funktionalen Anteile - und zwar unabhangig davon, ob das Begriindungsangebot von den Beteiligten oder yom Interpreten als richtig oder falsch bewertet wird. Man kann sagen, dass im Sinne der Deutungen der Untersuchten herausgearbeitet wird, welche AUi3erungen als eine BegrUndung hervorgebracht werden. Die Analyse der Aui3erungen in Bezug auf ihre konkreten Funktionen im Sinne eines Datums, einer Argumentationsregel, einer StUtzung oder einer Ausnahmebedingung geschehen dagegen weit gehend unabhangig

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von den subjektiven Sinnzuschreibungen der Beteiligten und werden als eine latente Sinnstruktur (Oevennann 1979) aus argumentationstheoretischer Sicht rekonstruiert.

Wenn etwa in der Argumentation eine konkrete Aussage angegeben wird, deren Richtigkeit die Interagierenden nieht bestreiten, so wird diese Aussage in der Funktion des Datums gesehen. Ali; weiterer Anhaltspunkt flir die Rekonstruktion einer Aussage in der Funktion eines Datums wird geprlift, ob sie rahmungsUbergreifend verstanden werden kann (z.B. ,,32 sind 2 mehr als 30 und 30 kann man an 3 verteilen"). Weist dagegen eine Aussage auf eine bestimmte Rahmung hin, innerhalb der der Au13emde die Argumentation zu deuten scheint, wird in ihr eher die Funktion der StUtzung gesehen (z.B. "man kann ja nicht 2 Karten an 3 Spieler verteilen" oder "die Dreierreihe wird immer urn 3 gro13er"). Eine Au13erung wird als Argumentationsregel interpretiert, wenn sie einen allgemeinen Aspekt in dem speziellen Begrlindungsproblem kennzeichnet und eine argumentative Brlicke zwischen einem potentiellen Datum und der Konklusion schlagen kann ("wenn man 30 an 3 verteilen kann, dann kann man ja Zwei mehr nicht auch an 3 verteilen"). Schlie13lich wird eine Ausnahmebedingung dann zu rekonstruieren versucht, wenn die Beteiligten eine gewisse Unsicherheit bzgl. der Oberzeugungskraft der Begrlindung signalisieren (z.B. "es sei denn, in dem Spiel bleiben Karten in der Mitte" oder "auBer man zerreiJ3t die Karten" oder aueh "deswegen mUsste das eigentlich stimmen").

NatUrlich konnen in der Analyse nicht immer samtliche argumentativ-funktionalen Anteile rekonstruiert werden. So konnten in den empirisehen Fallen der vorgestellten Arbeit oftmals keine Indizien dafiir gefunden werden, dass ein Beitrag die Funktion der Argumentationsregel erfllllt. Desweiteren zeigten sich SchUler in einigen Fallen zwar unsieher Uber die Stringenz eines Arguments, es wurden aber keine Hinweise darauf gefunden, inwieweit Zweifel im Sinne einer Ausnahmebedingung vorherrschten.

Diese funktionale "Unvollstandigkeit" der Argumente widerspricht nicht den Gedanken Toulmins: Er entwickelt die einzelnen funktionalen Anteile eines Arguments auf der Basis der prinzipiellen M6glichkeiten, argumentative AuBerungen in ihrer GUltigkeit bzw. ihrer Relevanz flir die Konklusion zu hinterfragen. Man kann also sagen, dass die Beteiligten ihre Argumente soweit entwickeln, bis sie akzeptiert werden: Wird etwa die Relevanz eines Datums in Bezug auf die Konklusion nicht explizit hinterfragt, kann die Angabe des Datums in der Interaktion ausreichen, urn einen Begrundungsbedarf zu befriedigen. Wenn die Beteiligten ein entsprechendes Arbeitsinterim (s. z.B. KrummheuerlV oigt 1991) hergestellt haben, sich also gegenseitig unterstellen, die Situation zueinander kompatibel zu rahmen, konnen StUtzungen implizit bleiben (usw.).

In der hier vorgestellten Arbeit versucht der Interpret in solchen Fallen, Begrlindungen im Toulminschen Sinne zu vervollstandigen. Er zieht dazu Kontext­wissen Uber den Unterrieht heran, durch das unbesetzt gebliebene funktionale Anteile der Argumente erganzt werden konnen. Hierdurch werden spekulative Oberlegungen Uber implizit bleibende mathematische Regeln und Aussagen angestellt, die im Unterricht als selbstverstandlich angemessen und richtig gelten. Es wird aber darauf geachtet, dass bei diesen Spekulationen den Phanomenen des Unterriehts Reehnung getragen wird. Wenn etwa in einer Argumentation keine StUtzung identifizierbar ist, wird durch eine Interaktionsanalyse versucht herauszuarbeiten, in welcher Rahmung die Beteiligten die Argumentation deuten. Bei diesen Interpretationen bedingen und erganzen Interaktions­analyse und funktionale Argumentationsanalyse einander gegenseitig.

An dieser Stelle solI noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die funktionale Argumentationsanalyse in der Mathematikdidaktik bereits von Krummheuer (1995,

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1997) verwendet wurde und wird (vgl. auch BrandtlKrummheuer 2000). Er untersucht u.a. mit Hilfe einer funktionalen Argumentationsanalyse Gruppenarbeitsprozesse von Grundschiilem, in denen diese kooperativ versuchen, Aufgaben zu losen. Krummheuer beobachtet hierbei, dass die SchUler kaum explizit die Rationalitat des Vorgehens eigens thematisieren bzw. diese als begrundungsbedUrftig anzeigen:

"Die kooperierenden Kinder befinden sich in keinem erkennbaren Streit; sie losen in gleichsam einvemehmlicher Weise die Aufgabe; die Kinder versuchen offenbar Schritte einer Berechnungsprozedur durchzufiihren. Ihre Rationalisierungspraxis ist die verbale Prasentation dieser Berechnungsschritte - das "Vorrechnen"" (Krummheuer 1997, S. 33).

Hinter dieser "Rationalisierungspraxis" rekonstruiert Krummheuer gro13tenteils implizit bleibende Argumente, in denen i.a. Informationen aus der Aufgabe (Datum) Uber die Berechnungsprozedur (Argumentationsregel (von Krummheuer als "Garant" bezeichnet) und Stlitzung) in die Losung der Aufgabe (Konklusion) Uberfiihrt werden:

"Argumentation defmiert sich dann als ein Begrundungsverfahren, das die Losung der Aufgabe als Konklusion aus nicht bezweifelten Daten darstellt" (Krummheuer 1997, S. 34).

In den von Krummheuer analysierten Episoden fragen die Beteiligten typischerweise nicht explizit nach Begrlindungen, sondem sie liefem die Rechtfertigung der Rationalitat ihres Handelns durch die narrative Darstellung ihres Losungsweges implizit mit.

"Es sind vor allem die Garant- und Stlitzungsfunktionen einer Argumentation, die in dieser Weise in der Interaktion verpackt sind und als prinzipiell von den Schiilem erschlie13bar unterstellt werden" (Krummheuer 1997, S. 37).

Die Aufgabe der funktionalen Argumentationsanalyse besteht in Krummheuers Analysen darin, argumentative Strukturen nachzuweisen, die von den Beteiligten beim "Vorrechnen" implizit mitgeliefert und als kognitiv rekonstruierbar unterstellt werden. In der hier vorgestellten Arbeit werden gerade solche Episoden untersucht, in denen nach argumentativen Beziehungen zwischen Aussagen gefragt wird - es werden von den Beteiligten explizit Begrundungen eingefordert und entwickelt. Die funktionale Argumentationsanalyse dient dabei der Rekonstruktion von groBtenteils explizierten Beziehungen. Die Unterschiedlichkeit der analysierten Phanomene zieht eine im Detail unterschiedliche Anwendungsweise der funktionalen Argumentationsanalyse der beiden Autoren mit sich, die hier im Einzelnen nicht diskutiert werden kann. Hierzu sei auf Schwarzkopf (2000, S. 217ff.) verwiesen. Wie die funktionale Argumentationsanalyse in der hier vorgestellten Arbeit durchgefiihrt wird, soli im nachsten Abschnitt an einem konkreten empirischen Fall exemplarisch deutlich gemacht werden.

Funktionale Argumentationsanalyse: Ein Beispiel aus der vierten Klassenstufe

In diesem Abschnitt geht es urn eine Episode aus dem Mathematikunterricht einer vierten Grundschulklasse, in der zwei verschiedene Begrlindungen hervorgebracht werden. Die Argumente werden zunachst gema13 des Ablaufs der Interaktion nacheinander analysiert. 1m darauf folgenden Abschnitt soli ein argumentativ-funktionaler Zusammenhang der beiden Argumente aufgezeigt werden, den die Beteiligten in der Interaktion nicht herstellen. In den Schlussbemerkungen werden Ergebnisse der Analyse in Bezug auf die Stringenz der Argumentation und die Entwicklung des eigenstandigen, inhaltlichen Argumentierens der SchUler diskutiert. In der Szene geht es urn die folgende Textaufgabe:

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"Der Kilometerzahler in Silkes Auto zeigte vor der Fahrt 1252,8 km. Nach der Fahrt stand der Zahler auf 1271,4 km. Wie viele Kilometer ist Silke gefahren?"

Der Sachtext wurde von der Lehrerin Frau Burmeister4

an die Tafel geschrieben und die zugeharige Frage daraufhin im Klassengesprach entwickelt. Die Kinder sol1ten dann die Textaufgabe in Stillarbeit lasen. Wahrend der Stillarbeit ging Frau Burmeister in der Klasse herum und half ggf. den SchUlem bei der Bearbeitung der Aufgabe. Zu Beginn der Szene geht sie an die Tafel und spricht in die Klasse

5:

1 L als ich vorhin herumging sah ich dass einige Kinder die Aufgabe falsch hatten und zwar schreib ich sie mal an die Tafel und du kannst Uberlegen obs richtig ist oder falsch beziehungsweise auch warum. die Frage schreib ich jetzt nicht. die haben wir vorher genannt die sol1te stimmen. ( .. ) die Rechnung, erste Zahl (beginnt, 1252,8 km zu schreiben, zeigt dabei auf die erste Zahl im Text)

2 S falsch

3

4

5

6

L

Ss

S

Ss

Tafelbild:

ja ich weiJ3 es nicht ist doch a11es richtig abgeschrieben

falsch fals{;h (L schreibt ,,- 1271,4 km" und zeigt dabei auf die zweite Zahl im Text)

richtig

(taut) falsch (L deutet den Kindern an, dass sie sich zu melden haben)

Der Kilometerzahler in Silkes Auto zeigte.Y2!: der Fahrt 1252,8 km. ~ der Fahrt stand der Zahler auf 1271,4 km.

F: _______ .

R 1252,8 km

- 1271,4 km

7 L ~s:r sagte als erstes ganz laut falsch du weii3t es ja inzwischen. warum ist es denn falsch Petra bitte.

Auf das Zustandekommen der Argumentation wird im letzten Abschnitt des Artikels noch naher eingegangen (s. dazu auch Schwarzkopf 2000, S. 307 ff.). Es soli zunachst nur daraufhingewiesen werden, dass Frau Burmeister in Zeile 7 eine BegrUndung dafiir einfordert, dass der angeschriebene Rechenansatz falsch ist.

8 P weil wei! e eintausend nee weil ja doch 1271,4 Kilometer sind mehr als 1252,8 Kilometer und man kann ja nicht von weniger mehr ill1ziehen. (L nickt wahrend dieser A'uj3erung)

9 L aha. so. das hatte natUrlich nicht nur der Petra sondem einigen anderen auch sofort klar sein mUssen. ja aber wenn du doch die Zahlen hier der Reihe nach so stehen hast, dann kommt manch einer auf die Idee und sagt dann muss ich die der Reihe nach so nehrnen. , Hans ist das immer so'

10 H ne.

4 Aile verwendeten Namen sind Pseudonyme. 5 Die zugehorigen Transkriptionsregein sind im Anhang des Artikeis aufgelistet.

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Argumentationsanalysen 267

11 L ne nicht' das muss man (wischt die Subtraktionsaufgabe ab) natlirlich auch wissen-

In Zeile 8 bringt die Schtilerin Petra eine Au13erung hervor, die sie durch entsprechende sprachliche Partikel als Begrundung markiert. Die Lehrerin akzeptiert Petras Beitrag in Zeile 9 als "passend" zu ihrer Begrlindungsaufforderung - es wurde also ein Begrlindungsbedarf angezeigt und eine Begrundung hervorgebracht, d.h. in der Terminologie der hier vorgestellten Arbeit findet eine Argumentation statt.

In Petras Au13erung lassen sich zwei argumentativ-funktional unterscheidbare Bestandteile rekonstruieren. Zunachst bringt sie eine Aussage hervor:

1271,4 km > 1252,8 km. Man kann sicher annehmen, dass ein solcher Vergleich zweier vorgegebener Langen im Unterricht der vierten Klasse in seiner Richtigkeit von den Beteiligten nicht angezweifelt wird. Dementsprechend wird die Aussage in der Analyse als eine im Unterricht unbestreitbare Tatsache angesehen. Diese Tatsache kann in den unterschiedlichsten Rahmungen akzeptiert werden - sie kann mit einer bestimmten Vorstellung von Langen (etwa vl)n Entfemungen, die mit dem Auto zuruckgelegt werden, wie es die Aufgabe nahelegt) genauso akzeptiert werden, wie durch einen algorithmisch orientierten, ziffemweisen Vergleich zwischen den Zahlen, der unabhangig von jeglicher Gro13envorstellung ist. Dies sind Indizien darur, dass hier im Toulminschen Sinne ein Datum hervorgebracht wurde.

Zusatzlich stellt Petra eine Beziehung her zwischen zwei Zahlen und der Moglichkeit, diese Zahlen voneinander zu subtrahieren:

"Man kann nicht von weniger mehr abziehen." Diese Beziehung geht tiber die Betrachtung der beiden konkret angegebenen Zahlen hinaus; hier wird eine Regel formuliert, die auf eine ganze Klasse von Zahlenpaaren angewendet werden kann. Dadurch, dass Petra beide argumentativ-funktionalen Bestandteile explizit miteinander (durch ein verbindendes "und") und mit der begrlindungsbedlirftigen Aussage ("weil") verbindet, zeigt sie deren Relevanz rur die Rechtfertigung der Falschheit des Losungsansatzes an. Dies wird von der Lehrerin als ausreichend bestatigt, d.h. die unbezweifelbare Aussage wird mit Hilfe der Regel zwischen den Beteiligten als ausreichend zur Befriedigung des zuvor angezeigten Begrundungsbedarfs angezeigt. In der Sprache der funktionalen Argumentationsanalyse wird hier ein Datum hervorgebracht, das mit Hilfe einer Argumentationsregel zur Rechtfertigung einer Konklusion ruM.

Es stellt sich noch die Frage, aufgrund welcher inhaltlicher Annahmen die Beteiligten die Gtiltigkeit der Regel unterstellen. Weder Schiilerin noch Lehrerin geben in ihren Au13erungen Hinweise darauf, dass sie versuchen, die angegebene Regel noch zu untermauem, mit anderen Worten: Eine Stlitzung wird nicht hervorgebracht.

Allerdings verbindet Petra die konkreten Zahlen des Rechenansatzes mit den zum Sachtext gehorenden Einheiten. Man kann natlirlich sagen, dass sie sich damit "routiniert" urn die Vollstandigkeit der Angaben bemtiht, schliel3lich stehen die Zahlen mit den Einheiten verbunden an der Tafel. Argumentativ betrachtet kann man aber hierin auch einen Hinweis auf ein inhaltliches Verstandnis yom Argumentationsgegenstand, der Subtraktion zweier Langen, sehen. In diesem Sinne interpretiert wird die Argumentationsregel in einer Rahmung akzeptiert, in der mit Zahlen im Gro13enbereich Langen gerechnet werden soil. Waren in der Aufgabe "Geldwerte" angesprochen worden, konnten durchaus einige Schiller und in jedem Fall die Lehrerin die Gtiltigkeit der Regel

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hinterfragen, wenn negative Rechenergebnisse als Schulden gedeutet wiirden. Nach dieser Interpretation kann deswegen Petras Regel auch folgendermaBen "ausgebaut" werden:

"Man kann nicht mehr Kilometer von weniger Kilometem abziehen." Desweiteren kann das Argument durch die folgende Stiitzung erganzt werden:

"Es sind im zugrunde liegenden GroBenbereich "Langen" nur Rechnungen mit nicht-negativen Ergebnissen erlaubt."

Petra und die Lehrerin haben demnach gemeinsam das folgende Argument hervorgebracht·

DerRechenansatz "1252,8km-1271,4km" istzur Losung der Textaufgabefalsch.

(BegIiindungsaufforderung und Zustimmung der Lehrenn)

Es sind im zugrun~e Jiegenden GroBenbereich "Langen"

In Zeile 9 signalisiert die Lehrerin neben ihrer Zustimmung auch, dass sie Petras Begriindung fur ausreichend halt, urn die Argumentation zu been den ("aha. so. " , desweiteren wischt sie

nur Rechnungen mit nicht-negativen Ergebnissen erlaubt. omphzit)

die Subtraktionsaufgabe von der Tafel). Vermutlich aufgrund der nachfolgenden AuBerung eines anderen Schiilers wird die Argumentation allerdings nicht beendet, sondem durch die Entwicklung weiterer Begriindungen fortgefiihrt:

12 S ich hab das anders g~lJlq<::l].t.

13 L und man kann das natiirlich auch noch anders iiberlegen. das machen wir gleich. ja' wieso kann denn nur diese Zahl (zeigt dabei auf 1271,4 in der Textaufgabe) zuerst hier stehen warum kann denn nicht die ~ zuerst hier stehen 1illl

Frau Burmeister zeigt auf die groBere Zahl im Text und fragt, warum diese zuerst "hier" stehen miisse. Da diese Zahl im Sachtext an zweiter Stelle steht, bezieht sie sich vermutlich auf die im Sinne des Unterrichts richtige Subtraktionsaufgabe, in der ,,1271,4" an erster Stelle stehen miisste. Man kann deswegen sagen, dass sie ihre eingangs thematisierte zu begriindende Aussage umformuliert: Warum muss man in der richtigen Rechnung die kleinere von der gr6j3eren Zahl subtrahieren? Jan schlagt darauf­hin eine Begriindung vor, die dem zuvor rekonstruierten Argument sehr ahnlich ist:

14 J ja weil 1271,4 (L schreibt 1271,4 km an die Tafel) Kilometer, sind

15 J

16 L

17 L

18 N

am ja wenig- sind ja mehr als 1252,8 Kilometer

I denn kann denn kann man das ja gar nicht minus rechnen.

warum muss das denn auch mehr sein

ja warum muss das mehr sein Nena. wenn du das

ja weil

19 L mit dem Text erzahln kannst (zeigt auf den Text) warum kann denn das nicht weni~er sein hier was da steht (zeigt auf 1271,4 im Text, gestikuliert stark) warum ist das mehr

Der Schiiler gibt an, dass man den groBeren Kilometerstand nicht vom kleineren Kilometerstand abziehen konne (Zeilen 14/15). Aufgrund der Ahnlichkeit zu dem vorherigen Argument wird auf diese Begriindung hier nicht we iter eingegangen.

1271,4km ist mem als 1252,8 km.

(Zeile8)

Man kann nieht mehr Kilometer von weniger Kilometern abziehen.

(Zeile8)

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Interessant ist aber, dass die Lehrerin noch wamend der AuBerung von Jan (die Zeilen 15 und 16 werden gleichzeitig gesprochen) ihre Begrtindungsaufforderung nunmehr erheblich andert: Es soil im Folgenden nicht mehr ilber den Rechenansatz gesprochen werden, sondem die Schiller sollen begrunden, dass die Zahlen im Sachtext notwendigerweise den Unterschied aufweisen, der fur Petras Begrundung zentral war: Warum ist im Text die erste Zahl kleiner als die zweite Zahl? Auf einen argumentativen Zusammenhang dieser Begrundungsaufforderung mit dem ersten Argument wird im nachsten Abschnitt naher eingegangen. Zunachst wird die nun zu begrundende Aussage in ihren argumentativen Beziehungen zu den nachfolgenden AuBerungen analysiert.

Es zeigt sich in Zeile 19, dass die Lehrerin an dieser Stelle eine andere Rahmung der Situation fur denkbar und fur wichtig halt: Hat Petra ihr Argument noch in einer R!lhmung gestiitzt, in der das Rechnen im GroBenbereich "Langen" zentral ist, wird jetzt von Frau Burmeister eine Rahmung eingefordert, in der der konkrete Sachverhalt der Aufgabe starker zum Tragen kommen sol!. Hierzu thematisiert sie den Zusammenhang zwischen dem Sachkontext ("wenn du das mit dem Text erzahln kannst") und den in der Aufgabe auftretenden Zahlen ("warum kann denn das nicht weni&er sein hier was da steht [ ... ] warum ist das mehr"). Von den Schillem wird also nun verlangt, die Situation sachbezogen (eben "anders", wie es ein Schiller zuvor angeregt hatte) zu rahmen und entsprechend zu argumentieren. Demzufolge wird ein sachlich gestUtztes Argument eingefordert, das die folgende Konklusion belegen soil:

"Im Text muss die zweite Zahl groBer sein als die erste Zah!." Die nachfolgenden AuBerungen werden wiederum zum einen von den Kindem mit begrundenden sprachlichen Partikel an diese Konklusion gebunden und zum anderen von der Lehrerin als ein Begrundungsangebot akzeptiert - hier wird also ein weiteres Argument hervorgebracht:

20 S ja weil die .tlibrt ja

21

22

23

L

S S

ja-

I die .tlibrt ja noch

und nicht ruckwarts

24 L mit dem Kilometerzahler zumindest nicht mit dem Auto vielleicht ne' aber nicht mit dem Kilometerzahler

25 S die fahrt ja, mehr und dann ist das 1271,4

26 L so ist das woh!. und dann kann ich nur fragen wieviel dazu gekommen sind indem ich (die alte Zahl wegnehme ?) und jetzt ausgerechnet ergibt es' ganz schnell

Zunachst weisen die Schiller daraufhin, dass das Auto vorwarts fahre und machen damit eine Aussage ilber die konkrete Sachsituation. Die Kinder zeigen dadurch, dass sie die von der Lehrerin eingeforderte sachbezogene Rahmung einnehmen konnen und stell en eine andere inhaltliche Beziehung zur Aufgabenproblematik her, als es in der ersten Begrilndung rekonstruiert wurde: 1m Zentrum des Interesses stehen hier nicht Rechenaspekte innerhalb eines Losungsansatzes, sondem ein sachspezifischer Bezug der Zahlen zur im Aufgabentext angefiihrten Tatigkeit des Autofahrens.

Die Relevanz dieser sachbezogenen Sichtweise wird von der Lehrerin bestatigt und zum einen die in dieser Rahmung hervorgebrachte Aussage als unbestreitbar gesichert: "mit dem Kilometerzahler zumindest nicht mit dem Auto vielleicht ne' aber nicht mit dem Kilometerzjihler". Zum anderen stellt Frau Burmeister den Bezug her zwischen der

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270 Ralph Schwarzkopf

Bewegung des Autos und der Eigenschaft des Tachometers, sich vorwarts zu drehen. Das Argument wird dadurch an eine Vorstellung von der Funktionsweise eines Tachometers gebunden, und die sachbezogene Rahmung der SchUler wird spezifiziert. Deswegen werden diese AuBerungen hier als Sttitzung des Arguments angesehen, die folgendermaBen formuliert werden kann:

"Der Tacho dreht sich wahrend der Fahrt vorwarts." In leile 25 setzt ein SchUler diese Eigenschaft des Tachos noch einmal in Beziehung

zu den konkret in der Aufgabe stehenden lahlen: Beim Drehen des Tachos werden die angezeigten lahlen groBer und am Ende erscheint die lahl ,,1271,4" auf der Anzeige. Argumentativ gesehen wird hierdurch eine Briicke geschlagen zwischen den zwei lahlen, die ein Tacho am Anfang und am Ende einer Fahrt anzeigt: Wahrend der Fahrt ("die fahrt ja") wird die yom Tacho angezeigte lahl groBer ("mehr"), bis die Anzeige in diesem konkreten Fall bei der lahl 1271,4 stehenbleibt ("und dann ist das 1271,4") -insbesondere ist die yom Tacho var einer Fahrt angezeigte lahl kleiner als diejenige, die nach einer Fahrt angezeigt wird. Diese Feststellung kann als eine allgemeine Beziehung zwischen der Fahrt eines Autos und der Anzeige eines Kilometerzahlers verstanden werden, sie gilt filr jeden Tacho, und wird deswegen hier in der argumentativen Funktion einer Argumentationsregel interpretiert, die man folgendermaBen ausruhren konnte:

"Nach einer Fahrt zeigt der Tacho eines Autos eine groBere lahl an als vor einer Fahrt."

Nach dieser Interpretation erfUllt keine der hervorgebrachten AuBerungen die Funktion eines Datums. Es stellt sich die Frage, welche unbestreitbare Aussage mit Hilfe der Regel (nach einer Fahrt zeigt der Tacho eines Autos eine groBere lahl an als vor einer Fahrt) die Gtiltigkeit der Konklusion (die erste lahl im Aufgabentext muss kleiner sein als die zweite Zahl) rechtfertigen kann. Es erscheint denkbar, dass hier Informationen einflieBen, die dem Aufgabentext entnehmbar sind: "Der Kilometerstand in Silkes Auto zeigte vor der Fahrt 1252,8 km. Nach der Fahrt stand der lahler auf 1271,4 km". Dieser Text steht filr aile gut lesbar an der Tafel, insbesondere waren die Worter "vor" und "nach" von der Lehrerin bereits vor Beginn der Argumentation unterstrichen worden. Hierdurch kann eine Beziehung zwischen den in der Aufgabe thematisierten lahlen und den in den AuBerungen hervorgebrachten Vorstellungen tiber die Funktionsweise einer Tacho-Anzeige klar werden - durch die Hervorhebung der beiden Worter im Text wird deutlich, dass die erste im Text stehende lahl den Tachostand vor der Fahrt angibt und die zweite lahl den Tachostand nach der Fahrt. Mit Hilfe der Argumentationsregel wird dann gesichert, dass die yom Tacho angezeigten lahlen wahrend der Fahrt groBer

Dieerste Zahlgibt den Tachostand Dieersle Zahl im Aufgabente)(t muss vorder Fahn, die zweite Zahl den .. kleiner sein als die zweite Zahl.

nach dec Fahrt an.

I . (Begrundungsaufforderung und

(aus dem Aufgabentext entnommen) Zustimmung dec LehrerirU

Nacheine.r Fahrt zeigt dec Tachoeines Autos eine groBere Zahl an als vor einer Fahrt.

(ansatzweise Zeile25)

I L:er Tacho dreht sich wahrend einer Fahrt vorwarts

(Zeilen22, 23, 24) I

werden. Durch die Angaben im Auf­gabentext wird nach dieser Inter­pretation ein Datum geliefert und insgesamt zwischen den Beteiligten ge­klart, dass die zweite lahl aus

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Argumentationsanalysen 271

sachlichen Grunden grofier sein muss als die erste Zahl. Es ergibt sich nach dieser Inter­pretation das oben stehende Argument. An dieser Stelle wird von der Lehrerin der Begrundungsbedarf als befriedigt angezeigt und die Argumentation endet.

Es wurden zwei Begrtindungen hervorgebracht, die in dieser Interpretation als innerhalb verschiedener Rahmungen gestiitzte Argumente rekonstruiert wurden. Wahrend sich die Stiitzung des ersten Arguments auf sinnvolle Rechenaufgaben im Gro13enbereich "Langen" bezieht, spieJt fUr die Stiitzung des zweiten Arguments die konkrete Sachsituation des Autofahrens und die Funktionsweise eines Tachometers die entscheidende Rolle.

Besonders interessant ist aus Sicht des Autors in diesem Zusammenhang die Konklusion des zweiten Arguments. Es stellt sich fUr die funktionale Argumentations­analyse die Frage, wozu die Aussage "die erste Zahl im Aufgabentext muss kleiner sein als die zweite Zahl" begrundet wird. Man konnte nun anfiigen, dass hier das Datum des ersten Arguments noch einmal eigens begrundet wird - dort wurde von Petra vorausgesetzt, dass 1252,8 km kleiner ist als 1271,4 km. Ein argumentativer Vergleich zweier Zahlen ware allerdings fUr eine vierte Klasse in dieser argumentativen Funktion banal. Desweiteren ware dieser Vergleich auf arithmetischer Basis herstellbar und es erschiene in Bezug auf das arithmetisch orientierte erste Argument kiinstlich, dass die Beteiligten diese Begrundung in einer sachbezogenen Rahmung entwickeln. Oem Autor erscheint dagegen ein anderer argumentativer Zusammenhang der beiden Begrundungen interessanter, der im Folgenden erlautert werden soIl. In diesem Zusammenhang ist der sachliche Bezug des zweiten Arguments notwendig. Er wird von den Beteiligten allerdings nicht explizit hergestellt und es rmden sich keine Indizien dafiir, dass er von ihnen realisiert wiirde. Die folgenden Analysen basieren auf Gedankenexperimenten des Interpreten und werden deswegen als ein "argumentatives Potential" angesehen - als aus Sicht des argumentativen Experten herstellbare argumentative Strukturen, die den am Unterricht Beteiligten in dieser Situation wahrscheinlich verborgen bleiben. Zusammenhan~e der Ar~umente: Das argumentative Potential Streng genommen kann man mit Hilfe von Petras Argumentationsregel ("man kann nicht mehr Kilometer von weniger Kilometem abziehen") nicht ohne weiteres darauf schlie13en, dass der thematisierte Rechenansatz zur Losung der Textaufgabe falsch sein muss. Hierzu ware die folgende "Zwischenkonklusion" notwendig:

"Die Rechenaufgabe 1252,8 km -1271,4 km ist unlosbar." Aus dieser Zwischenkonklusion konnte man allerdings auch auf die folgende Aussage schliefien: "Die Textaufgabe ist unsinnig." Diese Aussage wiirde dann zutreffen, wenn im Aufgabentext die beiden Zahlen so vertauscht waren, dass die grofiere Zahl als Kilometerstand vor der Fahrt aufgefiihrt ware. Aus Sicht des Experten miisste man diese Moglichkeit in der Argumentation zumindest iiberprufen. Mit Toulmin kann man sagen, dass auf die Giiltigkeit der Konklusion "der Rechenansatz ist ." I h" h oo h 1271,4kmist mehr I ~I la sc oc stens a1s 1252.8 km. I I

DecRechenansatl "1252,8 km- 1271,4 km"" istzur Lasung der Textaufgahe

(wahrscheinich) falsch. dann geschlossen werden kann, wenn die Ausnahme­bedingung "die Auf­gabe ist unsinnig" nicht zutriffi. Das

Es sei denn, dec Fehler liegt in dec Aufgabenstellung.

Es sind irn zugrunde liegenden Gr5Benbereich "Langen" nurRechnungen mitnicht-negativen Ergebnissen erlaubt.

Man kann nicht mehr Kilometer von weniger Kilometem abziehen.

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272 Ralph Schwarzkopf

erste in der Szene hervorgebrachte Argument liel3e sich also wie oben stehend "vervollstandigen" .

Diese weit gehende Analyse des Arguments erscheint auf den ersten Blick sicher spitzfindig. In Verbindung mit der Konklusion des zweiten Arguments erscheint sie dem Autor allerdings interessant: Mit dem zweiten Argument wird belegt, dass die erste Zahl im Aufgabentext aus sachlichen Grunden kleiner sein muss als die zweite Zah!. Mit Hilfe dieser Aussage wird gesichert, dass die Textaufgabe nicht unsinnig (etwa im Sinne einer falschen Notation der Lehrerin) gestellt wurde. Die Begrundungen erganzen sich funktional also in ihrem argumentativen Potential folgendermal3en: Die Konklusion des ersten Arguments ("der Rechenansatz ist falsch") wird durch die Sicherung der Anwendbarkeit der Argumentationsregel (nicht ihrer Gilltigkeit) im Fall der konkreten Aufgabe weiter untermauert, indem die "zugehorige" implizit gebliebene Ausnahmebedingung ("der Fehler liegt in der Aufgabenstellung") widerlegt wird.

Es soli hier natlirlich nicht behauptet werden, dass dieser Zusammenhang von den Beteiligten so gesehen wird. Man konnte aber vermuten, dass die Lehrerin die Situation zumindest dazu passend rahmt. Es ist ein bekanntes Problem,dass Schiller Sachtexte oft nicht genilgend genau lesen. Deshalb nutzt Frau Burmeister moglicherweise die Situation, urn die Aufmerksamkeit der Schiller von "Rechenregeln" ein Stilck we it zu losen und auf den Sachtext und den in ihm dargestellten Sachverhalt zu lenken.

Schlussbemerkungen: Eigenstlindiges Argumentieren und das argumentative Potential

Abschliel3end noch diskutiert werden, inwieweit in dieser Episode die Chance liegt, das eigenstandige Argumentieren der Schiller zu fardem. Dam wird zunachst das Zustandekommen der Argumentation naher betrachtet. Abschliel3end wird ein Bezug hergestellt zwischen der Eigenstandigkeit der Schliler im Argumentieren und dem argumentativen Potential, wie es in der Analyse herausgearbeitet wurde.

Zu Beginn der Szene wird von Seiten der Schiller ein "falscher" Losungsansatz fiir eine Textaufgabe geliefert, der von der Lehrerin an der Tafel bereits als falsch thematisiert wird ("als ich vorhin herumging sah ich dass einige Kinder die Aufgabe falsch hatten und zwar schreib ich sie mal an die Tafel [ ... ]"). Zugleich fordert sie die Kinder dazu auf, sich ilber die Richtigkeit des Losungsansatzes Gedanken zu machen (,,[ ... ] und du kannst ilberlegen obs richtig ist oder falsch beziehungsweise auch warum [ ... ]"). Noch wahrend sie den Ansatz anschreibt, zeigt sich ein Grol3teil der Schiller einig damber, dass dieser Ansatz als falsch zu beurteilen sei. Dieses Urteil wird von Frau Burmeister noch einmal offiziell bestatigt, bevor sie eine Begmndung dafiir einfordert: ,,[ ... ]warum ist es denn falsch Petra bitte [ ... ]".

Dieser interaktive Prozess zwischen Lehrperson und Schillem ist typisch fiir das Zustandekommen der Argumentationen, die in der vorliegenden Arbeit beobachtet wurden: Die Schiller bringen eine Aussage hervor, die von der Lehrperson und den Schlilem zunachst als richtig oder falsch beurteilt wird - anschliel3end wird eine Begrlindung eingefordert.

Nach einem verbreiteten Ansatz in der Pragmalinguistik kommen Argumentationen im auj3erschulischen Alltag anders zustande: In einer sozialen Gruppe mils sen Strittigkeiten thematisiert werden, und die Beteiligten mils sen ein Interesse daran haben, diese Strittigkeiten rational und gleichberechtigt - also durch eine Argumentation -beizulegen (Klein 1980). Die Pragmalinguisten Weingarten & Pansegrau (1993), die sich mit Kommunikation in der Institution "Schule" beschaftigen, sehen

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Argumentationen im Unterricht gegenUber dem Argumentationsmodell von Klein als verzerrte Kommunikationsform an, da nach ihren Beobachtungen zwischen Lehrperson und SchUlem faktisch keine Strittigkeiten gleichberechtigt verhandelt werden. Die Beteiligten tun gewissermaBen nur auf der sprachlichen Oberflache so, als wUrden sie argumentieren (WeingartenlPansegrau sprechen deswegen von "Als-ob­Argumentationen" im Unterricht). Die Autoren bezeiehnen das Zustandekommen solcher Diskursformen als lnitiierung durch die Lehrperson: Sie bestimme kraft ihrer sozialen und fachlichen Autoritat, ob eine Aussage begrtindet werden mUsse, und sie lege zusatzlich fest, weIche Begrtindung zu einer Beendigung der Argumentation fiihren kann. Nach den beiden Pragmalinguisten wird das eigenstandige Argumentieren der SchUler im Unterricht kaum gef6rdert, insbesondere aufgrund der Autoritat der Lehrperson.

Diese Siehtweise auf Argumentation im Unterricht als eine durch die Absichten und Handlungen der Lehrperson determinierte Kommunikation wird vom Autor der vorIiegenden Arbeit nicht geteilt. Insbesondere in der hier vorgestellten Szene wird deutlich, dass sich die Struktur der Argumentation interaktiv zwischen der Lehrerin und den SchUlem entwickelt: Ein SchUler meldet einen weiteren Wortbeitrag an ("ich hab das anders g~ro~s:ht.", Zeile 12) und schafft damit eine Voraussetzung zur Fortfiihrung der Argumentation, obwohl sich die Lehrerin bereits mit der ersten Begrtindung zufiieden zeigte. Es gibt keine Indizien dafiir, dass die Lehrerin den Verlauf der Argumentation so geplant hatte. Erst im weiteren Unterrichtsgesprach ergreift sie dann die Gelegenheit, durch die Entwicklung einer zweiten begrundungsbedtirftigen Aussage und eines zugehorigen, "anderen" Arguments auch den Sachbezug der Rechenaufgabe zum Text abzudecken.

Das Zustandekommen von Argumentationen im Unterricht wird dagegen auch in der vorIiegenden Arbeit als eine lnitiierung angesehen: Obwohl sich die am Unterricht Beteiligten Uber die Richtigkeit einer Aussage einig zeigen, werden Begrtindungen eingefordert und hervorgebracht. Allerdings wird nieht allein die Lehrperson als Initiatorin betrachtet. Vielmehr werden Argumentationen in einem interaktiven Prozess von Lehrperson und Schtilem gemeinsam initiiert: Die SchUler bringen eine Aussage hervor, Uber deren Riehtigkeit zunachst ein Konsens hergestellt wird, der von der Lehrperson explizit bestatigt wird. Wenn die Lehrperson diese Aussage als klarungsbedUrftig ansieht, kann sie sich unter dem Zugzwang (Voigt 1984, S. 55ft) sehen, eine Begrtindung einzufordem. Die SchUler lassen sich auf die Argumentation ein und bringen Begrtindungen hervor.

Das Phanomen, dass die Lehrperson eine Aussage von den SchUlem begrtinden lasst, nachdem sie selbst als Autoritatsperson schon die Riehtigkeit explizit bestatigt hat, kann als schulspezifisch angesehen werden: Es reicht nicht aus, dass sich die SchUler auf das Urteil der Lehrerin verIassen (selbst wenn niemand daran zweifelt, dass es richtig ist) -sie mUssen es weit gehend selbst begrtinden und konnen dadurch eigenstandiger im Argumentieren werden. Die Eigenstandigkeit im Argumentieren wird nicht nur (wie es WeingartenlPansegrau (1993) herausarbeiten) auf der sprachlichen Oberflache "vorgetauscht", sondem sie wird auch in einer inhaltIichen Dimension deutlich. So wiirden Begrtindungen, wie etwa "das stimmt, wei I Sie es gestem gesagt haben und was der Lehrer sagt stimmt immer", im Unterrieht sieher nicht akzeptiert. Vielmehr miissen die SchUler eine Begrtindung entwickeln, durch die sie ein adaquates Verstandnis vom "Argumentationsgegenstand" zeigen - sie miissen inhaltlich argumentieren. Daraus ergibt sich eine sicher wiinschenswerte allgemeine Funktion von Argumentationen im Unterrieht: Die SchUler konnen Selbstandigkeit erIangen, indem sie we it gehend

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274 Ralph Schwarzkopf

losgelost von ihrem Vertrauen auf die Fachkompetenz der Lehrperson inhaltlich argumentieren.

Man konnte dagegen halten, dass die Lehrperson den Diskurs inhaltlich strukturiert und dadurch der Eigenstandigkeit der SchUler entgegenwirkt. 1m obigen Beispiel fordert sie etwa fUr die zweite Begriindung eine sachbezogene Stiitzung ein und gibt damit die Rahmung vor, in der die Argumentation weiterlaufen solI. Solche Strukturierungs­leistungen der Lehrerin miissen aber nicht als Gefahr fUr die Eigenstandigkeit der SchUler irn Argumentieren angesehen werden. Vielmehr stehen beide Merkrnale der Interaktion in einer zirkularen Wechselwirkung, die typisch fUr Erziehung und fUr Unterricht ist: Die Lehrperson entscharft durch das Einfordem von inhaltsbezogenen Argumenten ihre institutionell verliehene "Definitionsmacht" in Bezug auf die Richtigkeit von Aussagen - sie setzt gewissermaBen ihre Autoritat ein, urn ihre Autoritat abzuschwachen und lOst das Abhangigkeitsverhaltnis zwischen dem "ohnmachtigen Kinde" und dem "machtigen Erwachsenen" ein Stiick weit auf (vgl. Mollenhauer 1976, S. 15, s. auch Schwarzkopf 2000, S. 172). Pointiert ausgedriickt: Erst die Lenkung der Lehrerin ermoglicht die Entwicklung der Kinder im eigenstandigen Argumentieren.

1m argumentativen Potential des oben analysierten Diskurses "zeigt sich" diese Chance besonders deutlich, weil man der Ausnahmebedingung des ersten Arguments inhaltlich eine Sonderrolle unter den argumentativ-funktionalen Komponenten der Begriindungen zusprechen kann: In ihr geht es nicht urn mathematische bzw. sachspezifische Zusammenhange oder Kenntnisse. Vielmehr ist das Handeln der Lehrerin wesentlich - hat sie die Aufgabe vielleicht so gestellt, dass diese gar nicht IOsbar ist? Es liegt nahe, diese Frage aufgrund der Erfahrung mit dem kompetenten Handeln der Lehrerin mit "Nein" zu beantworten und die Argumentation damit abzuschlieBen. 1m argumentativen Potential des Diskurses wird dieser Bezug auf eine soziale Erfahrung aber durch das inhaltlich gestiitzte zweite Argument ersetzt. In sOlchen Situationen konnen "sozial gestiitzte" Argumentationsweisen, in denen man die von der Lehrperson eingefUhrten Regeln anwendet und auf deren Richtigkeit vertraut, zugunsten von inhaltlichen, fachspezifischen Argumentationsbasen in den Hintergrund treten.

In dieser Episode sind allerdings keine Indizien dafUr zu finden, dass den am Unterricht Beteiligten die inhaltliche Widerlegung der erfahrungsbezogenen Ausnahmebedingung bewusst wird - sie "steckt" gewissermaBen im argumentativen Potential des Diskurses, das aus der Distanz des Experten rekonstruiert wurde. Ware der Zusammenhang der beiden Begriindungen im Unterricht thematisiert worden, hatte auch den SchUlem der Unterschied zwischen dem Vertrauen in Fachkompetenzen von Autoritatspersonen und eigenstandigem inhaltlichen Argumentieren deutlich werden konnen. AbschlieBend sei noch bemerkt, dass auch ohne die Thematisierung dieses Zusammenhangs in dieser Szene eine wichtige Funktion der Argumentation fUr das Lemen der Kinder emllt wird: Man muss bei der Bearbeitung von Textaufgaben nicht "nur" richtig rechnen, sondem man hat auch auf die zugrunde liegenden sachlichen Inhalte zu achten.

Hier soli natiirlich nicht dafUr pladiert werden, den Schiilem das Toulminsche Schema als Grundlage des Argumentierens beizubringen. Moglicherweise konnten aber argumentative Potentiale im Mathematikunterricht effektiver genutzt werden, wenn die Analyse von miindlich gefiihrten Argumentationsprozessen in der Lehrerbildung starker betont wiirde (zum Einsatz interpretativer Forschungsmethoden in der Lehrerbildung s. Jungwirth et. al. 1994 oder Krummheuer 1999). In solchen Analysen dUrfen weder die Interaktionen und die damit verbundenen Lemprozesse, noch der mathematische

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Argumentationsanalysen 275

Unterrichtsgegenstand vemachlassigt werden. Die funktionale Argumentationsanalyse bietet eine Moglichkeit, beide Aspekte des Mathematikunterrichts miteinander zu vemetzen.

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Schwarzkopf, R.: Argumentationsprozesse im Mathematikunterricht Theoretische Grundlagen und Fallstudien. Hildesheim: Franzbecker, 2000

Stein, M: Beweisen: eine Analyse des Beweisprozesses und der ihn beeinflussenden Faktoren auf der Grundlage empirischer Untersuchungen zum Argumentationsverhalten von 11-13jahrigen Schtilern, ausgehend von einer systematisierenden Auseinandersetzung mit didaktischen Konzeptionen und empirischen Forschungsansatzen zum Beweisen. Bad Salzdetfurth: Franzbecker, 1986.

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Grundlagen und mikroethnographische Falluntersuchungen. Weinheim: Beltz, 1984. Vollrath, H.-1.: Eine Thematisierung des Argumentierens in der Hauptschule. In: Journal flir

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276 Ralph Schwarzkopf

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Anhang: Transkriptionsregeln 1. Linguistische Zeichen

1. 1 Identifizierun~ des Sprechers:

L Lehrkraft

S nicht identifizierter SchUler

Ss mehrere SchUler zugleich

1.2 Charakterisierun~ der AuBerun~sfol~e:

a) Ein Strich vor mehreren AuBerungen: untereinander Geschriebenes wurde jeweils gleichzeitig gesagt, z.B.

M I Die haben wir aber nicht gemacht

F haben wir nicht

b) Eine Zeile beginnt genau unterhalb des letzten Lautes aus der vorigen AuBerung: auffallig schneller Anschluss, z.B.

M Das ist doch null

F n~

2. Paralinguistische Zeichen:

genau.

kurzes Absetzen innerhalb einer AuBerung, max. eine Sekunde

kurze Pause max. zwei Sekunden

Senken der Stimme am Ende einer AuBerung

und du- Stimme in der Schwebe am Ende einer AuBerung

was Heben der Stimme, Angabe jeweils hinter dem entsprechenden Wort

~, sicher Auffallige Betonung

4~~i~i..g gedehnte Aussprache

3. Weitere Charakterisierungen:

(tauter), (leiser) u.ii. Die Stimme des Sprechenden iindert sich entsprechend und bleibt so, bis zum niichsten ,,+"

( .. ), ( ... ), (? 4 sec) undeutliche AuBerung von 2, 3 oder mehr Sekunden

(mal?)

(schreiben) u.a.

(Gemurmel) u.a.

Dr. Ralph Schwarzkopf

Universitat Dortmund

Fachbereich 01 (IEEM)

44221 Dortmund

unverstandene, aber yom Beobachter vermutete AuBerung

Charakterisierung der Handlungen der entsprechenden Person

Charakterisierung von atmosphiirischen Anteilen

Email: [email protected]

Manuskripteingang: 07. Februar 2001 Typoskripteingang: 10. September 2001


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